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III.

Oevelund hatte sich von Ulsaker und Kjelland am Rondell verabschiedet und war, fast ohne auf den Weg zu achten, um den Block der Häuser und Gärten herumgegangen. Die Kälte hatte zugenommen; eine frische, sternenklare Nacht lag über Kopenhagen. Zu seinen Füßen knirschte Frühlingsfrost; funkelnd breitete sich der Himmel über ihm aus. Dort drüben im Westen stand in majestätischem Glanz der Abendstern – und aus weißlichen Wolken trat die silberne Scheibe des Mondes. Er bedeckte die Konturen der Häuser und die frühlingskahlen Äste der Bäume mit tropfendem Licht, das wie klingende Blütendolden auf die dunkle Erde niederrann. Die weiten Flächen des kahlen Karrees waren erfüllt von diesem rauschenden Silber, das den Einsamen unwiderstehlich in seinen hellen Rhythmus einspann.

Dort drüben leuchteten Griggs' Fenster. Er bog in die Straße ein. Nun rief und lockte das klingende Licht dort hinter ihm schwächer und schwächer, je mehr er sich dem Hause näherte.

Er blickte hinauf. Dort, gerade über Griggs' Hause, stand der Abendstern.

Das Treppenhaus wurde hell: Griggs stand wartend an der Haustür.

Seltsam, auch die übermüdete Stimmung des Herrenzimmers war geschwunden. Durch die weitgeöffneten Fenster kam reine Nachtluft, und kühl und klar schaute die strenge Täfelung der Facetten auf den Ankömmling.

»Wenn es Ihnen recht ist,« sagte Griggs, »führe ich Sie gleich ein Zimmer weiter.«

Die eine der Breitseiten des Zimmers war eingenommen von einer Bibliothek von ungewöhnlichen Ausmaßen. Ihr gegenüber standen Regale mit Retorten, Flaschen und Phiolen – undeutlich sah man drohende Totenköpfe auf schwarzen Etiketts, und einige Flaschen waren durch besondere Vorrichtungen dem Unberufenen hermetisch verschlossen.

An der dritten Wand, vis-à-vis dem Fenster, stand der Radioapparat.

»Alle Wetter!« sagte Oevelund. »Mit dem Apparat reichen Sie bis Amerika. Haben Sie Lizenz?«

Griggs lachte: »Ich hoffe, Sie werden mich nicht verraten!«

»Und dieser Verstärker? Was für ein System ist das? Ich kenne es nicht.«

»Eigenes System.«

»Sie wollen mir also irgend etwas Drahtloses zeigen?«

Griggs ging ans Fenster und schloß die Vorhänge. »Ja«, sagte er. »Und zwar etwas, was ich Ihnen nur in dieser Nacht und um diese Stunde und Minute zeigen kann. Sie werden sofort begreifen, warum. Und Sie müssen auch erfahren, warum ich es Ihnen allein zeige. Es geht mir hier« – eine ganz leichte Verlegenheit trat in Griggs' Züge –, »ich möchte fast sagen, wie einem jungen Mädchen, das von seinen letzten Gedanken und seinen intimsten Gefühlen sprechen soll. Ja, genau so geht es mir. Wir sind hier an der Stelle angelangt, an der das Verstandesmäßige sich scheidet von dem Glauben an das Wunder, von dem ganz naiven und einfältigen Kinderglauben. Denn darüber, lieber Oevelund, brauche ich Ihnen wohl kaum noch etwas zu sagen: dort, wo wirklich Neuland dämmert, dort ist es nichts mit unsrer Zivilisation. Dort hört Klugheit und Technik und Mathematik auf – im günstigsten Falle können uns alle diese Dinge vielleicht auf unserem Wege begleiten, scheu und furchtsam wie kleine wachsame Hunde – niemals aber können sie uns führen. Sie mögen diese Worte aus der überreizten Stimmung dieser Nacht erklären – ich kann Ihnen sagen, daß sie völlig ernst gemeint sind. Nicht das Wissen entscheidet, nein, das Glauben ist es, was uns zur Erkenntnis führt. Das Wissen ist gut, ein gewissenhafter Chronist. Wissen – Gewissen ... merken Sie den gemeinsamen Sinn?«

»Ich habe ähnliches empfunden«, sagte Oevelund.

