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V.

Doktor Griggs ging selbst an die Tür, um zu öffnen. Es war Oevelund. Hinter ihm stand eine Dame, die er im Halbdunkel des Treppenflurs nicht recht erkannte.

»Guten Tag, Doktor! Sind Sie bös, daß ich Sie überfalle? Ich habe Ihnen dafür eine Belohnung mitgebracht.«

Ein helles Lachen quittierte über das Kompliment. Griggs schaltete das Licht ein. Es war Yrsa Aspinall.

Er ließ die beiden mit einer Verbeugung näher treten.

»Er macht tatsächlich ein böses Gesicht«, sagte Yrsa. »Das ist kein Wunder. Ich kann mir denken; Sie haben um diese Zeit über jede Viertelstunde disponiert. Und alles wollen wir nun über den Haufen werfen – Grund genug, uns mit einem Stirnrunzeln abzufertigen.«

»Aber meine Gnädigste!«

»Ja, ja, lassen Sie's nur gut sein, alle Ärzte sind Pedanten; ich glaube überhaupt, der Hauptbestandteil der ärztlichen Wissenschaft ist Pedanterie.«

»Sie haben offenbar viel mit Ärzten zu tun gehabt, gnädige Frau.«

Sie sah sich neugierig um. »Also dies ist das berühmte italienische Renaissancezimmer, von dem mir Herr Oevelund vorgeschwärmt hat. Ich war so neugierig auf Sie und dies alles hier, daß ich diese Gelegenheit beim besten Willen nicht vorbeigehen lassen konnte. Und sagen Sie, wo ist denn der Radioapparat? Kriegen Sie noch immer Signale vom Mond? Und was machen Ihre Patienten – geht es ihnen gut? Wie fühlt sich Herr Lumbye, Oevelunds Bekannter? Wo nehmen Sie bloß die Zeit her, sich bei alledem noch mit solchen drahtlosen Spielereien zu beschäftigen? Und überhaupt, wenn Sie nun die Wahl hätten, was würden Sie vorziehen: sich ganz auf die medizinische Seite zu legen oder auf die technische? Aber Oevelund, Sie reden ja kein Wort!«

Oevelund lachte. »Sie hatten mir bisher nicht recht Gelegenheit dazu gegeben, gnädige Frau! Also, Griggs, hören Sie mal: wir wollen Sie abholen.«

»Unmöglich!«

»Ich erzählte Ihnen doch von meinem Segelboot.«

»Es ist direkt eine Segeljacht!« rühmte Yrsa.

»Sie ist über Winter kalfatert worden; wir wollen eine Fahrt nach Skodsborg machen. Kommen Sie mit, Griggs, das wird Ihnen guttun; fragen Sie mal einen Arzt!«

»Aber ich sitze mitten drin ...«

»Wenn Sie so lange warten wollen, bis Sie fertig sind, lieber Doktor, dann müssen Sie warten, bis Sie tot sind. Für Sie gibt es doch nur die eine Möglichkeit: daß Sie mit einem Ruck mal die Arbeit beiseiteschieben – nach rechts und links, und sich mit Gewalt eine kleine Arbeitspause von einigen Stunden schaffen.«

»Sie haben schon recht. Aber es geht wirklich nicht.«

»Machen Sie keine Geschichten. Das Boot liegt an der Kvaesthusbrücke. Mein Auto steht unten, in zehn Minuten sind wir an Bord.«

»Kjelland ist vorausgefahren«, sagte Yrsa Aspinall. »Er hat eine ganze Kiste Sekt mitgeschleppt.«

»Glauben Sie mir« – Griggs strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn –, »ich würde tausendmal lieber mit Ihnen fahren, als hier in der staubigen Stadt hocken. Aber ich habe eine Operation vor.«

»Wie geht es übrigens Lumbye?« erkundigte sich Oevelund.

