Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1.

Über London lag Nebel. Jener zähe breiige Londoner Nebel, der den frühen Tag zur Nacht machte. Der Rauch aus den Tausenden von Schornsteinen schwamm in den feuchten Schwaden und beizte die Luft. Die Bogenlampen in den Straßen schimmerten wie düster glutende Fackeln. Im Umkreis dieser Lampen nahm der Nebel eine dunkelrote Färbung an – aber zwei, drei Meter weiter wurde das Licht von der Dämmerung verschlungen.

In diesem Zwielicht erschienen die Menschen und Fuhrwerke in phantastischen und verschwommenen Umrissen, wie von einem seltsamen Geheimnis umgeben.

Die riesenhaften Omnibusse wirkten wie vorsintflutliche Ungeheuer. Das Rattern ihrer Motore klang wie heiseres Bellen. Fast kriechend bewegten sich Fahrzeuge und Fußgänger durch die schwefelgelben Dunstmassen.

Um sechs Uhr nachmittags vermochte man keine drei Zentimeter weit zu sehen. Das geschäftige Leben der Riesenstadt erlosch; um neun Uhr abends lag die City wie ausgestorben da.

An den Straßenecken wurden Gasflammen und Fackeln entzündet. Wie blutrote Flecken standen ihre Flammen im Nebel.

In ihre Regenmäntel gehüllt, verharrten die »Bobbies« auf ihren Posten. Seltsam, fast unwirklich, hoben sich ihre Gestalten aus den dicken Nebelschwaden. Auf der Themse heulten die Sirenen, aber jeder andere Laut der sonst so lärmerfüllten Metropole schien erstickt.

Auf der Polizeistation am Gloucester Square, Kensington, schrillte das Alarmsignal. Der diensttuende Beamte sah vorschriftsmäßig auf die elektrische Uhr: es war neun Uhr vierzehn Minuten nachts. Er meldete sich.

Es erfolgte keine Antwort.

»Hier Polizeistation Gloucester Square«, wiederholte der Beamte.

Einen Augenblick glaubte er heftige Atemzüge zu hören. Ein Laut, wie das Schrillen einer Glocke, kam durch den Draht.

Noch einmal gab der Polizist seine Meldung ab. Nur das Sausen des Leitungsstromes kam aus der Muschel.

Der Beamte preßte den Hörer ans Ohr und lauschte. Jetzt begann das Signallämpchen zu flackern – der Ton des elektrischen Stromes schwoll an in einem hohen und intensiven Crescendo. Plötzlich sagte eine keuchende Stimme, stoßweise und abgerissen:

»Zu Hilfe! Um Gottes willen!«

Es war die Stimme eines Mannes.

»Wer ist dort?«

Nur ein keuchender Atem war zu hören. Es schien, als ob der Anrufende sich vor dem Schall seiner eigenen Stimme fürchte. Als ob er in die Stille der Nacht hineinlausche.

»Geben Sie Antwort!« rief der Telephonist.

»Kommen Sie sofort ... Sechzehn, Victoria Grove ... Sofort kommen ... Oder ich bin ver ...«

Hier brach die Stimme ab.

»Den Namen! Ihren Namen!« schrie der Beamte in den Apparat.

Wieder verging geraume Zeit, ehe die Stimme des Mannes leise und scheinbar mühsam antwortete.

»Wilbur Crane. Hilfe – ehe es zu ...«

Ein metallischer Laut, wie das Klirren einer Stahlkette schlug an das Ohr des Lauschenden. Einen Augenblick glaubte er das dumpfe Geräusch von Schritten zu hören – dann erstarb jeder Ton: der Apparat war stromlos.

Aus dem Dunkel der Nacht war plötzlich eine Gefahr aufgetaucht. Eine dringende, unerbittliche, tödliche Gefahr. Nun war es vielleicht schon zu spät.

Der Beamte schlug das Telephonbuch auf. Dort stand der Name: Crane, Wilbur. M. P. 16 Victoria Grove. West-Kensington. Er schrieb die Adresse auf und gab sie dem eintretenden Fahrer der Polizeistreife. Dann machte er in das Journalbuch die Eintragung: Nachtanruf. 6. Februar 1929. 9 Uhr 16 Minuten.