»Dann werden Sie begreifen, warum ich Sie gebeten habe, allein zu kommen: ich wollte mein junges Kind nicht durch die Blicke skeptischer Lebemänner profanieren lassen. Können Sie sich zu dem Entschluß aufraffen, lieber Oevelund, einmal nicht analytisch vorzugehen, sondern die Dinge von außen hereinzuholen? Nicht, um sie zu erkennen, sondern um sie als Geschenk des Himmels in Empfang zu nehmen? Mathematik und Phantasie müssen zusammengehen, um diese Synthese zu ermöglichen. Und nicht nur das: sogar die Religion müssen Sie zu Hilfe nehmen. Dort, wo sie an einer bestimmten Stelle zusammenfließt mit dem kosmischen Gedanken.«

Oevelund sah Griggs ins Gesicht. »So habe ich Sie nie gesehen.«

»Das liegt nicht an mir, sondern an der Situation.« Er zog die Uhr. »Ich muß mich eilen; es sind nur noch elf Minuten. Die Menschen rechts und links, denen ich das zeigen würde, was Sie gleich sehen werden, teilen sich in zwei Teile: die eine Hälfte – die kleinere – würde unter der Wucht des Unfaßbaren zusammenbrechen. Dazu ist, meine ich, im Ernst kein Anlaß. Die andere würde meine Verkündung mit heulendem Hohn beantworten – das ist der weitaus größere Teil der Menschheit. Zu keiner von beiden Arten kann ich sprechen, das werden Sie begreifen. Sie sind der einzige, Oevelund ... nun ja, der einzige, der, wie soll ich sagen, den nötigen Horizont hat, um mir zu folgen.«

Griggs ging an den Akkumulator und schaltete die negative Klemme ein. Hell leuchteten sechs Audionlampen auf.

Verwundert zog Oevelund die Uhr. »Erwarten Sie um diese Zeit eine Radiobotschaft?«

»So unwahrscheinlich es klingt: ja. Und zwar eine sehr merkwürdige.« Griggs warf einen flüchtigen Blick auf den Kalender mit den Clarence-Underwood-Bildern. »Es war heute vor vierzehn Tagen. Sie müssen wissen, ich beschäftige mich mit dem Problem der kurzen Welle: ich habe Versuche mit Dreißig-Zentimeter-Wellen und mit Fünfundzwanzig-Zentimeter-Wellen gemacht – ich habe ein Häuschen in Marienlyst, wo ein kleiner Sender arbeitet. Meine letzten Versuche liefen darauf hinaus, die Welle noch weiter zu verkleinern; ich brauche Ihnen nicht auseinanderzusetzen, welche technischen Vorteile die kleine Welle hat: Funkverkehr Europa-Amerika mit der Taschenbatterie! Also kurz und gut: dieser Apparat war auf die Zehn-Zentimeter-Welle eingestellt. Es war also heute vor vierzehn Tagen nachts um drei Uhr, als der Melder des Apparates anschlug. Das war eine so befremdliche Tatsache, daß ich mit einem Satz aus dem Bett sprang. Denn Sie wissen, daß man nirgends auf der Erde mit der Zehn-Zentimeter-Welle telegraphiert – der Meldeapparat war aber auf die Zehn-Zentimeter-Welle – ich bin mit Absicht von so pedantischer Genauigkeit, Sie werden gleich sehen, warum – eingestellt. Ich schaltete das Licht ein und nahm die Hörer. In der Tat lief eine Depesche ein.«

»Also doch!«

»Sie dauerte genau viereinhalb Minuten. Das merkwürdige aber war, daß es keine Morsezeichen waren, die ich erhielt.«

»Vielleicht atmosphärische Störungen? Oder Erdströme?«

»Dafür waren die Zeichen wiederum zu deutlich abgegrenzt. Das war keine Beiläufigkeit, keine Störung – das war ein Anruf. Aber, ich wiederhole es: ich konnte kein Wort entziffern.«

