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Die Kinder müssen lange schlafen, weil sie sich außerordentlich viel Bewegung machen. Eines dient als Correctiv des Andern; auch lehrt die Erfahrung, daß sie ein Bedürfniß nach Beiden haben. Die Zeit der Ruhe ist die Nacht; die Natur selbst hat sie dazu bestimmt. Es ist eine völlig zuverlässige Beobachtung, daß der Schlaf ruhiger und süßer ist, so lange sich die Sonne unter dem Horizonte befindet, und daß wir uns bei der durch ihre Strahlen erhitzten Luft nicht einer eben so tiefen Ruhe erfreuen. Daher ist es gewiß eine sehr ersprießliche Gewohnheit, sich mit der Sonne schlafen zu legen und wieder aufzustehen. Daraus folgt, daß in unserem Klima der Mensch so wie alle Thiere im Allgemeinen das Bedürfniß haben, im Winter länger zu schlafen als im Sommer. Da nun aber einmal das bürgerliche Leben nicht einfach und natürlich genug, nicht frei genug von Veränderungen und Zufällen ist, darf man freilich den Menschen nicht bis zu dem Grade an diese Gleichmäßigkeit gewöhnen, daß sie ihm zur Notwendigkeit würde. Unstreitig muß man bestimmten Regeln folgen, aber als Hauptregel muß doch gelten, daß man sie, wenn es die Notwendigkeit erfordert, ohne Gefahr verletzen kann. Gehet deshalb unbedachter Weise auch nicht so weit, euren Zögling dadurch zu verweichlichen, daß sein ruhiger Schlaf niemals gestört werden darf. Ueberlaßt ihn Anfangs getrost dem Gesetze der Natur, vergeßt aber dabei nicht, daß er, der einmal unseren Kreisen angehört, über diesem Gesetze stehen muß, daß er ohne große Mühe im Stande sein muß, sich spät zur Ruhe zu begeben, früh aufzustehen, plötzlich zu erwachen und Nächte schlaflos zuzubringen. Wenn man hiermit schon früh beginnt und stets allmählich und stufenweise fortschreitet, so bildet man den Körper durch dieselben Mittel aus, durch die man ihn zu Grunde richten würde, wollte man sie erst nach seiner vollendeten Entwicklung auf ihn anwenden.

Es ist ebenfalls von Wichtigkeit, sich von früh auf an ein hartes Lager zu gewöhnen. Darin liegt das Mittel, stets gut gebettet zu sein. Im Allgemeinen vervielfältigt eine harte Lebensweise, wenn sie uns einmal zur zweiten Natur geworden ist, die angenehmen Empfindungen, während uns eine weichliche eine ununterbrochene Reihe von Unannehmlichkeiten bereitet. Weichlich erzogene Leute finden nur auf Daunenbetten Schlaf; wer sich aber gewöhnt hat, auf Bretern zu schlafen, findet ihn überall. Für den, welcher sofort einschläft, wenn er sich niederlegt, gibt es kein hartes Bett.

Ein weiches Bett, in welchem man sich förmlich in Federn oder Eiderdaunen vergräbt, erschlafft und löst den Körper gleichsam auf. Die allzu warm eingehüllten Nieren erhitzen sich. Daraus bildet sich der Stein oder andere Beschwerden, und unfehlbar wenigstens eine zarte Natur, die den Keim zu allen Krankheiten enthält.

Das Bett ist unstreitig das beste, welches den erquickendsten Schlaf gewährt. Ein solches werden wir, Emil und ich, uns während des Tages bereiten. Man braucht uns keine persische Sklaven zu schicken, um uns unsere Betten zu machen. Der Landbau, den wir treiben, wird schon dafür sorgen, daß wir unsere Matratzen weich finden.

Ich weiß aus Erfahrung, daß man es bei einem gesunden Kinde fast ganz in seiner Gewalt hat, dasselbe nach Belieben einzuschläfern oder wach zu erhalten. Wenn das Kind in sein Bett gelegt ist und es die Wärterin mit seinem Geplauder langweilt, so sagt sie zu ihm: »Schlaf!« Das ist gerade so, als wenn sie im Falle seiner Erkrankung zu ihm sagen wollte: »Sei gesund!« Das rechte Mittel, es in Schlaf zu bringen, besteht darin, es selbst zu langweilen. Sprecht so viel, daß es sich zu schweigen gezwungen sieht, und es wird binnen Kurzem einschlafen. Predigten sind immer zu etwas nutz; es in Schlaf reden ist besser als es einwiegen. Wollt ihr jedoch dieses Einschläferungsmittel trotzdem des Abends anwenden, so hütet euch wenigstens vor demselben bei Tage.

