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5.

Die Hände tief in die Seitentaschen seiner blauen Joppe vergraben und die goldgeränderte Mütze schief auf das linke Ohr geschoben, ging Kapitän Falcon mit breiten wiegenden Schritten über das Deck.

Dort drüben am Bug der Jacht »Elena« stand Elena Falieri; sie hielt ein Fernglas in der Hand und betrachtete die Küste. Der Wind flatterte in ihren Kleidern und zerrte an dem Schal, der ihre Locken schützte.

Falcon zog die Hand aus der Tasche und zwirbelte nervös den schwarzen Spitzbart. »Blödsinnige Marotte – Weiberkram«, murmelte er zwischen den Zähnen.

Elena setzte das Glas ab; sie winkte mit einer hastigen Bewegung den Kapitän heran. »Falcon, sehen Sie doch einmal hin – dort, wo das Geröll zum Meer abfällt –«

Er nahm das Fernrohr vor die Augen. »Hm, backbord von uns schwimmt ein Mensch – direkt auf die Jacht zu.«

Sie nickte heftig. »Ja – ich sah, wie er sich vom Ufer ins Wasser stürzte. Er wird verfolgt.«

Der Kapitän schob die Mütze in den Nacken. »Das geht uns nichts an«, sagte er gleichmütig, »überhaupt, Madame, ich lasse jetzt vom Land abdrehen.«

Elena Falieri packte den Arm des Sprechenden. »Wie – Sie wollen dem Menschen dort nicht helfen?« fragte sie mit vor Erregung bebender Stimme.

»Ich werde mich den Teufel um ihn scheren«, grollte er, »das ist ein flüchtender Sträfling.«

»Es ist ein Mensch – wir müssen ihn retten!«

Kapitän Falcon schüttelte den Kopf. »Der Kerl schwimmt wie ein Fisch, der bringt sich schon allein in Sicherheit.«

Elena blickte durch das Glas. »Man schießt auf ihn – sehen Sie nur, wie die Kugeln um ihn ins Wasser schlagen!« Sie beugte sich weit über die Reling. »Lassen Sie das Boot aussetzen, Kapitän, schnell – ehe es zu spät ist!«

»Ich werde mich hüten, Madame. Habe keine Lust, mit den italienischen Behörden in Konflikt zu kommen.«

Sie sah ihm entrüstet ins Gesicht. »Sie retten einen Menschen vom Ertrinken – wie kann Sie das mit den Behörden in Konflikt bringen?«

»Sie vergessen die Warnung des Kommandanten. Es ist Revolte auf der Insel.«

Elena wies auf das Deck. Dort an der Reling stand eine Gruppe Matrosen; sie deuteten heftig gestikulierend auf den Schwimmenden. Plötzlich – man wußte nicht woher – wurde ein Rettungsring über Bord geschleudert. Er fiel klatschend, dicht vor dem Mann im Wasser, auf die Wellen. Der Flüchtling, der auf dem Rücken lag, griff danach – die Leine straffte sich; gleich darauf lag er längsseits des Schiffes.

Falcon schlug mit der Faust auf das Geländer der Reling. »Wer, zum Teufel –« Er setzte die Pfeife an den Mund – ein schriller Pfiff gellte über das Deck.

Die Matrosen blickten auf; im gleichen Augenblick kletterte der Gerettete triefend über die Reling.

Elena ging mit schnellen Schritten auf die Gruppe der Matrosen zu; fluchend folgte ihr der Kapitän.

Mit zerfetzten Kleidern, zerrissenen Schuhen, blutenden Händen und zerschundenem Gesicht stand Jenkins inmitten der Männer. Seine Zähne schlugen aufeinander, und ein Schüttelfrost ließ seine Glieder zittern. Einer der Matrosen drückte ihm gutmütig eine Flasche in die Hand. Der Gerettete trank in langen Zügen.

Mit geballten Fäusten trat der Kapitän in den Kreis der Matrosen. »Wer, zum Donnerwetter, hat euch erlaubt, den Kerl an Bord zu nehmen, he?! Wo ist der Steuermann? Schert euch zum Teufel!«

Die Leute murrten; unwillig, die Hände in den Taschen, schlenderten sie davon. Ein junger Matrose schüttelte drohend die Faust gegen die Insel. »Man muß diesen Bluthunden ihr Opfer entreißen«, sagte er und warf einen mitleidigen Blick auf den Sträfling.

»Maul halten!« schrie Falcon wütend.

Elena sah zu dem Geretteten hinüber. Er blickte zu der Insel zurück: dort auf dem Wachtturm wurde eben ein Flaggensignal gehißt.

Der Kapitän folgte der Richtung des Blickes. »Verdammt!« Er schlug mit der geballten Faust auf die flache Linke und wandte sich zu Elena. »Man signalisiert, wir sollen halten!«

Sie ließ ihre Augen sinnend auf Jenkins ruhen. Es war unmöglich, daß sie ihn erkannt haben konnte, aber irgendein Gefühl mußte ihr sagen, daß dieser Mann dort kein Bagnosträfling war. Mit dem feinen Instinkt der Frau begriff sie – wohl mehr gefühls- als verstandesmäßig, daß hier nicht ein Rohling, ein Auswurf der menschlichen Gesellschaft vor ihr stand. Irgend etwas Befremdendes, Ungeklärtes ging von diesem Manne aus. »Gehen Sie hinunter, lassen Sie sich trockene Kleidung geben«, sagte sie.

Jenkins schloß sich den Matrosen an. Sie blickte ihm träumerisch nach.

»Verzeihung, Madame«, die polternde Stimme Falcons riß sie aus ihrem Sinnen, »das geht etwas zu weit.«

Elena sah den Wütenden mit großen, fragenden Augen an.

»Diese übertriebene Fürsorge für den dreckigen Kerl kann uns die größten Unannehmlichkeiten machen. Wir müssen den Mann so ausliefern, wie er an Bord gekommen ist.«

Sie unterbrach ihn mit einer schnellen Handbewegung. »Wer sagt Ihnen, daß ich überhaupt die Absicht habe, den Mann auszuliefern?«

»Was soll das heißen, Madame? Dort kommt das Regierungsboot. Ich lasse stoppen!« Er legte die Hände an den Mund, um dem Offizier auf der Kommandobrücke den Befehl zum Halten zu geben.

Elena blickte aufs Meer; das Vaporetto schoß in sausender Fahrt näher. Vor dem scharfen Bug des zierlichen Bootes schäumte der Gischt. Sie biß sich auf die Lippen. »Ich wünsche nicht, daß man den Flüchtling an Bord findet«, sagte sie mit leiser Stimme.

Kapitän Falcon hob mit einer trotzigen Gebärde den Kopf; dunkle Röte schoß ihm ins Gesicht. »Madame, ich habe die Ehre, der Kapitän dieser Jacht zu sein! Bitte, vergessen Sie nicht, daß an Bord einzig und allein meine Befehle gelten.«

Elena schürzte verächtlich die Lippen. »Es liegt nicht in meiner Absicht, Herr Kapitän, Ihnen Ihren Rang streitig zu machen. Ich äußerte lediglich den Wunsch, diesen armen Menschen nicht ausliefern zu wollen.«

»Das ist doch eine Marotte – und noch dazu eine gefährliche.«

»Nennen Sie es wie Sie wollen – aber helfen Sie mir.«

»Unmöglich – wir befinden uns in italienischen Hoheitsgewässern.«

»Und wir fahren unter dem ›Union Jack‹. Unser Schiff ist englischer Boden – niemand darf Ihnen Befehle erteilen.«

»Wenn der Mann nun ein gefährlicher Verbrecher – ein Raubmörder ist?«

Elena lachte. »Er macht nicht den Eindruck. So viel Menschenkenntnis traue ich Ihnen schon zu, Kapitän.«

Falcon warf einen Blick auf das Motorboot, das nur noch wenige Meter von der Jacht entfernt war. Ein Offizier stand im Heck des Fahrzeugs und schrie durch das Megaphon: »Stoppen – oder ich lasse schießen!«

Mit einer scharfen Wendung drehte das Boot längsseits der Jacht. Das schmale Rohr einer Revolverkanone wurde sichtbar; der bronzene Lauf war drohend auf das Schiff gerichtet.

Falcon gab dem Offizier auf der Brücke ein Zeichen. Die Glocke des Maschinentelegraphen ertönte. Quirlend drehte sich die Schraube, gelber Schaum stand um das Heck – allmählich verlangsamte sich die Fahrt.

