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XIII.

Die Kriministen haben die Insel Ceylon im Indischen Ozean erreicht und sie kampflos in Besitz genommen. Der Kriminismus hat gesiegt ...

Norman Griggs ist eingetroffen. Er hat die Führung übernommen, die man für ihn bereitgehalten hatte.

In der ganzen Welt ist eine neue Völkerwanderung entstanden. Im Freien, in geheimen Zusammenkünften verkünden Tausende die neue Lehre des Saturn und das Gesetz des Doktors Griggs – den Kriminismus. Sie rufen die Menschen auf, sich unter die Fahne von Ceylon zu scharen. In allen Seemannsquartieren, in allen Kasernen, in allen Geschützfabriken – überall ertönt der Ruf:

»Nach Ceylon!«

Scharenweise ziehen mit jedem Schiff neue Anhänger aus.

Die bürgerliche Welt gibt die Antwort: die Schiffahrt nach Ceylon wird eingestellt. Aber etwas Seltsames geschieht: die Kapitäne der Schiffe, die zwischen Afrika und Indien, zwischen Australien und Europa kreuzen, werden mitten auf dem Indischen Ozean von ihren Passagieren – und von ihren Mannschaften – gezwungen, den Kurs zu ändern und auf Ceylon anzulegen. Niemand kann sich im Ernst gegen den superioren Willen, der die Menschheit zu erfüllen scheint, auflehnen.

Das Konzert der Mächte schickt eine gemeinsame Flotte aus, bestehend aus zehn der größten Dreadnoughts.

Ein Sturm erhebt sich im Pazifik; zwei der Schiffe gehen unter.

Die andern nähern sich der Insel. Die Kommandeure befehlen, die Geschütze zu richten. Auf drei Schiffen weigert sich die Mannschaft, dem Befehl nachzukommen. Aber die Kapitäne überwältigen ihre Leute und lassen sie in Ketten legen. Man richtet die Geschütze.

Sie versagen ...

Bei andern Schiffen zeigt sich etwas Unerklärliches. Die Kompasse beginnen plötzlich abzuweichen. Der navigierende Kapitän lenkt zu seiner Bestürzung sein Schiff auf Korallenriffe, wo es zerschellt.

Die Schiffe machen sich gegenseitig Mitteilung von ihren Schicksalen. Die Seeleute des letzten überlebenden Schiffes, voll von abergläubiger Furcht, verweigern den Gehorsam. Die Offiziere gehen gegen sie vor. Sie legen die Offiziere in Ketten; dann nehmen sie den Kurs auf Colombo und gehen zu den Kriministen über.

Man schickt Flugzeuge. Sie erreichen Ceylon. Sie überfliegen den Pedrotallagalla, den höchsten Berg der Insel, und den Adams-Pik – als sich ein unerklärlicher Einfluß der Bergspitzen bemerkbar macht: die Maschinerien der Aeroplane oxydieren innerhalb weniger Minuten – die Propeller stehen still, zerschmettert landen die Flugzeuge in der flachen Ebene Kandy.

Griggs erläßt ein Manifest an die Mächte:

»Ihr kämpft nicht gegen menschliche Technik. Nicht gleich gegen gleich. Ihr kämpft gegen die Kultur des Saturn, gegen die Macht und den Willen des Weltalls. Ihr habt mich verlacht, als ich euch warnen wollte. Jetzt bin ich dem Ruf aus dem Aether gefolgt: jetzt werde ich den Saturngedanken auf Erden zum Siege führen.«

Die Welt ist ratlos – die Blicke der Menschheit sind auf die Insel Ceylon gerichtet.

Schon beginnt der Saturngedanke sich durchzusetzen.

Unter den Mühseligen und Beladenen der ganzen Welt klingt ein altes Wort auf:

»Alles Licht kommt von Osten!«

*

In den nordischen Breiten ging langsam der Herbst dem Winter zu. Oevelund stand am Fenster und sah gedankenvoll hinaus in den sinkenden Abend, der die hundert Türme der alten Stadt in einen letzten Rausch von Sonnengold tauchte.

Die Glocke ging; das Mädchen brachte eine Visitenkarte. Darauf stand: Helga Wingaard.