Ein Schatten legte sich auf Griggs Gesicht. »Lumbye ist vor drei Tagen gestorben.«

»Gestorben ... Doktor!« Oevelund sah den Arzt erschrocken an. »Und doch ... wenn ich's recht bedenke: es ist ein Glück für ihn. Er muß furchtbare Schmerzen gelitten haben.«

»Ja. Er hat tagelang gejammert. Fünf Tage und fünf Nächte, um es genau zu sagen.«

Yrsa blickte hinaus. Die Straße war erfüllt vom stillen Gold der Nachmittagssonne. Man hörte das Lachen spielender Kinder, und ein Stückchen tiefblauen Himmels stand in dem schrägen Halbkreis, den das Fenster freigab. Man hörte eilige Schritte auf den Läufern der Korridore; gedämpfte Signale und fernes Türenschlagen erzählten von leisen und erbitterten Kämpfen, die dieses Haus erfüllten.

»Ich möchte einmal Ihre Kranken sehen«, sagte Yrsa.

»Ich bedaure sehr, Mrs. Aspinall: diesen Wunsch kann ich Ihnen nicht erfüllen.«

»Oh, das ist schade. Dann lassen Sie mich wenigstens einmal Ihren Radioapparat sehen!«

»Wenn Sie mein primitives Arbeitszimmer nicht stört?«

»Arbeitszimmer, die nicht primitiv sind, sind eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, glaube ich. Kommen Sie mit, Herr Oevelund?«

Der Ingenieur war in den Anblick eines Bildes vertieft. »Sagen Sie mal, Griggs – ich glaube ein bißchen was von Malerei zu verstehen –, ist das ein echter Bouguerau? Oder irre ich mich?«

»Sie irren sich keineswegs. Es ist der »Gesang der Muschel«. Interessieren Sie sich für Bouguerau? Dort drüben ist seine ›Madonna mit Kind‹ und dort, neben dem Kamin, finden Sie seine › Petites maraudeuses‹.«

»Bouguerau ist mein Lieblingsmaler.«

»Also betrachten Sie Ihre Bilder in Gottes Namen; kommen Sie, Doktor!«

Die Tür schloß sich hinter den beiden. Griggs ging an den Apparat und drehte den Kondensator.

»Hier ist ein Radiolakonzert; es kommt aus Paris. Bitte, nehmen Sie einmal – warten Sie ...«, er nahm den Bügel und legte ihn ihr mit männlicher Ungeschicktheit über das nußbraune Haar. Sie lauschte mit geduldigem Interesse, und während der Blick des Arztes sie traf, wandte sie sich zur Seite.

»Warten Sie, ich kann es Ihnen bequemer machen.« Er nahm ihr behutsam die Hörer ab. »Ich schalte den Verstärker ein. Der Ton ist nicht ganz so rein – aber dafür bleibt Ihre Frisur underangiert.«

Sie lachte und sah interessiert seinen Handgriffen zu.

Ein Walzer klang wiegend auf. Deutlich hörte man jedes Wort, man erkannte sogar den gallischen Akzent, mit dem der unsichtbare Sänger den englischen Text sang:

»Yesterday, yesterday
I left my heart in yesterday.«

Sie summte leise die Melodie mit.

Plötzlich sagte er, indem er den Apparat zum Schweigen brachte:

»Was willst du von mir?«

Sie wandte sich völlig zu ihm herum und trat einen Schritt auf ihn zu. Ihre Augen maßen ihn von oben bis unten; dann sagte sie, indem sie auf die Tür wies: »Oevelund kommt!«

Die Tür ging auf, und das frische Gesicht des Ingenieurs lachte herein. »Herrschaften, wir können Kjelland nicht länger warten lassen. Wenn's also nicht geht, Doktor, müssen wir in Gottes Namen verzichten; herzlich eingeladen sind Sie, das wissen Sie. Kommen Sie, Frau Aspinall.«

Eben klopfte es; die Schwester trat ein.

»Ich habe Besuch, Schwester.«

»Ich bringe die Materialabrechnung.«

»Es ist gut. Legen Sie sie auf den Schreibtisch und kommen Sie in einer Viertelstunde wieder.«

Sie sagte zögernd: »Das haben Sie mir gestern abend auch gesagt.«

»Nun und ...?« Griggs runzelte die Stirn.

»Ich habe heute Ausgang und bin in einer Viertelstunde gar nicht mehr im Hause.«

»Dann kommen Sie morgen wieder«, sagte er unwirsch und drückte die Tür hinter ihr zu.

»Ihr Personal führt einen seltsamen Ton, Herr Doktor«, konstatierte Yrsa Aspinall mit halbem Lächeln.