Der Kapitän zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Der Stolz des Seemanns bäumte sich dagegen auf, daß irgendein Fremder kam und in brüsker Manier mit unverhüllter Drohung den Lauf seines Schiffes unterbrach. Er fuhr mit der Hand durch den Bart. »Die Kerls gehen nicht von Bord, ehe sie den Jungen gefunden haben«, brummte er, »ich kenne das.«

Elena legte ihm die Hand auf den Arm. »Überlassen Sie mir den Flüchtling.«

»Die Verantwortung ist zu groß«, sagte er zögernd.

Sie antwortete nicht mehr; mit schnellen Schritten ging sie über das Verdeck zu den Kabinen hinunter.

Von der Fallreepstreppe kam der italienische Offizier, gefolgt von sechs Soldaten. Er trat auf Falcon zu und hob nachlässig zwei Finger an die Mütze. »Sind Sie der Kapitän?«

Falcon nickte schweigend.

»Sie haben einen entflohenen Sträfling an Bord genommen.«

»Wissen Sie das bestimmt?« fragte Falcon scheinheilig.

Der Offizier stutzte. »Machen Sie keine Schwierigkeiten; wir haben es vom Turm aus gesehen; der Mann ist von Ihren Leuten an Deck gezogen worden.«

»Sollten sie ihn etwa ertrinken lassen?«

»Ich habe gemessene Befehle, Herr Kapitän; liefern Sie mir den Flüchtling aus.«

Falcon drehte sich zur Kommandobrücke herum. »Lassen Sie die Mannschaft auf Deck antreten!« rief er dem Steuermann zu.

Ein kurzes Kommando erscholl. Langsam schlendernd kamen die Matrosen, als wüßten sie, daß dieser Befehl gegen den eigenen Willen der Vorgesetzten kam. Mit trotzigen Mienen, in nachlässiger Haltung standen sie vor dem Offizier.

»Ist das Ihre gesamte Mannschaft?«

Falcon nickte. »Ja. Mit Ausnahme der beiden Maschinisten und des Matrosen da oben am Rad. Die verlassen ihren Posten nur auf meinen Befehl.«

Der Italiener musterte die vor ihm Stehenden. »Er ist nicht darunter«, sagte er stirnrunzelnd.

»Na also.«

»Unsinn«, brauste der Offizier auf, »Sie haben ihn versteckt. Nehmen Sie sich in acht, Kapitän«, setzte er mit schneidender Stimme hinzu, »das dürfte Ihnen teuer zu stehen kommen.«

Falcon zuckte die Achseln.

»Ich muß das Schiff durchsuchen lassen.« Der Offizier gab seinen Begleitern einen Wink. Die Soldaten gingen über das Deck und verschwanden im Mannschaftslogis.

Der Kapitän schob die Hände in die Taschen und lehnte sich gegen die Bordwand.

»Wer ist der Eigentümer dieser Jacht?« forschte der Italiener.

»Lord Haddington aus London.«

»Ist der Herr an Bord?«

»Nein.«

»Haben Sie sonst Passagiere an Bord?«

»Ja, eine Dame.«

»Eine Dame? Wie heißt sie?«

Falcon spuckte in weitem Bogen über Bord. »Hören Sie, mein Lieber, Ihre Fragen scheinen mir reichlich überflüssig. Wenn Sie fortfahren, mich in dieser Weise zu belästigen, werde ich Beschwerde führen. Beim englischen Konsul in Palermo.«

Der Offizier schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. »Das steht Ihnen frei. – Nun?«

Er ging den zurückkommenden Soldaten einen Schritt entgegen.

»Nichts zu finden«, meldete der Sergeant.

Der Leutnant stieß seinen Säbel heftig auf die Bohlen des Decks. »Führen Sie mich zu den Kabinen«, sagte er schroff.

Der Kapitän setzte sich langsam in Bewegung. Er ging über das Promenadendeck, die schmale, läuferbelegte Treppe hinunter, die zu den Salons führte. Das Auge des Offiziers glitt flüchtig über diese schwimmende Pracht. Das Weiß und Gold der Räume wurde gehoben durch das satte Rot der Teppiche und die farbige Seidenstickerei der Sessel. Durch die Fenster fiel das Sonnenlicht auf zierliche Möbel und schweres Kristall. Gedämpftes Licht der Lüster und einer unsichtbaren Deckenbeleuchtung erfüllte alles mit einer wohligen Wärme.

Hinter der weißen Tür dort klang gedämpftes Klavierspiel. Schmeichelnde, weich aufgelöste Akkorde, die präludierend die Melodie eines Liedes vorbereiteten. Dann setzte eine volle Frauenstimme ein:

»Nur der Schönheit weiht ich mein Leben –« Die vollen Töne blühten auf, und die mächtige Stimme trug wie auf weitgebreiteten Schwingen die Melodie der Arie. Es bebte wie von verhaltener Glut in der Stimme der Sängerin. Unwillkürlich hemmte der Offizier seine Schritte; mit der seiner Nation eigenen Schwärmerei lauschte er der leidenschaftlichen Musik.

Falcon unterdrückte ein Lächeln, dann klopfte er an die Tür der Kabine.

Der Gesang brach ab. Die beiden traten ein.

»Der Herr wünscht alle Räume des Schiffes zu durchsuchen, Madame Falieri«, sagte der Kapitän, »er glaubt, daß wir den Flüchtling versteckt halten.«

Elena Falieri stand in der Mitte des kleinen Salons. Der Raum war ganz in weiß gehalten, ein weißer Flügel nahm fast die Hälfte des Zimmers ein. Blumen in verschwenderischer Fülle standen in kristallenen Vasen und Schalen auf den Tischen. Der Hauch einer vornehmen und liebenswürdigen Kultur ging von den zarten Möbeln im Chippendale-Stil aus. Ein Parfüm zärtlicher Erotik schwebte in dem Raum. »Mein Herr«, sagte Elena mit gewinnendem Lächeln, »Sie werden einen schmutzigen Sträfling nicht im Zimmer einer Dame suchen.«

Der Offizier schlug die Hacken zusammen, eine leichte Röte stand in seinem Gesicht. Die Schönheit dieser Frau begann ihn zu verwirren. »Signora, ich bin untröstlich, daß ich Ihre Ruhe stören muß – aber meine Pflicht ...«

Sie lachte; ein bestrickendes, perlendes Lachen, das den Italiener um den Rest seiner Sicherheit brachte. »Sie haben den Entflohenen im ganzen Schiff nicht gefunden und nun suchen Sie ihn hier?« Elena ging durch das Zimmer und hob mit spitzen Fingern die Decken von den Tischen, raffte die Portieren zur Seite. »Bitte, überzeugen Sie sich.«

Bei dem höhnischen Grinsen des Kapitäns schoß dem Offizier das Blut zu Kopf. Er vermied den strahlenden Blick der schönen Frau; seine Augen hefteten sich auf eine kleine weiße Tür zur Linken. »Wohin führt diese Tür, Signora?«

»In den Baderaum und in mein Schlafzimmer.«

Er tat einige zögernde Schritte; aber Elena trat ihm entgegen. Der Offizier machte eine verlegene Handbewegung. »Es ist mir unendlich peinlich – aber ich muß auch diese Zimmer ...«

Sie stand mit ausgebreiteten Armen im Rahmen der Tür; ihre Augen flammten ihm entgegen.

»Bitte, geben Sie die Tür frei!« Er fixierte sie drohend.

Elena blieb unbeweglich stehen, ihr Blick war auf Kapitän Falcon gerichtet, der verlegen die Augen niederschlug.

»Signora, ich hoffe, Sie zwingen mich nicht, Gewalt anwenden zu müssen.« Er trat näher an sie heran; mit der stummen aber nachdrücklichen Aufforderung: gib den Weg frei!

»Nein!« rief sie kurz und scharf.

»Madame«, legte sich Falcon ins Mittel, »ich glaube, es dürfte ratsamer sein, sich zu fügen. Wie die Dinge nun einmal liegen. Wir werden uns in Palermo beschweren.«

Hochaufatmend trat Elena zurück. »Das ist eine Unverschämtheit!« sagte sie fast weinend.

Der Offizier öffnete rasch die Tür und trat, den Revolver schußbereit in der Hand, ein.

Elena stand unbeweglich, die Hände ineinanderverschlungen. Langsam wandte sie sich zu Falcon um. »Er ist dort drinnen«, sagte sie tonlos. »Ich habe ihn im Badezimmer versteckt.«

»Sacré nom de Dieu«, entfuhr es dem Kapitän, »das wird eine kitzlige Geschichte, Madame. Der Bursche ist imstande und läßt uns hier im Hafen an die Kette legen. Dumme Sache, das!«

Elena horchte mit vorgebeugtem Oberkörper. Von drinnen war kein Laut zu hören.