Erstaunt ließ er die Besucherin eintreten; er spürte, wie ein unruhiges Gefühl in ihm aufstieg.

Sie war in Schwesterntracht, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen.

Sie trat auf ihn zu mit der lautlosen Sachlichkeit ihrer beruflichen Schulung und ließ sich zögernd in den Sessel nieder, den er ihr anwies. Und indem sie die Augen auf den Boden heftete, sagte sie:

»Ich komme zu Ihnen, Herr Oevelund, weil Sie sein Freund sind.«

»Sie sprechen von Doktor Griggs?«

Sie nickte. »Weil Sie sein Freund sind und weil Sie vielleicht der einzige sind, den das, was ich zu sagen habe, erfreuen wird.«

Sie hielt inne und sah ihn unschlüssig an.

»Sprechen Sie nur«, sagte er mit heiserer Stimme.

»Ich habe die Unwahrheit gesagt, Herr Oevelund. Doktor Griggs hat es nicht gewußt.«

Oevelund stützte den Kopf in die Hände und wiederholte leise:

»Er hat es nicht gewußt ... Und dennoch haben Sie ihn beschuldigt? Sie haben es mit ansehen können, wie er gehetzt wurde, dieser Mann, der nichts getan hat? Der von einer großen Idee durchdrungen war, der er alles geopfert hat: seine Stellung, sein Vermögen, die Frau, die er liebte? Dem man den letzten Kameraden ermordet hat? Sie haben das alles mit ansehen können, und Sie konnten schweigen?«

Sie senkte den Kopf und begann zu weinen.

»Warum haben Sie das alles getan, Schwester Helga?«

»Weil er mich zurückgestoßen hat; denn ich liebte ihn.«

»Das nennen Sie Liebe, Schwester Helga? Ist das die Liebe einer Frau? Das ist die Brunst einer Dirne. Sie tragen das Ehrenkleid einer Schwester – und Sie können so handeln? Heißt nicht lieben: alles tun für den andern und nichts fordern für sich selbst? Ich sehe ein Kreuz um Ihren Hals – das bedeutet wohl, daß Sie gläubig sind?«

Sie antwortete nicht, aber ihr Schluchzen wurde stärker.

»Ist das Ihr Christentum?«

»Drum bin ... ich ... heute ... gekommen!«

Er sah sie verwundert an. »Warum sind Sie gekommen?«

»Es läßt mir keine Ruhe. Glauben Sie nicht, Herr Oevelund, daß ich an all diese Dinge gedacht habe, von denen Sie sprechen? Ich glaube an Gott, ich schwöre es Ihnen. Aber es ist ein seltsames Ding, wenn man jemand liebt und wenn man sich verschmäht sieht. Man weiß nicht mehr, was man denkt und tut; alles ist wie ausgewechselt. Sie werden mich vielleicht nicht verstehen, ein Mann denkt wohl anders darüber. Mir war's, als wäre es eine ganz andere, die aus mir sprach, ich hatte nur den einen Wunsch: ihn unglücklich zu wissen. Auch das ist nicht richtig. Oder so: es ist nicht das letzte. Ich glaube, irgendwo in mir war dieser Gedankengang: ich wollte eines Tages, wenn er in seiner tiefsten Not war, zu ihm kommen und ihn retten. Dann hätte er vielleicht ...«

»Sind Sie bereit, das, was Sie mir da sagen, vor dem Kommissar zu wiederholen?«

»Gewiß.«

»Aber ich muß Sie auf eins vorbereiten: das kommt einer Selbstbezichtigung wegen Meineids gleich.«

Sie zuckte die Achseln.

»Und er wird Sie festnehmen.«

»Was liegt daran?« sagte sie. »Habe ich es nicht verdient? Ich will gern die Strafe auf mich nehmen, wenn ich ihm damit helfen kann.«

»Sie können ihn nicht mehr retten.«

»Dann kann ich ihn wenigstens vor der Welt reinwaschen.«

»Sie sind erregt, Schwester Helga. Überlegen Sie sich den Schritt, den Sie tun wollen.«

»Nein«, sagte sie, sich erhebend. »Sie haben mir den Weg gewiesen; es ist der richtige. Ich werde zur Polizei gehen und alles sagen. Vielleicht werde ich dann wieder ruhig werden.«