»Das bringt der Beruf mit sich. Die Leute sind alle übernervös.«

Oevelund warf im Vorübergehen einen verliebten Blick auf die Bouguereau-Bilder. Yrsa summte die Radiolamelodie vor sich hin:

»Now of you I fondly pray:
Give me love and yesterday ...

In der Tür sagte sie halblaut, sich zu Griggs herumwendend:

»Hüte dich, Gandrup haßt dich.«

Auf der Treppe wandte Oevelund sich um: »Hören Sie, Griggs, heute abend ist im Gewerkschaftshaus ein Experimentalvortrag: Ingenieur Bjerke spricht über drahtloses Fernsehen. Was meinen Sie dazu? Wollen Sie mit mir hineingehen? Es fängt um neun Uhr an; wenn Sie ja sagen, bin ich zur rechten Zeit zurück.«

»Haben Sie schon einmal erlebt, daß Herr Doktor Griggs ja gesagt hat?« lächelte Yrsa.

»Auf die Gefahr hin, vor Ihren schönen Augen als ein Mann ohne Grundsätze dazustehen: ich sage ja.«

»Na also. Wir treffen uns fünf Minuten vor neun an der Kasse. Seien Sie pünktlich.« – – –

Griggs klingelte; nach einer Weile trat die Schwester ein.

»Sie sind in Zivil?«

»Ich habe Ausgang – übrigens sagte ich Ihnen das schon.«

»Schwester Helga: ich muß Sie in aller Form ersuchen, einen anderen Ton gegen mich anzuschlagen.«

»Ich bin mir nicht bewußt, meine Pflicht ...«

»Ich spreche hier nicht von Ihrer Pflicht, sondern von Ihrem Verhalten. Es ist nicht das erstemal, daß ich Sie darüber zur Rede stelle. Was bedeutet das eigentlich? Sie wissen selbst, wie ich meine Nerven im Beruf anspannen muß. Wenn ich obendrein passiven Widerstand fühle, so ist es aus, dann können meine Kranken zugrunde gehen. Halten Sie das mit Ihrem Gewissen für vereinbar?«

Sie sah ihm mit einem halben Lächeln ins Gesicht. »Wie Sie sich nur so ereifern können? Was ist denn groß geschehen? Ich habe auch Nerven!«

»Ich wiederhole, daß ich diese Tonart nicht wünsche. Fehlt Ihnen hier irgend etwas? Sprechen Sie frei heraus; ich habe wahrlich für meine Mitarbeiter ein offenes Ohr. Was wollen Sie eigentlich, Schwester Helga?«

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Und indem sie die Hand auf seinen Arm legte, sagte sie leise: »Muß ich Ihnen das wirklich erst sagen?«

Er schob den Stuhl krachend zurück und stand auf: »Haben Sie den Verstand verloren, Schwester?«

Sie fing an zu weinen. Das nervöse Schluchzen erstickte das Stammeln ihrer Antwort.

»Mein Gott« – er sah sie ratlos an; vor den Frauentränen zerschmolz sein Zorn. »Fassen Sie sich doch, Schwester. Wie soll denn das werden?«

Der schonende Klang seiner Stimme mochte sie verwirren; vielleicht auch, daß sie ihn falsch auffaßte: sie nahm das Taschentuch von den Augen und lehnte den Kopf mit einer zärtlichen Gebärde an seine Schulter. »Bist du denn wirklich so gefühllos, wie sie hier alle sagen? Merkst du denn gar nicht, daß ich toll bin vor Sehnsucht nach dir?«

Er stieß sie mit einer harten Bewegung zur Seite.

Ihr Weinen schlug im Augenblick um in ein scharfes Gelächter. »Ein Mann, der nein sagt? Das ist mehr als komisch! Aber ich weiß schon, warum. Ihnen steckt die Baronin Laurgaard im Kopf!«

Stirnrunzelnd sah er sie an: »Hinaus!«

»Hab' ich's getroffen, Herr Doktor Griggs? Nicht wahr, die schöne Astrid, die wäre so nach Ihrem Geschmack – und noch dazu die Braut eines andern, das ist für die Männer immer ein ganz besonderer Reiz!«

Seiner selbst kaum mächtig, sagte er tonlos:

»Sie verlassen auf der Stelle mein Haus.«

»Sie weisen mir die Tür?« Sie stemmte die Arme in die Seiten und sah ihn herausfordernd an. »Sie ... Sie wagen es, mich hinauszuwerfen? Ein Wort von mir, und es ist aus mit Ihrer Herrlichkeit!«

Er öffnete die Tür und drängte sie hinaus. Dann drehte er den Schlüssel im Schloß herum und trat aufatmend ans Fenster.