Jetzt öffnete sich die Tür; der Offizier stand auf der Schwelle. Allein. Er streifte die beiden mit einem kühlen Blick, dann legte er die Hand an die Mütze. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Signora, daß ich Ihnen diese Unruhe bereiten mußte. Herr Kapitän, Sie können weiterfahren.« Er verbeugte sich vor Elena, die fassungslos, keines Wortes mächtig, auf die offene Tür starrte.

Als der Kapitän und sein Begleiter den Salon verlassen hatten, sank sie mit zitternden Knien auf einen Stuhl. Was war dort drinnen vorgegangen? Hatte sich der Gefangene, die sichere Festnahme vor Augen, aus dem Fenster in die See gestürzt? Oder hatte sich dort ein stummer aber zäher Kampf zwischen den beiden Männern abgespielt? Ein Kampf, der mit dem Tode des Gefangenen geendet hatte? Das war nicht möglich; der Offizier sah ruhig und gleichmütig aus, als er zurückkam. Eine quälende Unruhe erfaßte sie.

Jetzt klang ein Schritt auf; sie hob den Kopf. Auf der Schwelle stand der Gefangene in seiner zerfetzten Kleidung und mit den blutig geschundenen Händen. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn, blutige Risse und Striemen bedeckten das Gesicht. Er blickte auf seine zerrissenen Schuhe, von denen das Seewasser tropfte und schmutzige Lachen auf dem parkettierten Boden bildete. »Ich danke Ihnen, Madame«, sagte er mit ruhiger Stimme, »die Gefahr ist vorüber – denke ich.« Er lächelte und sah mit einem halb entsetzten, halb spöttischen Blick an sich herunter.

Elena raffte sich zusammen. »Vor allen Dingen müssen Sie trockene Kleider haben, einen Augenblick.« Sie klingelte. »Hier«, sagte sie zu dem eintretenden Steward, »der Mann ist mit trockener Kleidung zu versehen. Geben Sie ihm zu essen und –« Sie unterbrach sich jäh. Irgendeine unbestimmte Bewegung des Fremden, vielleicht seine Gangart, vielleicht seine Kopfhaltung waren ihr aufgefallen. Elena trat einen Schritt näher; ihre Hand strich leicht über die Stirn. Wo hatte sie diese kühle, klare Stimme schon einmal gehört? »Sind Sie wirklich ein Sträfling?« sagte sie mit unsicherer Stimme.

»Nein, Madame«, lächelte der Gefragte.

»Nein? Dann sind Sie ...«

»Sie haben es erraten, Madame, ich bin Joe Jenkins.«

Sie sah ihn betroffen an; in ihre Augen, die groß und glänzend wurden, trat ein staunendes Lächeln.

»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig, Madame, aber  ...« Jenkins wies mit einer ausdrucksvollen Gebärde auf seine Lumpen.

»Gewiß.« Elena sah mit einem etwas abwesenden Blick vor sich hin. »Ich erwarte Sie später hier.«

Die Tür wurde aufgerissen; hastig stürmte Kapitän Falcon herein. Er musterte den davongehenden Jenkins erstaunt und verständnislos, dann warf er einen zornigen Blick auf Elena. »Nanu, ist der Bursche doch an Bord? Das kann uns die schönsten Ungelegenheiten mit den Hafenbehörden einbringen! Wo hat er denn nur gesteckt, daß ihn der Offizier nicht gefunden hat? Zum Teufel, ich will den Kerl nicht länger an Bord haben; ich lasse ihn irgendwo an Land setzen.«

»Wozu die vielen Worte, Kapitän? Sie erregen sich ganz zwecklos. Dieser Mann ist gar kein Sträfling, sondern der bekannte Detektiv Joe Jenkins.«

»Joe Jenkins – wie kommt der auf die Insel Alina – als Sträfling?«

Elena zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, aber ich vermute, daß uns Mister Jenkins darüber aufklären wird.«

Falcon schwieg; sein unruhiger Blick suchte Elena, die an ihm vorbei ins Leere starrte. »Was gedenken Sie zu tun, Madame?« fragte der Kapitän.

»Welchen Hafen laufen wir an?«

»Genua. Das heißt, wenn man uns unbehelligt bis dahin kommen läßt.«

»Unsinn. Mister Jenkins kann nichts mit den Vorfällen auf Alina zu tun haben.«

»Das ist so ohne weiteres nicht mit Bestimmtheit zu sagen.«

»Ich werde es schon erfahren. Auf jeden Fall ist Mister Jenkins als unser Gast zu betrachten. Ich möchte bitten, daß ihm mit größter Liebenswürdigkeit begegnet wird.«

»Selbstverständlich.«

Elena nickte. »Gut. Trinken Sie mit uns eine Tasse Tee, Herr Kapitän?«

Die Tür ging auf. Jenkins trat ein. Das Bad hatte ihm die frische Farbe seines Gesichtes wiedergegeben, die Wunden waren sorgfältig gesäubert. Ein paar dunkelblaue, viel zu weite Beinkleider gaben ihm etwas seltsam Unbeholfenes. Sein Oberkörper steckte in einem dicken weißen Sweater, der den Hals freiließ. Er stand breitbeinig im Zimmer und sah schmunzelnd an sich herunter. »Nicht gerade salonfähig«, sagte er lachend.

Falcon ging grüßend aus dem Zimmer; der Detektiv sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach. »Ich habe den Eindruck, als ob ich dem Herrn Kapitän sehr ungelegen bin.«

Elena wies auf einen Stuhl. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte sie frostig und knipste die Beleuchtung ein.

Jenkins blickte sich behaglich um. Das Licht, seidenverhangen, gedämpft, flammte auf. Zärtlich kosend lag es auf den farbigen Stoffen der Möbel, auf den bunten Gobelins und brach sich in schimmernden Reflexen in den kristallenen Schalen. »Es freut mich«, nahm Jenkins das Wort, »es freut mich aufrichtig, daß ich Ihnen nun doch – wenn auch unter etwas befremdlichen Umständen – meinen Besuch abstatten kann.«

Elena stand am Flügel; ihre Finger glitten wie spielend über die Tasten; ein silbriger Ton schwebte durch den Raum.

Jenkins räusperte sich. »In London fand ich leider keine Gelegenheit mehr, Madame, Sie zu sehen. Sie waren bereits abgereist.«

Sie ging auf ihn zu und bot ihm die Hand.

Jenkins sah ihr ins Gesicht, in dieses ebenmäßige schöne Gesicht, mit den großen, feuchtschimmernden Augen. Es schien ihm, als ob ein trauriger, gequälter Ausdruck in diesen Augen stand; das Lächeln um ihre Lippen war nicht echt. Es war ein Lächeln, das Schmerz und Bitterkeit zu verbergen trachtete.

»Bitte, verzeihen Sie mir. Es war eine meiner Kaprizen, die mich zwang; ich bin dann unberechenbar. Eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meinem liebenswürdigen Gastgeber Lord Haddington. Das war alles.«

»Hm. Der Lord war von Ihrer plötzlichen Abreise sehr überrascht, wie ich von ihm erfuhr.«

»Ich hielt es plötzlich nicht mehr aus in der Nebelstadt, Mister Jenkins. Eine unbändige Sehnsucht nach Licht und Wärme packte mich. Haddington stellte mir die Jacht zur Verfügung.«

Der Steward brachte den Tee; er rollte das Wägelchen an den Tisch und arrangierte mit flinken, geschickten Händen die Gedecke. Er rückte die likörgefüllten Kristallflaschen zurecht, stellte die Zigaretten und den Leuchter bereit; dann zog er sich mit einem prüfenden Blick auf seine Arbeit zurück.

