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3.

Der junge, schlanke Mann mit den klugen Augen in dem blassen durchgeistigten Gesicht schloß behutsam die dickgepolsterte Ledertür hinter sich. Er streifte den Wartenden mit einem kurzen, etwas neugierigen Blick. »Lord Haddington hat Besuch, Mister Jenkins. Er läßt Sie bitten, sich einen Augenblick zu gedulden; er steht sofort zu Ihrer Verfügung.« Die halbverschleierte Stimme des Sprechenden, seine sichere, verbindliche Art verrieten den zukünftigen Diplomaten.

Jenkins dankte und vertiefte sich wieder in das Studium der Gemälde, die die Wände des dunklen hochgetäfelten Zimmers schmückten. Sein an die nüchterne Stillosigkeit behördlicher Wartezimmer gewöhntes Auge war angenehm berührt von der Kultur des Geschmacks, den dieser Raum verriet. Er empfand es seltsam, daß dieses amtliche Büro so ganz den Eindruck eines behaglichen Arbeitszimmers machte, wie man es eher in der Privatwohnung eines kulturell hochstehenden Mannes zu finden erwartete, als hier in einem Vorzimmer des Auswärtigen Amtes.

Wohltuende Stille lag im Raum. Durch die hohen Doppelfenster drang kaum ein Laut. Jenkins warf einen Blick durch die Tüllstores. Das Zimmer mußte im rückwärtigen Teil des Gebäudes liegen. Dort unten floß die Themse, und zur Linken dehnten sich die breiten Bogen der Westminster Bridge.

Ein leichter Schritt klang auf. Der Detektiv wendete den Kopf; eben öffnete sich die Tür zum Zimmer des Lords. Eine Dame stand auf der Schwelle. Sie blieb einen Augenblick – den Drücker in der Hand – unschlüssig stehen, dann ging sie mit müden Schritten zu dem Pult des Sekretärs. »Henry – ich verschmachte. Geben Sie mir um Gottes willen eine Zigarette!«

Sie ließ sich stöhnend in einen Sessel fallen und streckte die Hand mit einer merkwürdig kraftlosen Bewegung aus.

Der junge Mann schüttelte abweisend den Kopf und warf einen furchtsamen Blick auf die Tür des Privatkabinetts. »Nein, Gloria, Sie wissen doch, ich darf es nicht ...«

Sie beugte sich zu dem Sprechenden hinüber und ließ zärtlich ihre Hand über sein Haar gleiten. »Bitte, lieber Henry, bitte«, schmeichelte sie mit flehender Stimme.

Er schlug den Blick nieder. Mit einem spähenden Blick auf den Besucher öffnete er die Tischlade und steckte ihr verstohlen ein Päckchen zu. Sie preßte zärtlich seine Hand an ihren Mund. Dann riß sie mit zitternden Fingern die Umhüllung auf: dünne, zierlich gerollte Zigaretten fielen auf den Tisch. Rasch hatte sie ein Streichholz entzündet – mit geschlossenen Augen sog sie den Rauch ein und stieß ihn langsam in graublauen Wolken von sich. Ein fader, süßlicher Geruch verbreitete sich im Zimmer.

Erschrocken sprang der Sekretär auf. »Aber ich bitte Sie, Gloria ...!«

»Tausend Dank, lieber Junge«, sagte sie, »ich gehe ja schon.« Rauchend schlenderte sie zur Tür. Ein flüchtiger Blick streifte Jenkins, der lächelnd diese kleine Szene beobachtet hatte. Er sah jetzt deutlich ihr zerfallenes, abgemagertes Gesicht. Tief in den Höhlen lagen die Augen, deren stumpfer Glanz und leerer Blick in einem seltsamen und unheimlichen Gegensatz zu ihren nervösen Bewegungen standen.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Der junge Mann hatte die Fensterflügel weit geöffnet. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte er verlegen.

Jenkins nickte. »Wird das Rauchverbot so streng genommen in diesen heiligen Hallen?« fragte er jovial.

»Das gerade nicht ...«

Ein schnarrender Ton kam vom Schreibtisch. Der Sekretär öffnete die Polstertür. »Bitte, Lord Haddington ist bereit, Sie zu empfangen, Sir.«

Joe Jenkins trat ein.

An dem breiten Diplomatenschreibtisch saß Sir Ernest. Das Licht der Lampe fiel auf die vollen glänzend-schwarzen Haare; eine breite weiße Strähne zog sich schimmernd über seinen Scheitel. Die sehnige, makellose Gestalt deutete auf sportliches Training. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, fast weich.

Lord Haddington erhob sich und ging seinem Besucher entgegen. »Ah, mein lieber Jenkins, erfreut, Sie zu sehen.« Er schüttelte dem Detektiv kräftig die Hand. »Was nehmen Sie – eine Zigarette oder eine Henry Clay? Hier, diese kleine, dunkle kann ich Ihnen empfehlen.«

Jenkins bediente sich aus der Importenkiste und setzte mit großer Sorgfalt die Zigarre in Brand. Eine Weile rauchten die beiden schweigend. Haddington schloß die breite Ledermappe, die vor ihm lag, und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Jenkins. Haben Sie eine Spur von meinem armen Freund Crane gefunden?«

»Ich muß ganz offen gestehen: nein. Mir scheint, wir haben hier einen ganz schweren und komplizierten Fall zu bearbeiten.«

»Zweifellos. Und Bramwell – hat er etwas entdeckt?«

»Ebensowenig. Scotland Yard meldet lakonisch: in Sachen Wilbur Crane nichts Neues.«

»Das ist allerdings ein mageres Resultat. Aber Sie dürfen überzeugt sein, Mister Jenkins, es wird nichts versäumt. Leider bestehen Sie ja immer noch auf Ihren Wunsch, nichts zu veröffentlichen. Glauben Sie nicht, daß man mit Hilfe des Publikums, des Films oder des Radios, ganz zu schweigen von der Aussetzung einer großen Belohnung, weiter käme?«

»Sicherlich, Sir Ernest. Nur möchte ich Sie bitten, noch einige Tage damit zu warten. Bekanntermaßen hat ein Aufruf an das Publikum immer eine Hochflut von Falschmeldungen – bewußten und unbewußten – zur Folge. Das erschwert naturgemäß die Arbeit der Polizei – und auch die meine.«

»Gut. Überdies, auch die Beamten meines Ressorts sind eifrig am Werk. Haben Sie vielleicht die Dame gesehen, die vorhin aus meinem Zimmer kam?«

Jenkins bejahte und blickte fragend auf.

»Ein menschliches Wrack, nicht wahr? Sie war vor drei Jahren noch die schönste Frau Londons. Hat unglaubliche Triumphe auf der Bühne gefeiert. Haben Sie nie von Gloria Wynn gehört?«

»Bedaure – ich bin schrecklich unmodern.«

»Aber man hat sie doch auch drüben gefeiert. In New York. Sie hatte dort fabelhafte Erfolge.«

Jenkins zuckte die Achseln. »Würden Sie mir vielleicht verraten, Sir Ernest, was diese junge Dame – oder ist sie alt – leistet?«

»Leistet? Sie meinen geleistet hat. Oh, sie war die entzückendste Soubrette, die jemals auf der Bühne gestanden hat. Ihren Schlager, ›Halloh – what are you doing, darling?‹ sang doch damals die ganze Welt.« Haddington trommelte die Synkopen der Melodie auf der Schreibtischplatte.

Gutmütig lächernd sah Jenkins auf den begeisterten Lord. »Nun – und heute? Was macht diese ehrenwerte Dame heute?«

Haddington blickte nachdenklich in die zierlichen Rauchringe seiner Zigarre. »Sie arbeitet für mein Ressort – als Spionin. Ein Opfer des Kokains. Traurig. Sie war bereits dreimal in einer Heilanstalt. Schade um diese Frau.« Er zerdrückte mit einer energischen Bewegung die Zigarre im Aschenbecher.

