Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XV

Georg war konziliant. Es gibt Eigenschaften, die man nur mit einem Fremdwort bezeichnen kann. Ein konzilianter Mensch hat es im Leben schwerer, als man glaubt: die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat, können sich derart verdichten, daß er mitten im Lächeln eine tragische Erscheinung wird. Georg, der lauter Erfolge hatte, von den Frauen unaufhörlich in Anspruch genommen wurde und nicht nur die Kapelle des Operntheaters, sondern auch einen Teil der Bürgerschaft dirigierte – Georg war unglücklich. Er war sehr einsam inmitten der liebenswürdigen Welt, der eigenen und der fremden Freundlichkeit. Er hätte lieber in einer feindlichen oder in einer gleichgültigen Welt gelebt. Seine Freundlichkeit bedrückte zwar nicht sein Gewissen, aber seinen Verstand, der ungefähr so stark war wie der Verstand unliebenswürdiger Menschen, die manche Feinde haben. Jede Lüge, die er sagte, würgte ihn. Er hätte lieber die Wahrheit gesagt. Doch stieß im letzten Augenblick seine Zunge den Beschluß seines Gehirns um, und statt der Wahrheit erklang – worüber Georg selbst manchmal erstaunte – irgendeine polierte runde Sache von rätselhafter, angenehmer, melodiöser Beschaffenheit. An der Donau und am Rhein, den beiden legendären Strömen Deutschlands, wachsen manchmal solche Männer – wenig ist von den harten Nibelungen übriggeblieben.

Georg liebte seinen Bruder nicht – er vermutete in ihm den einzigen, der seine Lügen durchschaute. Er war froh, als man von Franz nichts hörte. Verschollen! – welch ein Wort! Welch ein Anlaß, traurig zu sein, traurig liebenswürdig, eine neue, bisher ungeübte Konzilianz. Dennoch war Georg der einzige, der vorläufig Franz helfen konnte.

Deshalb teilte ich Herrn Georg Tunda mit, daß sein Bruder zurückgekommen sei.

Hoch erfreut war darüber Klara. Jetzt hatte ihre Güte, lange Zeit tatenlos und ausgeruht, ein neues Objekt. Franz erhielt zwei Einladungen, eine herzlich aufrichtige und eine herzlich formvollendete. Die zweite stammte natürlich von Georg. Franz aber, der vor fünfzehn Jahren zuletzt mit seinem Bruder gesprochen hatte und daher weit davon entfernt war, ihn zu kennen – obwohl Georg gerade von Franz durchschaut zu sein glaubte –, Franz, der seinen Bruder nur der Musik wegen gehaßt hatte, Franz fuhr an den Rhein, in die Stadt der guten Oper und einiger Dichter von besserem Ruf.


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