»Darf ich Sie bedienen, Mister Jenkins? Was nehmen Sie? Toast oder Gebäck?«

»Wenn ich um einen Kognak bitten darf.«

Elena goß die flache Schale voll; sie hielt ihm ihr Glas entgegen und trank ihm zu. »Selbst auf die Gefahr hin, aufdringlich zu erscheinen, muß ich Sie bitten, Mister Jenkins, erklären Sie mir: wie kam es, daß der Offizier Sie dort im Zimmer nicht gefunden hat?«

Jenkins goß sich ein neues Glas Martini ein. Er hob die Schale gegen das Licht und leerte sie langsam mit fast andächtigem Behagen. »Er hat mich ja gefunden, Madame.«

Elena hob fragend den Kopf. »Und er hat Sie nicht ...«

»Verhaftet, meinen Sie? Nein; nachdem sich der vermeintliche Sträfling in den amerikanischen Detektiv Joe Jenkins verwandelt hatte, blieb dem Offizier nur übrig, sich zurückzuziehen.«

»Wie konnten Sie sich aber so schnell legitimieren?«

»Sehr einfach, durch meinen Paß. Außerdem erkannte mich der Offizier – er selbst hatte mich zwei Stunden vorher auf die Insel gebracht.«

»Nicht wahr, es hat Sie gereizt, diese interessante Kolonie und die Arbeit der Sträflinge kennenzulernen?«

Jenkins schüttelte lächelnd den Kopf. »Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte eigentlich andere Gründe, die Insel zu besuchen.«

»Sie forschten nach einem Verbrecher; dabei wurden Sie von der Revolte überrascht. War es nicht so, Mister Jenkins?«

»Ich bewundere Ihre Kombinationsgabe, Madame.«

Sie lachte hell auf. »Das liegt doch nahe. Aber wollen Sie mir Ihr Abenteuer nicht erzählen? Es ist keine platte Neugierde, wenn ich danach frage, glauben Sie mir. Ich bewundere Sie, Mister Jenkins. Es hat für mich etwas Heroisches, dieses Ringen mit den dunklen Mächten. Wir Frauen empfinden das vielleicht rein animalisch, dieses Aufeinanderprallen der Kräfte.« Elena deutete auf die Flasche. »Trinken Sie doch, Mister Jenkins.« Sie nahm eine Zigarette. »Bitte, geben Sie mir Feuer.« Sie beugte sich weit vor und sah ihm dabei unverwandt ins Gesicht. Er fühlte wieder den fremdartigen Zauber und die seltsam bestrickende Macht, die von dieser schönen Frau ausging.

Jenkins vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben, weshalb er in ihrer Gegenwart stets das Gefühl einer merkwürdigen Unsicherheit empfand. Unter dem Blick dieser unergründlichen Augen geriet sein Selbstbewußtsein etwas ins Wanken. Dieser leise Hauch einer rätselhaften Melancholie, der über ihrem Wesen lag, verwirrte ihn. Durfte man dieser Frau helfen, oder war es geratener ihr zu mißtrauen, vor ihr auf der Hut zu sein? Elena lehnte sich lächelnd zurück. »Sie sind sehr zurückhaltend, Mister Jenkins. Aber Sie brauchen nicht zu befürchten, ein Geheimnis zu verraten. Ich weiß durch Lord Haddington, daß Sie auf Alina den Spuren nachforschten, die zu Francesco Testi führten.«

Jenkins erhob sich, und in seine grauen Augen trat ein abweisender Ausdruck. »Ich muß ganz offen sagen, Madame, es befremdet mich, daß Sir Ernest mit Ihnen über diese Dinge gesprochen hat.«

»Warum?« entgegnete sie mit unbefangener Stimme. »Sir Ernest weiß, welchen Anteil ich an dem Geschick seines verschollenen Freundes nehme.«

»Kannten Sie den Signor Testi?«

Elena warf den Kopf zurück und starrte in die glitzernden Prismen des Lüsters. »Signor Testi«, sagte sie sinnend, »ich machte seine Bekanntschaft in Paris. Ganz flüchtig. Er gehörte zu dem Kreis meiner Verehrer, als ich dort gastierte. Er kam mir erst wieder ins Gedächtnis, als Sir Ernest mir in London von seinem Schicksal erzählte.«

Eine Pause entstand. Elena war vor den Flügel getreten und schlug präludierend ein paar Akkorde an. Jenkins fing im Spiegel den forschenden Blick auf, den sie ihm von der Seite zuwarf.

»Haben Sie auf Alina mit Signor Testi sprechen können?« fragte sie leichthin, ohne die Augen von den Tasten zu heben.

Er ging zu ihr hinüber und legte leicht die Hand auf ihren Arm. »Darf ich – ohne unbescheiden zu sein – eine große Bitte aussprechen?«

Sie nickte schweigend.

»Ich hörte Sie vorhin singen. Eine Arie aus ›Tosca‹. Ich bin ein großer Verehrer von Puccini; würden Sie mir diese Arie noch einmal vorsingen, Madame?«

Elena biß sich auf die Lippen; sie mochte deutlich empfunden haben, daß er ihr auswich und daß er seine Absicht, ihre Frage nach Testi unbeantwortet zu lassen, mit einer liebenswürdigen Phrase verschleierte. Eine leichte Unmutsfalte stand auf ihrer Stirn, als sie sich vor dem Flügel niederließ. Dann erfüllte die getragene Melodie der Arie den Raum; aus dem zärtlichen Piano der Töne stieg die Stimme in ein brandendes Crescendo. Wie gesponnene Silberfäden, breit, wie die Fächer einer Palme, entfaltete sich die Pracht dieser Töne. Langsam ließ Elena die Hände von den Tasten sinken.

Jenkins erhob sich. »Ich danke Ihnen, Madame. Darf ich mich jetzt verabschieden? Ich fürchte, ich habe Sie schon allzulange aufgehalten.« Er beugte sich über ihre Hand. Sie sah an ihm vorbei.

»Kapitän Falcon wird für Sie sorgen«, sagte sie mit einer merkwürdig leeren, tonlosen Stimme.

Jenkins blieb zögernd an der Tür stehen. »Wissen Sie, Madame, worauf ich mich freue? Jetzt werde ich doch vielleicht Gelegenheit haben, Ihre berühmte Sammlung besichtigen zu dürfen. In London kam ich ja leider durch Ihre plötzliche Abreise um das Vergnügen.«

Elena wandte den Kopf zur Seite; sie verharrte in Schweigen.

»Ich bin gespannt, Madame, neben welche Größe Sie meinen Namen placiert haben«, fuhr Jenkins fort, »ich interessiere mich sehr für Handschriften. Einige Kenntnis der Graphologie ist ja schließlich für meinen Beruf erforderlich.«

Elena hob den Blick, ihre Finger spielten gedankenlos mit den Fransen der Flügeldecke. »Es tut mir leid, Mister Jenkins, aber die Sammlung habe ich nicht an Bord. Die Mappen sind in London zurückgeblieben.«

»Schade, wirklich schade. Ich hätte gern gewußt, wie sich meine Handschrift neben einem berühmten Nachbar ausnimmt.« Jenkins sah ihr lachend ins Gesicht. »Wenn Sie auch bei mir für pikante Gegensätze waren, so müßte mein Name ja eigentlich neben dem der Mistreß Snyder aus New York stehen oder neben Doktor Crippen. Aber diese Namenszüge fehlen wohl in Ihrer Sammlung?«

»Legen Sie denn wirklich Wert darauf, Mister Jenkins, in dieser Sammlung vertreten zu sein?«

Er lachte. »Aber natürlich, Madame – ich bewege mich gern in guter Gesellschaft.«

»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Mister Jenkins«, sie sah ihn mit kindlichen Augen an, »ich habe Ihr Autogramm verloren. Ich vermißte es sofort als ich im Wagen saß.«

»Hm. Sind Sie sicher, Madame, daß Sie es verloren haben? Könnte es Ihnen nicht entwendet sein?«

Elena sah ihn verständnislos an. »Entwendet? Welchen Wert sollte es für einen Fremden gehabt haben?«

»Nun, vielleicht war es gewissen Leuten sehr willkommen.«

»Ist es mißbraucht worden?« fragte sie hastig.

»Allerdings. Man hat sich damit Zugang zu meinem Hotelzimmer verschafft und versucht, einen wertvollen Brief zu stehlen.« Jenkins griff in die Tasche und reichte Elena eine ungerahmte Photographie hinüber. »Ist Ihnen zufällig diese Dame bekannt?«

Es war das Bild von Gloria Wynn.

Elena warf einen flüchtigen Blick darauf und gab es kopfschüttelnd zurück. »Ich kenne diese Frau nicht.«

»Soso. Diese Dame muß an jenem Abend im ›Empire‹ mein Autogramm gefunden haben. Sie glauben ja, den Zettel mit meiner Schrift verloren zu haben?«

»Das wäre aber doch ...«

»Ein merkwürdiger Glücksfall für die Dame, nicht wahr? Sie braucht meine Handschrift gewissermaßen als Legitimation und findet sie – siehe da – auf der Erde.«

Elena zog die Stirn in Falten. »Was glauben Sie also, Mister Jenkins?« fragte sie ungeduldig.

»Ich bin der Überzeugung, daß die Fremde uns beobachtete und Ihnen dann im Gedränge den Zettel entwendete.«

»Mein Gott«, murmelte Elena, »welch seltsamer Zufall.«

»Ja, so seltsam, daß man schon nicht mehr an einen Zufall zu glauben vermag. Wissen Sie, wer diese Dame ist? Eine Agentin Lord Haddingtons. Aber sie scheint mir mehr die Interessen der Gegner Sir Ernests wahrzunehmen als die seinen.«

Elena sah den Sprechenden mit großen Augen an. »Ich verstehe Sie nicht, Mister Jenkins. Was habe ich mit diesen Dingen zu tun?«

»Darauf müßte ich antworten: so viel wie nichts; aber –«

Sie trat mit blitzenden Augen auf ihn zu. »Aber? Was kann bei dieser Sache noch zweifelhaft sein?« Ihre Stimme klang gereizt.