*

Griggs ging durch die abendlichen Straßen. Ein scharfer Ostwind schlug ihm entgegen. Das tat ihm wohl; mit Behagen nahm er den Hut ab.

Er fühlte noch auf seinem Herzen den Druck der letzten Stunden. Diese peinlichen Dinge mochten einem Menschen, der robust und unberührt durch das Leben ging, nicht viel anhaben können; ihm, an dessen Nerven der schwere Werktag zehrte, wurden sie zu unerträglicher Quälerei. Er hatte die Operation um eine Stunde verschieben müssen, bis sein Blut ruhiger geworden war, seine Hand sicherer. Sie schien gelungen zu sein, soweit man in dem dunklen Neuland, das er durchforschte, überhaupt Prognosen stellen konnte.

Dennoch spürte er noch immer den Druck. Ja, ganz heimlich merkte er, fast uneingestanden, jenen Unterton von Furcht, der ebensowohl aus den Nerven kommen kann wie aus unerforschten Tiefen der Ahnung.

Eine junge Dame ging vor ihm. Er streifte ihre Gestalt mit den Augen; sie erschien ihm bekannt, und einen Moment glaubte er ein seltsames Reagieren in seinem Blut zu spüren. Herrgott, wie sensibel seine Nerven waren! Ein einziges unangenehmes Erlebnis, das ein anderer mit einem Kognak abtat, brachte sein ganzes Inneres zum Vibrieren: eine gleichgültige und fremde Begegnung ließ in ihm irre Reminiszenzen aufzucken – das war mehr als Nervosität; das war Wahnwitz.

Er ging mit betonter Unbekümmertheit weiter; man mußte die Dinge anpacken, um zu erkennen, daß sie bedeutungslos waren!

Die Dame vor ihm, das wurde ihm klar, während er dahinschritt, war eine völlig Fremde. Weder erinnerte er sich ihrer Gestalt, noch konnte er sich entsinnen, ihr Kleid, überhaupt ihre ganze Erscheinung jemals gesehen zu haben; und so blond wie die da vorn war jede zweite Kopenhagenerin. Er begrüßte seine wachsende Selbstsicherheit mit aufatmender Genugtuung. Das war die Wirkung dieses frischen, lichten Abends, der ihn aus der Hochspannung seiner Pflichten zurückführte, ihn einhüllte in seinen reinen und gütigen Atem. Er fühlte sich wie ein Genesender, der nach dumpfem Krankenlager hinaustrat in den Strom des Lebens, der der Sonne entgegenging und Schmerz und Schwäche überwunden hatte.

Die Dame vor ihm – er hatte sie schon völlig vergessen – machte eine Wendung, um in ein Haus zu gehen. Dabei fiel sein Blick auf ihr Gesicht.

Es war Astrid Laurgaard.

Auch sie hatte ihn erkannt, er sah es an ihrem befangenen Lächeln. Er zog den Hut; sie dankte. Während sie ihren Weg fortsetzte, blickte er ihr ins Gesicht.

Mit Erstaunen bemerkte er, daß sie tief errötet war.

Ihr lichtes Kleid verschwand in der Pforte des dunklen Hauses. Noch immer starrte er, völlig gegen seinen Willen, auf jene Tür. Eine belanglose Begegnung fürwahr – ein Sichtreffen im Gewühl der Großstadt, ohne Absicht und ohne Erinnerung. Und doch: während Griggs an diesem gleichgültigen, dunklen Hause vorüberging, fühlte er tief drinnen in seinem Innern das Flüstern einer fremden und fernen Stimme. Er konnte den Sinn der Worte nicht verstehen, aber sein betroffenes Lauschen begriff, daß dieser Ruf stärker war als er.

