Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Du fragst mich,« sagt Plutarch, »weshalb sich Pythagoras des Genusses der Fleischspeisen enthielt. Aber ich frage dich statt dessen, welchen Muth der erste Mensch besessen haben muß, der Fleisch von einem gemordeten Thiere an seinen Mund brachte, der mit seinen Zähnen die Knochen eines so eben erst gestorbenen Thieres zermalmte, der sich todte Körper, Leichen, zum Genusse vorsetzen ließ und Glieder von Geschöpfen in seinen Magen hinabschlang, die noch einen Augenblick zuvor geblökt, gebrüllt, gesehen hatten und umhergesprungen waren. Wie vermochte seine Hand nur einem empfindenden Wesen ein Eisen in das Herz zu stoßen? Wie waren seine Augen im Stande, den Anblick eines Mordes auszuhalten? Wie konnte er ein armes wehrloses Thier schlachten, abhäuten und zerstückeln sehen? Wie vermochte er den Anblick noch zuckenden Fleisches zu ertragen? Wie war es nur möglich, daß ihm nicht schon der bloße Geruch desselben Uebelkeit erregte? Wie ging es zu, daß er sich nicht angeekelt, zurückgestoßen und von Schauder ergriffen fühlte, wenn er den Schmutz dieser Wunden berührte und sie von dem schwarzen geronnenen Blute, mit dem sie bedeckt waren, reinigte?«

»Am Boden wand sich noch die abgestreifte Haut,
Beim Feuer brüllt am Spieß das blut'ge Fleisch noch laut;
Nicht ohne Schaudern kann der Mensch der Eßlust fröhnen,
Denn deutlich hört er noch aus seinem Schooß es stöhnen.«

»Ja, das mußte er denken und empfinden, als er zum ersten Male seine Natur überwand, dieses entsetzliche Mahl herzurichten, als ihn zum ersten Male nach einem lebenden Wesen gelüstete, als er sich von einem Thiere, das noch harmlos weidete, zu nähren verlangte, und der Gedanke in ihm aufstieg, wie er das Schaf, das ihm die Hand leckte, erwürgen, zerschneiden und kochen könnte. Ueber diejenigen müssen wir uns gerechter Weise wundern, die mit solchen grausamen Mahlzeiten den Anfang gemacht haben, aber wahrlich nicht über diejenigen, welche sich derselben enthalten; und doch vermöchten erstere ihre Barbarei wenigstens einigermaßen durch Gründe zu entschuldigen, auf welche wir uns nicht mehr stützen können, und gerade deshalb sind wir noch hundertmal größere Barbaren als sie.«

»Ihr sterblichen Lieblinge der Götter, würden jene ersten Menschen uns zurufen, vergleichet einmal die Zeiten; erwäget, wie glücklich ihr seid und wie elend wir waren! Die noch jungfräuliche Erde und die mit Dünsten erfüllte Luft entzogen sich noch dem Einflusse der Jahreszeiten; der ungeregelte Lauf der Flüsse durchbrach die Ufer nach allen Richtungen hin; Teiche, Seeen, tiefe Moräste nahmen drei Viertheile der Erdoberfläche ein; das letzte Viertel war mit Gehölz und unfruchtbaren Wäldern bedeckt. Noch brachte die Erde keine wohlschmeckenden Früchte hervor, noch hatten wir keine Ackergeräthschaften und verstanden auch die Kunst nicht, uns ihrer zu bedienen, und keine Erntezeit brach für uns, die wir nicht gesäet hatten, heran. Deshalb wurden wir stets vom Hunger gefoltert. Moos und Baumrinde bildeten im Winter unsere gewöhnliche Speise. Frische Quecken- und Heidekrautwurzeln waren ein Festschmaus für uns, und hatten wir sogar Bucheckern, Nüsse oder Eicheln gefunden, so tanzten wir freudetrunken unter dem Klange unserer rohen Gesänge um eine Eiche oder Buche herum und nannten die Erde unsere Ernährerin und unsere Mutter. Das war unser einziges Fest, das waren unsere einzigen Spiele. Unser ganzes sonstiges Leben war Schmerz, Mühe und Elend.«