»Wie klangen denn die Zeichen?«

»Ich muß jetzt etwas Merkwürdiges sagen: sie klangen ungefähr so, als wenn jemand mit einem Griffel auf einer Schiefertafel zeichnet – aber diese Zeichen hatten fraglos bestimmte Intervalle und einen deutlich erkennbaren Rhythmus. Viereinhalb Minuten nach drei war das Telegramm zu Ende.«

»Hm. Was taten Sie nun?«

»Um es Ihnen offen zu sagen« – Griggs schüttelte den Kopf –, »die Störung mitten in der Nacht hatte mir den Schlaf verscheucht; ärgerlich und in der Nachtkühle frierend, steckte ich mir eine Zigarette in Brand und gähnte verdrossen den Apparat an, der mich um meine schöne Nachtruhe gebracht hatte. Ich habe ein bißchen mit dem Herzen zu tun, wie wir alle, die wir geistig zu viel arbeiten – ohne einen Whisky konnte ich mich auf eine schlaflose Nacht gefaßt machen. Ich muß zu meiner Ehre sagen, daß der Arzt und der Alkoholiker einen minutenlangen erbitterten Kampf miteinander ausfochten; aber der Alkoholiker ging siegreich durchs Ziel, und ich holte mir einen Black-and-White aus dem Likörschrank nebenan.

Der Whisky lief mir glühend durch die Kehle; dazu eine neue Zigarette: ich fühlte das Rieseln der beginnenden Müdigkeit in den Gliedern und machte eben die Tür hinter mir zu, als der Melder zum zweitenmal ging.«

»Doktor!«

»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: mir ging ein Gefühl durch die Nerven, das vielleicht ganz entfernt an Furcht erinnerte. Was bedeutete dieser neue Anruf? Wer sandte diese Welle in den Aether? Diese Welle, an der die Eroberungsgelüste der Technik bis heute ohnmächtig abgeprallt waren?«

»Und dann?«

»Genau die gleiche Depesche lief zum zweitenmal ein. Genau viereinhalb Minuten lang: ein Kratzen, als wenn man mit einem Griffel auf einer Schiefertafel Konturen zeichnet. Unverständlich vom ersten bis zum letzten Zeichen – dennoch zweifellos ein Anruf, der Sinn und Absicht hatte.«

»Konnten Sie sich nicht bei den korrespondierenden Großstationen Gewißheit verschaffen?«

»Das erste, was ich tat, war, daß ich meine Diktiermaschine an den Apparat rollte: so, daß ich beim nächsten Anruf – denn ich rechnete damit, daß die Depesche zum drittenmal kommen würde – die Zeichen auffangen konnte.«

»Und kam sie?«

»Nein. Wenigstens nicht in jener Nacht. Am andern Morgen setzte ich mich nun in der Tat mit verschiedenen Großstationen in Verbindung. Ich schilderte möglichst ausführlich den aufgefangenen telegraphischen Anruf und beschrieb die Zeichen; natürlich vergaß ich nicht, auch die ungebräuchliche Wellenlänge, zehn Zentimeter, zu erwähnen.«

»Was antwortete man Ihnen?«

»Niemand hatte diese Depesche erhalten. Lingby und Reykjavik hatten allerdings atmosphärische Störungen bemerkt, aber die Zeit stimmte nicht überein.

Nun wissen Sie selbst, lieber Oevelund, daß ich sozusagen noch einen Beruf habe. Dreißig schwer Krebskranke sind keine Kleinigkeit, zumal, wenn man es Ernst nimmt mit seinem Beruf und wenn man die Menschen liebt. So ging mir die Depesche von Sonnabend nacht wohl noch ein paarmal durch den Kopf, aber endlich vergaß ich sie im Drange der Geschäfte. Bis ...«

»Sie sind wieder angerufen worden?«

»Heute vor acht Tagen um drei Uhr in der Nacht kam die Depesche zum drittenmal. Genau dieselben kratzenden Zeichen – auch in der Reihenfolge gleich. Wollen Sie sie hören? Ich habe sie im Parlographen aufgefangen.«

Griggs ging an den Diktierapparat und nahm den Sprechschlauch. »Hier, wollen Sie, bitte, einfach ...«

Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Denn in diesem Augenblick ertönte hell und schneidend der Melder des Radioapparates.

