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»Hielt ungefähr folgende Anrede an ihn:«

»Folgende Anrede!« Die Füchse sprechen also? Sie sprechen demnach die nämliche Sprache wie die Raben? Weiser Lehrer, sei auf deiner Hut! Wäge deine Antwort, ehe du sie ertheilst, wohl ab; sie ist wichtiger, als du glaubst.

»Ei! Guten Tag, Herr Rabe!«

Herr! Ein Titel, den das Kind hier spottweise anwenden hört, noch ehe es weiß, daß es ein Ehrentitel ist. Diejenigen, welche, wie in den meisten Ausgaben steht, »Herr von Rabe« lesen, würden sich noch weit mehr abmühen müssen, ehe es ihnen gelänge, dieses »von« nur einigermaßen zu erklären. »Wie hübsch du bist! Wie schön du mir erscheinst!«

Ein Flickwort, ein überflüssiger Wortschwall! Dadurch, daß das Kind die nämliche Sache nur mit anderen Worten wiederholen hört, gewöhnt es sich selber eine nachlässige Sprache an. Wenn ihr den Einwurf macht, daß in dieser Weitschweifigkeit eine Kunst des Verfassers liege, daß er die Absicht des Fuchses hervorheben wolle, durch Anhäufung der Worte seine Schmeicheleien zu verstärken, so würde dies wol für mich, aber nicht für meinen Schüler als Entschuldigung gelten können.

»Ohne zu lügen, wenn dein Gesang« u. s. w.

»Ohne zu lügen!« Man lügt also mitunter? Was für Begriffe wird sich aber das Kind bilden, wenn ihr ihm erklärt, daß der Fuchs gerade aus dem Grunde sagt »ohne zu lügen«, weil er lügt?

»Deinem Gefieder entspricht.«

»Entspricht!« Was bedeutet dieses Wort? Lehret einmal das Kind, so verschiedenartige Eigenschaften wie Stimme und Gefieder mit einander zu vergleichen, und ihr werdet bald bemerken, ob es euch versteht.

»Du mußt der Phönix unter den Gästen dieses Waldes sein.«

»Der Phönix!« Was ist ein Phönix? Plötzlich sehen wir uns durch diesen Ausdruck in das verlogene Alterthum, beinahe in die Mythologie versetzt.

»Die Gäste dieses Waldes!« Welche bildliche Redeweise! Der Schmeichler veredelt seine Sprache und gibt ihr, um sie verführerischer zu machen, mehr Würde. Wird ein Kind diese Feinheit herausfühlen? Weiß es nur, ja kann es überhaupt nur wissen, was ein edler und ein niederer Stil ist?

»Bei diesen Worten kennt sich der Rabe vor Freude nicht.«

Man muß schon sehr heftige Leidenschaften empfunden haben, um diese sprichwörtliche Redensart richtig aufzufassen.

»Und um seine Stimme zu zeigen,«

Vergesset nicht, daß das Kind, wenn es anders diesen Vers und die ganze Fabel verstehen soll, schon wissen muß, wie es mit der schönen Stimme des Raben bestellt ist.

»Sperrt er seinen Schnabel weit auf und läßt seine Beute fallen.«

Dieser Vers verdient in der That Bewunderung; schon der Klang der Worte allein gibt ein anschauliches Bild. Ich sehe im Geiste diesen großen häßlichen Schnabel weit aufgerissen vor mir, ich höre, wie der Käse prasselnd durch die Aeste hindurchfällt; allein für Kinder sind dergleichen Schönheiten verloren.

»Der Fuchs erhascht ihn und spricht: Mein guter Herr!«

Hier bedeutet also schon das »Gutsein« des angeredeten Herrn nichts weiter als »Dummsein«. Sicherlich wird man hierbei keine Zeit verlieren, um dies den Kindern deutlich zu machen.

»Lerne, daß jeder Schmeichler«

Eine allgemeine Regel; das ist eine allbekannte Sache.

»Auf Kosten dessen lebt, der ihm Gehör schenkt.«

Noch nie hat ein zehnjähriges Kind diesen Vers verstanden.