*

Oevelund schwenkte schon die Billette. Das Gewerkschaftshaus war ziemlich ausverkauft. Es war dem Ingenieur gelungen, eine kleine Loge zu erwischen, in der sie allein waren. Er erzählte Wunderdinge von der Fahrt nach Skodsborg, und wenn man seinen aufgeregten Worten glauben durfte, so war es eine gefahrvolle Reise auf tobendem Meer gewesen.

»Aber Frau Aspinall hat sich gehalten – alle Achtung! Während alles um sie herum nur so krachte und die Gegenstände in der Kajüte durcheinanderwirbelten, saß sie ganz gemütlich am Tisch, vor sich ein Gläschen Malaga.«

»Ist denn das Glas nicht mitgewirbelt?« erkundigte sich Griggs.

»Wo denken Sie hin!« Oevelund schüttelte eifrig den Kopf. »Das hat sie natürlich festgehalten. Aber es ist wirklich wahr: sie hat keine Spur von Furcht gezeigt. Und getanzt hat sie – fabelhaft!«

»Was wurde denn da aus dem Glas? Sie mußte es doch loslassen beim Tanzen?«

»Was Sie für Fragen stellen, Griggs! Das hat sie natürlich einem von uns zum Halten gegeben. Nebst der Flasche. Außerdem war der Sturm schon vorüber, als wir tanzten.«

»Ich glaube, diese Frau Aspinall hat's Ihnen angetan, Oevelund.«

»Wenn ich ganz offen sein soll: nun ja. Sie ist die scharmanteste Frau, die mir begegnet ist. Dazu hat sie diese imponierende Sicherheit der großen Dame, die angeboren ist. Finden Sie nicht auch? Wie kommt es eigentlich« – Oevelund kniff die Augen zusammen –, »daß Sie mit Ihrer Landsmännin so wenig sympathisieren?«

»Wie kommen Sie darauf?« Griggs lachte. »Woraus schließen Sie, daß ich mit Frau Aspinall nicht sympathisiere?«

»So was merkt man. Und außerdem ... aber nein!«

»Reden Sie nur.«

»Also ganz unter uns: sie selbst hat es mir gesagt.«

»Soso. Ich gefalle ihr also nicht?«

»Das will ich nicht sagen. Aber ich glaube, Sie sind völlig verschieden in Wesen und Art. Schon in den Ansichten, glaube ich. Sie sagte mir – Doktor, Sie versprechen mir ...«

»Alles.«

»... es ginge eine Atmosphäre von Kälte von Ihnen aus, die jede persönliche Annäherung von vornherein ausschlösse. Ich sage Ihnen das nur, Doktor ... schließlich: wir Männer haben doch auch unsern Stolz, nicht wahr? Für den Fall, daß Sie etwa die Absicht hätten ...«

»Es ist lieb von Ihnen, Oevelund, daß Sie so nett für mich sorgen. Aber ich hatte nicht die Absicht, Frau Aspinall einen Antrag zu machen.«

»Gott sei Dank!« sagte Oevelund. »Ich hatte etwas Derartiges gefürchtet.«

»So besorgt sind Sie um mich?«

»Das auch. Außerdem« – Oevelund strich sich verlegen das glattrasierte Kinn –, »nun ja, ich dachte Frau Aspinall dieser Tage zu fragen, ob sie ... ob sie ...«

»Ach so!« nickte Griggs.

Das Licht auf dem Podium flammte auf.

Ein Herr trat auf und verbeugte sich. Er hatte einen sauber gebürsteten Gehrock an, mit Atlaspatten. Das linke Bein seiner Hose war ein bißchen zu lang; er mochte dies selbst als störend empfinden: er zog einen Stuhl heran, was sein Auditorium als den Beginn der Experimente auffaßte, denn es verfolgte jede seiner Bewegungen mit technischem Verständnis. Aber zur Enttäuschung seiner Zuschauer benutzte er den Stuhl lediglich, um den Fuß darauf zu stellen. Die Haltung sollte offenbar legere Nonchalance ausdrücken; aber der feiner Empfindende fühlte, daß es wegen des zu langen Hosenbeins geschah.

Er machte eine zweite Verbeugung. Dann trugen zwei Männer eine große Wandtafel herein; er ergriff ein Stück Kreide und nahm das Bein vom Stuhl herunter.