Ich werde Emil bisweilen wecken, nicht sowol aus Besorgniß, daß er ein Langschläfer werden könnte, als vielmehr um ihn an Alles, selbst an eine plötzliche Störung seines Schlafes zu gewöhnen. Uebrigens würde ich wenig Fähigkeit für die mir gestellte Aufgabe besitzen, wenn ich ihn nicht dahin zu bringen vermöchte, von selbst zu erwachen und gleichsam nach meinem Belieben aufzustehen, ohne daß ich ihm erst ein einziges Wort sagte.

Schläft er nicht lange genug, so deute ich an, daß der nächste Morgen sehr langweilig zu werden verspreche, und er selbst wird dann jeden Augenblick, den er davon verschlafen kann, als Gewinn betrachten. Schläft er dagegen zu lange, so stelle ich ihm ein Vergnügen nach seinem Sinne in Aussicht, welches seiner beim Aufstehen warte. Beabsichtige ich, daß er zu einer bestimmten Zeit erwache, so sage ich: »Morgen früh um sechs Uhr geht es auf den Fischfang«, oder »ich habe einen Spaziergang nach diesem oder jenem Orte vor. Willst du daran Theil nehmen?« Er erklärt sich dazu bereit und bittet mich, ihn zu wecken. Ich verspreche es, oder verspreche es auch nicht, wie es mir gerade am besten scheint. Erwacht er zu spät, so erfährt er, daß ich mich schon auf den Weg gemacht habe. Es sollte mich Wunder nehmen, wenn er nicht bald lernt, von selbst aufzuwachen.

Sollte es übrigens vorkommen, ein Fall, der freilich sehr selten eintritt, daß ein träges Kind die Neigung verriethe, ganz in Faulheit zu verkommen, so darf man es diesem Hange, durch welchen es völlig erschlaffen würde, unter keinen Umständen überlassen, sondern muß irgend ein Reizmittel anwenden, das es aufzurütteln vermag. Selbstverständlich kann nicht die Rede davon sein, es durch Gewalt zur Thätigkeit anzuspornen, sondern es handelt sich nur darum, es durch irgend eine Neigung dazu anzutreiben. Und wird diese Neigung richtig aufgefaßt und nach der natürlichen Ordnung geleitet, so führt sie uns gleichzeitig zwei Zielen entgegen.

Ich kann mir nichts vorstellen, wofür man nicht bei einiger Geschicklichkeit den Kindern Geschmack, ja sogar Leidenschaft einflößen könnte, ohne ihre Eitelkeit, ihren Wetteifer und ihre Eifersucht zu erregen. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Nachahmungstrieb genügen; vor Allem bietet ihr natürlicher Frohsinn ein sicheres Mittel dar, auf dessen Benutzung jedoch noch nie ein Lehrer verfallen ist. Bei allen Spielen, von denen sie sich überzeugt halten können, daß es nur Spiele sind, erdulden sie ohne Klage, ja selbst unter munterem Gelächter Schmerzen, die sie sonst nie ertragen würden, ohne Ströme von Thränen zu vergießen. Langes Fasten, Schläge, Brandwunden, Strapazen jeglicher Art gelten in den Augen junger Wilden für Belustigungen, ein Beweis, daß selbst der Schmerz seine Würze hat, welche ihm seine Bitterkeit zu benehmen vermag. Indeß darf man freilich nicht allen Lehrern die Kenntniß zutrauen, solche würzhafte Speisen zuzubereiten, und vielleicht verstehen auch nicht alle Schüler sie ohne Grimassen recht zu genießen. – Doch halt! Ich gerathe, wenn ich mich nicht in Acht nehme, aufs Neue in Gefahr, mich in Ausnahmen zu verirren!

