Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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VI

Tunda führte sein Beruf manchmal nach Moskau. Er ging jede Nacht auf den Roten Platz. Der Rote Platz war still, alle Tore waren geschlossen, die Posten in den Eingängen zum Kreml standen in langen Mänteln wie aus Holz, das Mausoleum Lenins war schwarz, rechts auf dem Dach züngelte die rote Fahne gegen den Himmel, von unten her beleuchtet. Hier war der einzige Ort, auf dem man noch die Revolution fühlte, und Mitternacht die einzige Stunde, in der man sie fühlen durfte.

Tunda dachte an den roten Krieg, an die Jahre, in denen man nur zu sterben wußte und in denen das Leben, die Sonne, der Mond, die Erde, der Himmel nur Rahmen oder Hintergrund für den Tod waren. Der Tod, der rote Tod, marschierte Tag und Nacht über die Erde mit einer großartigen Marschmusik, mit großen Trommeln, die klangen wie galoppierende Hufe über Eisen und zertrümmertes Glas, Scherben schüttete er aus seinen Händen, die Schüsse hörte man wie ferne Rufe marschierender Massen.

Jetzt bemächtigte sich die Ordnung des Tags dieses großen, roten Todes, er wurde ein ganz gewöhnlicher Tod, der von Haus zu Haus schlich wie ein Bettler und sich seine Toten holte wie Almosen. Man begrub sie in roten Särgen, Gesangvereine warfen Strophen in die Gräber, die Lebenden gingen zurück und setzten sich wieder in die Büros, schrieben Register und Statistiken, Aufnahmebogen für die neuen Mitglieder und Urteile gegen Ausgeschlossene.

Es ist kein Trost zu denken, daß man ohne Schreibtisch und Federn, ohne Büsten aus Gips und ohne revolutionär drapierte Schaufenster, ohne Denkmäler und Tintenlöscher mit dem Kopf von Bebel als Griff wahrscheinlich keine neue Welt einrichten kann; es ist kein Trost, es ist keine Hilfe.

»Aber eine Revolution zerfällt nicht«, sagte Kudrinski, ein Matrose, den man aus der Partei ausgeschlossen, der ein Jahr lang ein Kriegsschiff kommandiert hatte und der jetzt vergeblich nach einer Tätigkeit suchte.

Er traf Tunda in einer Nacht auf dem Roten Platz. Es ist anzunehmen, daß auch Kudrinski hierhergekommen war, um die rote Fahne zu sehen, die züngelnde Fahne auf dem Dach des Kreml.

»Eine Revolution zerfällt nicht«, sagte Kudrinski. »Sie hat ja gar keine Grenzen. Der Große Ozean hat keine Grenzen, und das große Feuer – es muß nämlich irgendwo so ein Feuer geben, so groß, so grenzenlos wie der Ozean, vielleicht unter der Erde – vielleicht aber auch im Himmel – ein großes Feuer, es hat keine Grenzen. So ist die Revolution. Sie hat keine Gestalt, sie hat keinen Körper, ihr Körper ist das Brennen, wenn sie ein Feuer ist, oder das Fluten, wenn sie ein Wasser ist. Wir selbst sind Tropfen im Wasser oder Funken im Feuer, wir können gar nicht hinaus.«