»Ist Miß Wynn auch in unserer Sache tätig?« fragte Jenkins.

Haddington nickte. »Sie hat in meinem Auftrag alle Lasterhöhlen, Kneipen und Bars von Whitechapel, Soho – und Notting Hillgate aufgesucht. Sie ist in den Slums so gut zu Hause, wie in den Villen von Kensington und Bayswater. Denn wir müssen die Verbrecher ja auch in den oberen Kreisen suchen.«

»Hm. Hoffentlich führt das zu einem Erfolg.«

»Sie scheinen nicht recht zufrieden zu sein mit unseren Maßnahmen, Mister Jenkins?«

»Ich möchte mir keine Kritik erlauben, Sir Ernest. Mein Vertrauen zu Scotland Yard ist unbegrenzt.«

Haddington lächelte ironisch. »Sie machen sehr feine Unterschiede, mein lieber Jenkins. Demnach scheinen Sie von meiner Tätigkeit nichts zu halten?«

»Darüber steht mir kein Urteil zu, denn ich kenne die Wirksamkeit Ihrer Maßnahmen zu wenig, mein Lord. Um es Ihnen aber ganz offen zu sagen: ich halte von allen Razzien, Verhaftungen und Verhören gar nichts.«

»Ich weiß, Sie haben Ihre eigenen Methoden, Mister Jenkins.«

»Verzeihung, Sir Ernest, ich habe eigentlich gar keine Methode. Ich muß – genau wie jeder andere Kriminalist – jeden Fall seiner Eigenart entsprechend behandeln.«

»Es ist aber doch nicht zu leugnen, daß Sie größere und schnellere Erfolge erzielen als unsere Polizei.«

»Zugegeben. Ich kann eben mit anderen Mitteln arbeiten als Scotland Yard.«

»Darf man fragen, was Sie hier im Falle Wilbur Crane zu tun gedenken?«

»Wie ich schon sagte: ich glaube nicht, daß wir in der Riesenstadt London die Spur der Verbrecher finden. Um unentdeckt zu bleiben, könnten sie gar nichts Besseres tun als im Strudel der Weltstadt unterzutauchen. Ich möchte deshalb zunächst einmal den Zusammenhängen dieser geheimnisvollen Affäre nachgehen. Erst wenn ich hier einen Fingerzeig gefunden habe, kann ich mit meinen Nachforschungen in einer bestimmten Richtung beginnen.«

Haddington griff nach einer neuen Zigarre. Er schnitt sorgfältig die Spitze ab und setzte sie umständlich in Brand. »Ich habe Ihnen auf Veranlassung des Innenministers die Akten meines Ressorts zur Verfügung gestellt, Mister Jenkins. Sie sind wohl jetzt über die in die Wege geleiteten Schritte zur energischen Bekämpfung des Rauschgifthandels unterrichtet?«

Der Detektiv nickte schweigend.

»Es handelt sich in der Hauptsache darum«, nahm Haddington nach einer Pause wieder das Wort, »einem über die ganze Welt verbreiteten Konzern das Handwerk zu legen. Wir wissen, daß ungeheure Mengen aller möglichen Opiate geschmuggelt werden. Die Regierungen der europäischen Staaten und auch Ihres Landes arbeiten mit uns zusammen, um diesen verderblichen Handel zu unterbinden. Wollten Sie etwas sagen, Mister Jenkins?« Der Sprechende sah erwartungsvoll zu dem Detektiv hinüber.

Jenkins räusperte sich. »Ich wollte sagen, meines Erachtens ist dieser Kampf – so gut er auch organisiert sein mag – eine Art Sysiphusarbeit. Es wird kaum gelingen, diesen Augiasstall zu reinigen, um im mythologischen Bild zu bleiben. Dieser Rauschgiftschmuggel ist sicherlich noch weit besser organisiert als seine Bekämpfung. Das ist eine kapitalistische Angelegenheit. Man darf nicht übersehen, daß Opium, Morphium, Kokain gleichzeitig Heilmittel sind – also wertvolle und der Menschheit nützliche Handelsartikel. Traurig genug, daß die Kokain- und Opiumseuche sich in den letzten Jahren so ungeheuer verbreitet hat. Bei uns, in den Vereinigten Staaten, wohl eine Folge der Prohibition. Bei Ihnen in Europa eine Begleiterscheinung des Weltkrieges, der zerrütteten Nerven und des sozialen Elends.«

»Sie plädieren also dafür, den Kampf gegen den Opiumkonzern einzustellen?«

Jenkins schüttelte energisch den Kopf. »Bewahre. Ich bin nur dafür, den Schlag nicht gegen Unbekannt, sondern gegen das Haupt dieser Organisation zu führen.«

Haddington lachte. »Ah – ich verstehe. Sie wollen den vielgenannten Führer des Konzerns unschädlich machen. Jenen mysteriösen ...«

»Georg Stylianides, ganz recht. Wenn es mir gelingt, diesen Mann, den keiner kennt, der überall und nirgends ist – in dessen Händen alle Fäden dieses über die Welt verbreiteten Schmuggels zusammenlaufen, zu fassen, dann ist viel gewonnen. Sind Sie nicht auch der Meinung, Sir Ernest?«

Haddington lächelte ironisch. »Ich bin erstaunt«, sagte er, »ich bin wirklich erstaunt, den so gänzlich unromantischen, sachlichen Joe Jenkins allen Ernstes solchen phantastischen Ideen nachhängen zu sehen. Ist es möglich, Sie glauben tatsächlich an die Existenz dieses geheimnisvollen Stylianides?«

»Warum nicht? Ihre eigenen Agenten haben doch das Auftauchen dieses Mannes in Paris, London, New York, in Berlin und allen Welthafenstädten festgestellt.«

»Aber Jenkins«, Haddington machte eine wegwerfende Bewegung, »das ist doch eine Legendenbildung. Ich bitte Sie – es sollte den Kriminalisten der ganzen Welt nicht gelungen sein, diesen Mann ausfindig zu machen. Wie stellen Sie sich das vor?«

Jenkins kniff ein Auge zu und sah dem anderen listig lächelnd ins Gesicht. »Muß ich Ihnen einen Vortrag halten über Korruption? Ich habe Fälle in meiner Praxis, wo ich den Verbrecher in den höchsten Positionen gefunden habe – ein Titel verbürgt doch nicht immer die Integrität seines Trägers.«

Haddington spielte nachdenklich mit dem Brieföffner. Er schob den Sessel zurück und ging mit gesenktem Kopf, die Hände auf dem Rücken verschränkt, zum Fenster. Eine seltsame Stille lag in dem großen Zimmer. Der schwere dunkelrote Teppich, der den Parkettfußboden bedeckte, ließ das Geräusch der Schritte verstummen. Der Lord blickte sinnend auf die Straße – es schien fast, als habe er seinen Besucher vergessen. Endlich wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu. »Hören Sie, Jenkins«, seine Stimme klang zögernd, wie in einem vorsichtigen Tasten, »was Sie soeben ausführten, ist durchaus beachtenswert. Mir ist dabei etwas durch den Kopf gegangen. Das geheimnisvolle Verschwinden Mister Cranes hängt irgendwie mit der Rauschgiftsache zusammen. Das ist so gut wie sicher. Sie selbst sind ja, wie ich von Bramwell höre, der Ansicht, daß Cranes Verschwinden und der Mord an diesem Fremden im Asyl der Heilsarmee zusammengehören, sozusagen, daß eins die Folge des anderen ist. Oder präziser ausgedrückt: dieser fremde Mann mußte stumm gemacht werden, weil er Mitwisser irgendeines Geheimnisses war, das meinen Freund Wilbur betraf.«

Haddington unterbrach sich und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Rekapitulieren wir noch einmal die Dinge. Crane empfing den Besuch eines Mannes, der ihm irgendeine Botschaft, die wir nicht kennen – von irgend jemand – wir wissen nicht von wem –, überbrachte ... Vielleicht war es ein mündlicher Bericht, vielleicht auch ein Brief. Ja, vielleicht ein Brief ...« Er wandte sich mit einer fragenden Geste zu dem Detektiv. »Sie haben nichts Schriftliches gefunden, nicht wahr, Mister Jenkins?«

»Doch. Jenen Zettel mit den Worten: Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache!«

Haddington schüttelte den Kopf. »Das ist mir bekannt. Aber es ist nicht anzunehmen, daß dieser Zettel von dem Besucher auf Cranes Schreibtisch gelegt wurde. Das, was auf dem Papier stand, hätte er ihm ja auch ohne weiteres sagen können, nicht wahr? Nein, ich habe das instinktive Gefühl, daß der unbekannte Besucher nicht nur eine mündliche Botschaft ausrichtete, sondern auch einen Brief überbrachte. Diesen Brief, der wahrscheinlich kompromittierender Art war, haben die Verbrecher gestohlen.«

»Kompromittierend – für Crane?« fragte Jenkins befremdet.

