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VII.

Beklemmende Stille lag über der Stadt. Auf den Mauern des Botanischen Gartens brütete grelles und stechendes Sonnenlicht, und die Äste, auf denen sich schüchternes Grün des Frühlings zeigte, standen regungslos. Der pfeifende Wind, der graues Wolkengeflecht vom Sund herübergetrieben hatte, hatte plötzlich aufgehört; nun zogen sich kupfrige böse Streifen hinter den verschwimmenden Rändern der Wolken; sie sahen aus wie abgeschnitten. Ein ängstliches Warten schien in der Atmosphäre zu liegen; ein paar Schwalben flatterten scheu am Boden, flügelrauschend verschwanden sie fern drüben, wo der Dunst der Felder den Blick begrenzte.

Griggs ging mit dem Direktor der Sternwarte der Stadt zu, die endlose Oester Voldgade hinunter.

Jener blieb plötzlich stehen und streckte die Hand aus. »Die ersten Tropfen!« sagte er, fast erfreut.

Die beiden beschleunigten ein wenig ihren Schritt. Die Luft war mit Elektrizität geladen; man hatte das Gefühl, daß bei der nächsten Gelegenheit Funken übersprühen würden, so schwer und schmerzend waren alle Glieder von erregendem Fluidum erfüllt.

»Daß auf dem Saturn etwas vorgeht, merke ich seit langem. Die Dinge, die ich beobachte, sind natürlich keine künstlichen, keine, wenn ich so sagen darf: menschlichen – es sind Angelegenheiten der Atmosphäre, der Wolkenbildung. Ich habe zum Beispiel auf der Nordhalbkugel des Saturn merkwürdige helle und dunkle Flecke konstatiert, die früher nicht vorhanden waren. Fast habe ich den Eindruck, als seien große Eruptionen erfolgt – daß er stark vulkanisch ist, wissen wir längst. Die Bilder, die Sie mir da zeigen – es war ein ausgezeichneter Gedanke von Ihnen, Herr Doktor, daß Sie die zweite Bilddepesche auf dem Filmband festgehalten haben –, diese Bilder sind zweifellos von einem denkenden Gehirn ausgeschickt worden. Daß diese Botschaft aus dem Weltenraum von dem Planeten Saturn kommt, ist natürlich an sich durch nichts erwiesen. Immerhin muß ich Ihnen gestehen: die Fremdartigkeit, die über dem Ganzen liegt, gibt zu denken. Die Psyche dieser Depesche scheint mir in der Tat unirdisch zu sein; auch die Tiere, die Sie mir gezeigt haben, sind bestimmt nicht irdisch. Hinzu kommt die Art der einzelnen Zeichen: Bäume, Tiere, Meer, Berg, Wiese – das alles ist so, ich darf wohl sagen, so absichtsvoll primitiv – Herrgott, jetzt merke ich, daß Sie mich mit Ihrer Phantasie wahrhaftig angesteckt haben. Aber raus muß es: also ich möchte sagen, es macht beinah den Eindruck, als ob eine ferne Kultur mit einer andern in Berührung zu treten wünsche – und als ob sie sich vorsichtig tastend dazu der Urformen bediene, von denen sie annehmen darf, daß sie auch jener anderen Kultur geläufig sind. Ja, das muß ich sagen, Herr Doktor!«

Ein Blitz ging schräg vor ihnen nieder; sein grünes Zickzack verschwand in den Platanen des Rosenborggartens.

»Und das Schlußbild?«

Der Donner rollte heran; zögernd, wie unschlüssig, kam er näher.

»Das Schlußbild ... der Saturn. Ja, mein lieber Herr Doktor, beweisen läßt sich natürlich nichts – aber immer war das Glauben wichtiger als das Wissen. Es gibt nur zweierlei. Entweder wir halten diese ganze Bilderdepesche für eine Belanglosigkeit – dann läßt sich natürlich keinerlei Schlußfolgerung daraus ziehen. Aber, um es Ihnen offen zu sagen: ich finde, daß diese Geschichte nach einer Belanglosigkeit nicht aussieht. Die andere Lesart ist die, daß wir willig dem Unerhörten unser Auge, unser Ohr, unsere Sinne öffnen. Dann müssen wir B sagen, nachdem wir A gesagt haben – und in gerader Linie führt Ihr Weg zu der Vermutung, daß Sie in der Tat eine Depesche vom Planeten Saturn erhalten haben. Was sie bedeutet, an wen sie gerichtet ist, ob ihr Sinn, ihr Zweck, ihre Mission überhaupt mit menschlichem Verstand zu erfassen ist, das ist eine ganz andere Frage. Ich will Ihnen gestehen, daß hier meine Skepsis beginnt.«

Ein neuer Blitz zuckte aus dem Grau des Himmels, das zusehends in metallisches Schwarz überging. Fast unmittelbar krachte der Donner; prasselnd ging der Regen nieder.