Was indeß keine Ausnahme erleidet, ist die leidige Erfahrung, daß der Mensch dem Schmerze, den Uebeln seines Geschlechts, allerlei Unglücksfällen und Lebensgefahren und endlich dem Tode unterworfen ist. Je vertrauter man ihn mit diesen Ideen machen wird, desto mehr wird man ihn auch von der bedrückenden Empfindlichkeit heilen, die zu dem Uebel an sich noch die Ungeduld im Ertragen hinzufügt; je vertrauter man ihn mit den Leiden macht, welche ihn treffen können, desto mehr benimmt man denselben, wie Montaigne gesagt haben würde, den Stachel ihrer Fremdartigkeit, und desto unverwundbarer und abgehärteter wird man dadurch auch seine Seele machen; sein Körper wird der Panzer sein, an dem alle Pfeile abprallen, die sein Leben bedrohen könnten. Da die Annäherung des Todes noch nicht der Tod selbst ist, so wird er diesen auch schwerlich als solchen empfinden; er wird gleichsam nicht sterben: er wird lebendig oder todt sein, und weiter nichts. Von ihm hätte der oben erwähnte Montaigne sagen können, was er von einem Kaiser von Marocco gesagt hat, daß kein Mensch so vollkommen bis an die Grenzscheide des Todes gelebt habe. Die Liebe zur Beständigkeit und Festigkeit wie zu allen übrigen Tugenden wird in der Kindheit eingeflößt; aber das geschieht nicht dadurch, daß man die Kinder mit ihren Namen bekannt macht, sondern daß man sie Gefallen an denselben finden läßt, ehe sie sie noch kennen.

Da aber einmal vom Sterben die Rede ist, welches Verhalten wollen wir unseren Zöglingen gegenüber hinsichtlich der durch die Blattern drohenden Gefahr beobachten? Wollen wir sie ihm gleich im frühesten Lebensalter einimpfen lassen, oder abwarten, ob er die natürlichen bekomme? Ersteres, was der heutigen Sitte entspricht, schützt dasjenige Lebensalter vor der Gefahr, in welcher das Leben den höchsten Werth hat, während es das, in welchem es weniger kostbar ist, der Gefahr geradezu aussetzt, wenn überhaupt eine richtig ausgeführte Impfung eine Gefahr genannt werden kann. Man darf nicht außer Acht lassen, daß Rousseau hier nicht die heutigen Tages übliche Kuhpockenimpfung meint, sondern die zu seiner Zeit vielfach angewandte Einimpfung der Menschenblattern.
Der Uebersetzer

Letzteres steht jedoch mehr mit unseren allgemeinen Grundsätzen in Einklang, die darauf ausgehen, überall die Natur bei ihren Zwecken ihre eigenen Wege gehen zu lassen, von denen sie sich bei menschlicher Einmischung nur zu leicht zurückzieht. Der Mensch der Natur ist beständig vorbereitet. Möge diese große Meisterin selbst die Impfung übernehmen. Sie wird den richtigen Augenblick besser als wir zu wählen wissen.

Man ziehe hieraus jedoch nicht den Schluß, daß ich das Impfen mißbillige; denn der Grund, aus welchem ich meinen Zögling damit verschonen will, würde auf die eurigen keine Anwendung finden. Eure Erziehung bereitet sie nicht vor, die Blattern, wenn sie von ihnen befallen werden, glücklich zu überstehen. Wenn ihr den Ausbruch derselben dem Zufalle überlaßt, werden sie wahrscheinlich daran sterben. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man sich in den einzelnen Ländern dem Impfen um so mehr widersetzt, je mehr sich die Notwendigkeit dazu herausstellt; und der Grund dieser Erscheinung ist leicht begreiflich. Um meines Emils willen brauchte ich diese Frage kaum in Anregung zu bringen. Er wird geimpft werden oder nicht, ganz wie es Zeit, Ort und Umstände erfordern; für ihn ist es beinahe gleichgiltig. Impft man ihm die Blattern ein, so hat man jedenfalls den Vortheil, seine Krankheit voraus zu wissen und zu erkennen; das hat immer einen gewissen Werth; wird er indeß von den natürlichen Blattern befallen, so haben wir ihn vor dem Arzte bewahrt, und das hat ungleich mehr zu bedeuten.