»Vielleicht. Sie sagen, ein solcher Brief hat sich nicht im Zimmer oder im Schreibtisch Cranes gefunden?«

Jenkins schien einen Augenblick mit der Antwort zu zögern. »Nein«, sagte er schließlich gedehnt, »man hat nichts gefunden. Ich muß gestehen, Sir Ernest, ich sehe nicht, worauf Sie hinaus wollen.«

»Aber, lieber Jenkins, das ist doch einfach. Ein Mann von Ihrem scharfen Verstand sollte das noch nicht selbst gefunden haben?«

Jenkins zuckte die Achseln. »Vielleicht überschätzen Sie mich.«

Haddington warf einen schnellen Blick auf sein Gegenüber. »Rund heraus: wenn nun Wilbur Crane selbst der mysteriöse Stylianides wäre? Das setzt Sie in Erstaunen? Ich bitte, überlegen Sie einmal. Jemand ist hinter diese Tatsache gekommen. Er hat unwiderlegbare Beweise dafür; sie sind in dem Brief aufgezählt. Der Bote soll verhandeln. Crane bittet sich Bedenkzeit aus; dann geht er scheinbar auf die Bedingungen ein. Verlangt aber, daß der Mann sofort außer Landes gehen soll. Beweis: das für den Fremden bezahlte Schiffsbillet. Später überlegt Crane, daß ihm auch die Abreise des Mannes keine Sicherheit bietet – er läßt ihn ermorden ... Sie scheinen nicht überzeugt zu sein durch meine Beweisführung, Mister Jenkins?«

»Ich bewundere aufrichtig Ihre Kombinationsgabe, Sir Ernest, aber irgendetwas in Ihrer Rechnung stimmt nicht. Dieser Ermordete war doch zweifellos eine untergeordnete Persönlichkeit, sonst hätte er sich nicht im Zwischendeck abschieben lassen. Ein Mann also, der sicher das Geheimnis seines Auftraggebers nicht kannte. Welchen Grund hatte nun Crane, diesen Mann aus der Welt schaffen zu lassen?«

Haddington nickte. »Ihre Frage ist durchaus berechtigt, Mister Jenkins. Meiner Meinung nach wollte Crane zunächst einmal Zeit gewinnen. Meine Vermutungen sind wirklich nicht so ohne weiteres aus der Luft gegriffen. Da ist nämlich ...« Er unterbrach sich plötzlich und sah auf die Uhr. »Haben Sie über den Abend schon disponiert, Jenkins? Noch nicht? Nun, dann möchte ich Sie bitten, meine Loge im ›Empire‹ zu benutzen. Ich habe noch eine Abendsitzung im Parlament. Aber ich bitte Sie, nach Schluß der Vorstellung mein Gast zu sein. Wir sind in kleiner Gesellschaft im ›Ritz‹. Mein Wagen holt Sie vom Theater ab.«

Jenkins verbeugte sich. »Sie sind sehr liebenswürdig, mein Lord.«

»Mein Lieber, Sie müssen auch einmal London von seiner besten Seite sehen. Sie werden in meiner Loge eine Dame finden. Eine sehr schöne Frau – auf mein Wort. Sie scheinen gar nicht neugierig zu sein? Nun, ich will Ihnen trotzdem verraten, wer Ihre Nachbarin ist. Elena Falieri

»Die berühmte Sängerin?«

»Sie kennen sie bereits?« fragte Haddington gespannt.

Jenkins lächelte. »Natürlich nur von der Bühne. Ich sah sie zuletzt in der Metropolitan Opera in New York.«

»Sie wird im April hier im ›Criterion‹ auftreten«, sagte der Lord mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Die Falieri ist nicht nur eine große Künstlerin, sie ist auch die charmanteste Frau, die ich kenne.«

Jenkins erhob sich. »Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Sir Ernest. Vielen Dank für Ihre Informationen.«

Der Lord begleitete seinen Besucher an die Tür. »Verfügen Sie in jeder Beziehung über mich«, sagte er liebenswürdig.

Jenkins legte die Hand auf den Türgriff. »Eine Frage noch. Wenn ich recht unterrichtet bin, so war Ihnen Miß Cranes Verlobter bekannt?«

»Sie meinen den jungen Botschaftssekretär Francesco Testi? Ja, ich habe eine Zeitlang mit ihm zusammengearbeitet.«

»Er hat das Verlöbnis gelöst. Ist Ihnen jemals wieder etwas über das Schicksal des jungen Mannes zu Ohren gekommen?«

Lord Haddington blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Endlich hob er den Kopf; sein dunkles Auge streifte den Fragenden mit einem forschenden Blick. »Warten Sie mal«, sagte er, jedes Wort dehnend, als suche er in seiner Erinnerung, »ich glaube mich zu entsinnen, daß Crane mich vor mehreren Monaten bat, Nachforschungen anzustellen. Ich habe daraufhin offiziell bei der italienischen Regierung in Rom angefragt.«

»Und was gab man Ihnen zur Antwort?«

Haddington hob die Schultern. »Tja«, sagte er mit einem leichten Lächeln, »diese Antwort war etwas problematisch. Man hat über Signor Testi nichts in Erfahrung bringen können. Er gilt in Rom als verschollen.«

Jenkins griff zu Hut und Handschuhen. »Nochmals meinen besten Dank, Sir Ernest. Auf Wiedersehen.«

Die Tür schloß sich hinter dem Detektiv.

*

Als Joe Jenkins zwei Stunden später im Abendmantel und Frack das Vestibül des »Empire« betrat und nach der Loge Lord Haddingtons fragte, bemühte sich der Manager in eigener Person. Er führte Jenkins durch das teppichbelegte Foyer – zwei uniformierte Boys eilten ihnen voraus. Auf einen Wink des Direktors öffnete der Theaterdiener – noch ehe der Detektiv und seine Eskorte die Loge erreicht hatten – die Tür und stand in respektvoller Haltung bereit, den berühmten Besucher zu empfangen. Jenkins erkannte, daß der Lord ihn bereits avisiert haben mußte. Es berührte ihn peinlich, seine Person von so auffälliger Dienstbereitschaft umgeben zu sehen, und er bedauerte fast, die Einladung Haddingtons angenommen zu haben.

Der Logendiener nahm ihm behutsam den Mantel ab. Er wies höflich auf den Sessel an der Brüstung und blieb stehen, bis der Gast – im Halbdunkel der Loge vorsichtig tastend – seinen Platz einnahm.

Eben setzte die Musik mit einem rauschenden Tusch ein. Der Vorhang teilte sich – im Orchester klang eine feurige, eigenwillig rhythmische Melodie auf. Dann tänzelte Raquel Meiler auf die Bühne, vom spontanen Beifall des Publikums begrüßt. Die Musik ging in ein zärtliches Piano über. Die Künstlerin, klein, zierlich, stand an der Rampe im farbigen Licht der Scheinwerfer. Mit ihrer zarten, kindlichen Stimme sang sie ihr berühmtes Lied: »La violetéra.« Sie warf die kleinen Veilchensträuße ins Parkett, und in ihrem ebenmäßigen ausdrucksvollen Gesicht stand jetzt das schelmisch-rührende Lächeln, mit dem sie eine Welt bezwungen.