»Als uns endlich das entblößte und kahle Land gar nichts mehr darbot, wurden wir gezwungen, zu unserer Erhaltung die Natur zu verletzen und die Genossen unseres Elends lieber zu verzehren, als mit ihnen zu Grunde zu gehen. Aber ihr, grausame Menschen, wer zwingt euch Blut zu vergießen? Seht, welch ein Ueberfluß an Gütern euch umgibt! Welche Fülle von Früchten erzeugt die Erde für euch! Welche Reichthümer bieten euch eure Felder und Weinberge dar! Wie viel Thiere ernähren euch mit ihrer Milch und kleiden euch mit ihrer Wolle! Was verlangt ihr noch mehr von ihnen? Welche Wuth treibt euch, trotzdem ihr mit Gütern überschüttet und von einer Ueberfülle von Lebensmitteln umringt seid, so viele Mordthaten zu begehen? Warum klaget ihr eure Mutter lügnerischer Weise an, daß sie euch nicht zu ernähren vermöge? Warum versündiget ihr euch an Ceres, der Erfinderin der heiligen Gesetze, und an dem freundlichen Bacchus, dem Tröster der Menschen? Als ob ihre verschwenderischen Gaben zur Erhaltung des menschlichen Geschlechtes nicht hinreichend wären! Woher nehmet ihr nur das Herz, außer mit ihren süßen Früchten eure Tische auch noch mit den Gebeinen der Thiere zu beladen, und mit der Milch zugleich das Blut der Thiere zu trinken, die sie euch geben? Panther und Löwen, die ihr Raubthiere nennt, folgen gezwungen ihrem Instincte und tödten andere Thiere, um zu leben. Allein ihr, die ihr in Wahrheit hundertmal wilder seid als jene, bekämpfet ohne Noth den Instinct, um euch euren grausamen Lüsten zu überlassen. Die Thiere, welche ihr esset, gehören nicht zu denjenigen, die sich von anderen nähren; ihr verzehret nicht die fleischfressenden Thiere, sondern ahmet ihnen nach. Ihr seid nur nach unschuldigen und sanften Thieren lüstern, die Niemandem ein Leid zufügen, die sich voller Anhänglichkeit an euch schließen, die euch dienen und die ihr dann zum Lohne für ihre Dienste verschlinget.«

»O, unnatürlicher Mörder! Wenn du wirklich an der Ueberzeugung hartnäckig festhältst, daß dich die Natur dazu geschaffen habe, Deinesgleichen, Wesen von Fleisch und Bein, voller Empfindung und Leben wie du, zu verzehren: nun, dann ersticke auch das Grauen, daß sie dir vor solchen gräßlichen Mahlzeiten einflößt, tödte die Thiere selber und zwar mit deinen eigenen Händen, ohne Eisen und Messer; zerreiße sie mit deinen Nägeln, wie du es bei den Löwen und Bären siehst; greife den Stier mit deinen Zähnen an und zerfleische ihn; schlage deine Krallen in seine Haut; friß dieses Lamm noch lebendig, verschlinge sein Fleisch, wenn es noch warm ist und trinke seine Seele mit seinem Blute. Du zitterst, du wagst nicht, das noch lebende Fleisch unter deinem Zahne zucken zu fühlen! Erbärmliches Wesen! Erst tödtest du das Thier und dann ißt du es, um es gleichsam zweimal sterben zu lassen! Noch nicht genug! Das todte Fleisch erregt noch deinen Widerwillen, deine Eingeweide können es nicht vertragen. Du mußt es erst durch das Feuer verwandeln, mußt es kochen, braten und mit allerlei Kräutern würzen, die seinen Geschmack verdecken. Du bedarfst erst der Fleischwaarenhändler, der Köche und Garköche, kurz solcher Leute, die dem Getödteten das Schreckenhafte benehmen und die todten Körper so umhüllen, daß der durch diese Zubereitung getäuschte Geschmackssinn das nicht zurückweise, was ihm ungewöhnlich und abstoßend ist und sich mit Vergnügen an Leichnamen labe, deren bloßen Anblick das Auge kaum zu ertragen vermöchte.«

Obgleich diese Stelle nicht völlig zu meinem Gegenstande gehört, so habe ich doch der Versuchung nicht widerstehen können, sie abzuschreiben, und bin ich überzeugt, daß nur wenige Leser es mir nicht Dank wissen werden.