*

In der schwefelgeladenen Luft des Nebels bewegte sich das Auto des Überfallkommandos fast kriechend vorwärts.

Es schlug halb zehn vom Turm der Kirche am Gloucester Road, als der Wagen vor dem Hause 16, Victoria Grove hielt. Fast eine Viertelstunde hatte das Auto für die kurze Strecke vom Gloucester Square gebraucht, einen Weg, den es normalerweise in vier Minuten zurückgelegt hätte. Das Suchlicht des Wagens glitt spähend über das Haus, das lichtlos in der Tiefe des dunklen Vorgartens lag.

»Nirgends Licht«, sagte der Wachtmeister kopfschüttelnd.

Die Polizisten sprangen geräuschlos ab.

»Die Gartentür ist offen.«

Der Führer knipste seine Taschenlampe ein, huschend lief der Strahlenkegel vor der kleinen Kolonne her.

»Seltsam.« Der Wachtmeister zuckte ratlos die Achseln. »Man sollte denken, das Haus ist erleuchtet. Ich habe geglaubt, man wartet auf uns. Hier scheint ja alles zu schlafen.«

Er legte die Hand auf den metallenen Klopfer und schlug gegen die Tür. Dröhnend ging der Laut durch die Stille des schweigenden Hauses. Niemand kam.

»Der Teufel soll mich holen, wenn uns da nicht einer zum besten gehabt hat!«

Der Beamte schlug zum zweitenmal gegen die Tür; wieder brach sich der Ton in der Stille.

»Da oben wird ein Fenster hell«, sagte einer der Polizisten.

»Aufmachen, zum Teufel!«

Jetzt näherten sich schlürfende Schritte. Eine zittrige Stimme fragte: »Wer ist da?«

»Polizei. Überfallkommando. Machen Sie auf!«

Behutsam wurde ein Riegel zurückgeschoben. Schließvorrichtungen klirrten. Im Spalt der Tür stand ein älterer Mann in einem hastig übergeworfenen Mantel. »Was wollen Sie?« fragte er, sichtlich voller Angst.

Der Führer drängte ihn zur Seite; die Beamten traten ein.

»Man hat angerufen ... Mister Wilbur Crane. Er hat gerufen: zu Hilfe!«

»Mein Gott ... das ist unser Herr! Ich habe nichts gehört. Nicht das Geringste.«

»Wer sind Sie?«

»Der Haushofmeister.«

»Wie heißen Sie?«

»Hawley – James Hawley.«

»Führen Sie uns zum Schlafzimmer Ihres Herrn.«

Der Butler stand regungslos. Er sah von Furcht und Entsetzen erfüllt auf die uniformierten Männer. Zögernd schweifte sein Blick die Treppe hinauf, die im Halbdunkel des Vorraums lag.

»Eilen Sie sich, zum Donnerwetter.«

Der Alte fuhr zusammen. »Hier oben«, sagte er leise. »Hier, im ersten Stock, bitte.« Er wies die Treppe hinauf.

Die fünf Polizisten stürmten durch die Diele und hasteten die Treppe hinauf. Atemlos folgte ihnen der Butler. Er führte die Beamten durch mehrere Räume, deren reiche und geschmackvolle Ausstattung den Wohlstand ihres Besitzers verriet.

»Hier ist das Zimmer.«

Der Wachtmeister klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Er legte die Hand auf den Drücker – die Tür gab nach. »Die ist ja offen«, sagte der Beamte verwundert.

Kopfschüttelnd trat Hawley näher. »Mister Crane schläft nie bei unverschlossener Tür.«

Das Zimmer war erleuchtet: aus der alabasternen Schale, die an Seidenschnüren von der Mitte der Decke herabhing, floß mildes Licht. Auch die kleine Onyxlampe auf dem Nachttischchen brannte. Die Schublade war halb geöffnet. Ein aufgeschlagenes Buch lag auf der Platte: Galsworthys »Dunkle Blume«.

Der Führer sah sich verwundert um. »Niemand hier?« Neugierig umdrängten ihn seine Begleiter.