Jenkins blickte diskret zur Seite. Neben ihm saß eine Dame. Sie schien keinerlei Notiz von ihm genommen zu haben; ihre Aufmerksamkeit gehörte der Spanierin. Sie ließ das Glas nicht von den Augen, die jeder Bewegung der Tänzerin mit sichtlichem Interesse folgten. Im Dämmerlicht des Raumes leuchtete das matte Weiß ihrer Schultern aus dem lose umgehängten Pelzmantel. Ihr dunkles, in einem seitlichen Scheitel geteiltes Haar, umrahmte mit kurzen Locken das zarte Oval ihres Gesichtes. Ihr Profil war von jenem klassischen Schnitt, der als charakteristisches Merkmal römischen oder venetianischen Frauen zu eigen ist.

Beifall rauschte auf – dann klangen die Kastagnetten. Ihr harter, kurz abgerissener Ton unterstrich den Rhythmus der stampfenden Füße. Die Künstlerin tanzte. Fandango. Die schwingenden Röcke der Tänzerin glänzten in tausend knisternden Funken beim wechselnden Licht der Scheinwerfer. Immer wilder und rasender wurde das Tempo dieses Tanzes, aus dem die Glut entfesselter Sinne schlug, bis ihn die Tänzerin mit einem jauchzenden »Olé« plötzlich beendete.

Der Vorhang schloß sich; das Licht im Raum flammte auf.

Langsam, als sei sie noch im Banne des Tanzes, legte die Dame das Glas aus der Hand. Jetzt wandte sie sich zu dem Sessel des Detektivs. »Mister Jenkins?« Ihre dunklen feuchtschimmernden Augen waren fragend auf ihren Nachbar zur Linken gerichtet.

Jenkins erhob sich. Sein aufrichtig bewundernder Blick streifte die junge Frau. »Ich weiß die Liebenswürdigkeit Lord Haddingtons nicht hoch genug zu schätzen«, sagte er und beugte sich über ihre Hand, »ich bin glücklich, den Abend in Ihrer Gesellschaft verbringen zu dürfen, Madame.«

Sie lachte. »Ich brauche Ihnen wohl meinen Namen nicht erst feierlich zu nennen? Sir Ernest ...«

»Hat mir verraten, daß ich die berühmte Künstlerin Elena Falieri persönlich begrüßen dürfe.«

»Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz, Mister Jenkins. Wie finden Sie die Meller? Ist sie nicht prachtvoll?«

»Diese Spanierin ist so, wie man sich eine spanische Tänzerin immer vorstellt: hüftenschwingend, im langen Rock, den unvermeidlichen hohen Kamm im schwarzen Haar, die rotgrün-seidene Mantilla  ...«

Elena hob abwehrend die Hand. »Oh, ich bitte Sie, Ihre Meinung ist doch wohl etwas voreingenommen. Die Meller ist eine Persönlichkeit. Ihr Tanz, obwohl rein auf Instinkt gestellt, ist doch von einer Beseeltheit, die hinreißend wirkt. Die Kulturen zweier Welten kennzeichnen sich in ihrer Kunst.«

Eine flotte Marschmusik setzte ein. Jenkins warf einen Blick in das Programm. »Die Codonas«, sagte er und blickte interessiert auf die Bühne.

Die Rampenlichter warfen glänzende Reflexe auf die weißen Seidenmäntel der drei Artisten, die mit lächelnden Mienen den Beifall des Publikums entgegennahmen. Die Lichtkegel der Reflektoren tauchten die Kuppel des Saals in ein milchiges Licht. Oben, dicht unter der Decke, schaukelten die glitzernden Nickelstangen der Trapeze.

Elena verfolgte mit dem Glas die geschmeidigen Körper, die sich an den Seilen in die Höhe zogen. »Sonderbar, sooft ich den Codonas begegne – ich treffe sie fast immer auf meinen Tourneen – immer packt mich ihre Arbeit von neuem. Dabei ist doch ihre Vorführung stets die gleiche.«

Jenkins nickte. »Ich kann das durchaus verstehen, Madame, die Kühnheit dieser Arbeit, gepaart mit der selbstverständlichen Sicherheit, ist nie erreicht, geschweige denn übertroffen worden. Es liegt Schönheit und Grazie darin.«

Lautlos verharrte das Publikum. Gedämpfte Musik begleitete den atemraubenden Flug der schlanken Körper mit weichen wiegenden Takten. Zuweilen vernahm man den unterdrückten Aufschrei einer weiblichen Stimme. Prasselnder Beifall durchhallte den Saal.

Elena bog sich weit in ihrem Stuhl zurück. Ihre Hand lag auf der Brüstung der Loge; die Finger zuckten in der Erregung des Augenblicks.

Dann, als im beklommenen Schweigen der Menge ein Körper im weiten Bogen durch den Raum flog, fühlte Jenkins, wie sich die Hand der jungen Frau in seinen Arm krampfte. Eine Sekunde lang lehnte sie an seiner Brust – der Duft ihres Haares schlug ihm verwirrend entgegen.

Jetzt ging ein befreiendes Aufatmen durch die Menge. Oben wiegten sich, stolzes Lächeln in den kühnen Gesichtern, die Akrobaten in den Trapezen.

Elena richtete sich auf. Aus ihren Augen streifte ein flüchtiger Blick den Detektiv, der ruhig das Glas absetzte.

»Es ist etwas Seltsames um den Menschen«, sagte sie kopfschüttelnd, »wir sitzen bei der Arbeit der Artisten, wir wagen kaum zu atmen und hinzusehen, und doch fordern wir ihre Todesverachtung immer wieder heraus – durch unseren Beifall, unsere Kritik. Ist das nicht grausam?«

»Mehr als das – es ist genau genommen, barbarisch. Aber diesen Rest von Atavismus werden wir wohl schwerlich jemals ganz überwinden. Urinstinkte, die keine Kultur auf die Dauer zu vertuschen vermag.«

Sie klatschte den abtretenden Artisten eifrig Beifall. »Ich muß dabei an ein seltsames Erlebnis denken. Es war in Paris – im Zirkus Medrano.« Elena stützte den Arm auf die Lehne des Sessels und wandte sich von der Bühne ab, ihrem Logennachbar zu. »Dort zeigte ein Artist eine tollkühne Sensation. Eine rasende Motorradfahrt auf einer rotierenden Scheibe ...«

»Ah, ich erinnere mich. Ernesto Gallante mit seinem ›Flammenkreisel‹, nicht wahr?«

»Ich glaube, er hieß so. Mir wurde damals ein Herr vorgestellt – ein Landsmann von Ihnen, Mister Jenkins – der sah sich diese Attraktion an jenem Abend zum zweihundertsten Male an.«

Der Detektiv lachte. »Auch ein Rekord.«

»Ich glaubte, der Mann sei ein Bewunderer Gallantes. Aber er erklärte mir: diese Nummer sei ein kompletter Irrsinn.«

»Ein sonderbarer Heiliger. Und trotzdem hatte er sich den Akrobaten zweihundertmal ...«

»Ja. Er gestand mir, er warte nur darauf, daß sich der arme Teufel den Hals bräche. Er habe eine Wette abgeschlossen, auf hunderttausend Dollars.«

»Ein Gemüt, dieser Herr. Hoffentlich hat er die Wette verloren.«

Elena legte ihre Hand leicht auf den Arm des Detektivs. »War es nicht dieser Gallante, den Sie vor einem Anschlag auf sein Leben retteten, Mister Jenkins? Ihr rasches Eingreifen war damals das Tagesgespräch von Paris.«

Sie sah ihm in die Augen mit einer fast schrankenlosen Bewunderung. »Es muß ein herrliches Gefühl sein, einen Menschen dem sicheren Tode zu entreißen, oder ...«, sie sprach mit leiser Stimme, in der es von verhaltener Leidenschaft vibrierte, »oder ihn vor Verbrechern zu schützen.«

Das Licht im Raum flammte auf. Das Publikum erhob sich von den Plätzen und drängte den Ausgängen zu. Der Logenschließer öffnete die Türen. Zwei Pagen schoben einen zierlichen Glaswagen herein, auf dem Schüsseln mit Salaten, Sandwiches, Früchten und Gebäck standen. Ein Kellner brachte eisgekühlten Sherry in hohen kristallenen Gläsern.