»Nicht mehr und nicht weniger als die befremdliche Tatsache, daß die Wynn sich mit dem erbeuteten Brief – es war allerdings nur eine Attrappe – in das Haus hundertvierundsiebzig Mall begab.«

»In die Villa Lord Haddingtons?« unterbrach sie.

Jenkins nickte. »Allerdings. Aber sie mußte als seine Agentin wissen, daß Sir Ernest gar nicht in London wohnte – denn ihr Besuch galt nicht dem Lord, wie ich in Erfahrung gebracht habe, sondern – Ihnen, Madame Falieri.«

Eine tiefe Blässe stand in Elenas Gesicht; ihr Atem ging schwer, und ihre Hände krampften sich um die Lehne des Stuhls. »Mister Jenkins«, sagte sie, und ihre Stimme klang dunkel wie in verhaltenem Zorn, »ich lehne es ab, Ihnen darauf zu antworten. Ihre Art, mit mir zu sprechen, kommt einem Verhör gleich. Bitte, es ist ein Verhör! Ich spüre schon eine ganze Weile diesen mißtrauischen, feindseligen Ton in Ihren Fragen. Aber Sie erwarten im Ernst doch wohl kaum von mir, daß ich dieses Gespräch fortsetze. Dieses Schiff gehört Lord Haddington – er ist der Hausherr. Lord Haddington, mein Herr, wird Ihnen die gebührende Antwort erteilen.«

»Ich wünsche mir nichts sehnlicher, Madame.«

Sie hatte ihm den Rücken gekehrt; er sah wie ihre Schultern im Unmut zuckten. Leise verließ er den Raum.

»Wo ist der Kapitän?« fragte Jenkins den vorübergehenden Steward.

Der Mann deutete stumm auf die Kommandobrücke.

Langsam stieg der Detektiv die schmalen Stufen hinauf. Falcon, der neben dem Rad stand, sah ihm mit erstaunten Blicken entgegen.

»Welchen Hafen laufen wir an, Kapitän?« fragte Jenkins höflich.

»Genua«, erwiderte der andere einsilbig.

»Wann sind wir dort?«

»Übermorgen in der Frühe.«

»Danke. Haben Sie eine Marconi-Station an Bord?«

»Ja.«

»Ich möchte ein Telegramm aufgeben.«

»Bitte.«

»Wo finde ich den Marconi-Raum?«

»Bedaure. Zur Marconi-Station hat kein Fremder Zutritt. Sie müssen mir Ihr Telegramm aufschreiben.«

Jenkins zog den Füllfederhalter. Beim Schein der Positionslaternen schrieb er auf ein Blatt seines Notizbuches:

 

Dorothy Crane. Excelsior-Palace. Palermo. Nehmen Sie nächsten Dampfer Genua. Erwarten Sie mich Hotel Colon.
Jenkins.

 

»Bitte, was bin ich Ihnen dafür schuldig?« Er reichte dem Kapitän das Blatt hinüber, der es aufmerksam überflog.

Falcon kniff das Blatt Papier zusammen und winkte Jenkins, ihm zu folgen. »Ich lasse Ihnen eine Kabine anweisen. Im übrigen muß ich Sie bitten, das Schiff in Genua erst dann zu verlassen, wenn ich es Ihnen erlaube.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Die Hafenbehörde in Genua dürfte noch ein Wörtchen mit Ihnen über Ihren Ausflug nach Alina zu reden haben, Mister Jenkins. Gute Nacht.« Falcon schlug die Tür des Marconi-Raums hinter sich zu.

*

Die säulengetragene Halle des Hotels Colon lag im Halbdunkel des dämmernden Tages. Über den breiten tiefroten Läufer, der den Raum durchquerte, ging Joe Jenkins mit schnellen Schritten und blieb vor der Loge des Nachtportiers stehen. Er klopfte an das heruntergelassene Fenster; erst auf ein wiederholtes Pochen schob sich das Glas langsam in die Höhe; das verschlafene Gesicht des Nachtportiers wurde sichtbar. Der Mann rieb sich die Augen und blickte mürrisch auf den Fremden, der in den weiten blauen Beinkleidern und dem dicken weißen Sweater nicht gerade einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck machte. Der Portier schob das Fenster höher und musterte mit einem langen prüfenden Blick den vor ihm Stehenden. Ein Arbeitsloser, der nach Beschäftigung fragen will, dachte er. Kopfschüttelnd, mit abweisender Geste, deutete er auf den Ausgang und zog das Fenster wieder hinunter. Jenkins blieb gelassen stehen und klopfte aufs neue gegen das Glas.

Der Portier riß wütend die Tür der Loge auf. »Scheren Sie sich zum Teufel – wir haben keine Beschäftigung für Sie!« Er winkte einem in der Ecke stehenden Hausdiener zu. Schwerfällig, mit dem wiegenden Gang des früheren Athleten, kam der Mann näher.

»Einen Augenblick, mein Lieber«, sagte Jenkins mit ruhiger Stimme. »Sie irren sich.« Er hielt dem Portier seinen Paß entgegen. »Bitte, geben Sie mir ein gutes Zimmer mit Bad. Ich möchte dann gleich frühstücken, und nennen Sie mir die Adresse eines Herrenmagazins, in dem ich mich neu einkleiden kann.«

Der Portier hob langsam den Blick von dem Paß; der mißtrauische Ausdruck seiner Augen sagte deutlich, daß er von der Persönlichkeit des Fremden noch nicht überzeugt war. »Sie verzeihen, Signore«, sagte er und blickte sich ratlos in der Halle um, »wir müssen in diesem Hause sehr vorsichtig sein.«

Jenkins nickte. »Ich begreife. Aber wenn Signor Benito Grimaldi noch der Manager dieses Hotels ist, so melden Sie mich ihm. Er wird mich identifizieren.«

Der andere griff grüßend an die Mütze. »Danke, Signore, es genügt.« Er drückte auf den Klingelknopf.

»Ein Zimmer mit Bad für den Herrn«, rief er dem Clerk zu, der jetzt in der Rezeption erschien.

Jenkins ließ seinen Namen in die Liste eintragen. Lächelnd erwiderte er den prüfenden Blick des jungen Mannes. »Wann trifft der Dampfer aus Palermo ein?«

»Meinen Sie den täglichen Postdampfer, Signore? Der verläßt Neapel um zwölf Uhr mittags und ist ...«

»Nein, sagen Sie mir, bitte, welches Schiff aus Palermo zunächst im Hafen fällig ist.«

Der Hotelbedienstete warf einen kurzen Blick auf den Fahrplan. »Um fünf Uhr nachmittags, Signore, läuft der Dampfer ›Stromboli‹ der Traffico Internazionale ein. Es ist der schnellste Dampfer der Gesellschaft. Er verläßt Palermo um sechs Uhr nachmittags und ...«

»Es ist gut«, unterbrach Jenkins den Redseligen, »wissen Sie, ob die Dampfer der Traffico Internazionale eine drahtlose Station an Bord haben?«

»Oh, Signore, diese Schiffe sind mit allem erdenklichen Komfort ausgerüstet, sie sind geradezu schwimmende Paläste, Sie finden dort jede ...«

Der Detektiv hob die Hand. »Ich glaube es Ihnen, Verehrter«, sagte er freundlich, »ich möchte ein Telegramm an Bord des ›Stromboli‹ senden. Kann ich das hier erledigen?«

Der Clerk schob den Papierblock zu Jenkins hinüber und reichte ihm den Füllfederhalter.

»Wo wird sich das Schiff jetzt befinden?«

Der Gefragte warf einen Blick auf die Karte. »Etwa in der Höhe von Livorno, Signore.«

»Danke.« Jenkins sann einen Augenblick nach und schrieb dann schnell den Depeschentext auf das Blatt.

 

S/S. Stromboli. Kapitän. Drahtet ob Miß Dorothy Crane aus London an Bord. Bitte der Dame unauffällig besonderen Schutz zu leisten, da Gefahr eines Anschlags vorliegt.
Joe Jenkins, Hotel Colon.

 

»Bitte, haben Sie die Güte, das Telegramm zu besorgen.«

Der junge Mann rief einen Pagen herbei. »Sofort zur Marconi-Zelle. Wir haben eigene Station im Hause, Signore«, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.