Die beiden stampften unter ihren Schirmen durch die Gothersgade.

»Ich weiß auf dem Kongens Nytorv eine kleine Weinstube, in der wir sicher und geborgen sitzen werden.«

»Ich trinke bloß Sodawasser«, sagte der Direktor.

»Sie sprachen vorhin von Störungen, die Sie auf dem Saturn beobachtet haben.«

»Ja, allerdings, ich sagte Ihnen schon: es kann sich natürlich in diesem Punkte nur um große Dinge handeln – vermutlich um geologische Katastrophen.«

»Vielleicht ein Hilferuf?«

»Wer könnte im Ernst Hilfe von einem andern Planeten erwarten? Aber es gibt noch eine zweite Deutung. Geologische Katastrophen wirken sich fast immer psychisch aus. Das können wir in hundert Fällen nachweisen. Der Dreißigjährige Krieg, die Französische Revolution, der Europäische Weltkrieg hängen nachweisbar zusammen mit Vorgängen im Weltall. Dem Kriege von 1914 zum Beispiel gingen ungeheure Katastrophen auf der Sonne voraus; sogenannte Protuberanzen. Wissen Sie, daß der uralte Aberglaube, Nordlicht bedeute Krieg, eine gewisse Berechtigung hat? Insofern nämlich, als Nordlicht und Krieg aus den gleichen Tiefen des Weltalls ...«

Ein furchtbarer Donnerschlag zerriß ihm das Wort. Wolkenbruchartiger Regen prasselte in die menschenleere Straße hinein wie Schrapnellfeuer. Die beiden rannten ein Stückchen vorwärts; dort drüben winkte das schützende Dach.

In dem kleinen Restaurant empfing sie jene ungemütliche Stimmung, die das Beisammensein vieler Menschen kennzeichnet, deren Muße eine gezwungene ist.

Wie in einem Wartesaal, dachte Griggs verdrießlich.

Ein Kolporteur ging durch die Reihen mit den Mittagszeitungen.

Griggs' Blick fiel auf die fettgedruckte Überschrift, die über die ganze Breite der Zeitung ging. Er kaufte das Blatt. Dort stand:

»Ungeheure kriminalistische Welle über dem Pazifik.«

Er las die ersten Zeilen des Artikels:

»Die Sträflinge von Neukaledonien haben sich empört. Sie haben ihre Wächter niedergeschlagen und sich zu Herren der Insel gemacht.«

Er reichte dem Direktor das Blatt hinüber. Der las betroffen die Überschrift, und während ihm die Hand mit dem Blatt niedersank, irrten seine Augen hinüber zu denen Griggs'.

*

Der Vorsitzende der Ärztekammer stützte den Kopf mit dem eisgrauen Bart in die Hände. »Sie sind beschuldigt, Herr Doktor Griggs, Ihren Patienten Severin Lumbye getötet zu haben.«

»Ja.«

»Durch eine Morphiuminjektion von einer Dosis, die, das mußte Ihnen als Arzt von vornherein klar sein, unbedingt tödlich war.«

»Ja.«

Der Vorsitzende blickte auf, und seine Augen bohrten sich in die des Angeschuldigten. »Geben Sie zu, daß Sie den Patienten Lumbye vorsätzlich getötet haben?«

»Ich gebe es zu.«

Aller Köpfe erhoben sich.

»Es liegt also eingestandenermaßen ein Verbrechen vor, Herr Doktor Griggs; danach bleibt mir nur eins zu tun übrig: ich werde die Angelegenheit der Behörde übergeben.«

»Darf ich etwas sagen?«

»Selbstverständlich.«

»Die Tat, die ich begangen habe, ist geschehen im Interesse des Toten. Er selbst hat mich darum gebeten – wiederholt – – flehentlich. Seine Schmerzen wurden von Stunde zu Stunde unerträglicher; niemand konnte das besser beurteilen als der behandelnde Arzt – als ich. Ich habe mich wieder und wieder gewehrt gegen sein verzweifeltes Jammern, ich habe ihn getröstet, ich habe ihn belogen. Dann wieder kamen jene Wendungen, die mich hoffen ließen auf das Wunder – denn was ist alle unsre Kunst, meine Herren Kollegen, ohne die Hoffnung auf das Wunder?