Dennoch schien der Mann seine Sache zu verstehen. Sein Vortrag war schleppend, fast langweilig; aber nur in der Art, nicht in der Sache. Seine Hörer, die durchweg aus der Technik kamen, erkannten ohne weiteres den Kern, der sie interessierte, und übersahen die reizlose äußere Hülle.

Er begann mit dem Vorbild des Fernsehers: dem Telephon, und verbreitete sich über die besonderen Schwierigkeiten der Lichtübertragung. Handle es sich bei der Tonübermittlung um die Übertragung einer räumlichen Einheit, so sei das Problem der Lichtübertragung durch das Nebeneinander der Bildkomplexe gekennzeichnet; er verglich den zu übertragenden Laut mit einer Linie, das zu übertragende Bild mit einer Fläche. Daraus ergäbe sich eine Vervielfachung der Differenzierung – eine Aufgabe, der der Draht bis heute nicht gewachsen sei. Gleichwohl seien die Fortschritte, die die unermüdlichen Versuche der Fachleute und der Laien seit Jahren gemacht hätten, außerordentlich überraschend. Er sprach vom Kornschen Fernphotographen; dann ging er über zu dem eigentlichen Thema: dem Fernseher, der das bewegte Bild zu übertragen habe, im Gegensatz zur unbeweglichen Photographie. Während die Photographie nacheinander Strich um Strich ansetzen könne bis zur Fertigstellung des starren Bildes, habe es der Fernseher ungleich schwerer: er müsse mit einem Schlage das vollständige Bild auf die Platte des Empfangsapparats werfen – und obendrein ein Bild, das sich unausgesetzt in hundertfacher Bewegung ändere.

Er legte die physikalischen Erfordernisse dar, die das Fundament der Erfindung des Fernsehers ausmachten. Fünfundzwanzigtausend Bildeindrücke in der Sekunde entsprächen ungefähr dem natürlichen Bewegungsrhythmus der Dinge.

Dann kam er auf das Selen zu sprechen, auf dies merkwürdige Element, dessen elektrische Leitfähigkeit eine andere im Dunkeln, eine andere unter Belichtung sei. Er schilderte die Versuche von Carey, von de Paiva und von Senlecq, dessen Elektroskop bereits im Jahre 1872 der Pariser Akademie vorgeführt wurde; das Lichtrelais von Ayrton und Perry und die lichtelektrische Zelle von Le Blanc wurden im Prinzip gezeigt – dann eröffnete die neue Ära eine Erfindung Nipkows: Zerlegung und Synthese des Bildes durch eine drehbare Scheibe. Da sie jedoch viele Meter im Umfang beanspruchte, war auch sie praktisch unverwendbar. Neues brachten Erfindungen von Mayorana, Brillouin und Sutton – dann kam 1902 Coblyn mit einem Projekt, das völlig auf modernen Pfaden wandelte. Die Namen Jaworsky, Lux, Rignoux, Rosing klangen auf; dann kamen die Versuche von Mihaly zur Sprache, die dem tastenden Schritt der Forschung neues Tempo gaben. –

Nun begann der eigentliche experimentelle Teil: man verdunkelte das Podium, und der Vortragende zeigte den Apparat letzter Konstruktion, der von Mihaly nach den endgültigen Resultaten von Rosing und Ruhmer konstruiert war. In der Tat gab dieses »Telehor«, wenn auch primitiv, das empfangene Bild originalgetreu wieder.

Eine Diskussion mit teilweise recht komischem Frage- und Antwortspiel schloß sich an; Griggs und Oevelund gingen. Sie überquerten düstere Straßen, über denen abgestandene Gerüche des Arbeitstags lasteten, niedrige und enge Gassen. Kauernde Gestalten drängten sich an die Mauern der Höfe, und die Schatten lagen schweigend über den Häusern.

»Er hat seine Sache nicht schlecht gemacht«, begann Oevelund nach einer langen Weile. »Es war ein bißchen zu viel für meinen Geschmack; aber ich glaube, das ist Nervensache. Meinen Sie nicht auch, daß die Geschichte eine Zukunft hat?«

Er blickte seinen Begleiter an, der stumm neben ihm einherging.

