Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XXX

Tunda ging durch die heiteren Straßen mit der großen Leere im Herzen, wie sie ein entlassener Sträfling auf seinem ersten Gang in die Freiheit fühlt. Er wußte, daß der Präsident ihm nicht helfen konnte, auch wenn er ihm die Möglichkeit verschaffte, zu essen und einen Anzug zu kaufen. Ebensowenig macht man einen Sträfling frei, wenn man ihn aus dem Gefängnis entläßt. Ebensowenig macht man ein elternloses Kind glücklich, wenn man ihm einen Platz im Waisenhaus sichert. In dieser Welt war er nicht zu Hause. Wo war er es? In den Massengräbern.

Das blaue Licht brannte auf dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die Kränze dorrten. Junge Engländer standen da, die weichen, grauen Hüte in den Händen und die Hände auf dem Hintern. Aufgebrochen aus dem Café de la Paix waren sie, das Grabmal zu sehn. Ein alter Vater dachte an seinen Sohn. Zwischen ihm und den jungen Engländern war das Grab. Tief unter den beiden lagen die Gebeine des Unbekannten Soldaten. Der Alte und die Jungen reichten sich über das Grab hinweg die Blicke. Es war ein stilles Einverständnis zwischen ihnen. Es war, als schlössen sie einen Pakt, den toten Soldaten nicht gemeinsam zu beklagen, sondern gemeinsam zu vergessen.

Tunda war schon einigemal an diesem Denkmal vorübergegangen. Immer umstanden es Touristen, die Reisehüte in der Hand – und nichts kränkte ihn mehr als ihre Ehrenbezeugung. Es war, wie wenn Weltenbummler, die auch noch fromm sind, während eines Gottesdienstes eine berühmte Kirche besichtigen und, den Reiseführer in der Hand, vor einem Altar niederknien, aus Gewohnheit und um sich nichts vorwerfen zu müssen. Ihre Andacht ist eine Lästerung und ein Lösegeld für ihr Gewissen. Nicht dem toten Soldaten zu Ehren, sondern den Überlebenden zur Beruhigung brannte das blaue Flämmchen unter dem Arc de Triomphe. Nichts war grausamer als die ahnungslose Andacht eines überlebenden Vaters am Grabe seines Sohnes, den er geopfert hatte, ohne es zu wissen. Manchmal war es Tunda, als läge er selbst dort unten, als lägen wir alle dort unten, die wir aus einer Heimat auszogen, fielen, begraben wurden oder auch zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten – denn es ist gleichgültig, ob wir begraben oder gesund sind. Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich.

Nach einigen Tagen ließ ihn der Herr Präsident kommen.

Zwischen beiden war nunmehr die Distanz, die zwischen dem Helfer und dem Hilflosen besteht, eine andere Distanz als die zwischen dem Älteren und dem Jüngeren, dem Heimischen und dem Fremden, dem Mächtigen und dem zwar Schwachen, aber Selbständigen. In den Blicken des Präsidenten lag zwar keine Geringschätzung, aber auch nicht mehr jene stille Bereitschaft zur Hochachtung, die noble Menschen für jeden Fremden übrig haben, die Gastfreundschaft der Vorurteilslosigkeit. Vielleicht war Tunda sogar seinem Herzen nähergekommen. Aber sie waren nicht mehr gleich Freie. Vielleicht hätte der Alte von nun an sogar eines seiner Geheimnisse Tunda anvertraut; aber nicht mehr eine seiner Töchter.

»Ich habe etwas gefunden«, sagte der Präsident. »Da ist der Herr Cardillac, dessen Tochter eine Reise nach Deutschland unternimmt und die ein wenig Konversation braucht. Man sucht ja gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten ältere Damen auf, die aus dem Elsaß stammen. Aber ich bin prinzipiell gegen diese Art Lehrerinnen, weil sie zwar die Sprache beherrschen, aber ein ganz anderes Gebiet der Sprache – nicht dasjenige, das eine junge Dame aus reichem Hause nötig hat. Es fehlt diesen Lehrerinnen an den nötigen Vokabeln. Dagegen dachte ich, daß ein junger Mann von guter Erziehung, von Welt, von Kenntnissen, von allerhand Erfahrung« (die Zahl der Tugenden Tundas wuchs zusehends) »gerade die richtige und notwendige Sprache führt. Es wird sich darum handeln, der jungen Dame auch von den Zuständen des Landes zu erzählen, in das sie jetzt fährt, ohne Kritik natürlich und ohne in ihr Vorurteile zu erwecken. Diese Vorurteile wären um so schlimmer, als Herr Cardillac, der, unter uns gesagt, gar nicht so heißt, Verwandte, entfernte Verwandte allerdings, in Deutschland besitzt, in Dresden und Leipzig, wenn ich nicht irre.«

Als bedürfte ein Präsident, der sich für den europäischen Frieden einsetzte, Hochachtung für Deutschland bezeugte, als bedürfte ein solcher Präsident der Erklärung dafür, daß er einen Herrn Cardillac kenne, der deutsche Verwandte besitzt, sagte der alte Herr:

»Herrn Cardillac kenne ich nicht genau, er selbst ist mir vor einigen Jahren empfohlen worden, von einer alten Mailänder Familie, die weltbekannte Kachelöfen und weitverbreitete Nippesgegenstände erzeugt. Herr Cardillac ist ein wohlsituierter Mann, er beschäftigt sich, glaube ich, mit Kunsthandel, seine Beziehungen sind zwar mehr geschäftlicher als gesellschaftlicher Natur, aber Sie wissen ja, mein lieber Herr« (er sagte wieder: mein lieber Herr), »wie nach dem Krieg geschäftlich und gesellschaftlich identische Begriffe geworden sind –« Und der Herr Präsident versank für einige Augenblicke in Schweigen, in eine Erholungspause, um sich von dem Schock, den er sich durch die Feststellung der Identität von gesellschaftlich und geschäftlich selbst zugefügt hatte, zu kurieren.

Er wollte zwar den Frieden unter den Nationen, aber er verstand darunter den Frieden einiger gesellschaftlicher Schichten, er hatte zwar keine Vorurteile, er kam sich wie der fortschrittlichste Mensch der gebildeten Welt vor, aber die Kategorien, die er sich geschaffen hatte, lagen festgegründet gerade auf den Vorurteilen, die er ablehnte. Mit denen, die man »Reaktionäre« nennt, hatte der Präsident die Fundamente gemein, nur war sein Haus luftiger, es hatte mehr Fenster, mußte aber in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem man das Fundament anrührte. Gewiß schämte er sich seiner Bekanntschaft mit Herrn Cardillac. Daß er von diesem Herrn sprechen mußte, war ihm unangenehm. Vielleicht wäre es ihm ebenso leichtgefallen, Tunda einem andern und höher gestellten Fräulein zu empfehlen. Aber so hoch stand Tunda nicht mehr in seinen Augen, seitdem er ihn um Hilfe gebeten hatte.


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