Die Hoffnungen sind zuschanden geworden; das Stöhnen des Kranken hat fünf Tage und fünf Nächte in meinen Ohren gegellt. Fünf Tage und fünf Nächte! Da habe ich es nicht fertig gebracht, ihn länger leiden zu sehen. Hand aufs Herz, meine Herren Kollegen: wer von Ihnen hätte nicht genau so gehandelt wie ich? Wer von Ihnen wagt zu behaupten, daß er die unmenschliche Grausamkeit besitze, in einem Falle wie diesem, der jedem von uns in der Praxis begegnet, von den Möglichkeiten, die ihm als Arzt zur Verfügung stehen, keinen Gebrauch zu machen? Wo ist der Mann, der dieses fertig brächte? Er trete vor, damit Sie ihn ausweisen aus Ihrem Stande, denn er wäre nicht würdig des Ehrentitels, ein Mensch und ein Arzt zu sein. Ein Arzt. Das heißt: ein Helfer, ein Rater, ein Erbarmer.«

Griggs wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn; Murmeln ging durch den Raum, aber er vermochte nicht zu unterscheiden, ob es freundlich war, ob feindselig.

»Da habe ich es nicht mehr mit ansehen können. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, für die einzige armselige Wohltat, die ich dem Kranken, der sich mir anvertraut hatte, erweisen konnte. Wollen Sie mich im Ernst darum verdammen? Dann tun Sie es. Stoßen Sie mich aus Ihren Reihen – denn ich will Ihnen in diesem Augenblick erklären: ich würde genau wieder so handeln, wenn diese Situation zum zweiten Male eintreten sollte.

Ich habe nichts mehr zu sagen. Es ist nichts an dieser Angelegenheit, das nach Winkelzügen wiese, das zu einer Beschönigung oder einer Verdrehung Anlaß oder Möglichkeit gäbe. Die Tatsachen stehen nackt im Raum: ich habe ihn getötet.«

Die Jury zog sich zurück; Griggs blieb allein. Hart und feindselig füllte der lange, grünbespannte Tisch die Länge des Raums; kühl und ablehnend in seiner betonten Einfachheit. In zwei Reihen paradierten die Tintenfässer, sämtlich auf den Millimeter gleichmäßig gefüllt. Vor jedem lag ein Federhalter mit peinlich sauberer Feder; alles trug den Stempel einer tödlichen Korrektheit.

Hier war keine Gnade zu erwarten, kein Verstehen, das über gedruckte Instruktionen hinausging.

Wie hart das Licht der Sonne auf den Deckeln der Tintenfässer blitzte! Wie das Monokel eines Staatsanwalts, dachte Griggs bei sich.

Die Tür ging auf.

Merkwürdig: der Vorsitzende schien zu lächeln.

»Herr Doktor Griggs,« sagte er, als sich das Füßescharren gelegt hatte, »die Ärztekammer ist Ihren Ausführungen gefolgt. Und sie hat Ihnen die günstige Mitteilung zu machen, daß sie sich Ihren Argumenten nicht verschlossen hat. Sie haben sich in einem Zwiespalt befunden zwischen den kalten Vorschriften eines starren Gesetzes und zwischen Ihrem Herzen, das Mitleid hatte, das mitschrie mit dem Leib der Kreatur. Und ich darf sagen: es macht Ihnen alle Ehre, daß Sie in diesem Konflikt dem Zuge des Herzens gefolgt sind. Sie mußten wissen, daß Sie durch diese Tat Ihre Karriere aufs Spiel setzten, daß Ihre Existenz, Ihre berufliche und Ihre bürgerliche, mit dieser Spritze Morphium vernichtet sein konnte. Es war auch kein Preis, der Ihnen winkte, der etwa Ihrer zögernden Hand die Richtung gewiesen hätte; einzig und allein aus Menschenliebe haben Sie die Tat ausgeführt, die, ich wiederhole es, Ihnen, dem Gesunden, der hoffnungsfreudig ins Leben blickte, weit größere Gefahr bedeutete als jenem Todkranken. Ich darf Ihnen sagen, daß meine Kollegen sich einstimmig zu Ihrer Auffassung bekennen, und wir freuen uns, Ihnen zu dieser Rehabilitierung gratulieren zu dürfen.«