»Bitte«, sagte Elena einladend. »Lord Haddington hat das so arrangiert«, setzte sie auf Jenkins stumme Frage erklärend hinzu. »Freilich, heute habe ich mir eine kleine Abweichung erlaubt. Wein statt des üblichen Tees. Es ist unglaublich, welche Mengen Tee diese Engländer vertilgen können. Ich ziehe einen alten Amontillado vor. Hoffentlich ist es Ihnen so recht, Mister Jenkins?«

Sie hielt ihm ihr Glas entgegen.

Jenkins erwiderte den Blick, der unter ihren seidigen Wimpern zu ihm hinüberschoß. – Weiß Gott, diese Frau war schön! Er versuchte umsonst, sich darüber Rechenschaft zu geben: war es der schwere glutvolle Wein, der ihm wie flüssiges Feuer durch die Adern rann, oder war es die prickelnde Nähe dieser charmanten Frau? Er wußte, sein Verstand war klar und geschärft wie je – und dennoch glaubte er, nie in seinem Leben ein solches Gefühl freudiger Erregung, ja – mehr noch – das Sehnen nach einem nahen greifbaren Erlebnis so mächtig empfunden zu haben.

Die hohe, schlanke Gestalt der Frau in dem dunkelschimmernden Seidenkleid, das ihre vollendet schönen Arme frei ließ, stand in dem Rot der Logenwand wie in einem kostbaren Rahmen. Das halbe weiche Licht des Raumes lag mit irisierendem Glanz auf dem blauschwarzen Scheitel des Haares.

Jenkins hob das Glas. »Jetzt verstehe ich, weshalb Lord Haddington sagte, ich müsse unbedingt London von seiner schönsten Seite kennenlernen.«

Elena schüttelte lachend den Kopf. »Sie sind sehr liebenswürdig, Mister Jenkins. Aber – seien Sie mir, bitte, nicht böse – diese Komplimente klingen nicht aus Ihrem Mund. Ein Mann wie Sie darf sich den Luxus leisten, Frauen gegenüber natürlich zu bleiben.«

Ein Boy öffnete die Tür und legte mit leiser Diskretion die Abendausgabe der »Sun« auf den Tisch.

»Bleiben Sie länger in London, Mister Jenkins? Werden Sie Weekend mit uns in Dorking verleben?«

Elena blickte erstaunt auf den Detektiv. Es schien, als habe er ihre Frage überhört; seine Augen waren auf die Zeitung geheftet. »Ich bitte um Entschuldigung, Madame«, sagte er kurz und griff nach dem Blatt. Er überflog mit raschem Blick die fettgedruckten Kopfzeilen.

 

Geheimnisvolles Verschwinden
eines bekannten Parlamentmitgliedes!
Wilbur Crane
wahrscheinlich das Opfer von Verbrechern!
Joe Jenkins, der berühmte amerikanische Detektiv,
auf der Spur der Täter!

 

Jenkins pfiff leise durch die Zähne; er faltete gedankenvoll die Zeitung zusammen. Ein schmaler weißer Streifen flatterte zur Erde. Er nahm das Papier auf. Es war mit Maschinenschrift bedeckt und enthielt nur wenige Zeilen. Ein eigentümliches Lächeln lag um Jenkins Lippen als er die Worte las:

Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache. Dies ist die erste und letzte Warnung.

Sorgfältig faltete er den Zettel zusammen.

Elena blickte fragend zu ihm hinüber. »Was ist geschehen, Mister Jenkins?«

Er griff zu seinem Hut und legte den Mantel über den Arm. »Ich fürchte, Madame, ich werde für den Rest des Abends ein schlechter Gesellschafter sein.«

Sie sah schmollend zu ihm auf. »Wollen Sie mich allein lassen? Lord Haddington sagte mir, Sie blieben nach der Vorstellung mit uns zusammen.«

»Scheint es Ihnen sehr unhöflich, Madame, wenn ich Sie bitte, mich wenigstens für einige Minuten zu entschuldigen?«

Elena sah ihn strahlend an. »Also – Sie kommen wieder?« fragte sie mit zärtlicher Stimme.

Die Signalglocken riefen die Besucher in den Theaterraum zurück. Das Haus begann sich wieder zu füllen. Jenkins öffnete die Tür der Loge. »Oh, Sie werden Grock versäumen, Mister Jenkins, er tritt nach diesen japanischen Jongleuren auf. Er ist so herrlich.«

»Ohne Sorge, Madame, inzwischen bin ich zurück.« Mit leise schnappendem Geräusch klappte die Tür hinter ihm zu.

Einige Nachzügler hasteten über den teppichbelegten Gang ihren Logen zu. Das Licht im Vestibül ging in ein Halbdunkel über. Jenkins rief den Logenschließer. »Wo finde ich den Zeitungspagen?« fragte er und drückte ein Geldstück in die Hand des Mannes.

»Danke, Sir. Der Junge steht unten am Ende des Ganges. Dort, bei der Garderobenfrau. Sie ist seine Mutter. Ich werde ihn sofort rufen, Sir.«

Jenkins hielt den Diensteifrigen zurück. »Nicht nötig.« Er ging mit schnellen Schritten über den Korridor. Eben wollte der Junge die Treppe hinunterlaufen, als ihn Jenkins zurückwinkte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als ob der Bursche sein Gespräch ganz plötzlich unterbrochen habe. Es entging ihm nicht, wie zögernd der Gerufene die Stufen wieder hinaufstieg. Mit einem ängstlich-mißtrauischen Blick näherte er sich dem Detektiv. »Willst du ein Pfund verdienen, mein Junge?« fragte Jenkins freundlich.

»Warum nicht, Sir, wenn es zu machen ist.« Die dreiste Gerissenheit des Großstadtkindes erwachte.

»Du sollst mir eine Auskunft geben – einige Fragen beantworten.«

»Wenn es weiter nichts ist. Fragen Sie nur zu.«

Jenkins lächelte. »Wer bürgt mir, daß du die Wahrheit sagst?«

Der Junge legte den Kopf auf die Seite und kniff das linke Auge zu. »Wer bürgt mir, Sir, daß Sie mir meinen Sovereign zahlen?«

»Also Vertrauen gegen Vertrauen«, sagte Jenkins und hielt dem Burschen lachend die Hand hin.

