Joseph Roth
Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth

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XVI

Unterwegs mußte er einmal umsteigen. Er hielt sich nirgends auf. Er sah von Deutschland nur die Bahnhöfe, die Schilder, die Reklametafeln, die Kirchen, die Gasthöfe in der Nähe der Bahn, die stillen und grauen Straßen der Vorstädte und die Vorortbahnen, die an müde, dem Stall entgegentrabende Tiere erinnern. Er sah nur die wechselnden Passagiere, einzelne Herren mit Aktentaschen in Cutaways, die jedes offene Fenster strafend ansahen und einen freien Platz mit finsterer Entschlossenheit einnahmen wie eine Festung. Sie schienen kampfbereit irgendeinen Feind zu erwarten, der zu ihrem Ärger nicht kam. Indessen studierten sie in Papieren, die sie den Taschen entnommen hatten, mit dem Eifer, mit dem man sich auf einen bevorstehenden Feldzug vorbereitet. Es mußten wichtige Papiere sein. Denn die Herren beschatteten sie mit ihren Armen, umrahmten sie oder nahmen sie gleichsam unter ihre Fittiche, damit kein unbefugter Blick sie treffe.

Andere, weniger strenge Herren ohne Aktentaschen, in weltgewandten grauen Reiseanzügen setzten sich mit einem Seufzer, sahen freundlich auf den Gegenübersitzenden und begannen bald mit einem Gespräch, das einen ernsten, moralischen, wenn nicht tagespolitischen Inhalt hatte. Hier und dort stieg ein Jäger ein, die Flinte in braunem Lederfutteral in der Rechten, in der Linken – oder auch umgekehrt – einen Stock mit einem Hirschgeweih als Griff. Es sah teils gemütlich und teils bedrohlich aus.

Tunda dachte mit Sehnsucht an die russischen Eisenbahnen und ihre harmlos geschwätzigen Passagiere.

In allen Coupés hingen Land- und Ansichtskarten, Reklametafeln für deutschen Wein und Zigaretten, für Landschaften, Berge, Täler, Ledermäntel, Speisewagen, Zeitungen und Zeitschriften, für Sicherheitsketten, mit denen man Koffer so zuverlässig an die Gepäcknetze schmieden konnte, daß eventuelle Diebe auch noch daran hängenblieben, so daß man die Missetäter nach der Rückkehr aus dem Speisewagen gemächlich fassen und gegen eine Entlohnung beim Stationsvorsteher abgeben konnte. Man konnte sich aber auch, wollte man bequemer zu Geld kommen, gegen sogenannten Reisediebstahl versichern lassen, womit nicht der Diebstahl einer Reise, sondern der gelegentlich einer Reise gemeint war, gegen Eisenbahnunfälle, gegen die ohnehin schon Hacke, Beil und Säge in Glaskästen ausgestellt waren, um den Unfällen von vornherein zu drohen. Man konnte sein Leben, seine Kinder, seine Enkel versichern lassen, so daß man fröhlich, in der Erwartung eines nahen Zusammenstoßes durch Tunnels raste, enttäuscht wieder aus der Finsternis kam und in der nächsten Station Frankfurter Würstchen mit Senf essen durfte.

Welch ein zuverlässiger Betrieb! Die Zeitschriften, die Würstchen, die Mineralflaschen, die Zigaretten, die Koffer, die Briefsäcke von der Post lagen sauber und in Fächern, hinter Glas und in Stanniolpapier und auf rollenden Karren, und wenn der Zug aus den großen Hallen glitt, die an Dome erinnerten, schien es, als rollten die Zurückgebliebenen, mit den Taschentüchern Winkenden, Schreienden, immer etwas Allerletztes noch Nachrufenden ebenfalls auf Rollschuhen. Selbst die Bahnhöfe standen nicht. Nur die Wächterhäuschen und die Signale standen wie Ehrenposten. Daß sie nicht in die Luft schossen, erschien wie eine Pflichtverletzung.