*

In diesen Tagen war es, als Norman Griggs eine neue Radiobotschaft in die Welt hinausschickte:

»Wollt Ihr eure deportierten Verbrecher wiedersehen? Dann kommt nach Ceylon. Aber Ihr werdet sie nicht wiedererkennen. Denn die, die Ihr gehetzt, in Ketten gelegt, in Käfige gesperrt habt – sie haben hier, in der Freiheit der Natur, wiedergefunden, was Ihr ihnen genommen habt: ihr Menschentum. Sie bestellen ihr Land als fleißige Farmer – sie haben sich aus ihrer Mitte Prediger erwählt; und niemals hat eine Gemeinde andächtiger gelauscht als die Kriministen von Ceylon. Und sie haben nur eine einzige Furcht: daß die Kulturwelt über sie herfallen könnte mit ihren Ketten, mit ihren Käfigen und mit ihren Henkern.«

Das Wort schlug ein in der Welt; denn der Name Griggs war der eines neuen Zarathustra geworden. Und neue Scharen strömten zum Indischen Ozean.

Bis eines Tages ...

Eines Sonntags abends kam Sam Chitty aus Trincomali zurück. Er trug etwas Geheimnisvolles in der Hand. Er ging direkt hinein in Chapmans Bar, kurz vor acht Uhr; denn um acht Uhr, das versteht sich, mußte Chapman zumachen.

»Ratet mal, was ich hier habe!«

Niemand konnte es raten; oder, um die Wahrheit zu sagen: niemand gab sich die Mühe. Denn alle diese braven Leute wußten es: in einer Minute wird Sam Chitty seine Hand aufmachen und es uns zeigen. Was brauchen wir uns wegen dieser einen Minute den Kopf zu zerbrechen?

Richtig. Er machte die Hand auf, und was darin lag, war ein Klumpen Erde.

Alle lachten, ein paar waren ein bißchen ärgerlich. Aber Sam sagte: »Setzt mal eure Brillen auf!«

Das taten sie nun zwar nicht, denn sie hatten gar keine Brillen. Aber sie gaben sich immerhin die Mühe, ein bißchen schärfer hinzuschauen. Und da sagte Jean Fleury aus Neukaledonien (früher in Marseille) plötzlich, und seine Stimme zitterte:

» Das ist Gold

Eine halbe Minute später stand alles, was in diesem Raum zwei Beine hatte, um Sam Chitty herum. Der lachte bloß; er klaubte die Erde zwischen den blitzenden Körnern heraus und sagte:

»Es ist so viel da, daß ich es euch ruhig sagen kann, woher ich komme: von der Trincomali-Bucht.«

Das war die Stunde, da alles anders wurde.

Mit einem Schlage waren alle sozialen, alle politischen, alle ethischen Ideale der Kriministen zurückgedrängt hinter dem einen einzigen, alles überschreienden Gedanken: Gold! Die Gier nach Besitz schlug wie eine Flamme aus allen diesen Verlassenen, die der Strom des Lebens als Strandgut auf diese Insel geworfen hatte. Eine Herde von goldhungrigen Tieren stürzte sich auf die Bucht von Trincomali. Einer stieß den andern zur Seite, denn jeder wollte der Erste sein. Einer würgte den andern; die ganze Nacktheit der menschlichen Seele trat wie auf ein gegebenes Zeichen unbarmherzig zutage. Die Stärksten blieben Sieger; die andern wurden niedergetrampelt.

Die Schutzorganisationen, die Griggs geschaffen hatte, lösen sich auf. Niemand will dienen, jeder will raffen.

Ein halbes Dutzend Einsichtiger bittet Griggs, seine Mission zu Ende zu führen. Denn nie war er nötiger als jetzt.

Und dies war es: nicht Verbrecher gegen Verbrecher, einfach Mensch gegen Mensch! Die Insel Ceylon wurde ein Abbild der ganzen Erde. Auf ihren wenigen Quadratmeilen spielte sich die Tragik der Welt ab, der Fluch aller Kreatur: der Kampf aller gegen alle.

Griggs ruft – beschwört – appelliert – alles ist vergeblich. Seine Stimme verhallt im Gebrüll der Habgier.