»Gut, Sir. Fragen Sie los.«

Der Detektiv nahm das gefaltete Stück Papier aus der Tasche. »Wer hat dir diesen Zettel gegeben?«

Der Gefragte schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von einem Zettel.«

»Wo hast du deine Zeitungen in Empfang genommen?«

»Unten in der Hall beim Zeitungskiosk.«

»Wieviel Exemplare bekommst du immer?«

»Fünfzig Stück, Sir, für jede Loge im ersten Rang.«

»Hast du sie beim Empfang nachgezählt?«

»Natürlich. Ich muß ja die verkauften Exemplare abrechnen.«

»Ist dir beim Nachzählen dieser Zettel nicht aufgefallen?«

Der Junge schien einen Augenblick nachzudenken; dann schüttelte er energisch den Kopf. »Nein, Sir.«

»Stand jemand in deiner Nähe als du die Zeitungen in Empfang nahmst?«

»Nein.«

»Hat sich jemand vielleicht in auffälliger Weise an dich herangemacht? Auf der Treppe oder hier im Vestibül?«

»Nein.«

»Hast du die Zeitungen irgendwo unbeaufsichtigt liegenlassen?«

»Nein.«

Jenkins legte seine Hand schwer auf die Schulter des Jungen. »Höre mal, mein Lieber, deine Antworten sind merkwürdig schnell und präzise. Ich möchte sagen, etwas vorbereitet.«

»Es ist die Wahrheit; wenn Sie mir nicht glauben, hat es gar keinen Zweck, daß wir uns hier unterhalten. Ich darf mich überhaupt nicht so lange ...«

Jenkins hob die Hand. »Wenn du frech wirst, mein Bürschchen, wollen wir einmal in einem anderen Ton mit dir reden. Damit du es weißt, dort der Policeman wartet nur auf meinen Wink. Wenn du bei deiner unverschämten Art bleibst, wirst du heute nacht in Scotland Yard zubringen. Also, entscheide dich.«

Der Junge streifte mit scheuem Blick das Gesicht des Sprechenden. Seine Sicherheit schwand und machte einer ängstlichen Verlegenheit Platz. »Ja, Sir, wenn Sie so mit mir reden, da muß ich wohl alles sagen. Außerdem, Sie haben mir einen Sovereign versprochen«, er blinzelte mit zusammengekniffenen Augen zu Jenkins hinauf – »ich krieg ihn doch bestimmt, nicht wahr? – Nun, ein Sovereign ist mehr als eine Krone –«

»Was soll das heißen?«

»Geschäft ist Geschäft. Sie zahlen besser, Sir, als die Dame.«

»Welche Dame?«

»Sie sitzen doch in Loge fünfundzwanzig, nicht wahr? Nun, als ich die Zeitung dort ablegen wollte, trat eine Dame auf mich zu; gab mir fünf Schilling und nahm eine Zeitung. Dann sah ich, wie sie einen Zettel in den Kniff des Blattes steckte. Sie beauftragte mich, die Zeitung vorsichtig auf den Tisch in der Loge zu legen.«

»Kannst du mir beschreiben, wie diese Dame ausgesehen hat?«

Der Junge blickte nachdenklich zu Boden. Jenkins zog die Brieftasche und entnahm ihr eine Pfundnote. »Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis etwas auf die Beine.«

Gierig griff der Gefragte nach dem Schein. »Ja, Sir, soweit ich mich erinnere, war die Dame klein, hellblond. Ich glaube, sie war sehr blaß und ihre Augen – warten Sie mal –, ja, ihre Augen fielen mir auf. Die waren ganz unnatürlich groß. Wissen Sie, man kriegt solche Augen, wenn man ›Koks‹ schnupft.«

»Du scheinst ja gut Bescheid zu wissen, mein Junge«, sagte Jenkins lächelnd.

»Ich wohne in Whitechapel, Sir, Middlesex Street, Sir, wir handeln mit so was. Vater hat mal sechs Monate Pentonville dafür gekriegt.« Der Bursche sprach mit einem ostentativen Stolz, als ob er seine Fachkenntnisse betonen wolle.

»Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht erzählen. Glaubst du, daß die Dame noch im Theater ist?«

»Nein, Sir. Ich sah ihr nach. Sie ging die Treppe zum Ausgang hinunter.«

»Danke.«

Als Jenkins in seine Loge zurückkehrte, scholl ihm aus dem Zuschauerraum tosendes Gelächter entgegen. Auf der Bühne stand Grock, der große Komiker. Seine groteske Clownerie, so unnachahmlich mit einer leisen, etwas melancholischen Philosophie gepaart, riß die Zuschauer in eine unbändige Heiterkeit. Auch Jenkins stand sofort im Bann dieser bezwingenden Komik. Er nahm seinen Platz an der Seite der Falieri wieder ein. Während er den drolligen Tapsereien des Künstlers folgte, fühlte er den Blick Elenas auf sich ruhen.

Das Licht im Zuschauerraum flammte auf. Sie blickte prüfend in das sorglos lachende Gesicht des Detektivs. »Wollen wir nicht gehen, Mister Jenkins?« fragte sie, ein leichtes Gähnen unterdrückend, »ich glaube, wir können uns den Rest des Programms schenken.«

»Ich wollte Ihnen eben diesen Vorschlag machen, Madame.« Er öffnete die Tür der Loge. »Fragen Sie nach dem Wagen Lord Haddingtons.«

Die beiden nahmen an einem kleinen Tisch im Vestibül Platz. Aus dem Theatersaal scholl in gedämpften Tönen die Musik und die gellenden Rufe einer Knockabout-Truppe – der turbulenten Schlußnummer.

Der vom Schließer fortgeschickte Page trat mit abgezogenen Käppi an den Tisch. »Lord Haddingtons Wagen wird sofort vorfahren«, meldete er.

Jenkins erhob sich. Während er an Elenas Seite die breite Treppe hinunterstieg, sagte sie mit einem fast kindlichen Ausdruck ihrer dunklen Altstimme: »Darf ich Sie mit einer Bitte belästigen, Mister Jenkins?«

»Jederzeit, Madame.«

»Und wollen Sie mir versprechen, nicht ungehalten zu sein – selbst wenn Ihnen meine Bitte mehr als töricht erscheinen sollte?«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Nun also – ich bitte Sie, mir zur Erinnerung an diese Stunde Ihr Autogramm zu geben. Nicht wahr, jetzt machen Sie sich über mich lustig? Ich muß Ihnen vorkommen wie ein Backfisch, der einen Kinohelden anschwärmt. Aber es ist eine Marotte von mir. Ich sammle die Autogramme berühmter Männer.«

Jenkins wandte sich ihr lächelnd zu. »Was hätte mein Name in dieser Sammlung zu bedeuten?«

»Sie verlangen doch keine Schmeicheleien von mir zu hören. Aber gut; sagen wir statt berühmter Männer – interessante. Sind Sie mit diesem Epitheton besser einverstanden?«

Er lachte. »Darf man wenigstens zur Belohnung diese Sammlung einmal besichtigen?«

Elenas Augen leuchteten auf. »Ich freue mich darauf, Mister Jenkins«, sagte sie lebhaft, »oh, ich bin sicher, daß Ihnen diese Sammlung gefallen wird. Sie finden dort den Namenszug Alfons des Dreizehnten von Spanien neben dem von Lenin und die Unterschrift Albert Einsteins steht der von Jack Dempsey gegenüber.«

»Das sind allerdings recht pikante Gegensätze.«

Sie standen jetzt in dem menschenerfüllten Vestibül des Theaters. Die Menge schob sich langsam den Ausgängen zu.

Jenkins führte Elena aus dem Gedränge. »Wir wollen hier warten, Madame, bis der Boy unseren Wagen meldet«, sagte er, »inzwischen werde ich Ihren Wunsch erfüllen.« Er zog die Brieftasche, entnahm ihr eine Karte und schrieb mit seiner charakteristischen Schrift seinen Namen schräg über das Blatt.

»Aber, Mister Jenkins«, sagte Elena lächelnd, »hätten Sie nicht einen angenehmeren Augenblick ...«

»Ich weiß wirklich nicht, Madame, ob ich später noch Gelegenheit haben werde.«

Sie nahm die Karte aus seiner Hand und blickte forschend in seine kühlen, grauen Augen. Es schien, als wollte sie eine Frage an ihn richten.

»Der Wagen Seiner Lordschaft«, rief die helle Stimme des Pagen.

Elena wandte sich dem Ausgang zu. Als sie an die pendelnde Glastür kam, streifte eine Frau ihren Arm. Sie schien in großer Eile zu sein; sie stieß Elena heftig an, murmelte eine hastige Entschuldigung und drängte sich vorbei.