»Unzweifelhaft ist diese Lehre einen Käse werth.«

Dies ist verständlich, und der Gedanke ist sehr gut. Gleichwol wird es wol nur höchst wenige Kinder geben, die einen Käse mit einer Lehre zu vergleichen vermöchten und die nicht den Käse der Lehre vorzögen. Man muß ihnen daher verständlich machen, daß dies nur ein scherzhafter Ausdruck ist. Was für eine Feinheit für Kinder!

»Der Rabe, beschämt und bestürzt,«

Wieder ein Pleonasmus, und noch dazu ein unverzeihlicher.

»Schwor, allein etwas spät, daß man ihn nie wieder überlisten sollte.«

Schwor! Welcher Lehrer könnte so thöricht sein, daß er einem Kinde zu erklären wagte, was ein Schwur ist.

Das sind eine Menge Einzelheiten, aber noch lange nicht genug, um alle Begriffe dieser Fabel zu analysiren und sie auf die einfachen und elementaren Urbegriffe zurückzuführen, aus denen jeder derselben wieder zusammengesetzt ist. Aber wer hält solche Analyse wol für nothwendig, um sich der Jugend verständlich zu machen? Keiner unter uns ist Philosoph genug, um sich ganz auf den Standpunkt eines Kindes versetzen zu können. Laßt uns jetzt aber auch noch auf die Moral der Fabel übergehen.

Ich frage, ob man wol schon sechsjährige Kinder darauf aufmerksam machen darf, daß es Menschen gibt, welche um ihres Vortheils willen schmeicheln und lügen? Höchstens dürfte man ihnen mittheilen, daß es Spaßvögel gebe, die die kleinen Knaben aufziehen und sich im Geheimen über ihre thörichte Eitelkeit lustig machen. Indeß der Käse verdirbt Alles. Man lehrt sie weniger, ihn nicht aus ihrem eigenen Schnabel fallen zu lassen, als vielmehr, wie sie es anzustellen haben, daß er Anderen aus dem Schnabel falle. Das ist hierbei mein zweites Paradoxon, welches von nicht geringerer Wichtigkeit ist.

Gebet ihr auf die Kinder beim Lernen ihrer Fabeln Acht, so werdet ihr bemerken, daß ihre Deutung derselben, wenn sie überhaupt im Stande sind, sie auszulegen, fast regelmäßig eine der Absicht des Schriftstellers zuwiderlaufende ist, und daß sie, anstatt vor dem Fehler, von dem man sie heilen oder vor dem man sie bewahren will, auf der Hut zu sein, mehr Neigung verrathen, gerade das Laster lieb zu gewinnen, durch welches man aus den Schwächen Anderer Vortheil ziehen kann. Bei der obigen Fabel werden die Kinder den Raben verhöhnen, dem Fuchse dagegen ihr ganzes Interesse zuwenden. In der nächsten Fabel beabsichtigt ihr ihnen die Heuschreckengrille als Muster aufzustellen; vergebliche Mühe, alle werden die Ameise wählen. Niemand demüthigt sich gern; sie werden deshalb stets die schöne Stelle für sich in Anspruch nehmen. Die Eigenliebe trifft hier die Wahl, und deshalb ist es eine natürliche Wahl. Aber, aber – welch' eine entsetzliche Lehre für die Kinderwelt! Ein habsüchtiges und hartherziges Kind, welches wüßte, um was man es bittet, und es abschlägt, trotzdem die Erfüllung in seiner Hand liegt, wäre das hassenswertheste aller Ungeheuer. Die Ameise thut noch mehr, sie lehrt es seine Weigerung in Spott und Hohn zu kleiden.

In allen Fabeln, in welchen der Löwe eine Rolle spielt, die gewöhnlich die glänzendste ist, wird das Kind nie verfehlen, sich an seine Stelle zu versetzen, und hat es nun einmal eine Theilung vorzunehmen, so trägt es, durch sein Vorbild gut geschult, lediglich Sorge, sich des Ganzen zu bemächtigen. Wenn jedoch die Mücke den Löwen zu Falle bringt, dann ist es eine ganz andere Sache, dann ist das Kind nicht mehr Löwe, sondern Mücke. Dadurch lernt es einst diejenigen mit Nadelstichen zu tödten, die es festen Fußes nicht anzugreifen wagt.