Wie im Traum rauschten die Worte an Griggs' Ohr vorüber. Er sah die freundlichen Gesichter, die sich ihm zuwandten, er fühlte und erwiderte den Druck der Hände, er machte automatisch eine tiefe Verbeugung – Türen öffneten sich, der Hall seiner Schritte wanderte mit ihm über Steintreppen, und er trat ins Freie.

Unten wartete Oevelund.

»Freigesprochen?«

»Ja. Woher wissen Sie ...?«

»Ich habe es die ganze Zeit gefühlt. Und ich muß Ihnen gestehen, ich hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn das Verdikt anders ausgefallen wäre. Ich glaube, ich wäre bis zum König gegangen.«

Griggs nahm den Arm des Freundes mit einer hilflosen Geste. War es die nervöse Anspannung dieser letzten Tage, die jetzt umschlug in einen Zusammenbruch der Kräfte? Schwer lag seine Hand in Oevelunds Arm.

»Wir wollen von angenehmeren Dingen sprechen«, sagte Oevelund. »Es ist kein Wunder, daß Sie erschöpft sind. – Haben Sie neue Botschaften?«

»Nein.« Griggs strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn. »Die Antenne schweigt. Sagte ich Ihnen, daß ich beim Direktor der Sternwarte war?«

»Nein.«

»Er war zuerst skeptisch – dann allmählich sing er Feuer.«

»Und er glaubt in der Tat ...«

»Er hält es zum mindesten für möglich, daß dieser Ruf von einem andern Planeten kommt, und weiter, daß dieser Planet der Saturn sein könnte. Und sagen Sie selbst, Oevelund – ist ein ernster Grund da, nein zu sagen? Man könnte einwenden: Was wissen wir vom Saturn? Wie kommen wir zu der Vermessenheit, denkende Wesen, Gehirne auf dem Saturn zu vermuten? Was berechtigt uns, eine Kultur auf anderen Sternen anzunehmen ähnlich der unseren? Mit anderen Worten: eine menschliche Kultur?«

Oevelund sah lächelnd dem Freund ins Gesicht. Der Eifer des Lieblingsthemas hatte ihn völlig zu dem alten, fanatischen Himmelstürmer gemacht.

»Sind nicht alle Planeten Kinder der gleichen Mutter, der Sonne? Zeigt uns nicht die Spektralanalyse, daß sie aus demselben Stoff bestehen, aus denen unsere Erde zusammengesetzt ist?«

»Ganz sicher.«

»Nun wohl. Da die Grundbedingungen die gleichen sind, so dürften auch die Erscheinungen, die sich auf diesen Grundbedingungen aufbauen, zum mindesten ähnliche sein. Die Verschiedenheit der Lebensbedingungen auf dem Mars und auf der Erde ist bestimmt nicht viel größer als der Unterschied zwischen den Lebensmöglichkeiten in Skandinavien und China. Die Annahme denkender Wesen auf andern Planeten ist deshalb nicht nur wahrscheinlich – es wäre geradezu eine Vermessenheit, anzunehmen, daß nur der eine winzige Planet Erde denkende Wesen hervorgebracht hätte, das übrige Weltall aber gehirnlos wäre. Nein, Oevelund, und wenn die ganze Wissenschaft zweifelt oder gar bestreitet: es gibt außerhalb der Erde Menschen oder doch menschenähnliche Geschöpfe; ihre Gedankengänge, die nichts sind als Vergeistigung des Stoffes, dem sie entstammen – ihre Gehirne suchen uns im Weltenraum, wie wir sie suchen, die unsere Brüder sind. Sie haben es erreicht, was wir vergeblich angestrebt haben: sie haben die Brücke geschlagen durch den Aether hinüber zu uns, ihr Ruf ist durch die Tiefen des Alls gedrungen, uns zu grüßen.«

Oevelund schielte in eine Seitenstraße hinein. Griggs, dem dies auffiel, folgte seinem Blick. »Weinrestaurant Wivel« stand auf dem Dreieckschild. »Natürlich«, sagte er.