Jenkins, der hinter Elena ging, warf einen blitzschnellen Blick auf die Fremde; eine Sekunde lang sah er in ein blasses, schmales Gesicht, mit müden schlaffen Zügen, in Augen, die ihn unter halbgeschlossenen Wimpern hastig und scheu streiften. Der Detektiv drehte sich betroffen herum, aber die Frau war im Gewühl der Menschen verschwunden.

Dort an der Bordschwelle wartete der dunkellackierte Hispano-Suiza Haddingtons. Jenkins trat an den geöffneten Schlag. »Wollen Sie mich bei dem Lord entschuldigen, Madame? Ich kann leider seiner Einladung nicht Folge leisten.«

Sie sah ihn mit erschrockenen Augen an. »Warum?« fragte sie erstaunt.

Jenkins zog höflich den Hut und trat einen Schritt zurück.

Elena blickte in das lächelnde undurchdringliche Gesicht des Detektivs.

»Ich hoffe, Sir Ernest morgen einige interessante Mitteilungen machen zu können.«

Er hob die Hand; der Page schlug die Tür der Limousine zu. Langsam glitt der schwere Wagen in das nächtliche Dunkel der Straße.

*

»Darf ich bitten, Mister Jenkins? Lord Haddington erwartet Sie im Sprechzimmer.«

Der weißhaarige Haushofmeister des »Carlton Clubs« stand vor dem Detektiv in jener reserviert respektvollen Haltung, die der Würde seiner Stellung in diesem feudalsten Klub der englischen Hauptstadt nichts vergab. Er führte den Besucher durch den geräumigen Lesesaal in das Sprechzimmer.

Aus einem der mächtigen Klubsessel, die um den Kamin standen, erhob sich Lord Haddington und ging mit ausgestreckten Händen auf den Detektiv zu. »Mein lieber Jenkins, ich freue mich aufrichtig, Sie wiederzusehen. Bitte, machen Sie sich's bequem.« Er wies mit einladender Geste auf den zweiten Sessel und stellte die Importenkiste vor Jenkins hin. »Hier ist ›Black and White‹ – oder ziehen Sie Sherry vor?«

»Danke.« Der Detektiv mischte den Whisky und setzte die Zigarre in Brand. Einen Augenblick rauchten die beiden Männer schweigend. Jenkins schien keine Neigung zu haben, das Gespräch zu eröffnen. Er hatte sich erhoben und betrachtete mit dem Interesse des Kenners die Gemälde an der Wand. »Ah – wahrhaftig, ein echter Goya«, sagte er.

»Eine Stiftung Lloyd Georges. Sie finden in allen Räumen des Hauses solche Kunstwerke. Lieben Sie Bilder?« fragte der Lord und unterdrückte ein Gähnen.

»Ich halte Feierstunden vor einem Werk der großen Meister«, erwiderte Jenkins.

Haddington warf mit einer hastigen Bewegung den Rest seiner Zigarre in den Aschbecher. »Was gibt es Neues in der Affäre Crane?« fragte er unvermittelt. »Ganz London spricht von dem Fall.«

»Leider. Ist es Ihnen bekannt, Sir Ernest, daß die Sache auf ganz mysteriöse Weise in die Presse kam?«

Der Lord blickte fragend auf und schüttelte den Kopf.

»Keiner der Redakteure der ›Sun‹ hat den Artikel vor dem Druck gesehen, geschweige denn geschrieben. Der betreffende Metteur gab an, den Artikel abends nach dem letzten Umbruch vorgefunden und in die Maschine gegeben zu haben. Natürlich in gutem Glauben.«

»Seltsam. Höchst seltsam.«

»Ja, aber nur ein Glied in der Kette der geheimnisvollen Vorgänge, die sich im Anschluß daran ereigneten.«

»Sie spannen mich auf die Folter, Jenkins.«

Der Detektiv blickte träumerisch in die blauen Rauchwolken, die im Zimmer schwebten. Er drehte die Zigarre zwischen den Fingern und strich mit einer leisen, fast zärtlichen Bewegung über das Deckblatt. Mit jener genießerischen Andacht, die nur der passionierte Raucher aufbringt, führte er die Zigarre zum Munde. »Man hat mir eine Warnung geschickt«, sagte er bedächtig, »dieselbe Warnung, die man Crane zukommen ließ. Und fast in derselben befremdenden Art. Auch mit dem gleichen Wortlaut.«

Lord Haddington lächelte. »Man muß sagen: diese Leute wissen sich zum mindesten interessant zu machen.«

»Aber sie lassen es dabei nicht bewenden. Sie gehen auch zur Tat über.«

Sir Ernest blickte betroffen auf den Detektiv. »Wie denn – etwa ein Anschlag auf Sie, Jenkins?« fragte er mit erregter Stimme.

»Man scheint zunächst meiner Person nicht so viel Bedeutung zuzumessen wie einem gewissen Brief, den man bei mir suchte. Nachdem man ihn nämlich zuvor bei Mister Crane nicht gefunden hat.«

Haddington schüttelte verständnislos den Kopf. »Könnten Sie sich nicht etwas bestimmter ausdrücken? Ich verstehe nicht recht, von welchem Brief Sie sprechen.«

»Also klipp und klar: Wilbur Crane hatte, als er mich zu Hilfe rief, mir einen Brief eingesandt, dessen Inhalt dem Feinde des Verschwundenen sicherlich von großer Bedeutung schien. Der fremde Eindringling, jener angebliche Gärtnerbursche, hatte den Auftrag, diesen Brief zu suchen. Als er ihn nicht vorfand, hat er sich des Empfängers bemächtigt. Um ganz sicher zu sein, hat er auch den Überbringer der Botschaft, damit meine ich den Ermordeten von Shadwell, beseitigt. Und nun, als gewisse Anzeichen darauf hinwiesen, daß ich im Besitze dieses Schreibens war, hat man mir einen Besuch in meinem Hotel abgestattet.«

Sir Ernest stieß den Stuhl hinter sich zurück. Mit kurzen, heftigen Schritten ging er im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor dem Detektiv stehen. »Mister Jenkins«, sagte er mit dunkler Stimme, in der ein Unterton schlecht verhehlten Ärgers mitschwang, »ich hoffe, Sie sind mit mir der Auffassung, daß Sie und ich und Scotland Yard in der Sache Crane als Bundesgenossen zu handeln haben.«

»Zweifellos«, warf Jenkins ein.

»Nun gut, dann darf ich es also auch als selbstverständlich voraussetzen, daß zwischen den Verbündeten absolutes Vertrauen herrschen muß.«

Der Detektiv nickte schweigend.

»Es freut mich, daß Sie mit mir darin übereinstimmen«, fuhr Haddington fort, »dann wäre es aber Ihre Pflicht gewesen, mir von diesem ominösen Schreiben etwas zu sagen.« Der Lord schwieg einen Augenblick; dann setzte er mit erhobener Stimme hinzu: »Darf ich Sie nun nachträglich bitten, mir den Inhalt dieses Briefes bekanntzugeben?«

»Verzeihung, mein Lord, es gehört zu meinen Gepflogenheiten, niemals alle Trümpfe aus der Hand zu geben. Überdies – Wilbur Crane sandte mir diesen Brief. Er muß doch wohl Gründe gehabt haben, sich nicht an das Foreign Office oder an Scotland Yard zu wenden. Meinen Sie nicht auch? Ich handelte also in Wahrung berechtigter Interessen, wenn ich von diesem Brief bisher nicht gesprochen habe.«

Haddington trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. »Wäre es nicht besser gewesen, den Brief im Archiv des Amtes oder Scotland Yard zu deponieren, als ihn der zweifelhaften Sicherheit eines Hotelzimmers zu überlassen?«

»Ich fürchte, er wäre in den Archiven noch weniger gesichert gewesen«, sagte Jenkins kühl. Er übersah den fragenden Blick des Lords. »Diese Leute scheinen überall ihre Verbindungen zu haben; wir stellten schon früher fest, daß sie mit großem Raffinement arbeiten. So haben sie sich auch jetzt Zutritt zu meinem Hotelzimmer verschafft.«