Aus der Fabel von dem mageren Wolfe und dem fetten Hunde lernt es nicht Mäßigung, die ihr ihm darin ans Herz legen wollt, sondern Zügellosigkeit. Nie werde ich vergessen, wie bitterlich ich einst ein kleines Mädchen weinen sah, welches man durch diese Fabel in halbe Verzweiflung gebracht hatte, weil man ihm nach Anleitung derselben immer nur von der Folgsamkeit vorpredigte. Man konnte sich Anfangs gar nicht die Ursache dieser Thränen erklären, bis man endlich dahinter kam. Das arme Kind hatte sich so in die Rolle des Hundes hineingelebt, daß es endlich überdrüssig wurde, beständig an der Kette zu liegen; es fühlte seinen Hals schon förmlich wund; es weinte, daß es nicht der Wolf sein durfte.

Sonach liegt also in der Moral der zuerst angeführten Fabel für das Kind eine Anleitung zu der niedrigsten Schmeichelei; in der der zweiten eine Aufforderung zur Herzlosigkeit, in der der dritten eine Anpreisung der Ungerechtigkeit, in der der vierten eine Unterweisung in der Kunst zu spotten und in der der fünften ein Ansporn zur Unabhängigkeit. Diese letztere Anregung ist für meinen Zögling eben so überflüssig wie für die eurigen ungeeignet. Wenn ihr ihnen Vorschriften ertheilt, die sich unter einander widersprechen, was für Früchte hofft ihr dann wol aus euren Bemühungen hervorsprießen zu sehen? Indeß liegt vielleicht gerade in der Moral, um derentwillen ich die Fabeln verwerfe, für euch der Grund sie beizubehalten. Man braucht im gegenseitigen Verkehr eine Moral für seine Worte und eine für seine Handlungen und diese beiden sind durchaus von einander verschieden. Die erstere steht im Katechismus, worin man sie ruhig läßt; die andere dagegen steht in Lafontaines Fabeln für die Kinder und in seinen Erzählungen für die Mütter. Der nämliche Schriftsteller reicht für Alles aus.

Vergleichen wir uns mit einander, Herr von Lafontaine! Ich für meine Person verspreche, Sie mit Auswahl zu lesen, Sie zu lieben und mich aus Ihren Fabeln zu belehren; denn ich hoffe mich über Ihre Absichten nicht zu täuschen; was aber meinen Zögling anlangt, so müssen Sie mir gestatten, daß ich ihn nicht eine einzige lernen lasse, bis Sie mir den Beweis geliefert haben, daß es für ihn gut ist, Dinge zu lernen, von denen er nicht den vierten Theil versteht; daß er ferner für diejenigen, die er begreifen kann, auch wirklich das richtige Verständniß zeigt und sich nicht etwa den Betrüger zum Vorbild nimmt, anstatt sich den Betrogenen zur Warnung dienen zu lassen.

Indem ich die Kinder mit allen solchen Arbeiten verschone, halte ich auch die Werkzeuge ihrer größten Plage, nämlich die Bücher, von ihnen fern. Das Lesen ist die Geißel der Kindheit, und fast die ausschließliche Beschäftigung, die man ihr zu geben weiß. Kaum in seinem zwölften Jahre soll Emil wissen, was ein Buch ist. Aber, wird man einwenden, er wird doch wol wenigstens lesen lernen müssen. Das gebe ich zu, aber er soll erst dann lesen können, wenn ihm das Lesen Nutzen bringt; bis dahin kann es ihm nur Langeweile bereiten.