Eine exclusive Erziehung, welche lediglich den Zweck verfolgt, diejenigen, welchen sie zu Theil geworden ist, vor dem Volke auszuzeichnen, zieht beständig den kostspieligsten Unterricht dem gewöhnlichen und eben um deswillen nützlichsten vor. Aus diesem Grunde lernen auch die mit größter Sorgfalt erzogenen jungen Leute sämmtlich reiten, weil dies mit vielen Geldausgaben verbunden ist; aber fast Keiner von ihnen lernt schwimmen, weil es keine Geldkosten verursacht, und weil ein Handwerker eben so gut schwimmen lernen kann, wie jeder Andere. Trotzdem besteigt ein Reisender, ohne zuvor die Reitschule durchgemacht zu haben, ein Pferd, hält sich darauf und bedient sich desselben, so weit es seine Bedürfnisse erheischen; kann man aber nicht schwimmen, so ertrinkt man im Wasser, und ohne es gelernt zu haben, kann man sicherlich nicht schwimmen. Endlich ist man ja durch nichts gezwungen die lebensgefährliche Reitkunst zu betreiben, während Niemand sicher ist, ob er sich nicht durch Schwimmen wird einer Gefahr entziehen können, der man so oft ausgesetzt ist. Emil wird sich im Wasser eben so sicher fühlen wie auf dem Lande. Wären wir nur im Stande, in allen Elementen zu leben! Könnte man lernen, sich in die Lüfte emporzuschwingen, so würde ich einen Adler aus ihm machen, einen Salamander dagegen, wenn man im Feuer zu leben vermöchte.

Man fürchtet, daß ein Kind beim Schwimmenlernen ertrinken könnte; mag es nun aber beim Lernen ertrinken oder deshalb, weil es nicht schwimmen gelernt hat, immer werdet ihr die Schuld tragen. Einzig und allein die Eitelkeit macht uns tollkühn; man ist es nicht, wenn man von Niemandem gesehen wird; Emil würde es nicht einmal sein, wenn er auch Aller Augen ausgesetzt wäre. Da die Uebung nicht von der Gefahr abhängt, so wird er in einem Kanale im Parke seines Vaters den Hellespont durchschwimmen lernen.

Ein Kind kann sich mit einem Erwachsenen noch nicht messen; es besitzt weder seine Kraft noch seine Vernunft; aber es sieht und hört eben so gut oder beinahe so gut als dieser. Es hat einen eben so feinen, obgleich weniger verwöhnten Geschmack, und unterscheidet die Gerüche mit eben so großer Schärfe, obgleich seine sinnliche Begierde dadurch nicht in gleich hohem Grade erregt wird. Die ersten Vermögen, die sich in uns bilden und vervollkommnen, sind die Sinne. Diese sollte man deshalb auch zuerst pflegen; leider sind sie aber gerade die einzigen, die man vergißt oder wenigstens am meisten vernachlässigt.

Die Sinne üben heißt aber nicht nur von denselben Gebrauch machen, sondern auch durch sie richtig urtheilen lernen, es heißt gleichsam wahrnehmen lernen, denn wir verstehen nur so zu fühlen, zu sehen, zu hören, wie wir es gelernt haben.

Es gibt eine rein natürliche und mechanische Uebung, welche dazu dient, den Körper zu kräftigen, ohne dabei irgend einen Einfluß auf die Urtheilskraft auszuüben. Schwimmen, laufen, springen, mit dem Kreisel spielen, mit Steinen werfen, das ist zwar Alles recht gut, aber haben wir denn nur Arme und Beine? Besitzen wir nicht auch Augen und Ohren? Und sind diese Organe beim Gebrauche der ersteren etwa überflüssig? Uebt deshalb nicht nur die Kräfte, sondern auch alle Sinne, welche sie leiten. Zieht aus jedem derselben den größtmöglichen Vortheil und vergleicht die Eindrücke mit einander, die ihr von jedem einzelnen empfangt. Meßt, zählt, wägt, prüft! Wendet die Kraft erst an, nachdem ihr den Gegendruck abgeschätzt habt; seht bei allen euren Handlungen darauf, daß stets die Abschätzung der Wirkung der Anwendung der Mittel vorhergehe. Gewöhnt das Kind daran, nie unzureichende oder überflüssige Kraftanstrengungen zu machen. Wenn ihr es anhaltet, in dieser Weise die Wirkung aller seiner Bewegungen vorauszusehen und seine Irrthümer durch die Erfahrung zu berichtigen, ist es dann nicht einleuchtend, daß es um so urteilsfähiger werden wird, je tätiger es ist?