»Wie war das möglich?«

»Durch ein Autogramm, das ich einer Dame gegeben habe. Einer Ihnen, Sir Ernest, nicht ganz unbekannten Dame.«

Haddington strich sich mit der Hand über die Stirn. »Verzeihung«, sagte er mit einer müden schleppenden Stimme, »ich kann Ihnen nicht folgen. Wollen Sie nicht ...«

»Ich will gern deutlicher werden. Es war Madame Elena Falieri, der ich auf ihren dringenden Wunsch das Autogramm gab.«

Ein spöttisches Lächeln legte sich um die Lippen Haddingtons. »Elena Falieri«, fragte er, ohne die Ironie seines Tones abzuschwächen. »Elena Falieri? Wollen Sie etwa im Ernst damit sagen, daß ...«

»Verzeihung, ich will zunächst gar nichts damit sagen. Wahrscheinlich hat Madame Falieri diesen Zettel mit dem Autogramm verloren.«

Das Lächeln im Gesicht des andern verstärkte sich. »Und die Verbrecher haben das Blatt gefunden. Ein sonderbarer Zufall.«

»Aber doch die einzig plausible Erklärung, nicht wahr, Sir Ernest? Es wäre allerdings auch möglich, daß man der Dame den Zettel entwendet hat.«

Der Lord schlug mit schlecht verhehltem Unmut auf den Tisch. »Jedenfalls«, sagte er frostig, »die Tatsache bleibt bestehen, daß jenes wichtige Dokument jetzt in den Händen der Verbrecher ist.«

Jenkins lächelte. »Gar so leicht pflege ich es nun meinen Gegnern doch nicht zu machen. Dieser Besuch im Hotel war mit tödlicher Sicherheit zu erwarten. Ich war also ein wenig darauf vorbereitet. So kam es, daß der Besucher zwar einen Brief erwischte – aber wohl kaum den richtigen.« Der Detektiv griff in die Tasche. »Das von Crane an mich adressierte Kuvert befand sich in einem Kästchen, das auf dem Tisch stand. Es enthielt aber nicht Wilbur Cranes Zeilen – sondern diese.«

Haddington ergriff das Blatt. In zierlichen Drucktypen stand darauf:

 

Diese kleinen Vordrucke pflege ich immer zu verwenden, wenn man ein Autogramm von mir präsentiert. Denn ich weiß aus Erfahrung, wenn jemand meinen Namenszug erbittet, plant er damit eine Täuschung.

Sehr ergeben
Joe Jenkins.

 

»Nicht übel, Jenkins«, schmunzelte der Lord, »hoffentlich haben Sie durch das Hotelpersonal wenigstens den Besucher identifizieren können.«

Jenkins schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich nicht gern auf fremde Leute. Mein Besucher hat seine Visitenkarte selbst hinterlassen. Allerdings nicht ganz freiwillig.«

Haddington warf einen fragenden Blick auf den Detektiv, das nervöse Spiel seiner Finger verriet seine Ungeduld.

»Der Brief lag – wie gesagt – in einem Kasten. Natürlich konnte mein Besucher nicht ahnen, daß er die Verschlußkapsel einer kleinen Kamera auslöste, als er den Deckel des Kastens hob. In diesem Deckel befindet sich eine kleine, aber scharfe Kamera – das ist alles.«

»Sie haben das Bild des Verbrechers?« fragte der Lord hastig.

Jenkins gab dem andern das dünne Zelluloidblättchen mit dem Abzug hinüber.

Haddington sprang von seinem Stuhl auf. »Mein Gott, das ist ja  ...«

»Ja, das ist jene Dame, die ich im Auswärtigen Amt aus Ihrem Zimmer kommen sah, Sir Ernest.«

Der Lord erbleichte. »Gloria Wynn«, stammelte er, »was, zum Teufel, hat das zu bedeuten, Jenkins?«

Der Detektiv zuckte die Achseln. »Es scheint, als ob Sie zum mindesten von Ihren Agenten schlecht bedient sind.«

»Hm.« Haddington biß sich auf die Lippen. »Sie haben die Frau doch sofort verhaften lassen?«

»Nein.«

»Nein? Aber, um Gottes willen, Jenkins, begreifen Sie denn nicht? Die Wynn ist eine Agentin des Auswärtigen Amtes. Diese Frau kompromittiert mich, wenn ...«

»Eben deshalb«, gab Jenkins gelassen zur Antwort. »Es schien mir im Augenblick viel wichtiger, zu wissen, wohin sich die Wynn – immer in dem Glauben, den wertvollen Brief zu haben – wenden würde.«

»Und konnten Sie das feststellen?«

»Allerdings. Ich ließ sie seit Tagen beobachten. Sie begab sich zum nächsten Taxistand am Trafalgar Square und fuhr ohne jeden Umweg zum Sankt James Park. Dort ließ sie halten, stieg aus und ging die wenigen Schritte bis zur Mall hinunter. An dem Haus Nummer hundertvierundsiebzig angekommen, verlangte sie Einlaß.«

Lord Haddington schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jenkins, sind Sie wahnsinnig? Die Villa hundertvierundsiebzig Mall ist doch  ...«

»Die Ihre, Sir Ernest, ich weiß es«, vollendete Jenkins ruhig. »Sie sehen also, es war keine Möglichkeit, die Dame im Hause eines Lords und Mitglied des Parlaments zu verhaften.«

Haddington ging erregt im Zimmer umher. »Diese hysterische Frau macht mir die tollsten Ungelegenheiten! Man kann nicht mit ihr arbeiten. Überdies«, seine Stimme klang ruhiger, als er sich jetzt an Jenkins wandte, »ich wohne augenblicklich gar nicht in meiner Stadtvilla. Ich lebe in den Nebelmonaten immer draußen in Dorking.«

Jenkins nickte. »Ich weiß das, Sir Ernest. Es wäre ja auch geradezu absurd, anzunehmen, Gloria Wynn hätte außerdienstlich irgend etwas mit Lord Haddington zu tun.«

»Was haben Sie nun weiter veranlaßt?« fragte der Lord und nahm seine Wanderung im Zimmer wieder auf.

»Mein Beobachter erfuhr durch Ihren Hausverwalter, daß der Besuch der Dame – er meinte die Wynn – einem Gast Ihres Hauses galt – Madame Elena Falieri.«

Haddington lächelte. »Ja, die Falieri ist mein Gast während ihres hiesigen Aufenthalts. Sie kennen doch diese alte englische Sitte, Jenkins, lieben Freunden sein Haus zur Verfügung zu stellen?«

»Gewiß. Es hätte sich also wohl für den Besuch der Wynn eine plausible Erklärung finden lassen. Alte Bekanntschaft aus der Bühnenzeit oder dergleichen. Obwohl ich nie gehört habe, daß zwei Bühnenstars je miteinander befreundet gewesen wären.«

Der Lord schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Nun also?« fragte er gereizt.

Jenkins nahm eine neue Zigarette aus dem Etui. »Eine Frage, mein Lord«, er hielt sorgsam das Zündholz in der Hand, »wann haben Sie zuletzt mit Madame Falieri gesprochen?«

Haddington warf einen erstaunten Blick auf den Detektiv, der sich gelassen die Zigarette anzündete.

»Gestern mittag«, sagte er frostig, »wozu diese Frage?«

Jenkins schien den unhöflichen Ton zu überhören. »Sie hat sich von Ihnen verabschiedet, nicht wahr?«

Sir Ernest schwieg und blickte kopfschüttelnd auf den Detektiv.

»Nämlich, sie ist abgereist. Ganz plötzlich – ohne Angabe wohin. Wenigstens sagt man so im Hause hundertvierundsiebzig Mall. Es wundert mich, Lord Haddington, daß Sie davon nicht unterrichtet sind. Tja, auf Bühnenkünstlerinnen ist eben kein Verlaß.«

*


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