»Geben Sie mir gleich Nachricht, wenn die Antwort eintrifft.«

»Si, Signore.« Er übergab Jenkins die Schlüssel. »Erster Stock, Zimmer Nummer einundzwanzig«, rief er dem herbeieilenden Hausdiener zu. »Buon giorno, Signore!«

Jenkins folgte dem Diener zum Fahrstuhl. Die dunklen Augen des Liftboys musterten mit erstaunten Blicken die fragwürdige Gestalt des Fremden. Aber die Disziplin des gutgeschulten Hotelpagen unterdrückte die kindliche Neugier. Surrend glitt der Lift nach oben.

*

In der Dämmerung des Spätnachmittags verließ Jenkins das Büro der Traffico Internazionale und ging langsam zum Hafen hinunter. Eben hatte er erfahren, daß der »Stromboli« nicht zur festgesetzten Stunde einlaufen würde; ein Maschinendefekt hatte unterwegs die Fahrt des Schiffes unterbrochen. Es war mit einer Verspätung von drei bis vier Stunden zu rechnen.

Gestern war das Radiogramm des Kapitäns eingelaufen; es gab Jenkins die beruhigende Sicherheit, daß Dorothy Crane wohlbehalten an Bord war und sich des besonderen Schutzes des Kapitäns erfreute.

Langsam, die Hände in die Taschen seines Ulsters vergraben, schlenderte der Detektiv durch die engen, malerischen Gassen des Hafenviertels. Noch brandete das Gewühl der Arbeit in den Straßen, in denen ein Geruch von exotischen Gewürzen und südlichen Früchten sich mit den Ausdünstungen der vielen Garküchen und Trattorien mischte.

Durch die offenen Türen der Kneipen scholl das monotone grelle Klimpern der Orchestrions. Dazwischen schmetterte irgendein angehender Caruso eine Verdische Bravourarie. Rotes Licht quoll aus weit geöffneten Türen, ließ den Blick frei auf einladend gedeckte Tische oder auf ein hellerleuchtetes Podium. Gewirr der Sprachen, Gewirr der Nationen in den schmalen winkeligen Straßenzügen. Menschen, getrieben von harter Pflicht in Hast und nervöser Ungeduld, Müßiggänger, lungernd, nach irgendeiner Gelegenheit spähend, füllten die Gassen. Dazwischen eine Gruppe neugieriger, sensationshaschender Reisender. Ihre Augen lugten mit einer von den phantastischen Schilderungen der Führer aufgepeitschten Lüsternheit nach den verrufenen Stätten der Laster. Aber die geschäftsmäßige Nüchternheit dieser Kneipen, der Pulsschlag der täglichen harten Arbeit, der sich noch nicht ganz verloren hatte in dieser Stunde zwischen sinkendem Werktag und hereinbrechender Nacht, mochte sie mit Enttäuschung und Langerweile erfüllen.

Ein Mastenwald stieg dort unten in dem weiten Halbrund des gewaltigen Hafenbeckens auf. Die Rahen und das Tauwerk standen wie Filigran in dem tiefen Blau des dämmernden Abends. Winzige Motorboote schossen behende an den schweren, plumpen Schleppern vorbei. Lastkähne zogen mühselig dahin und verschwanden hinter den Schiffsleibern. Wie Kinderspielzeug lagen sie längsseits der hochbordigen Riesenschiffe. Schon glänzten hier und dort die grünen und roten Positionslaternen auf. Wie glitzernde Perlenschnüre strahlten die Bull-Augen der Kabinen, und die Glaswände der Deckveranden schimmerten im Licht der Lampen. Ein weicher schmeichelnder Wind trug vom Wasser die vielfältigen Geräusche des Welthafens herüber. Grelle Pfiffe und das tiefe Brummen der Dampfsirenen, das Zischen der geöffneten Ventile, das rhythmische Hämmern von den Werften und dazwischen die verwehten Klänge eines Bordorchesters. Und über allem lagerte jene seltsame Atmosphäre großer Hafenstädte, jene unbeschreiblich sentimentale Stimmung, in der Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude nebeneinander stehen, jene wehmutsvolle, halb erwartungsfreudige, halb resigniert-schmerzliche Stimmung, der man sich nicht zu entziehen vermag.

»Scusi, Signore! Buona sera!«

Jenkins blickte bei der Anrede zur Seite. Ein kleiner dunkelhaariger Mann ging neben ihm.

»Sie brauchen einen Führer, nicht wahr, mein Herr?«

Jenkins schüttelte schweigend den Kopf.

Der Mann tat, als ob er die Ablehnung nicht bemerke. »Oh, Signore«, sagte er mit klangvoller Stimme, »wie wollen Sie ›Genova la Superba‹ kennenlernen ohne sachkundigen Führer?«

Der Detektiv beschleunigte seine Schritte; aber auch der Genuese ging schneller. Jenkins warf einen flüchtigen Blick auf seinen unfreiwilligen Begleiter. Er trug einen leichten weiten Mantel, ein grellrotes Halstuch war in malerischem Wurf über die Schulter geschlagen. Sein zerbeulter, breitrandiger Hut war verwegen auf das rechte Ohr gestülpt.

Mit einer chevaleresken Schwenkung zog der Unbekannte den Hut. »Erlauben Sie, mein Herr, daß ich mich vorstelle. Giacomo Bambaro, Fremdenführer.«

»Geben Sie sich keine Mühe, mein Lieber. Ich habe keine Zeit für die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt.«

Der Italiener hob beschwörend die Hände. »Mein Herr«, begann er feierlich mit rollenden Augen, »Sie kennen zweifellos das Wort: vedi Napoli e poi muori. Aber man kann auch mit derselben Berechtigung sagen: vedi Genova e poi muori. Warum nicht? Napoli – ja, das ist gleichsam die Inkarnation einer verschwenderischen Schönheit der Natur. Genova – das ist eine Sinfonie, eine Sinfonie der Arbeit, gepaart mit der Schönheit der Natur! Sie kennen Napoli, Signore? Nun denn, Sie werden mir recht geben, wenn ich Ihnen Genova gezeigt haben werde. Seien Sie ganz außer Sorge, mein Herr, ich bin reell. Ich übervorteile die Fremden nicht. Ich führe Sie drei, vier Stunden lang, mein Herr – es soll Sie nicht mehr als zwanzig Lire kosten!«

»Es tut mir leid; ich sagte Ihnen schon ...«

»Bin ich zu teuer? Nun gut – ich mache es für fünfzehn Lire. Ich zeige Ihnen die stolzen Palazzi auf der Via venti Settembre. Sie sollen das herrliche Reiterdenkmal Vittore Emanuels auf der Piazza Corvetto bewundern. Oder ziehen Sie vor, dem größten Genuesen einen Besuch abzustatten? Wollen Sie das berühmte Denkmal sehen, das unseren gewaltigen Columbus ehrt? Es ist auf der Piazza Aquaverde zu finden, gleich beim Hauptbahnhof.«

Jenkins blieb stehen und sah dem kleinen beweglichen Manne lachend ins Gesicht. »Signor Bambaro, ich unterschätze Ihre Qualitäten als Führer keineswegs, aber glauben Sie mir, Sie vergeuden Ihre Zeit.«

»Geben Sie mir zehn Lire, Signore, und ich zeige Ihnen die herrlichen Kunstschätze unserer superben Stadt. Oh! ich verstehe über Kunst zu sprechen, mein Herr. Ich habe einst bessere Tage gesehen. Wir beginnen mit dem Palazzo Durazzo Pallavicini in der Via Balbi. Sie finden dort Werke von Rubens, Tintoretto, van Dyck ...«

Jenkins beschleunigte seinen Schritt; der Kleine hatte Mühe, an seiner Seite zu bleiben. Zwei Stadtgardisten kamen ihnen entgegen; Jenkins fühlte, wie der Genuese plötzlich zurückblieb.

Eine winkelige Straße führte mit schmalen ausgehöhlten Stufen zum Hafen hinab. Spärliches Gaslicht warf ungewisse hüpfende Schatten auf die schmutzigen Steinfliesen. Eine flüsternde Stimme kam jetzt aus dem Halbdunkel. »Ich bin ein Schwachkopf, Signore, ich mache Ihnen Angebote, die Sie nicht interessieren. Aber, hören Sie doch, mein Herr, ich bitte Sie!«

Der Fremdenführer stolperte keuchend neben Jenkins die Treppen hinunter. »In der Via Verrina, Signore, kenn ich ein grandioses Haus. Warten Sie, ich gebe Ihnen die Adresse. Hier, bitte, nehmen Sie!« Er drückte Jenkins eine schmale Karte in die Hand. »Die Villa Scalandrini, Herr, ein erstrangiges Etablissement!« Der Fremdenführer spitzte die Lippen als koste er alten Wein. »Herrliche Frauen, die Schönsten aller Nationen ... oder ...«, er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Oder sollte der Herr lieber  ...«

»Zum Teufel, jetzt habe ich aber genug. Scheren Sie sich endlich fort, Sie lästiger Schwätzer!« Jenkins blieb stehen und sah dem anderen drohend ins Gesicht.