Nehmen wir an, es handele sich darum, eine Masse fortzubewegen. Nimmt das Kind eine zu lange Hebestange, so wird es zu viel Bewegung aufwenden, nimmt es dagegen eine zu kurze, so wird es ihm an Kraft fehlen. Die Erfahrung wird es lehren, genau die Stange zu wählen, die erforderlich ist. Diese Einsicht ist für sein Alter nicht zu hoch. Ein anderes Beispiel: eine Last soll fortgetragen werden. Will nun das Kind eine seinen Kräften angemessene Last tragen, und versucht es vorher nicht sie zu heben, wird es dann nicht gezwungen sein, das Gewicht nach dem Augenmaße zu schätzen? Versteht es erst Massen von gleichem Stoffe und verschiedener Größe zu vergleichen, dann lerne es auch unter Massen von gleicher Größe aber von verschiedenem Stoffe eine richtige Auswahl zu treffen; dabei wird es sich notgedrungen Mühe geben müssen, ihre spezifischen Gewichte zu vergleichen. Ich habe einen sehr gut erzogenen jungen Mann gekannt, der sich erst nach angestelltem Versuche überzeugen ließ, daß ein Eimer voll eichener Hobelspäne leichter sei, als derselbe Eimer voll Wasser.

Der Gebrauch unserer Sinne steht nicht bei allen in gleicher Weise in unserer Gewalt. Einer derselben nämlich, das Gefühl, befindet sich, so lange wir wach sind, in ununterbrochener Tätigkeit. Es ist über die ganze Oberfläche unseres Körpers verbreitet, um uns gleichsam wie ein beständiger Wachtposten von Allem, was ihn verletzen könnte, in Kenntniß zu setzen. Zugleich ist es der Sinn, durch dessen beständige Tätigkeit wir uns wohl oder übel die erste Erfahrung erwerben und dem wir folglich weniger eine besondere Pflege zu schenken brauchen. Wir gewahren jedoch, daß die Blinden ein sichreres und feineres Gefühl als wir besitzen, weil sie der Leitung des Gesichtes entbehren und deshalb gezwungen sind, einzig und allein aus dem ersteren Sinne die Urteile schöpfen zu lernen, welche wir dem anderen zu verdanken haben. Weshalb übt man uns also nicht wie jene, im Dunkeln zu gehen, die Körper, welche wir erreichen können, im Finstern zu erkennen und die Gegenstände, welche uns umgeben, richtig zu beurtheilen; kurz des Nachts und ohne Licht alles das zu thun, was jene am Tage ohne Augenlicht thun? So lange die Sonne scheint, sind wir im Vortheil über sie; im Finstern sind sie jedoch unsere Führer. Wir sind auch unser halbes Leben lang blind, nur wolle man den großen Unterschied nicht außer Acht lassen, daß sich die wirklichen Blinden stets zurecht zu finden wissen, während wir in der Nacht nicht einen einzigen Schritt zu thun wagen. Dafür hat man ja Licht, wird man mir einwenden. Wie? Immer verlaßt ihr euch auf Maschinen? Wer bürgt euch denn dafür, daß sie stets vorhanden sein werden, sobald sich das Bedürfniß nach ihnen zeigt? Ich meinerseits sehe es lieber, daß Emil seine Augen an den Fingerspitzen als im Laden eines Lichtziehers habe.