Wenn man nicht verlangen darf, daß die Kinder etwas nur aus Gehorsam thun, so folgt hieraus, daß sie auch nichts lernen können, dessen wirklichen und augenblicklichen Vortheil sie nicht einsehen, bestehe derselbe nun in Vergnügen oder Nutzen; was sollte sie wol sonst für ein Beweggrund zum Lernen antreiben? Die Kunst, mit Abwesenden zu reden und sie zu verstehen, die Kunst, ihnen aus der Ferne unsere Empfindungen, unsere Willensmeinungen, unsere Wünsche ohne jegliche Mittelsperson mitzutheilen, ist eine Kunst, deren Nutzen jedem Lebensalter einleuchtend gemacht werden kann. Durch welches Wunder ist denn nun diese so nützliche und angenehme Kunst für die Kindheit zu einer Plage geworden? Dadurch, daß man sie zwingt, sich dieselbe wider ihren Willen anzueignen, und sie einen Gebrauch davon machen läßt, von dem sie nichts begreifen. Ein Kind ist wenig bedacht darauf, das Werkzeug zu vervollkommnen, mit dem man es peinigt; sorget ihr jedoch dafür, daß dieses Werkzeug ihm Freude bereitet, so wird es sich auch bald ohne euren Antrieb mit demselben beschäftigen.

Man bemüht sich unablässig, die besten Methoden für den Leseunterricht aufzufinden; man erfindet Lesemaschinen, Lesewandtafeln, ja man verwandelt die Kinderstube in eine Buchdruckerwerkstatt. Locke wünscht sogar, man solle sich beim Leseunterrichte der Würfel bedienen. Ist das nicht eine klug ausgesonnene Erfindung? Es ist ein wahres Elend! Ein weit sichreres Mittel als alle die angegebenen, welches aber immer wieder in Vergessenheit geräth, ist der Lerntrieb. Flößet ihr dem Kinde diesen Trieb ein, dann bedarf es eurer Lesemaschinen und Würfel nicht mehr, dann wird jede Methode gut sein.

In dem augenblicklichen Interesse liegt die große Triebfeder, aber auch die einzige, welche sicher und weit führt. Emil erhält bisweilen von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Verwandten, seinen Freunden Einladungsbriefchen zu einem Mittagsessen, zu einem Spaziergange, einer Wasserfahrt oder zur Theilnahme an einer öffentlichen Feierlichkeit. Diese Briefchen sind kurz, deutlich, reinlich, schön geschrieben. Nun muß er erst Jemanden suchen, der sie ihm vorliest. Dieser Jemand läßt sich nun aber nicht immer zur rechten Zeit auftreiben, oder beweist sich heute gegen das Kind gerade eben so ungefällig, wie es sich gestern ihm gegenüber gezeigt hat. So geht die Gelegenheit wie die rechte Zeit vorüber. Endlich liest man ihm das Briefchen vor, aber nunmehr ist es zu spät. Ach, wenn es doch selbst hätte lesen können! Nun erhält Emil abermals Briefe. Sie sind so kurz, ihr Inhalt ist so interessant! Wie gern möchte er den Versuch machen, sie zu entziffern! Bald findet er Hilfe, bald verweigert man ihm dieselbe. Er bietet alle seine Kräfte auf und entziffert endlich die Hälfte eines Briefchens. Es handelt sich um eine Einladung auf morgen zur frischen Milch. Er hat aber nicht herausgebracht, wohin und mit wem? Wie viel Anstrengungen läßt er es sich kosten, um auch das Uebrige herauszubuchstabieren! Ich glaube nicht, daß Emil einer Lesemaschine bedürfen wird. Soll ich etwa auch noch vom Schreibeunterricht reden? Nein, ich würde mich schämen, in einer Abhandlung über Erziehung die Zeit mit solchen Nichtigkeiten zu vergeuden.

Ein einziges Wort will ich noch hinzufügen, welches einen wichtigen Grundsatz ausspricht. Es lautet: Man erhält gewöhnlich das am sichersten und am schnellsten, was man ohne Ueberstürzung zu erlangen sucht. Ich bin fast überzeugt, daß Emil schon vor dem zehnten Jahre wird vollkommen lesen und schreiben können, gerade weil ich wenig Werth darauf lege, ob er es vor dem fünfzehnten lernt. Lieber aber wollte ich, er lernte nie lesen, als daß er diese Wissenschaft auf Kosten alles dessen, was sie ihm nützlich machen kann, erkaufte. Wozu soll ihm das Lesen dienen, wenn man es ihm völlig unleidlich gemacht hat? Id imprimis cavere oportebit, ne studia, qui amare nodum potest, oderit, et amaritudinem semel perceptam etiam ultra rudes annos reformidet. Quintil. lib. I, cap. 1.