Der Genuese senkte traurig den Kopf. »Ich bin untröstlich«, sagte er mit verzweifeltem Ausdruck. »Leben Sie wohl, mein Herr!« Er schwenkte grüßend den breitrandigen Kalabreser.

Jenkins drückte ihm einen Fünflireschein in die Hand.

»Grazie, Signore. Alle Heiligen werden Sie segnen.« Der Kleine verschwand im Dunkel der Gasse.

Jenkins atmete befreit auf. Dort war die breite Kaistraße, von der er einen bequemen Überblick auf den Hafen hatte. In dem kleinen Büro der Hafenmeisterei würde er sich jeden Augenblick über das Eintreffen des Dampfers aus Palermo orientieren können. Er setzte sich auf eine Bank und legte – erhitzt durch den schnellen und beschwerlichen Gang über das holprige Pflaster – Mantel und Hut neben sich. Eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter. Es war Bambaro, der Fremdenführer.

»Ich muß mich Ihnen erkenntlich zeigen, Signore, für Ihre großmütige Spende.«

Jenkins wehrte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

»Oh, mein Herr, Sie dürfen es nicht abschlagen. Ich lade Sie ein. Kommen Sie in meine kleine Trattoria. Meine Frau ist eine vorzügliche Köchin; sie wird Ihnen ein Risotto vorsetzen«, der kleine Mann verdrehte die Augen, »oder eine Maccherone con salsa di Pomodoro – ah!« er schnalzte mit der Zunge. »Meine Gäste sprechen davon wie von einer Offenbarung. Kommen Sie, Signore, meine Frau wird sich freuen. Eine Viertelstunde von hier – in der Via Griffone.«

Jenkins unterdrückte einen Fluch, aber er begriff, daß der Unermüdliche mit Grobheit nicht zu vertreiben war; er nahm lächelnd die Hand, die der Genuese ihm entgegenstreckte. »Ich werde Sie bestimmt besuchen, Signor Bambaro, später!«

Der Fremdenführer sah sich scheu nach allen Seiten um, dann beugte er sich zu dem Sitzenden nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie finden bei mir ein verschwiegenes Zimmer, Signore, zum Rauchen ... Sie wissen wohl ... oder zum Schnupfen. Gute Gelegenheit für billigen Einkauf: Kokain, Heroin, eben frisch eingetroffen.«

Jenkins warf einen schnellen Blick auf den Italiener. »Sie sind sehr vielseitig, Signor Bambaro, ich werde bestimmt kommen; Ihre Trattoria interessiert mich.«

»Vergessen Sie die Adresse nicht: Via Griffone sechzehn. Addio, Signore, a rivederci!«

Die Lampen am Kai flammten auf, allmählich erstarb das Gewühl der geschäftigen Menschen. Die roten Lichter der Bars lockten, ein Gewirr von Tönen stand in der Luft. Gröhlend zogen Matrosen, von den Kais kommend, durch die Straßen, eingehakt von grell geschminkten, dunkelhaarigen Frauen. Alle Dialekte der Erde ertönten, ein Kauderwelsch der internationalen Hafenstädte.

Jenkins zündete sich eine Zigarette an; er griff nach dem Mantel. Plötzlich sah er, wie eine Hand mit großer Vorsicht den Ulster von der Bank zu ziehen versuchte. Er fühlte mehr als er es sah, wie der Mantel von dem Sitz glitt, dann streckte sich die Hand nach dem Hut aus. »Halt!« Jenkins packte mit raschem Griff das Gelenk des Diebes; der Mann krümmte sich unter dem Druck dieser harten Faust.

»Lassen Sie mich laufen, Herr«, bettelte er mit abgewandtem Gesicht.

Zwei Stadtgardisten, die Hände auf dem Rücken, patrouillierten auf der anderen Straßenseite vorbei. Ihre weißen Schärpen und die Säbelscheiden blitzten im Licht der Bogenlampe. Der Ertappte senkte den Kopf. »Ich habe Hunger«, sagte er mit schwacher Stimme, »mich friert.«

Jenkins warf einen schnellen Blick auf die zerlumpten Kleider des Mannes. Er ließ den Arm des vor ihm Stehenden los und machte ihm ein Zeichen weiterzugehen. Die Blicke der Polizisten schweiften herüber. Schüchtern trat der Fremde beiseite, das Licht fiel auf sein mageres, blasses Gesicht. Jenkins stutzte; er sah dem Davongehenden einen Augenblick nach, dann holte er ihn mit einigen schnellen Schritten ein. »Francesco Testi«, sagte er mit leiser Stimme, »sind Sie es?«

Der Angeredete zuckte zusammen, und ein hilfloser Ausdruck legte sich über seine Züge. »Ja, ich bin Francesco Testi.« Er streckte mit einer müden Bewegung die Hände aus. »Verhaften Sie mich.« Mit einem schwachen Schrei suchte er taumelnd einen Halt an der Mauer eines Hauses.

Jenkins fing den Wankenden auf; er sah in ein abgezehrtes Gesicht, zwei tiefe Falten gruben sich um die Mundwinkel, und die Augenlider vibrierten im nervösen Zucken. Er fühlte, wie der kraftlose Körper in seinen Armen zitterte und zusammensackte. Dort drüben war ein Autostand. Jenkins winkte einen der Chauffeure heran; mit Mühe brachten die beiden Männer den Ohnmächtigen in den Wagen. »Wissen Sie in der Nähe ein einfaches Gasthaus?« fragte Jenkins.

Der Chauffeur schob die Mütze in den Nacken und warf einen bedenklichen Blick auf die schmutzigen Fetzen des Bewußtlosen.

»Bringen Sie den Armen zu mir«, sagte plötzlich eine Stimme. Wie aus dem Boden gewachsen stand der Fremdenführer Bambaro vor den beiden. Er schwang sich neben den Führer. »Via Griffone – bitte, steigen Sie ein, Signore.«

Der Wagen bog langsam in eine der schmalen Seitengassen; die Häuser neigten sich zueinander, ihre stumpfen Giebel standen windschief gegen den nächtlichen Himmel. Im Abendwind flatterte an Holzstangen aufgehängte Wäsche, die niedrigen Fenster waren weit geöffnet. Ein unerträglicher Geruch von Knoblauch und in schlechtem Öl gesottenen Fischen stand dick und schwer in der Luft. Das Auto holperte mühsam über spitze Steine und tiefe Furchen, fluchend stellte der Chauffeur den Hebel auf die geringste Geschwindigkeit. Immer dunkler wurde die Straße, jetzt fiel der Weg fast steil abwärts, die niedrigen Häuser traten zurück, und eine kahle schmutzige Mauer schloß die Sackgasse ab. Der Wagen hielt. Bambaro öffnete den Schlag; er zog den Hut und deutete mit großartiger Geste auf einen engen, dunklen Torbogen, über dem eine rote Laterne hing. Das Licht blinzelte trübselig hinter den schmutzverkrusteten Glaswänden.

»Wir sind am Ziel. Seien Sie willkommen in meinem Haus«, deklamierte der Genuese feierlich.

Jenkins sah sich um, er blickte unschlüssig auf den Chauffeur, der ihn neugierig, vielleicht ein wenig argwöhnisch betrachtete. Der Detektiv entlohnte den Wagenführer und trat an Testis Seite, der sich schwer auf Bambaro stützte. Sie gingen vorsichtig die wenigen Schritte bis zum Hauseingang. Jenkins warf noch einen schnellen Blick, um sich die Umgebung einzuprägen, in die Tiefe der dunklen Straße. Rötlicher Schein stand am Himmel: der Lichtreflex der Stadt. Zur Linken tat sich die weite Öde eines Feldes auf, flimmernde Lichter in der Ferne deuteten die Landstraße an, die hier auf die Peripherie der Stadt mündete.

Hinter einer Holztür scholl Lärm. Mandolinengeklimper und eine klangvolle Frauenstimme. Aber der Gesang wurde übertönt durch das metallische Klingen fallender Geldstücke, Karten fielen klatschend auf den Tisch, und die heiseren Stimmen der Spieler überschrien sich. »Uno, due, tre, quattro!« Lärm schwoll an, begleitet von dem dröhnenden Aufschlagen der Fäuste.