Welche Lebensordnung ihr übrigens für eure Kinder auch einführen möget, wobei ich freilich voraussetze, daß ihr sie nur an gewöhnliche und einfache Kost gewöhnt, laßt sie essen, sich umhertummeln und spielen, so viel es ihnen gefällt; dann könnt ihr versichert sein, daß sie niemals zu viel essen und niemals an Verdauungsbeschwerden leiden werden. Laßt ihr sie aber die halbe Zeit hungern und finden sie dann Mittel, sich eurer Wachsamkeit zu entziehen, so werden sie sich aus allen Kräften schadlos zu halten suchen; sie werden essen, bis sie sich den Magen überladen haben, ja bis zum Platzen. Unser Appetit verleitet uns nur deshalb zur Unmäßigkeit, weil wir ihm andere Regeln als die der Natur aufzwingen wollen. Indem wir fortwährend regeln, vorschreiben, hinzufügen oder wegnehmen, thun wir nichts, ohne schon vorher abzuwägen, wie viel unser Magen zu vertragen vermag; aber wir wägen es nach unserer Einbildung und nicht nach den Anforderungen unseres Magens ab. Ich komme immer wieder auf meine Beispiele zurück. Bei den Landleuten stehen der Brodschrank und der Obstgarten immerwährend offen, und doch wissen dort die Kinder eben so wenig wie die Erwachsenen, was ein verdorbener Magen ist.

Sollte es jedoch wirklich einmal vorkommen, daß ein Kind zu viel äße, was ich übrigens bei Befolgung meiner Methode geradezu für unmöglich halte, so ist es durch Belustigungen, die seinem Geschmacke zusagen, so leicht zu zerstreuen, daß man es bis zur Erschöpfung hungern lassen könnte, ohne daß es ans Essen dächte. Wie ist es nur möglich, daß so sichere und zugleich so leichte Mittel allen Lehrern entgehen können! Herodot erzählt im 94. Kapitel des ersten Buches, daß die Lydier zur Zeit einer anhaltenden Hungersnoth auf den Einfall gerathen seien, Spiele und anderen Zeitvertreib zu erfinden, bei welchen sie ihren Hunger vergessen und ganze Tage zugebracht hätten, ohne an das Essen zu denken. Die alten Geschichtschreiber enthalten außerordentlich viele Ansichten, von denen man selbst dann Gebrauch machen könnte, wenn die Thatsachen, auf denen sie fußen, falsch sein sollten. Aber leider verstehen wir nicht aus der Geschichte den rechten Vortheil zu ziehen; wir beschäftigen uns zu sehr mit der sogenannten gelehrten Kritik. Wenn man einer Thatsache eine nützliche Lehre entnehmen kann, braucht man auf den Nachweis ihrer Wahrheit doch wahrlich kein zu großes Gewicht zu legen. Verständige Menschen müssen die Geschichte als ein Gewebe von Fabeln betrachten, deren Moral für das menschliche Herz vorzüglich geeignet ist. Eure gelehrten Erzieher haben diese Stelle vielleicht schon hundertmal gelesen, ohne zu begreifen, wie gut sie auf die Kinder angewandt werden kann. Vielleicht wird mir der Eine oder der Andere derselben den Einwand machen, daß kein Kind gern sein Mittagbrod verläßt, um seine Lection zu lernen. Ja, mein bester Lehrer, du hast vollkommen recht: an diese Belustigung hatte ich freilich nicht gedacht.