Je angelegentlicher ich für die Wahrheit meiner die Unthätigkeit verlangenden Methode eintrete, desto deutlicher sagt mir mein Gefühl, daß sich die Einwürfe gegen dieselbe verstärken werden. »Wenn dein Zögling nichts von dir lernt, wird er doch von Andern lernen, wenn du dem Irrthume nicht durch die Wahrheit vorbeugst, wird er Lügen lernen; die Vorurtheile, die du dich ihm einzuflößen scheust, wird ihm das Beispiel seiner ganzen Umgebung beibringen; durch alle seine Sinne werden sie in ihn eindringen. Entweder werden sie auf seine Vernunft, sogar noch ehe sie sich entwickelt hat, den schlimmsten Einfluß ausüben, oder sein durch lange Unthätigkeit erschlaffter Geist wird sich in der Materie verlieren. Die unterlassene Ausbildung der Denkkraft in der Jugend rächt sich in der ganzen übrigen Lebenszeit.«

Ich glaube, ich würde leicht darauf antworten können. Aber wozu sollen diese fortwährenden Antworten dienen? Ertheilt meine Methode selbst auf die Einwürfe die richtige Antwort, so ist sie gut; vermag sie aber nicht darauf zu antworten, so taugt sie nichts. Ich fahre deshalb fort.

Wenn ihr nach dem Plane, den ich zu entwerfen angefangen habe, Regeln befolgt, die im völligen Gegensatze zu den herkömmlichen stehen; wenn ihr, anstatt den Geist eures Zöglings in weiter Ferne umherschweifen, ihn unaufhörlich in anderen Gegenden, in anderen Himmelsstrichen, in anderen Jahrhunderten, an den äußersten Enden der Erde, ja selbst in dem Himmel umherirren zu lassen, wenn ihr, sage ich, statt dessen darauf hinwirkt, daß er sich sammelt und seine Aufmerksamkeit auf das lenkt, was ihn unmittelbar berührt: dann werdet ihr ihn auch zum Auffassen, Behalten, ja selbst zum Urtheilen fähig finden; so bedingt es die Ordnung der Natur. Je nach der Thätigkeit, der sich ein empfindendes Wesen hingibt, erwirbt sich dasselbe auch eine seinen Kräften entsprechende Urteilskraft; und nur mit dem Ueberschusse der Kraft, die nicht mehr zu seiner Erhaltung nöthig ist, entwickelt sich in ihm diese speculative Fähigkeit, welche geeignet ist, diesen Kraftüberschuß noch zu andrem Gebrauche zu verwenden. Wollt ihr also den Geist eures Zöglings ausbilden, so bildet die Kräfte aus, welche jener beherrschen soll. Uebt unablässig seinen Körper, macht euren Zögling stark und gesund, um ihn klug und vernünftig machen zu können. Er arbeite und sei thätig, er laufe und schreie, kurz, er sei beständig in Bewegung. Erst sei er an Kraft ein Mann, dann wird er es auch bald an Verstand sein.

Wolltet ihr ihm nun beständig jeden Tritt und Schritt vorschreiben und ihm unablässig zurufen: »Gehe, komme, bleibe, thue dies, unterlasse jenes,« dann könntet ihr ihn, das ist richtig, durch diese Methode freilich verdummen. Wenn euer Kopf beständig seine Arme lenkt, wird ihm schließlich der seinige unnütz. Erinnert euch jedoch unseres Uebereinkommens: Seid ihr nur Pedanten, dann lohnt es sich nicht der Mühe mich zu lesen.

Es ist ein sehr beklagenswerter Irrthum sich einzubilden, daß körperliche Uebung der geistigen Thätigkeit schade; als ob sich diese beiden Thätigkeiten nicht gleichzeitig betreiben ließen, und die eine nicht immer die andere leiten müßte.