In der Mitte des Zimmers stand das breite Messingbett. Es war benutzt; die seidene Decke war zurückgeschlagen. Alles im Raum war in guter Ordnung. Nichts deutete auf einen Kampf oder etwas Außergewöhnliches.

»Fenstervorhänge auf!«

Gehorsam führte der Butler den Befehl aus. Das Licht, das sich mühsam in die nebelverhangene Nacht bohrte, fiel in das Dunkel eines großen Parks.

»Gehört der Garten zu dieser Villa?« erkundigte sich der Beamte.

»Ja, der Park geht durch bis zur Sussex Street.«

Der Wachtmeister lehnte sich weit aus dem offenen Fenster. Im undurchdringlichen Dunkel standen schweigend die hohen, fast kahlen Bäume. Einer der Leute wies auf das Telephon, das auf dem Nachttisch stand. Der Führer nahm den Hörer ab. »Stromlos«, sagte er erstaunt, indem er einen fragenden Blick auf den Haushofmeister warf.

Hawley schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Mister Crane pflegt stets ins Schlafzimmer umzuschalten, wenn er zu Bett geht.«

»Mister Crane hat um Hilfe gerufen. Daran ist kein Zweifel. Dieser Apparat hier ist aber ohne Strom. Von wo aus also kann er noch gesprochen haben?«

»Wir haben in fast allen Zimmern Telephone«, antwortete der Haushofmeister.

Der Beamte gab seinen Leuten ein Zeichen. »Los – suchen!«

Hawley warf einen fragenden Blick auf den Führer.

»Zeigen Sie uns die Zimmer«, befahl der Polizist. Die fünf folgten dem Haushofmeister, der ihnen voranging. Er öffnete die Türen, knipste überall das Licht an. Sie kamen durch ein riesiges Speisezimmer. Die gobelingeschmückten Wände wurden durch Glühkerzen beleuchtet. Ihr matter Schimmer brach sich in dem Kristall und den Silbergeräten, die auf der Anrichte standen. Nacheinander führte der Butler die Polizisten durch sämtliche Zimmer des ersten Stocks. Nirgends fand sich die Spur eines Kampfes oder sonst irgend etwas Auffälliges. Auch im Arbeitszimmer Mr. Cranes war nichts Besonderes zu entdecken. Auf dem breiten Diplomatenschreibtisch, der in der Mitte des Zimmers stand, lag alles wohlgeordnet. Die Züge des Tisches waren geschlossen; selbst die Zeitschriften lagen sorgfältig geschichtet auf der Platte. Das Zimmer machte den Eindruck einer fast pedantischen Ordnung. Der Wachtmeister sah sich ratlos um. »Welche Zimmer liegen im unteren Stockwerk?« fragte er.

»Die Fremdenzimmer und ein Teil der Gelasse für die Dienerschaft und ...« Hawley stockte.

»Und?« drängte der Beamte.

»Und ein Zimmer, in dem Mister Crane seine Sammlungen untergebracht hat. Wir nennen es das Tresorzimmer.«

»Zeigen Sie uns den Raum.«

Sie gingen die Treppe hinunter. Die schweren Schritte der Polizisten hallten durch die Stille des Hauses.

Ein Teil des Personals, durch den Lärm geweckt, stand – notdürftig bekleidet – im halbdunklen Parlour. Die Leute blickten verstört, mit blinzelnden Augen auf die Uniformierten. Eben wollte Hawley die Beamten zu einer Tür im Hintergrund des Vorraums führen, als draußen der Klopfer an die Tür schlug. Einer der Diener öffnete. Ein untersetzter, breitschultriger Mann trat hastig ein. Er schob den Diener ohne weiteres beiseite und ging mit schnellen, energischen Schritten auf den Wachtmeister zu. »Inspektor Bramwell von Scotland Yard«, sagte er mit knarrender Stimme. Er hob dabei grüßend zwei Finger an den Rand seines Hutes. Der Angeredete stand stramm.

»Ich bin bereits informiert«, nahm Bramwell das Wort, »durch Sergeant Higgins von Ihrer Wache. Was gefunden, Wachtmeister?«

»Bis jetzt nichts, Herr Inspektor.«

»Was soll das bedeuten, Mann? Es hat doch jemand aus diesem Haus um Hilfe gerufen!«

Der Beamte rapportierte.