Natascha wohnte in einem requirierten Hotel. Sie oblag von sechs Uhr abends der Liebe, natürlich der geschlechtlichen, an der das Herz, der Allgemeinheit gehörig, nicht beteiligt war, der ausdrücklich einwandfreien und hygienischen Liebe. Vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Frauen war nichts dagegen einzuwenden. Die Kameradschaft war ihr heilig. Da Tunda als Mann nicht mehr in Betracht kam, erübrigte es sich auch, ihn zu verachten. Er war nur mehr beinahe ein gleichgestellter Genosse. Wie eifrig bemühte sie sich, ihm zu helfen! Mit welchem Ernst bemühte sie sich, mit ihm zu diskutieren. Tunda aber sah sie, wenn er nahe vor ihr stand, wie in einem blassen Spiegel. Er kam zu ihr, wie man in eine Ortschaft kommt, in der man einmal jung gewesen ist. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war gleichsam nur der Ort ihres eignen früheren Lebens. Hier hatte Natascha gelebt, sagte sich Tunda, wenn er sie anblickte. Sie trug einen blauen Kittel, sie erinnerte an eine Pflegerin, eine Aufseherin, eine Schaffnerin, nur nicht an eine Geliebte und nicht mehr an einen Soldaten der Revolution. Von ihr ging, obwohl sie der Liebe bedürftig war und von der Liebe schon verwüstet, dennoch eine Art Keuschheit aus, eine unbegreifliche Art trockener Keuschheit, die verlassenen Mädchen ebenso eigen ist wie den Frauen, die mit Vernunft und aus Prinzip die Liebe ausüben. Sie wohnte in einem schmalen, mangelhaft beleuchteten Hotelzimmer. Zwischen einem Sessel, auf dem zerfranste Broschüren lagen, und dem Bett, auf dem sie für die sexuelle Gleichberechtigung wirkte, stand sie wie auf einer Kommandobrücke oder wie auf einem Rednerpodium, die Haare weit aus der Stirn gekämmt, sie preßte die Lippen zusammen, sie standen nicht mehr halb offen wie einst, als sie noch Tunda geküßt hatten.

Tunda sagte ihr:

»Ich kann dich nicht mehr Vorträge halten hören, hör auf! Ich erinnere mich, wie ich dich geliebt und bewundert habe. Ich war sehr stolz auf dich! Im Krieg war deine Sprache frisch, deine Lippen waren frisch, wir lagen im nächtlichen Wald, eine halbe Stunde vom Tod entfernt, unsere Liebe war größer als die Gefahr. Ich hätte nie geglaubt, daß ich so schnell lernen könnte. Du warst immer größer und stärker als ich, plötzlich bist du kleiner und schwächer geworden. Du bist sehr arm, Natascha! Du kannst nicht ohne den Krieg leben. Du bist schön in den Nächten, in denen es brennt.«

»Deine bürgerlichen Vorstellungen wirst du niemals los«, sagte Natascha. »Was du dir für Bilder von einer Frau machst! In brennenden Nächten! Wie romantisch! Ich bin ein Mensch wie du, mit einem zufällig anderen Geschlecht. Es ist viel wichtiger, ein Krankenhaus zu leiten, als in brennenden Nächten zu lieben. Wir haben uns niemals verstanden, Genosse Tunda. Daß wir uns, wie du sagst, geliebt haben, gibt dir heute kein Recht, über meine Veränderung feige zu weinen. Geh lieber hin und melde dich zum Eintritt in die Partei. Ich habe keine Zeit mehr! Ich erwarte Anna Nikolajewna, wir müssen einen Bericht machen.«

Das war Tundas letzte Begegnung mit Natascha.

Sie holte einen Spiegel aus ihrer Aktentasche und betrachtete ihr Gesicht. Sie sah zwei Tränen aus ihren Augen rinnen, langsam und in gleichem Tempo bis zu den Mundwinkeln. Sie wunderte sich, daß ihre Augen weinten, obwohl sie selbst nichts fühlte. Sie sah im Spiegel eine fremde Frau weinen. Erst als Anna Nikolajewna eintrat, wollte sie mit der Hand ihr Gesicht trocknen. Sie besann sich schnell. Es war klüger, Tränen nicht zu verbergen. Sie hielt ihr nasses Angesicht Anna entgegen, wie eine Drohung oder wie ein Schild oder wie ein stolzes Geständnis.

»Warum weinst du?« fragte Anna.

»Ich weine, weil alles so nutzlos ist, so vergebens«, sagte Natascha, als klagte sie etwas ganz Allgemeines an, was Anna Nikolajewna niemals verstehen konnte.


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