Tunda stand im Korridor und rauchte, er sah die Tafel nicht, die es ausdrücklich verbot, weil der Mensch etwas Widersinniges nicht sieht. So will es die Natur. Außerdem rauchte noch ein anderer Herr, verbarg aber, als er mit geübtem Ohr den Schaffner kommen hörte, die Zigarette in der gehöhlten Hand. Der Schaffner sah zwar auch die verborgene Zigarette, stellte den braven Herrn aber nicht zur Rede, denn es geht den meisten Autoritäten weniger um die Einhaltung der Gebote als um die Einhaltung des Respekts. Der Schaffner machte nur Tunda aufmerksam, daß er Strafe zahlen würde – unter gegebenen Umständen, das heißt, wenn er, der Schaffner, nicht zufällig ein so gutmütiger Mensch wäre. Hierauf zerdrückte Tunda gehorsam die Zigarette, aber leider an der Fensterscheibe. Bei dieser Gelegenheit sagte ihm der brave Herr, der freiwillig die Pflichten des Schaffners auf sich zu nehmen gewillt schien, daß zum Ausdrücken der Zigaretten die Aschenbecher da wären, allerdings in den Abteilen.

Tunda, von zwei Seiten in die Schule genommen, versuchte durch Höflichkeit einem drohenden Unterricht zu entgehen, dankte, verneigte sich und begann die Landschaft zu loben, gewissermaßen, um sich zu revanchieren. Der Herr fragte ihn, ob er ein Fremder wäre. Tunda freute sich wie ein Schüler, der mit seinem Klassenlehrer in einen menschlichen Kontakt gerät und zum Beispiel Schulhefte nach Hause tragen darf. Bereitwillig erzählte er, daß er geradewegs über Wien aus Sibirien komme.

In Anbetracht dieses Umstandes, meinte der Herr, wäre es selbstverständlich, daß Tunda versucht hätte, die Zigarette an der Fensterscheibe auszudrücken.

Wahrscheinlich gäbe es auch Läuse in Sibirien.

»Freilich gibt es auch in Sibirien Läuse«, sagte Tunda zuvorkommend.

»Wo denn sonst?« fragte der Herr mit einer hellen Stimme, die aus einem gläsernen Kehlkopf kam.

»Nun, überall, wo Menschen wohnen«, erwiderte Tunda.

»Doch nicht, wo saubere Menschen wohnen«, sagte der Herr.

»Es wohnen auch in Sibirien saubere Menschen«, meinte Tunda.

»Sie scheinen ja das Land sehr zu lieben?« fragte der Herr ironisch.

»Ich liebe es«, gestand Tunda.

Hierauf entstand eine Pause.

Nach einigen Minuten erst sagte der Herr:

»Man gewöhnt sich leicht an fremde Länder.«

»Unter gewissen Umständen, ja.«

»Ich war letzten Frühling in Italien«, begann der Herr, »Venedig, Rom, Sizilien – nachgeholte Hochzeitsreise, wissen Sie, man kam als Assessor ja gar nicht dazu – verzeihen Sie –«

Hier erfolgte eine merkwürdige Verwandlung des Herrn, er war plötzlich um einen Kopf größer, seine trüben Augen blitzten kühn und blau, über seiner Nasenwurzel erschien ein winziges Koordinatensystem aus Falten –

»Verzeihen Sie«, sagte der Herr mit vorgeneigtem Oberkörper: »Staatsanwalt Brendsen.«

Gleichzeitig schlugen seine Fersen mit scharfem Knall zusammen.

Tunda glaubte einen Augenblick, seine Verhaftung stünde bevor. Er besann sich, wurde ebenso ernst, machte Lärm mit den Stiefeln, nahm aktive Haltung an und schoß seinen Namen ab:

»Oberleutnant Tunda.«

Nachdem ihn der Staatsanwalt noch eine Weile gemustert hatte, setzte er seine Erzählung von der nachgeholten Hochzeitsreise fort.

Es ergab sich später, daß der Staatsanwalt Tunda sogar eine Zigarette anbot, vorsichtig rechts und links nach dem Schaffner spähte und im Hinblick auf diesen äußerte:

»Ein braver Kerl!«

»Ein gewissenhafter Mensch!« stimmte Tunda zu.

Diese Charakteristik schien den Staatsanwalt wieder aufzuregen, wahrscheinlich paßte ihm die Verbindung von »gewissenhaft« und »Mensch« nicht. Deshalb sagte er nur:

»Na, na!«

Unter solchem Zeitvertreib erreichten sie die Stadt am Rhein.


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