Seid ihr mitten in der Nacht in einem Gebäude eingeschlossen, so klatschet in die Hände; an dem Wiederhall werdet ihr abnehmen können, ob der Raum groß oder klein ist, ob ihr euch in der Mitte oder in einer Ecke befindet. Einen halben Fuß von einer Wand entfernt, erregt die dünnere, aber deshalb auch stärker zurückgeworfene Luftsäule vor euch eine andere Empfindung im Gesicht. Bleibet auf der Stelle stehen und dreht euch allmählich nach allen Seiten um; eine offene Thür verräth sich durch einen leisen Luftzug. Fahrt ihr auf einem Schiffe, so könnt ihr aus der Art und Weise, wie die Luft euer Gesicht berührt, nicht allein erkennen, nach welcher Richtung es sich bewegt, sondern auch, ob euch die Strömung des Flusses langsam oder schnell fortreißt. Diese und tausend ähnliche Beobachtungen kann man mit Erfolg nur des Nachts anstellen; trotz aller Aufmerksamkeit, welche wir uns am hellen Tage darauf zu verwenden bemühen, werden sie uns doch entgehen, da wir durch das Auge eben sowol zerstreut als unterstützt werden. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal auf die Dienste hingewiesen, die Hände und Stab dabei zu leisten vermögen. Wie viele Kenntnisse, die wir dem Gesichtssinne verdanken, kann man sich durch das Gefühl aneignen, selbst ohne etwas zu berühren.

Viele Spiele zur Nachtzeit! Dieser Rath ist wichtiger, als es scheinen möchte. Die Nacht erschreckt natürlicher Weise den Menschen und bisweilen sogar die Thiere. Dieser Schrecken zeigt sich sichtlich schon bei totalen Sonnenfinsternissen. Vernunft, Kenntnisse, Geist und Muth befreien nur Wenige von dieser Schwäche. Ich habe gebildete Männer, Freigeister, Philosophen und Soldaten, die bei hellem Tage ganz furchtlos waren, Nachts beim Rauschen eines Blattes wie Weiber zittern sehen. Man schreibt diese Furcht den Ammenmärchen zu; indeß täuscht man sich; sie hat eine natürliche Ursache. Wie heißt sie? Es ist dieselbe, welche Taube mißtrauisch und die niedrigen Stände abergläubisch macht, nämlich die Unbekanntschaft mit den Dingen, die uns umgeben, und mit dem, was um uns vorgeht. Ich erlaube mir hier noch eine andere Ursache anzuführen, die von einem Philosophen, dessen Werk ich öfter citire und dessen großartige Anschauungen mich noch häufiger belehren, vortrefflich auseinandergesetzt ist.

Wenn wir in Folge besonderer Verhältnisse uns keine rechte Vorstellung von der Entfernung bilden und deshalb die Gegenstände nur nach der Größe des Sehwinkels oder vielmehr des Bildes, welches sie in unseren Augen hervorbringen, beurtheilen können, so täuschen wir uns nothwendiger Weise über die Größe dieser Gegenstände. Jeder hat wol schon auf Reisen die Erfahrung gemacht, daß man Nachts einen Strauch, in dessen Nähe man sich befindet, für einen großen Baum in der Ferne oder auch umgekehrt einen großen entfernten Baum für einen nahen Strauch hält. Mit gleicher Nothwendigkeit täuscht man sich, wenn man die Gestalt der Gegenstände nicht zu erkennen vermag und man sich folglich auch keine Vorstellung von der Entfernung bilden kann. Eine Fliege, die nur einige Zoll weit in raschem Fluge an unseren Augen vorüberschwebt, wird uns wie ein Vogel in großer Entfernung vorkommen. Ein Pferd, welches mitten auf einem Felde regungslos dastände und vielleicht zufällig eine Stellung einnähme, die den Schafen eigenthümlich ist, würde uns bis zu dem Augenblicke, wo wir wirklich erkannt hätten, daß es ein Pferd ist, nur so groß wie ein Schaf erscheinen; sobald wir es aber einmal als ein Pferd erkannt haben, wird es uns auch sofort so groß wie ein solches erscheinen und wir werden augenblicklich unser erstes Urtheil berichtigen.