Der Geruchssinn ist für den Geschmack, was das Gesicht für das Gefühl ist. Er kommt ihm zuvor, macht ihn darauf aufmerksam, wie diese oder jene Substanz auf ihn wirken werde und bewegt ihn, dieselbe je nach dem Eindrucke, den er schon im Voraus empfängt, zu suchen oder zu meiden. Ich habe mir erzählen lassen, daß der Geruchssinn der Wilden in ganz anderer Weise als der unserige afficirt werde, und das Urtheil derselben über angenehme und unangenehme Gerüche von dem unserigen wesentlich abweiche. Ich meines Theils bin sehr geneigt, es zu glauben. Die Gerüche an und für sich bringen nur schwache Eindrücke hervor; sie reizen mehr die Einbildungskraft als den Sinn, und afficiren nicht sowol durch das, was sie wirklich gewähren, als vielmehr durch die Erwartung, die sie rege machen. Ist diese Voraussetzung gegründet, so werden auch die Menschen, deren Geschmack in Folge ihrer verschiedenen Lebensweise von dem anderer Menschen abweicht, ebenfalls über die Gerüche, welche den Geschmack ankündigen, ganz entgegengesetzte Urtheile fällen müssen. Ein Tartar muß ein stinkendes Pferdeviertel mit eben so großem Genuß riechen wie einer unserer Jäger ein halbverfaultes Rebhuhn.

Rein äußerliche Sinneseindrücke, wie sie z. B. von dem Wohlgeruche eines Blumenbeetes ausgehen, müssen sich solchen Menschen, die viel zu viel laufen, um an dem Spazierengehen noch Freude zu haben, oder solchen, die nicht genug arbeiten, um die Süßigkeit der Ruhe empfinden zu können, kaum bemerkbar machen. Leute, die fortwährend hungrig wären, könnten an Wohlgerüchen, welche keine Speise ankündigten, schwerlich ein großes Vergnügen finden.

Der Geruch ist der Sinn der Phantasie; da er den Nerven eine größere Kraft verleiht, so muß er auch das Gehirn lebhaft erregen. Diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß er zwar für einen Augenblick belebt, aber auf die Länge erschöpft. Seine Wirkungen in der Liebe sind allgemein bekannt. Der süße Duft eines Toilettenzimmers ist keine so schwache Schlinge, wie man annimmt, und ich weiß nicht, ob man den weisen Mann, der so wenig empfänglich ist, daß ihm der Geruch der Blumen, die seine Geliebte am Busen trägt, niemals in Wallung brachte, beglückwünschen oder beklagen muß.

Der Geruch darf deshalb im ersten Lebensalter, wo die bisher erst von wenigen Leidenschaften belebte Phantasie kaum für eine Erregung empfänglich ist und wo man noch nicht genügende Erfahrung besitzt, um vermittelst des einen Sinnes das voraussehen zu können, was uns ein anderer verspricht, nicht sehr thätig sein. Diese Folgerung hat auch durch die Erfahrung ihre vollständige Bestätigung gefunden; es ist eine anerkannte Thatsache, daß dieser Sinn bei der Mehrzahl der Kinder noch schwach, ja fast völlig stumpf ist. Nicht etwa als ob bei ihnen die Empfindung nicht eben so fein, ja vielleicht noch feiner als bei den Erwachsenen wäre; sondern weil sie aus dem Grunde, daß sie noch keine andere Ideen damit verbinden, weder freudig noch schmerzlich afficirt werden und sich mithin auch nicht wie wir angenehm erregt oder verletzt fühlen können. Ich bin überzeugt, daß man bei strenger Festhaltung dieses Systems nicht erst nöthig hat, zu der vergleichenden Anatomie der beiden Geschlechter seine Zuflucht zu nehmen, um mit Leichtigkeit den Grund aufzufinden, weshalb die Frauen von den Gerüchen im Allgemeinen lebhafter als die Männer afficirt werden.