»Sie dürfen nicht lachen«, begann Griggs, als sie in dem leeren Hinterzimmer Platz genommen hätten; »ich bin draus und dran, die Deutung der Botschaft zu finden.«

»Griggs!«

»Ja. Passen Sie auf. Sie kennen den Inhalt der Lichtdepesche, Sie haben die Kreise, die Sonnen, die Sterne gesehen, den Baum, die Wiese, das Meer, den feuerspeienden Berg.«

»Ich habe alles so genau gesehen, daß ich Ihnen die Reihenfolge der Bilder aufzählen könnte – dank Ihrem Projektionsapparat.«

»Was ist Ihnen daran aufgefallen?«

»Wenn ich offen sagen soll: alles.«

»So kommen wir nicht weiter. Mir hat sich die Primitivität der Bilder aufgedrängt, die Urformen: von denen der Absender vermuten konnte, daß sie auch dem Empfänger auf dem andern Planeten geläufig sein würden. Und, um es gleich zu sagen: das hat mich an die Uranfänge unserer Schrift erinnert.«

»Sie widersprechen sich, Griggs. Sie vermuten eine Kultur auf dem Saturn, die der unsern ungefähr gleich ist – vielleicht sogar voraus. Ja, ein solches Kulturniveau ist geradezu Voraussetzung – denn diese Saturnkultur hat doch einen ingeniösen Radiosender hervorgebracht, der es ermöglichte, seine Wellen zur Erde hinüberzuschicken. Das ist eine Tat, die der Erde bisher nicht gelungen ist. Wie stimmt eine solche Kulturhöhe überein mit so primitiven Schriftformen?«

Griggs füllte sein Glas. »Wenn der Saturn eine Kultur hat, wie ich sie einmal als gegeben annehmen will, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß sich diese Saturnkultur in ihrer Entwicklung erheblich von der Kultur unserer Erde entfernt hat. Ebenso wahrscheinlich aber ist, daß die Urformen, auf denen diese Kulturen gediehen sind, auf beiden Planeten gleich waren: der Saturnmensch hat deshalb, so vermute ich wenigstens, auf diese Urformen zurückgegriffen, um Begriffe zu zeigen, die dem Empfänger voraussichtlich bekannt waren. Um es nochmals zu sagen: das erinnert mich an die Uranfänge unserer Schrift; und ich will Ihnen gestehen, daß ich vier Nächte lang über Quellenbüchern gebrütet habe. Ich habe die Schriften der Phönizier, der Hebräer, der Samaritaner durchstudiert, die älteren und die jüngeren Formen des Ostens und des Westens. Ich habe die Bilderschrift zerfasert, die vor Erfindung der Buchstabenschrift auf der ganzen Erde in Gebrauch war; wenn Sie mal in Schweden sind, vergessen Sie nicht, Bohuslän zu besuchen. Dort können Sie noch in den Steinen jene alten Schriften sehen. Dann habe ich mich über die Hieroglyphen hergemacht – und damit bin ich, glaube ich, der Lösung des Rätsels einen Schritt näher gekommen. Vielleicht wissen Sie es genauer als ich: die Hieroglyphen bestanden aus ungefähr dreitausend Bildern konkreter Gegenstände, aus denen sich Worte, Begriffe, Sätze und Gedankengänge zusammensetzen ließen. Ich könnte Sie mit den Einzelheiten, ich meine mit den einzelnen Etappen, meiner Forschungen beglücken; aber ich bin, offen gestanden, zu erschöpft, und ich denke, auch Sie interessiert mehr das Resultat als der Weg. Um es Ihnen aber gleich zu sagen: wenn nicht alles täuscht, bringt diese Botschaft Kunde von einer ungeheuren Umwälzung auf dem Saturn.«

»Einer Bodenkatastrophe?«

»Ich glaube, nein. Es ist mehr gefühlsmäßig, was ich jetzt sage: auch der Begriff der Gehirnwelle spielt irgendeine Rolle in jenem Ruf. Aber welche, das kann ich mir nicht recht erklären.«

»Sind das nun Phantastereien, Griggs?«

Der Arzt tat einen tiefen Zug aus seinem Rheinweinglas. »Es sind keine Phantastereien, Oevelund. Kennen Sie mich so wenig? Es ist ernste, skeptische, unvoreingenommene Forschung. Und ich will Ihnen gleich sagen: noch eine, noch zwei Nächte – und der Inhalt der Depesche liegt klar und offen vor mir.«