Es gibt zwei Classen von Menschen, deren Körper sich in unaufhörlicher Uebung befindet, und von denen sicherlich die eine eben so wenig als die andere daran denkt, ihren Geist zu bilden, nämlich die Landleute und die Wilden. Die Ersteren sind ungeschlacht, plump, ungeschickt; die Letzteren sind wegen der Schärfe ihrer Sinne und in noch höherem Grade wegen der Gewandtheit ihres Geistes bekannt. Im Allgemeinen gibt es nichts Unbeholfeneres als einen Bauer und nichts Schlaueres als einen Wilden. Woher kommt dieser Unterschied? Daher, daß Ersterer, weil er beständig nur das thut, was man ihm befiehlt, oder was er seinen Vater hat thun sehen, oder was er von Jugend auf gethan hat, nie aus dem alten Schlendrian herauskommt, und daß bei ihm, der sich in seinem fast maschinenmäßigen Leben unaufhörlich mit den nämlichen Arbeiten beschäftigt, Gewohnheit und Gehorsam allmählich an die Stelle der Vernunft getreten sind.

Völlig anders verhält es sich mit dem Wilden. Nicht an die Scholle gebunden, zu keinem vorgeschriebenen Tagewerke verpflichtet, zu keinem Gehorsam gezwungen, durch keine Schranke des Gesetzes in seinem Willen behindert, sieht er sich genöthigt, jede Handlung seines Lebens zuvor sorgfältig zu überlegen. Er macht keine Bewegung, thut keinen Schritt, ohne die Folgen vorher erwogen zu haben. Je mehr sich daher sein Körper übt, desto aufgeklärter wird sein Geist; seine Kraft und seine Vernunft wachsen gleichzeitig und bilden sich gegenseitig aus.

Weiser Lehrer! Laß uns abwarten, welcher von unsren beiden Zöglingen dem Wilden und welcher dem Bauer gleichen wird. In Allem einer stets meisternden Autorität unterworfen, thut der deinige nichts ohne dein Geheiß; er wagt nicht zu essen, wenn ihn hungert, nicht zu lachen, wenn er fröhlich, oder zu weinen, wenn er traurig ist, nicht eine Hand statt der andern zu reichen, oder einen Fuß anders zu setzen als man es ihm vorschreibt; bald wird er nur nach deinen Regeln zu athmen wagen. Woran soll er wol denken, wenn du für ihn an Alles denkst? Weshalb braucht er, da er sich auf deine Vorsicht verlassen kann, selbst vorsichtig zu sein? Da er bemerkt, daß du die Sorge für seine Erhaltung, für sein Wohlbefinden übernimmst, fühlt er sich von derselben frei. Sein Urtheil gründet sich auf das deinige, weshalb er Alles, was du ihm nicht verbietest, ohne Bedenken thut, weil er wohl weiß, daß ihm keine Gefahr dabei droht. Weshalb braucht er die Vorzeichen des Regens kennen zu lernen? Er weiß ja, daß du an seiner Statt den Himmel beobachtest. Weshalb braucht er für seinen Spaziergang bestimmte Zeiten festzusetzen? Er braucht nicht zu besorgen, daß du ihn das Mittagsessen werdest versäumen lassen. Er ißt, so lange du ihm nicht zu essen verbietest, verbietest du es ihm aber, so ißt er nicht mehr. Er gehorcht nicht dem Winke seines Magens, sondern dem deinigen. Verweichliche seinen Körper immerhin durch Unthätigkeit; dadurch wird sein Verstand keineswegs an Gewandtheit gewinnen. Im Gegentheile wirst du dadurch in seinem Geiste der Vernunft erst vollends allen Werth rauben, da du ihn den geringen Theil, den er davon erhalten hat, nur auf Dinge verwenden lassest, die ihm bisher vollends nutzlos erschienen. Da er ihren Nutzen nie wahrnimmt, so urtheilt er endlich, daß sie überhaupt keinen Nutzen bringen. Das Schlimmste, dem er sich bei einem falschen Urtheile aussetzte, wäre ein Verweis, und den erhält er so oft, daß er darauf nur noch wenig Rücksicht nimmt. Eine so gewöhnliche Gefahr vermag ihn nicht mehr zu schrecken.


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