»Hm«, Bramwell rieb sich nachdenklich das Kinn und fixierte den Haushofmeister. »Sagen Sie, Butler«, wandte er sich an Hawley, »Sie wissen bestimmt, daß Mister Crane im Hause war – heute abend?«

»Gewiß, Herr Inspektor. Er ließ sich nach dem Dinner den Tee im Arbeitszimmer servieren.«

»Wann geschah das?«

»Es mag so um halb neun Uhr gewesen sein.«

»Brachten Sie ihm selbst den Tee?«

»Jawohl. Ich pflege den Herrn vor dem Schlafengehen stets noch nach etwaigen Wünschen zu fragen.«

»Äußerte er irgendeinen besonderen Wunsch?«

»Nein. Er ordnete an, ihn um acht Uhr zu wecken, da er eine wichtige Sitzung im Parlament habe.«

»Fiel Ihnen an Ihrem Herrn irgend etwas auf? Ich meine, war er etwa erregt oder unruhig?«

Der Haushofmeister zögerte mit der Antwort.

»Nun?« fragte Bramwell ungeduldig.

»Mister Crane war ruhig und freundlich wie immer. Aber – aber ich glaube doch bemerkt zu haben, daß er seit einiger Zeit eine gewisse nervöse Unruhe ...«

Der Wachtmeister räusperte sich. »Entschuldigen, Herr Inspektor«, sagte er salutierend, »wir haben noch nicht alle Zimmer durchsucht ...«

»Zum Donnerwetter, Mann, warum sagen Sie das nicht gleich? Also los – sofort weitersuchen!«

Hawley führte die Beamten in den Hintergrund des Parlours, vor eine hohe glatte Tür. Sie war tief in die Wand eingelassen; in der Mitte der blankpolierten stählernen Fläche befand sich ein Knauf.

»Haben Sie den Schlüssel zu dieser Tür?« fragte der Inspektor.

Hawley schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Inspektor, diese Tür läßt sich nicht öffnen ...«

»Was bedeutet das?«

»Die Tür führt in das sogenannte Tresorzimmer. Hier pflegt Mister Crane seine Kostbarkeiten und Sammlungen aufzubewahren.«

»Soso. – Sie kennen den Mechanismus nicht?«

»Nein. Niemand kennt ihn. Nicht einmal Miß Dorothy.«

»Miß Dorothy – wer ist das?«

»Die Tochter Mister Cranes, Herr Inspektor.«

»Wohnt die Dame hier im Haus?«

»Jawohl – aber sie ist noch nicht zurück. Sie fuhr um sechs Uhr zu einer Freundin nach Kensington High Street. Die Damen wollten zum Konzert. In die Albert Hall.«

Inspektor Bramwell machte eine ungeduldige Bewegung. Er nahm den Gummiknüppel des Wachtmeisters und schlug gegen die Stahltür. Hallend scholl das Echo aus dem Raum zurück. Die Männer lauschten, aber niemand antwortete.

Bramwell unterdrückte einen Fluch. Er maß die Tür mit einem Blick, so wie man etwa die Kräfte seines Gegners abschätzt, der kampfbereit vor einem steht. Dann zuckte er die Achseln. Er sah sich suchend im Raume um. Plötzlich stieß er einen gedehnten Pfiff durch die Zähne. Sein Blick war auf eine seltsame Figur gefallen, die seitwärts der Tür stand.

Es war eine asiatische Götzenfigur. Anscheinend eine Göttin darstellend. Goldverzierter phantastischer Kopfputz krönte ein schmales Gesicht. Auf den lieblichen Zügen lag ein Lächeln – jenes geheimnisvolle asiatische Lächeln, das so viele Rätsel verschleiert. Die kleinen, schrägstehenden Augen verrieten Wollust und Grausamkeit. Unheimlich und feindselig war dieser gleichsam in sich gekehrte Blick der Göttin mit den acht Armen. Wie die Glieder eines Polypen streckten sich die Arme aus – als wären sie bereit, ihr Opfer zu umfangen. In der halbdunklen Beleuchtung des Vorraums verzerrten sich die Schatten zu grotesken Gebilden. Die glänzenden Lackschichten und der Bronzeton der riesigen Figur leuchteten in sprühenden Farben.