Man behauptet, die Wilden Canadas bilden von ihrer frühesten Jugend auf ihren Geruch bis zu dem Grade von Feinheit aus, daß sie, obgleich sie Hunde besitzen, es unter ihrer Würde halten, sich derselben auf der Jagd zu bedienen, weil sie eine eben so große Spürkraft haben. Es ist mir in der That einleuchtend, daß man, hielte man die Kinder dazu an, ihre Mahlzeit eben so aufzuspüren, wie der Hund das Wild, es vielleicht dahin bringen könnte, ihren Geruch in gleicher Weise zu vervollkommnen; aber im Grunde genommen sehe ich auch nicht ein, welchen in die Augen fallenden Vortheil ihnen dieser Sinn verschaffen könnte, wenn es nicht etwa der wäre, daß er ihnen seine Beziehungen zum Geschmackssinne nachwiese. Die Natur hat schon dafür gesorgt, daß wir uns gezwungen sehen, uns mit diesen Beziehungen vertraut zu machen. Sie hat die Thätigkeit beider Sinne fast unzertrennlich mit einander verbunden, indem sie ihre Organe zu Nachbarn machte und im Munde eine unmittelbare Verbindung beider in der Art herstellte, daß wir nichts schmecken, ohne es gleichzeitig zu riechen. Ich wünschte nur, daß man diese natürlichen Beziehungen nicht aufhöbe, um ein Kind zu hintergehen, indem man es beispielsweise durch ein angenehmes Arom über den schlechten Geschmack einer Arzenei zu täuschen suchte, denn der Zwiespalt zwischen den Eindrücken der beiden Sinne ist viel zu groß, als daß es sich alsdann noch hinter das Licht führen ließe. Da der thätigste Sinn die Wirkung des andern aufhebt, so nimmt es die Arzenei keineswegs mit geringerem Widerwillen. Dieser Widerwille erstreckt sich auch auf alle Eindrücke, welche gleichzeitig auf dasselbe ausgeübt werden. So oft nun der schwächste von ihnen wiederkehrt, ruft ihm seine Phantasie auch die anderen zurück; selbst der angenehmste Duft verwandelt sich nun für ihn in einen widerlichen Geruch, und auf diese Weise vergrößern gerade unsere unüberlegten Vorsichtsmaßregeln die Summen der widerlichen Eindrücke auf Kosten der angenehmen.

Es bleibt mir nun noch übrig, in den folgenden Büchern von der Pflege einer Art sechsten Sinnes zu reden, der gewöhnlich der Gemeinsinn (sens commun, sensus communis) genannt wird, weniger wol deshalb, weil er allen Menschen gemeinsam ist, als vielmehr aus dem Grunde, weil er aus dem richtig geordneten Gebrauche der übrigen Sinne entsteht und uns über die Natur der Dinge durch die Gesammtauffassung aller ihrer einzelnen Erscheinungen belehrt. Diesem sechsten Sinne fehlt in Folge dessen ein besonderes Organ, er zeigt sich nur im Gehirne, und die rein innerlichen Wahrnehmungen desselben werden Vorstellungen oder Ideen genannt. Nach der Zahl dieser Ideen läßt sich der Umfang unserer Kenntnisse feststellen. Ihre Deutlichkeit und Klarheit läßt die Schärfe des Verstandes erkennen; die Kunst, sie unter einander zu vergleichen, nennt man die menschliche Vernunft. Folglich besteht das, was ich sensitive oder kindliche Vernunft nenne, in der Bildung einfacher Ideen durch Zusammenfassung mehrerer Eindrücke; während das, was ich intellectuelle oder menschliche Vernunft nenne, in der Bildung zusammengesetzter Ideen durch Zusammenfassung mehrerer einfacher besteht.

Setzen wir also voraus, daß meine Methode die der Natur sei und ich mich in ihrer Anwendung nicht geirrt habe, so haben wir unseren Zögling nun durch das Land der sinnlichen Wahrnehmungen bis an die Grenzen der kindlichen Vernunft geführt; der erste Schritt darüber hinaus muß ein Mannesschritt sein. Bevor wir uns jedoch mit diesem neuen Wege beschäftigen, laßt uns noch einen Augenblick auf den zurückschauen, den wir bis hierher zurückgelegt haben. Jedes Alter, jeder Zustand des Lebens hat eine Vollkommenheit, die nur ihm entspricht, eine Art Reife, die nur ihm eigenthümlich ist. Wir haben oft von einem »fertigen« Manne reden hören; aber laßt uns nun auch einmal ein »fertiges« Kind betrachten. Dieses wird uns neuer und vielleicht nicht weniger angenehm sein.