»Ich kann mir jedenfalls vorstellen, daß wir in zehn Jahren genau so unsern Fernseher im Hause haben wie jetzt unser Telephon. Wenn bloß dieses verflixte Element Selen nicht so unglaublich teuer wäre. Es ist merkwürdig: die wichtigen Dinge sind immer selten und teuer. Es sieht beinah so aus, als ob die Vorsehung den Wunsch hätte, der Menschheit den Brotkorb, wenn ich so sagen darf, mit Bedacht höher zu hängen. Warum kann Selen nicht auf der Straße zu finden sein wie Eisen? Nein, es ist so selten wie Radium. – Sagten Sie was, Griggs?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Aber ich erinnere mich, daß es mit dem Aluminium auch zuallererst so war. Wissen Sie noch? Aluminium war früher ein teures Vergnügen! Erst als man lernte, es elektrolytisch aus Kryolith zu gewinnen, wurde es ein Handelsartikel. Hoffen wir, daß es mit dem Selen ähnlich geht, denn sonst werden wir wohl darauf verzichten müssen ...«

Erstaunt brach er ab; Griggs hatte seinen Arm gepackt. Er blieb mit einem Ruck stehen:

»Nein!« sagte er.

»Was: nein?«

»Es bedarf des Selens nicht.«

»Meinen Sie? Na schön. Um so besser. Ich sehe darin eigentlich keinen Grund, sich aufzuregen.«

»Bleiben Sie stehen. Mir kommt ein Gedanke.«

»Und?«

»Es gibt ein Fernsehen im Prinzip des Telephons. Nein, ich möchte sagen: ein Fernsehen durch das Telephon.«

»Ich habe zwar noch nie durch das Telephon ferngesehen – aber ich weiß, daß Sie manches vor mir voraus haben. Es interessiert mich natürlich, was Sie da sagen. Machen wir doch mal ein Modell!«

Griggs schüttelte den Kopf. »Begreifen Sie denn nicht, wo ich hinauswill?«

»Wo Sie hinauswollen? Offen gestanden: nein. Wenn ich einen Witz machen wollte, so würde ich jetzt sagen ...«

»Hören Sie, Oevelund.« In Griggs' Stimme war ein Klang, der jenen verstummen ließ. »Hören Sie mich an. Ich muß Ihnen etwas sagen. Sie haben die Botschaft gehört – den Ruf.«

»Die Radiobotschaft? Allerdings.«

»Sie wissen, daß diese Botschaft sich wiederholt hat. Daß die gleichen Signale dreimal gekommen sind.«

»Ja.«

»Ich kam auf die Vermutung – sie mag vielleicht phantastisch erscheinen ...«

»Daß es ein Ruf von einem anderen Planeten sein könnte.«

»In der Tat.«

»Ich will Ihnen gestehen, lieber Griggs, ich, der skeptischste Skeptiker unter der Sonne – daß in Ihrer Vermutung etwas ist, was mir ... wie soll ich sagen ... was mir das Herz klopfen macht. Aber was hat das mit dem Fernseher zu tun?«

»Verstehen Sie mich noch immer nicht? Wir konnten die Zeichen nicht verstehen. – Sie nicht, ich nicht – niemand. Wissen Sie, warum nicht?«

»Nun, Griggs?« fragte Oevelund atemlos.

»Weil die Zeichen weder Morsezeichen sind noch gesprochene Worte. Sondern –«

»... sondern ...?«

»Sondern: Bilder – drahtlos herübergesandt von einem anderen Stern.«

»Mein Gott ... Griggs ... warten Sie mal ... was ist denn da zu tun?«

»Der Ingenieur Bjerke muß uns einen Telehor zur Verfügung stellen.«

»Das wird er ohne weiteres tun. Der Apparat gehört dem Physikalischen Laboratorium; ich gehe dort ein und aus.«

»Sie werden mir den Apparat verschaffen?«

»Ohne Frage. Sie können sich darauf verlassen. Und dann ... Griggs! ... Und dann! Mein Gott, es ist ja nicht auszudenken, wenn in den Zeitungen die fettgedruckte Überschrift prangt: ›Doktor Griggs in Kopenhagen telegraphiert mit dem Mars!‹ Sie, Griggs« – er legte seine Hand in den Arm des Freundes und zog ihn mit sich fort –, »ich bin völlig außer Rand und Band. Wir müssen zusammenbleiben, hören Sie? Wir gehen nicht nach Hause!«