»Jetzt werden Sie sie in natura hören«, sagte Griggs. Oevelund blickte ihn an; er sah, daß Griggs blaß geworden war.

Die beiden nahmen die Kopfhörer. Ein schrilles und kreisendes Knacken kam aus der Membrane.

»Blicken Sie auf die Uhr!« flüsterte Griggs.

Das Knacken hörte plötzlich auf. Im Augenblick schien es, als ob eines jener magnetischen Gewitter, die jeder Telegraphentechniker kennt, über Skandinavien dahingebraust sei – dann setzte ein feines, fernes Summen ein, und plötzlich schien der Apparat erfüllt von kreisenden, scharrenden und zitternden Konturen.

»Ist es dieselbe Depesche?« fragte Oevelund leise.

»Dieselbe.«

Die Botschaft veränderte sich unausgesetzt in ihren einzelnen Ausdrucksformen, ohne daß die Hörenden im Grunde beschreiben konnten, worin ihre Variierung bestand. Eine unaufhörliche Bewegung schien durch die Zeichen hindurchzufluten, schien sie zu durchbohren, mitzureißen, sie rhythmisch aneinanderzubinden und in bestimmte Intervalle zu zerstreuen. Deutlich erkannte man gewaltsame Cäsuren, die sich in unverkennbaren Regelmäßigkeiten wiederholten, aber die einzelnen Zeichen der Depesche schienen nicht eigentlich zwischen diesen Pausen zu liegen, sie schienen sie vielmehr in einem unfaßbaren Tempo zu umkreisen.

Langsam wurden die Zeichen matter, die Intervalle größer – die Impulse ferner. Dann, mit einem letzten, deutlich vernehmbaren Mollton, der an den Ausklang eines Harfenstakkatos erinnerte, verstummte der Apparat.

Oevelund blickte auf die Uhr. Sie zeigte viereinhalb Minuten nach drei.

Griggs streifte die Kopfhörer ab und sah Oevelund gespannt an. Auch in Oevelunds Gesicht malte sich ausgesprochene Erregung. Er legte den Bügel mit jener Überordentlichkeit, die völlige Geistesabwesenheit ausdrückt, auf die Holzplatte nieder und ging gedankenverloren ans Fenster.

Eine Pause entstand, in der Stille dieser Nacht fast körperlich fühlbar. Die Blicke der beiden begegneten sich, irrten auseinander, wanderten über die schweigsame Maschine dort an der Wand.

»Steht der Apparat auf Welle zehn Zentimeter?«

»Ja.«

»Sie haben also mit anderen Worten dreimal hintereinander genau die gleiche Botschaft empfangen?«

»Genau die gleiche.«

»Es ist wohl anzunehmen, daß Sie dieselbe Antwort von den Großstationen erhalten, die man Ihnen die beiden anderen Male gegeben hat: daß man nichts dergleichen vernommen hat.«

»Das ist so sehr wahrscheinlich, daß ich vermutlich gar nicht erst anfragen werde.«

Oevelund ging auf Griggs zu, mit dem Gesicht eines Untersuchungsrichters, der ein Geständnis erzwingen will.

»Ich kenne Sie zu genau, Griggs, um nicht zu wissen, daß Sie sich eine Erklärung gebildet haben. Heraus damit! Sie haben mich so viel Unbegreifliches glauben gelehrt, daß ich Ihnen den Kredit, den ich Ihnen sowieso vertragsmäßig schulde, bereitwillig erweitere. Was halten Sie von diesem Anruf?«

Griggs tat einen langen und tiefen Atemzug. Er ging an den Apparat und löste die negative Klemme; die Lampen erloschen. Fast aufatmend wandte er sich zu Oevelund herum:

»Ja. Ich will es Ihnen sagen: ich halte diesen Anruf für eine Botschaft von einem anderen Planeten!«


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