So oft man sich Nachts an unbekannten Orten befindet, wo man die Entfernung nicht zu beurtheilen und der Dunkelheit wegen die Gestalt der Dinge nicht zu erkennen vermag, läuft man Gefahr, bei der Beurtheilung der sich darbietenden Gegenstände unaufhörlich in Irrthümer zu verfallen. Daher entspringt der Schrecken und jene innere Furcht, welche die nächtliche Finsterniß fast allen Menschen einjagt. Hierauf gründet sich auch die Erscheinung von Gespenstern und riesenhaften, Grauen erregenden Gestalten, welche so viele Leute gesehen haben wollen. Man pflegt ihnen zu erwidern, daß diese Gestalten nur in ihrer Einbildung beständen; sie könnten aber sehr wohl in ihren Augen wirklich vorhanden gewesen sein, und es ist leicht möglich, daß sie in der That gesehen haben, was sie gesehen zu haben behaupten; denn so oft man einen Gegenstand nur nach dem Sehwinkel abzuschätzen vermag, muß dieser unbekannte Gegenstand sich selbstverständlich ausdehnen und vergrößern, je mehr man sich nähert. Ist dem Beobachter, welcher den erblickten Gegenstand weder zu erkennen noch seine Entfernung zu beurtheilen vermag, derselbe Anfangs, als er noch zwanzig oder dreißig Schritte entfernt war, nur einige Fuß hoch erschienen, so muß er ihm folglich, sobald er sich demselben bis auf einige Fuß genähert hat, mehrere Klafter hoch erscheinen. Dies muß ihn doch fürwahr in Erstaunen und Schrecken versetzen, bis es ihm endlich gelingt, den Gegenstand zu berühren oder zu erkennen, denn in demselben Augenblicke, wo ihm klar wird, mit wem er es zu thun hat, wird der Gegenstand, der ihm zuerst so riesenhaft erschien, sich plötzlich bis zu seiner natürlichen Größe verkleinern. Ergreift man jedoch die Flucht oder wagt sich nicht zu nähern, so wird man sich von dem Gegenstande gewiß keine andere Vorstellung machen, als die das Bild in unsrem Auge hervorruft, und man wird tatsächlich eine riesenhafte oder durch ihre Größe und Figur Grauen erweckende Gestalt gesehen haben. Der Glaube an Gespenster ist folglich in der Natur begründet, und Gespenstererscheinungen hängen nicht, wie die Philosophen annehmen, ausschließlich von der Einbildungskraft ab. ( Buffon, Hist. nat. tome VI, page 22, in 12.).

Ich habe mich im Texte nachzuweisen bemüht, daß der Gespensterglaube doch immer theilweise von derselben abhängt; und was die in dieser Stelle entwickelte Ursache betrifft, so ist klar, daß die Gewohnheit des Nachts zu gehen uns lehren muß, die Erscheinungen richtig zu unterscheiden, welche die Aehnlichkeit der Gestalten und die Verschiedenheit der Entfernungen in der Finsterniß von den Gegenständen in unseren Augen hervorbringen; denn selbst wenn die Luft noch hell genug ist, um uns die Umrisse der Gegenstände erkennen zu lassen, so müssen wir, da sich bei einer größeren Entfernung auch eine größere Luftschicht dazwischen befindet, diese Umrisse doch immer weniger deutlich wahrnehmen, wenn uns eine weitere Entfernung von dem Gegenstande trennt. Und dieser Umstand allein schon ist, in Folge der erlangten Gewohnheit, ausreichend, uns vor dem Irrthume zu bewahren, den Herr von Buffon hier erörtert hat. Welcher Erklärung man aber auch den Vorzug geben möge, so ist meine Methode jedenfalls stets erfolgreich, was die Erfahrung vollständig bestätigt.

Gewohnt, die Gegenstände schon aus der Ferne wahrzunehmen und sich über ihre Eindrücke schon im Voraus Rechenschaft abzulegen, wie sollte ich, wenn ich von meiner Umgebung nichts mehr zu unterscheiden vermag, mir nicht tausend Wesen, tausend Bewegungen vorstellen, welche mir zu schaden im Stande sind und vor denen ich mich unmöglich schützen kann? Ich mag immerhin wissen, daß ich an dem Orte, an welchem ich mich befinde, in völliger Sicherheit bin, so gut, als wenn ich es mit Augen sähe, weiß ich es doch nicht; es bleibt mir also immer eine Ursache zur Furcht, die am hellen Tage nicht vorhanden war. Freilich weiß ich, daß ein fremder Körper kaum auf den meinigen einzuwirken vermag, ohne sich schon vorher durch irgend ein Geräusch zu verrathen. Wie wachsam ist deshalb auch unaufhörlich mein Ohr! Bei dem geringsten Geräusch, dessen Ursache ich nicht erkennen kann, läßt mich das Interesse für meine Erhaltung sofort Alles annehmen, was mich auf meiner Hut zu sein nöthigt, und was folglich gerade am meisten geeignet ist, mich in Schrecken zu setzen.


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