Ein paar, die weiterdenken, machen den Versuch, den Strom zu dämmen. Es kommt zu einer Schlacht bei Colombo. Die Partei der Goldgräber bleibt Sieger.

Nun ist es vorbei mit Vernunft, mit Überlegung, mit Kultur. Jeder denkt nur an sich, nur an die gegenwärtige Stunde. Alle Begriffe der Gegenseitigkeit, alles, was auf Vertrauen, auf Entwicklung fundamentiert ist, ist weggespült vom Sturm der jauchzenden Gier. Nun sind sie wieder, was sie waren: hemmungslose, von keiner Furcht vor Strafe gebändigte Verbrecher. Der Geruch des Goldes lockt Abenteurer aus der ganzen Welt herbei.

Knatternd fällt neue Saturnbotschaft in die Antennen: der Kriminismus hat auf dem Saturn gesiegt; die Kriministen sind zu Bürgern eines Staates geworden, der vorurteilslos und kastenbefreit kein geschriebenes Gesetz kennt, alles der Selbstzucht überläßt mit dem Staatsgrundsatz: »Wer Ketten löst, muß Gewissen binden!«

Aber Griggs erkennt, daß die Kultur des Saturn, die ältere, reifere, Dinge möglich macht, die auf der jungen Erde zum Zusammenbruch verurteilt sind.

Vom Gipfel des Ritigala sieht Griggs den Zug der Goldgräber, der zum Meer wandert, wie ein ungeheures Ameisenheer. Und er weiß es: dort unten ging die Idee seines Lebens in Trümmer. Jede einzelne der schwarzen Gestalten, die zu seinen Füßen vorüberzog, war ein Baustein, der abbröckelt. Die Mission, an die er geglaubt hat, die er empfangen hat, der er irdisches Leben gegeben, der er zum Siege verholfen hat: diese Mission wird in diesem Augenblick zu Grabe getragen.

Und er hört das Hohngelächter der Welt.

Er stürzt ins Tal. Dort, dort stehen die Holzhäuser mit den Antennen. Dort ringeln sich Drähte, die zu blitzenden Apparaten führen: dort knistern die Funken der Hochfrequenzmaschine. Hier, auf diesem winzigen Fleckchen Erde, ist alles beisammen, was Aufgang und Niedergang bedeutet: alle Hoffnung, alle Seligkeiten des Schöpfers, alle Verzweiflung des Harrenden, aller Stolz des Siegers, alle Trostlosigkeit des Zusammenbruchs.

Ein paar Männer reißen den Wahnsinnigen zurück. Aber er schlägt um sich; mit der scharfen Waffe in seiner Hand tötet er den einen. Sie dringen auf ihn ein; krachend fallen die Axthiebe in die feinen Nervengänge der Präzisionsmaschine, daß Stahl und Kupfer klirrend gegen die Fensterscheiben sprühen.

Sie schlagen ihn nieder.

Draußen ziehen sie vorbei. Sie singen alle Lieder, die er nicht kennt, deren Sinn er sterbend erfühlt. Aller Irrtum, alle verlorene Hoffnung, alles Leid der Menschheit klingt darin.

Er schleppt sich auf und schließt den Strom.

Eine bläuliche Flamme zischt auf.

*

Die Goldgräber haben ihm ein Grab errichtet: hoch oben in den Bergen, im Angesicht des schimmernden Ozeans. Die Sonne grüßt es, wenn sie fern drüben aus den Wassern steigt, und die Stürme brausen durch die Rhododendren, die um den weißen Marmor stehen.

Die Palmen des Tals von Trincomali aber wiegen ihre Kronen im Rhythmus einer feinen und leisen Melodie. Der Wind, der junge reine Morgenwind, nimmt sie auf seine Schwingen und trägt sie fort über Länder und Meere. Nur die Bäume und die Tiere hören sie in den stillen sternenklaren Nächten des Südens. Sie verstehen sie nicht, aber sie lauschen, aus tausendjährigen Ahnungen heraus, ihrem Klang. Er mischt sich mit dem Brüllen des Meeres, mit dem Rollen des Donners hoch über den Bergen Indiens: er singt das Lied von Schöpfung und Niedergang, von Träumen, von Hoffnungen, von Liebe; von Menschenwerk und von Tränen.

*

 


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