Eben erschien der Wirt. Er dienerte sich mit wichtiger Miene an Oevelund heran, den jeder Gasthausbesitzer in Kopenhagen zu kennen schien, und wies auf die Zeitung, die er in der Hand trug. »Merkwürdige Geschichten, Herr Oevelund«, sagte er kopfschüttelnd. »Haben Sie es schon gelesen? Gestern sind die Sträflinge in Neukaledonien ausgebrochen; sie haben sich zusammengerottet und sich zu Herren der Insel gemacht. Heute – hier können Sie es selbst lesen –, heute wird gemeldet, daß sich in der gleichen Stunde die Sträflinge von Cayenne empört haben: sie haben ihre Gefängnisse gesprengt und haben den Gouverneur getötet.«

Die beiden sahen sich an.

*

Es war kurz nach vier Uhr in dieser Nacht, als Oevelund aus dem Schlaf auffuhr. Er sah sich unschlüssig um. Was war doch geschehen?

Da klingelte das Telephon zum zweitenmal.

Er sprang aus dem Bett. »Sind Sie es, Griggs?«

Die atemlose Stimme des andern kam in ruckweisen Worten aus dem Apparat. »Sind Sie munter, Oevelund?«

»Vollkommen.«

»Der Anruf ist gekommen.«

»Zu einer so ungewohnten Zeit?«

»Nein. Um drei, wie immer. Neue Zeichen, neue Bilder. Neue Kombinationen. Ich hatte mich präpariert. Morgen sollen Sie die Einzelheiten hören. Jetzt nur so viel: Ich habe die Einzelheiten entziffert.«

»Mein Gott!«

»Der Saturn – das Bild des Saturn ist wieder als Schlußzeichen erschienen –, der Saturn teilt mir mit – ich fasse die Botschaft in unsere Alltagssprache, sie ist in Wirklichkeit viel länger und verschnörkelter –, also hören Sie: auf dem Saturn ist eine Umwälzung im Gange: die katastrophalste, die man sich auf einem Weltkörper denken kann. Die Verbrecher haben die Herrschaft an sich gerissen; sie haben das Verbrechen zum Staatsprinzip gesetzt. Die Bewegung wird auf unsern Stern übergreifen.«

»Und das haben Sie tatsächlich herausgelesen aus der Depesche?«

»Ja. Mit einer Mühe, von der ich Ihnen gar keine Beschreibung machen kann.«

»Ja – aber ... zunächst: wieso wird die Bewegung auf die Erde übergreifen? Denn das ist das, was uns schließlich am meisten angeht.«

Lachen antwortete aus dem Apparat. »Sie scheinen sich ein Telephongespräch vorzustellen, Oevelund. Sie vergessen, daß die Unterhaltung einseitig ist: der Saturn telegraphiert mir, ich empfange diese Botschaft – aber ich kann ihm nicht antworten.«

»Aber das alles ist doch undenkbar, was Sie da sagen: Herrschaft der Verbrecher! Das ist vollkommen irdisch gedacht.«

»Man merkt, daß Sie aus dem Schlaf kommen, Oevelund. Die Begriffe Gut und Böse sind ohne Frage so kosmisch wie Licht und Schatten. Alle bekannten Kulturen haben den Grundsatz der Ethik zum Staatsgedanken gemacht. Die Moral herrscht über das Verbrechen, das Ehrliche richtet über den Unehrlichen. Warum sollte nun die Entwicklung einer Kultur nicht auch einmal zum Gegenteil führen? Das ist eine Frage der Macht. Der Geschicklichkeit. Der Überzahl. Wissen wir denn, über welche Mittel die Verbrecher dort oben verfügen?«

»Also gut. Aber welche Möglichkeit sollte der Saturn haben, diesen neuen Staatsgedanken der Erde aufzuzwingen?«

»Sie vergessen die Radiogehirnwelle.«

Einen Augenblick war Schweigen am Apparat. Dann plötzlich flüsterte Oevelund, nun seinerseits atemlos:

»Griggs!«

»Nun?«

»Die Zeitungen! Gestern die Empörung der Sträflinge von Neukaledonien; heute Revolution der Verbrecher in Cayenne ... Ist es denn möglich, Griggs ...?«

»Ja, Oevelund. Es ist möglich.«


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