Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XXIX

Eines Tages faßte Tunda den Entschluß, den würdigen Präsidenten um Hilfe zu bitten. Er hatte einige Wochen gezögert. Denn er wußte nicht, ob es besser war, dem alten Herrn, der wahrscheinlich seine eigenen Schritte sehr sorgfältig überlegte und sich selbst vielleicht niemals einen noch so geringen Fehler verziehen hätte, einen ausführlichen, wenn auch knappen, wirkungsvollen und höflichen Brief zu schreiben oder ihn zu besuchen.

Tunda erfuhr, daß alle seine Erlebnisse nicht ausreichten, um ihn in einer Welt, in der er nicht heimisch war, sicher zu machen. Auf einmal verstand er die Furchtsamkeit der Invaliden, dieser Invaliden, die im Fegefeuer des Krieges Augen, Ohren, Nasen und Beine verlieren und in der Heimat dem Befehl eines Dienstmädchens gehorchen, das sie vom »Eingang für Herrschaften« verjagt. Er hatte Herzklopfen. Was er an Mut und an Lebenskraft jemals aufgebracht hatte, war nur die Folge bestimmter Situationen gewesen, und Feigheit war das Wesen des gezähmten Menschen.

Er schrieb einige Briefe und zerriß sie wieder. Er zwang sich, an die roten Nächte zu denken, an den flammenden Purpur seiner vergangenen Tage, an das gewaltige, unendliche, absolute Weiß des sibirischen Eises, an die gefährliche Stille der Wälder, die er durchwandert hatte und in denen nichts anderes hörbar war als der Atem des Todes, an den würgenden Hunger, der in seinen Eingeweiden gefressen hatte, an seine gefährliche Flucht und an jenen Tag, an dem er ohnmächtig über den Rücken eines galoppierenden Pferdes gehängt war, an jenen Augenblick, in dem er das Bewußtsein verlor und der so war wie ein jäher, aber dennoch langsamer Fall in eine schwarzrote Schlucht aus Weichheit, Entsetzen und Tod. Aber keine Erinnerung half. Denn die Gegenwart ist tausendmal stärker als die stärkste Vergangenheit – – und er verstand den Schmerz der Menschen, die vor zehn Jahren eine gefährliche Operation heroisch überstanden haben und heute an einem Zahnschmerz zugrunde gehen.

Er entschloß sich, den Herrn Präsidenten aufzusuchen. Er hatte sich nicht angekündigt, und es war ihm, als er vor der Tür stand, ein Trost, zu denken, daß er die ersten zwei Minuten mit der Entschuldigung seines plötzlichen Besuches ausfüllen konnte. Darauf würde der Präsident sicherlich mit gewohnter und gleichsam meisterhaft gehandhabter Herzlichkeit erwidern, es sei ihm gerade sehr angenehm, daß Tunda ihn aufsuche. Dann würde Tunda den Mut aufbringen, ihn zu enttäuschen.

Der Herr Präsident war zu Hause, und er war allein. Wiederum bewunderte Tunda die präzise, die ahnungslose und unerbittliche Maschinerie des Zeremoniells, das keinen Augenblick stockte und das sich um den Zweck seines Besuches nicht kümmerte, ihn die Ehren genießen ließ, die nur einem Unabhängigen, Stolzen, Freien gebühren. Ebenso zuvorkommend wie der Diener ihn heute noch behandelte, ebenso unerschütterlich würde er ihn morgen abweisen, wenn er endgültig und allen sichtbar in die traurige Kategorie der vergeblichen Bittsteller gesunken war. Es gibt keine Ausnahmen. Tunda dachte an das Gesetz, von dem einmal der angeheiterte Fabrikant gesprochen hatte. Man hat schon längst den Ausbruch aus seiner Klasse, seinem Stand, seiner Kategorie vollzogen, aber das Zeremoniell weiß noch nichts davon, und ehe es einen Aufstieg oder einen Absturz zur Kenntnis genommen hat, kann dieser und jener nicht mehr wahr sein. Tunda war wie einer, der aus einer durch Erdbeben vernichteten Stadt kommt und von den Ahnungslosen so empfangen wird, als käme er geradewegs aus einem fahrplanmäßig eingelaufenen Zug.

Erschienen ihm aber Vorzimmer und Diener noch wie in alten Zeiten – wie hatten sich die wenigen Wochen zu Dezennien plötzlich ausgedehnt! –, so empfand er im Anblick des Herrn Präsidenten doch die ganze Veränderung seiner Lage. Denn die Besitzenden, die Ruhigen, die Sorglosen, ja, auch nur die mäßig Versorgten entwickeln einen Abwehrinstinkt gegen jeden Einbruch in ihre geschützte Welt, sie scheuen auch nur die Berührung mit einem Menschen, von dem sie eine Bitte erwarten dürfen, und ahnen die Nähe der Hilflosigkeit mit jener Sicherheit, die den Tieren der Prärie vor einem Waldbrand zu eigen wird. Der Herr Präsident hätte die ganze Veränderung in Tundas Lage erraten, und wenn er ihm bis dahin als ein Millionär und Klubgenosse des Citroën bekannt gewesen wäre, in dem Augenblick hätte er sie erraten, in dem sich ihm Tunda näherte, um ihm seine Armut einzugestehen – – der Präsident hätte sie erraten, dank der prophetischen Gabe, die den Besitz, die Wohlgeborgenheit, die Bürgerlichkeit begleitet wie der Schäferhund den blinden Bürstenbinder.

Des Präsidenten Adel verwandelte sich in Furcht, seine Zurückhaltung in Strenge, seine Vorsicht in Verdrossenheit. Ja, sogar seine Schönheit war einer billigen, äußerlichen, leicht erklärbaren Eitelkeit gewichen. Sein schöner silberner Bart war das Ergebnis eines Kammes und einer Bürste, seine glatte Stirn ein Abzeichen des gedankenlosen und bequemen Egoismus, seine gepflegten Fingernägel eine Art soignierter Krallen, sein Blick der Ausdruck eines glatten, gläsernen Auges, das die Bilder der Welt nicht anders aufnahm als ein Spiegel.

»Es geht mir schlecht, Herr Präsident!« sagte Tunda.

Der Präsident machte ein noch ernsteres Gesicht und wies auf einen bequemen ledernen Sessel, wie ein Arzt, bereit, zu horchen und mit jenem freudigen Interesse zu hören, mit der Ärzte eine Krankheitsgeschichte vernehmen, weil es ihr Studium auf jeden Fall fördern kann. Er saß da wie der Ewige, im Schatten wie in einer Wolke, während auf Tunda durch das Fenster ein breiter Sonnenstreifen fiel, so daß seine Knie beleuchtet waren und das Licht vor ihm stand wie eine goldene durchsichtige Wand, hinter welcher der Herr Präsident saß und hörte oder auch nicht hörte. Dann aber geschah das Merkwürdige, daß der Herr Präsident aufstand – die Wand aus gläsernem Gold war bis zu ihm vorgerückt, er durchbrach sie, da wurde sie ein goldener Schleier, der sich seinen Körperformen anpaßte, auf seiner Schulter lag und ein paar weiße Haarschuppen auf seinem blauen Anzug sichtbar machte. Der Präsident stand, menschlich geworden, streckte Tunda die Hand entgegen und sagte: »Vielleicht kann ich was für Sie tun.«


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