Bramwell stand breitbeinig vor dem Götzenbild. Er schob den Hut in den Nacken, strich sich mit der ihm eigenen Bewegung über das Kinn und ließ gedankenvoll seine Augen zwischen der Tür und der achtarmigen Göttin wandern. Mit einer jähen Wendung drehte er sich zu den Beamten um, die neugierig, fast ehrfurchtsvoll auf die Statue blickten.

»Da ist nichts zu machen«, sagte der Inspektor, »habt ihr das Sauerstoffgebläse mit?«

»Gewiß.«

»Also her damit. Die Tür aufschweißen. Aber schnell.«

Die Polizisten polterten davon.

Bramwell wandte sich an den Haushofmeister. »Sorgen Sie dafür, Hawley, daß mir keiner vom Personal das Haus verläßt. Die Leute können jetzt auf ihre Zimmer gehen. Ich werde sie später vernehmen. Sie bleiben hier.«

Der Butler gab den Herumstehenden einen Wink. Zögernd, mit scheuen Blicken auf den Inspektor, verließen sie den Vorraum.

Die Beamten montierten den Schweißapparat. Bramwell ging mit seinen kurzen, ungeduldigen Schritten auf und ab. Sein spürender Blick drang in alle Winkel und Ecken des Raumes. Neugierig betrachtete er die Titel der Bücher, die auf dem großen Tisch vor dem Kamin lagen. Er prüfte die Marken der Zigaretten und des Pfeifentabaks auf dem Rauchtischchen. Hin und wieder streifte ein flüchtiger Blick die geheimnisvolle Göttin.

»Sagen Sie, Hawley, Ihr Herr ist doch wohl der Inhaber der bekannten Importfirma Reynolds und Crane, Limited, Wardour Street. Nicht wahr?«

»Ganz recht, Herr Inspektor.«

»Auch Mitglied des Parlaments, wenn ich nicht irre?«

»Ja. Mister Crane gehört dem Unterhaus seit fünf Jahren an.«

»Ist er politisch schon hervorgetreten?«

»Ich weiß das nicht so genau. Soweit ich unterrichtet bin, kaum. Mister Crane ist wohl in der Hauptsache als Expert für Handelsfragen im Amt tätig.«

»Soso. Wie lange sind Sie schon hier im Hause, Hawley?«

»Fünfzehn Jahre, Herr Inspektor.«

»Ist Mister Crane verheiratet?«

»Er ist Witwer. Mistreß Crane starb vor fünf Jahren.«

»Hat Ihr Herr noch mehr Kinder außer seiner Tochter?«

»Nein. Miß Dorothy ist sein einziges Kind.«

»Wissen Sie, wie die beiden zueinander stehen, Hawley?«

»Oh, Miß Dorothy liebt ihren Vater abgöttisch. Und Mister Crane ist der zärtlichste Vater, den ich je gesehen.«

»Kennen Sie die Lebensgewohnheiten Ihres Herrn näher?«

»Nun, ich weiß, daß Mister Crane ziemlich zurückgezogen lebt. Seine geschäftliche Tätigkeit nimmt ihn sehr in Anspruch. Im Parlament ist er nur selten. Etwas Kricket. Zur Saison einige Gesellschaften, und im Sommer pflegt er zu reisen. Nach dem Kontinent. Ich glaube, er hat eine Vorliebe für die Alpen. Er war in seiner Jugend ein passionierter Bergsteiger und –«

Eine Handbewegung Bramwells unterbrach den Alten.

»Es ist gut, Hawley. Sagen Sie mir nur noch eins: wissen Sie, ob Ihr Herr Feinde hatte?«

Der Haushofmeister zog die Stirn in nachdenkliche Falten. »Das glaube ich nicht. Mister Crane ist ein Mann von so viel –«

»Schon gut«, unterbrach der Inspektor ungeduldig, »sagten Sie nicht vorhin, Sie hätten vor einiger Zeit eine gewisse Unruhe an Mister Crane bemerkt?«

Der Wachtmeister trat vor Bramwell hin. »Fertig!« meldete er dienstlich.