Griggs lächelte mit müder Gutmütigkeit. »Daran erkenne ich den Kopenhagener: kein Ereignis der Weltgeschichte ohne Caloricpunsch!«

»Na also. Wir sind doch hier in Kopenhagen.«

Griggs lachte. »Ich muß schlafen gehen, Oevelund. Wenn Sie ein übriges tun wollen: fahren Sie ins Gewerkschaftshaus zurück und sprechen Sie mit Herrn Bjerke.«

»Ich möchte Sie auf alle Fälle nach Hause ...«

»Wirklich nicht nötig. Ich nehme dies Auto.«

Griggs stieg ein. Die Ereignisse dieses Tages rasten ihm durch den Kopf: der Auftritt mit der Schwester – die Operation – die Begegnung mit Astrid Laurgaard – die technischen Dinge des Vortrags – seine steigende Erregung beim Anblick der Apparatur, die ihm, nicht verstandesmäßig, fast wie aus dem Unterbewußtsein heraus an Dinge gemahnte, die tief im Innern seiner Seele kreisten.

Das Auto stoppte.

Er stieg aus und zahlte; sein Blick glitt über die Fassade seines Hauses.

Was war das? Die Fenster seines Arbeitszimmers waren erleuchtet.

Zögernden Schrittes ging er die Treppe hinauf.

»Ein Herr wartet«, sagte das Mädchen.

»Was will er?«

»Eine Privatsache; er will es nur Ihnen sagen.«

»Wie heißt er?«

»Auch seinen Namen will er mir nicht nennen.«

Griggs trat ins Arbeitszimmer. Ein Herr erhob sich mit verbissener Langsamkeit. Das Gesicht erschien ihm bekannt; er konnte sich zwar nicht erinnern, wo er es gesehen hatte. Dann war ihm, als ob es ihn nur an ein bekanntes Gesicht gemahne.

»Was wünschen Sie, mein Herr? Und mit wem habe ich die Ehre?«

»Das werden Sie sofort erfahren, Herr Doktor Griggs«, sagte der Fremde, ihm ins Gesicht sehend. »Ich heiße Knud Lumbye.«

»Knud Lumbye ... Sie sind ...«

»Ja«, sagte der andere. »Ich bin der Bruder Ihres Patienten.«

»Und Sie wünschen?«

»Muß ich Ihnen das wirklich erst sagen, Herr Doktor Griggs?« Lumbye betrachtete ihn mit finsterem Lächeln.

»Ich möchte allerdings darum bitten.«

»Nun gut. Wenn Sie's wollen? Also, Herr Doktor: ich bin der Bruder des Mannes, den Sie ermordet haben.«

Griggs trat einen Schritt zurück. »Sind Sie wahnsinnig?«

»Nein. Ich weiß, was ich sage. Und ich möchte Ihnen vorschlagen: lassen Sie die Komödie.«

»Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?«

»Hm. Sie kennen vermutlich ein Fräulein Helga Wingaard?«

»Ach so. Schwester Helga.«

»Jawohl, Herr Doktor Griggs. Sie hat mir alles erzählt.«

»Soso. Hat Sie Ihnen auch erzählt, warum sie von hier fortgegangen ist?«

»Auch das. Weil sie mit dem Verbrecher nicht zusammenarbeiten will.«

»Also Schwester Helga hat Ihnen erzählt, ich hätte Herrn Lumbye, Ihren Bruder, ermordet?«

»Sie haben meinem Bruder ein halbes Gramm Morphium injiziert. Es haben sich Krämpfe eingestellt, und der Tote hat jenen starren Ausdruck der Pupille, der für Morphiumvergiftung typisch ist.«

Griggs ging im Zimmer auf und ab. Dann, vor Lumbye stehenbleibend, fragte er kurz:

»Und wenn ich ihn nun getötet hätte?«

»Es freut mich, daß Sie keine Ausflüchte machen.«

»Und wenn ich es getan hätte? Dann gäbe es doch wohl nur einen einzigen Grund: daß ich die Qualen Ihres Bruders beenden wollte. Im Ernst: sehen Sie darin ein Verbrechen, Herr Lumbye?«

Herr Lumbye lächelte und nahm seinen Hut. »Sie werden von mir hören, Herr Doktor Griggs.«


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