Jenkins blieb zögernd stehen. »Wir können ihn unmöglich dahinein bringen. Haben Sie nicht ein ruhiges Zimmer?«

Der Genuese nickte eifrig; er lief die gewundene Treppe hinauf, die in das obere Stockwerk führte. Geflüster erhob sich oben, dann tauchte das verschmitzte Gaunergesicht des Wirtes über dem Geländer auf. »Bitte, mein Herr, es ist alles zu Ihrem Empfang bereit.«

Jenkins legte seinen Arm um die Schultern Testis, der sich apathisch die Stufen hinaufführen ließ.

Bambaro stand oben neben einer geöffneten Tür. Mit der Würde eines Zeremonienmeisters wies er ins Innere des Zimmers.

Der Raum war primitiv, fast armselig eingerichtet. Bunte Kretonnegardinen, deren verwaschene Farben durcheinanderliefen, hingen vor den niedrigen Fenstern. Ein schmaler Tisch und einige rohgezimmerte Holzstühle, ein Kleiderschrank, dessen Tür schief in seinen Angeln hing, bildeten das Mobiliar des Zimmers. In der Nische zur Seite eines breiten niedrigen Kachelofens stand das Prunkstück des Raumes: eine breite, mit schmutzigen Lappen bedeckte Chaiselongue. Eine trübselige Glühbirne ohne Schirm hing darüber; um das Glas war rotes Glanzpapier gewickelt, das Licht fiel spärlich durch diese phantastische Umhüllung. Dumpfe Luft schlug den Eintretenden entgegen, erfüllt von Alkoholdunst und kaltem Tabaksrauch.

Jenkins führte Testi zu dem Ruhebett. Stöhnend ließ sich der Ermattete darauf fallen; mit umsichtiger Sorgfalt breitete der Detektiv die schmutzigen Decken über den Ruhenden. »Verschaffen Sie uns zunächst zwei große Gläser Wermut«, wandte er sich an den Fremdenführer. »Hier«, er zog einen Zehnlireschein, »und dann sorgen Sie für einen kräftigen Imbiß. Avanti, amico!« Er drängte den Kleinen zur Tür hinaus. Jenkins warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Jetzt mußte der Dampfer wohl schon eingelaufen sein, und er versäumte die Ankunft. Die Sorge um Dorothy bedrückte ihn; irgendeine quälende Unruhe ließ ihn nicht los. Aber, so suchte er sich zu beruhigen, man würde Dorothy wohl unter Schutz ins Hotel bringen – vielleicht war sie schon dort eingetroffen.

Bambaro kam mit dem Wermut.

Jenkins trank sein Glas in einem Zug aus; der Wein war gut und kräftig. Behutsam ließ er Testi einige Schlucke trinken; langsam kehrte die Röte in die blassen Wangen des Erschöpften zurück – der glanzlose Blick seiner Augen belebte sich.

Der Genuese rieb sich schmunzelnd die Hände. »In zehn Minuten bringt meine Frau eine gloriose Minestra und hernach eine Frittata, eine hauchzarte Omeletta, so zart wie Venus, die Schaumgeborene«, er küßte sich die Fingerspitzen, »für den Kranken. Und für Exzellenza«, er verbeugte sich vor Jenkins, »vielleicht ein knusperiges Hühnchen mit cavolfiore?«

Jenkins machte eine ungeduldige Handbewegung. »Meinetwegen. Aber lassen Sie mich jetzt allein.«

Bambaro zog sich eilfertig zurück.

Der Detektiv beugte sich zu Testi hinab und gab ihm den Rest des Weins. »Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Ja – aber ich habe furchtbaren Hunger. Ich habe seit vier Tagen fast nichts gegessen.«

»Sie sollen gleich zu essen haben.«

Testi streckte sich seufzend auf dem Lager aus; er streifte den Detektiv mit einem scheuen Blick. »Wer sind Sie?« fragte er mit kraftloser Stimme.

»Erkennen Sie mich nicht wieder? Mein Name ist Joe Jenkins. Ich war in Ihrer Zelle. Auf Alina. Ich wollte eine Auskunft von Ihnen haben.«

Testi richtete sich auf; er legte die Hand an die Stirn und schloß die Augen. »Ah – ich erinnere mich. Die Revolte brach aus als Sie mit mir sprachen. Eine Explosion – ich verlor die Besinnung.« Er lehnte sich schwer atmend zurück.

»Wenn es Sie zu sehr anstrengt ...«

Testi schüttelte den Kopf. »Nein, der Wein tut mir gut. Es geht schon. Haben Sie eine Zigarette für mich, Mister Jenkins?«

Der Detektiv reichte ihm das Etui hin; wie ein Verschmachtender zog er den Rauch ein und ließ ihn langsam durch die Lungen ausströmen.

»Sie konnten von der Insel entfliehen?«

Testi nickte und starrte vor sich hin. »Ja – es gelang mir. Ich weiß heute kaum noch wie.« Er schwieg und schloß die Augen, als ob ihn die Erinnerung an die Schrecken der letzten Tage überwältige.

Es klopfte; die Tür ging auf. Bambaro trat ein, gefolgt von seiner Frau. Sie war von derselben Statur wie ihr Mann, klein, untersetzt. Sie war schlampig gekleidet, ein penetranter Öl- und Zwiebelgeruch ging von ihr aus. Bambaro breitete ein buntes Tischtuch voller Flecke mit zeremoniöser Feierlichkeit aus und richtete die Gedecke mit der Grandezza eines Oberkellners. Die Frau füllte die Teller und warf einen mürrischen Blick auf die Fremden; sie wandte sich wieder der Tür zu.

»Carlotta«, rief der Kleine ihr nach, »Carlotta, der junge Mann hier ist krank – gib ihm die Suppe!«

Sie ging langsam, mit sichtlichem Widerstreben zur Chaiselongue hinüber; Bambaro reichte ihr den Teller. Die Frau schob ihren fetten Arm hinter den Rücken Testis und stützte ihn. Er sah in ein grobsinnliches Gesicht, in dem Laster und Ausschweifungen allzu leserliche Spuren zurückgelassen hatten. Sie flößte, mit einer nichts weniger als freundlichen Miene, Testi einige Löffel der Suppe ein. Allmählich prägte sich in ihren Zügen etwas wie weibliches Mitgefühl aus; bei jedem Löffel, den sie ihm eingoß, nickte sie ihm aufmunternd zu.

Bambaro rückte das Gedeck auf dem Tisch zurecht und wies einladend auf den Stuhl.

»Hören Sie, Signor Bambaro«, sagte Jenkins nach einem Blick auf seine Armbanduhr, »kann man in Ihrem komfortablen Gasthaus telephonieren?«

»Gewiß, mein Herr. Das Telephon befindet sich in den unteren Räumen.«

Der Detektiv sah lächelnd zu Testi hinüber, der mit frisch gestärktem Mut seine Omelette verzehrte. »Wie fühlen Sie sich?«

»Gut, Mister Jenkins, ich bin wie neugeboren.«

»Um so besser. Ich muß Sie auf kurze Zeit verlassen; versuchen Sie ein wenig zu schlafen inzwischen. Nachher werden Sie mir alles erzählen. Und«, er beugte sich zu Testis Ohr, »sollte hier irgend etwas passieren, irgend etwas Auffälliges ... Sie erreichen mich im Hotel Colon.« Jenkins übersah den fragenden, indignierten Blick, mit dem der Fremdenführer auf den gedeckten Tisch deutete. »Wo finde ich also den Telephonapparat?« fragte er zur Tür gehend.

»Und Ihre cena, mein Herr? Das köstliche Hühnchen, der zarte cavolfiore ...?«

»Ein andermal, mein Lieber!«

Kopfschüttelnd folgte der Genuese seinem Gast. Unten, in einem Winkel der Treppe, stand der Telephonapparat. Jenkins ließ sich mit dem Hotel Colon verbinden. Eine leichte, nervöse Ungeduld stieg in ihm auf. Er lauschte auf den singenden Ton des Stroms in der Leitung – endlos schienen ihm diese Sekunden des Wartens. Endlich meldete sich das Hotel.

»Hier Jenkins. Ist der Dampfer ›Stromboli‹ eingelaufen?«

»Si, Signore; der ›Stromboli‹ liegt seit zwei Stunden am Kai.«

»Ist eine Dame dort eingetroffen, die nach mir gefragt hat? Miß Dorothy Crane ist ihr Name.«

»Nein, Signore. Es hat niemand nach Ihnen gefragt.«

»Danke. Ich bin in einer Viertelstunde dort.«

Hastig hängte Jenkins den Hörer ein. »Ein Auto, schnell ein Auto!« rief er dem herbeieilenden Wirt zu.

*


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