Das Dasein aller endlichen Wesen ist so arm und so beschränkt, daß wir, sobald wir nur das, was ist, ins Auge fassen, niemals innerlich bewegt werden. Unsere Phantasie zeigt uns die Gegenstände in einer schöneren Gestalt, als sie in Wirklichkeit haben, und wenn sie dem, was auf uns einwirkt, nicht einen Reiz verleiht, so beschränkt sich das geringe Vergnügen, welches uns daraus bereitet wird, auf das Organ und läßt das Herz dabei fortwährend kalt. Wenn die Erde mit den Schätzen des Herbstes geschmückt ist, breitet sie einen Reichthum vor uns aus, den unser Auge bewundern muß, aber diese Bewunderung vermag uns nicht innerlich zu bewegen, sie hat ihre Quelle mehr in der Reflexion als in dem Gefühl. Im Frühling dagegen, wo das kahle Feld fast noch jedes Schmuckes entbehrt, wo die Wälder noch keinen Schatten darbieten und das Grün erst hervorzusprossen beginnt, wird das Herz beim Anblick der Natur ergriffen. Wenn man sieht, wie die Natur wieder erwacht, fühlt man sich selbst wieder neu belebt. Ein Bild der Freude umgibt uns. Die Begleiterinnen jeglicher Lust, die süßen Thränen, die stets bereit sind, sich mit jedem Wonnegefühle zu vereinen, hängen schon an unsern Wimpern. Mag der Anblick der Weinlese indeß noch so belebt, noch so fröhlich und angenehm sein, so wird man sich ihm doch stets mit trockenem Auge hingeben können.

Woher rührt dieser Unterschied? Daher, daß zu dem Anblicke des Frühlings die Phantasie noch den der darauf folgenden Jahreszeiten hinzufügt. Mit den zarten Knospen, welche sich dem Auge darbieten, verbindet sie sofort die Blüten, die Früchte, die Schatten, mitunter auch wol die Geheimnisse, die letztere bedecken. In einem einzigen Momente vereinigt sie Zeiten, die erst auf einander folgen sollen, und steht die Gegenstände weniger, wie sie wirklich sein werden, als wie sie dieselben wünscht, weil es lediglich von ihr abhängt, sie zu wählen. Im Herbste kann man dagegen über das, was vorhanden ist, nicht weiter hinausblicken. Will uns die Phantasie etwa das Bild des Frühlings vorgaukeln, so tritt uns der Winter hemmend entgegen, und die erstarrte Einbildungskraft erstirbt im Schnee und Reif.

Deshalb hat es auch für uns einen ungleich größeren Reiz, eine schöne Jugend als die Vollkommenheit des reifen Alters zu betrachten. Wann bereitet uns eigentlich der Anblick eines Menschen ein wirkliches Vergnügen? Dann, wenn die Erinnerung an seine Handlungen sein ganzes Leben an unseren Augen vorüberführt und ihn vor uns gleichsam verjüngt. Sehen wir uns dagegen genöthigt, ihn in dem Zustande zu betrachten, in welchem er gerade ist, oder ihn uns etwa gar so vorzustellen, wie er im Alter sein wird, so vernichtet die Vorstellung seiner sich ihrem Ende zuneigenden Natur unsere ganze Freude. Der Anblick eines Menschen, der schnellen Schrittes seinem Grabe zueilt, vermag keine freudige Erregung in uns hervorzurufen, denn das Bild des Todes gibt Allem einen häßlichen Anstrich.

Stelle ich mir nun aber ein zehn- oder zwölfjähriges gesundes, kräftiges und für sein Alter wohlgestaltetes Kind vor, so ruft dasselbe keinen Gedanken in mir wach, der nicht angenehm wäre, gleichviel, ob er auf die Gegenwart oder auf die Zukunft gerichtet ist. Ich sehe es aufbrausend, lebhaft, munter, sorglos, ohne lange und peinliche Voraussicht, nur für die Gegenwart lebend und im Genusse einer Lebensfülle, die auch auf seine ganze Umgebung scheint übergehen zu wollen. Ich stelle es mir dann in einem etwas höheren Lebensalter vor und sehe schon voraus, wie es seine Sinne, seinen Geist und seine Kräfte üben wird, die sich in ihm von Tage zu Tage mehr entfalten und von denen es jeden Augenblick neue Beweise liefert. Ich betrachte es als Kind und es erwirbt sich mein ganzes Wohlgefallen; ich stelle es mir als Mann vor, und mein Wohlgefallen steigert sich noch. Sein heißes Blut scheint mein eigenes wieder zu erwärmen; es kommt mir vor, als ob von seinem Leben neues Leben auf mich überströmte, und sein lebhaftes Wesen macht mich wieder jung.


 << zurück weiter >>