Bramwell gab ein Zeichen.

Zischend und sprühend schoß die Flamme aus der Mündung des Schlauches gegen die stahlgepanzerte Tür. Bläuliches Licht goß sich über den Raum. Funken prasselten gegen die blanke Fläche und fraßen sich gierig in das harte Metall. Zuckende Reflexe huschten über die Gesichter der Männer. Unwillkürlich warf der Haushofmeister einen scheuen Blick auf die achtarmige Göttin. Stand nicht ein höhnisches Lächeln in den undurchdringlichen Zügen? Lag nicht Verachtung in den schrägen Winkeln dieser Augen? Die Steine des Kopfputzes glitzerten im Widerschein der tanzenden Funken. Ein mystisches Vibrieren ließ die starren Glieder der Göttin zu drohenden Gebärden erwachen. Hawley schien es, als wäre das Zimmer erfüllt von einem feinen singenden Ton, der bedrohlich und feindselig anschwoll. Fast schmerzhaft lag dieser singende, pfeifende Ton in seinen Ohren. Scheu wandte er sich von dem unheimlichen Götzenbild.

Das Zischen und Knattern der sprühenden Funken wurde stärker.

Hawley strich sich mit der Hand über die Stirn. War das nur Einbildung gewesen? Hatten seine Nerven nachgelassen? Ein Frösteln ließ ihn erzittern. Der Alte hüllte sich fester in seinen Mantel. Er trat einen Schritt näher an die sprühende Flamme, als erwarte er von ihr lebenspendende Wärme. Der kalte Feuerstrahl gab keine Glut von sich.

Warnend hob der Polizist hinter seiner Schutzbrille den Blick.

In diesem Augenblick drang der tiefe Ton einer Autohupe durch die Stille des Zimmers.

»Miß Crane«, rief Hawley und wandte sich zur Tür.

Auch Bramwell, der aufmerksam die Arbeit der Beamten verfolgt hatte, drehte sich um.

Der Haushofmeister hatte alle Lampen im Parlour entzündet. Unter dem Lüster, dessen matte Schalen ein mildes und tröstliches Licht ausstrahlten, stand ein junges Mädchen. Ihre großen, graublauen Augen blieben fragend auf der Gruppe der Männer haften. Sie war im Pelz und im Abendkleid. Ihr tiefbraunes Haar – sie war ohne Hut – glänzte im Schein des Lichtes. Ihre Haltung, voller Selbstbewußtsein und sicherer Gewandtheit, verriet die Dame von Welt.

Hinter ihr stand ein Mann. Eine große, schlanke Erscheinung in einem blauen Trenchcoat. Die kühlen, grauen Augen in dem gebräunten ausdrucksvollen Gesicht des Fremden schienen mit einem einzigen Blick Personen und Gegenstände in dem Zimmer zu erfassen. Er nahm den weichen, breitrandigen Hut von den ergrauten Schläfen und streifte langsam die Handschuhe von den Fingern.

Dorothy Crane war einen Schritt näher getreten. Ein unruhiger Ausdruck lag in ihren Augen. »Wer sind diese Herren, Hawley?« fragte sie leise.

Bramwell trat vor. »Verzeihung, Miß Crane, ich bin Inspektor Bramwell von Scotland Yard. Ihr Vater hat bei der Polizeiwache angerufen ...«

»Um Gottes willen, was ist mit meinem Vater?« Das junge Mädchen legte ihre Hand auf den Arm des Beamten und sah ihn mit angsterfüllten Augen an.

»Es klingt seltsam«, sagte Bramwell verlegen, »zweifellos hat Ihr Vater um Hilfe gerufen. Aber wir haben ihn nicht gefunden.«

»Mein Gott«, murmelte Dorothy. Sie sah sich wie hilfesuchend nach ihrem Begleiter um.

»Wir vermuten ihn hier«, nahm der Inspektor wieder das Wort, »hier hinter dieser Tür.«

Sie warf einen beunruhigten Blick auf die Stahlplatte. »Es ist das Tresorzimmer'', sagte sie leise, »Vater bewahrt dort seine Sammlungen.«

»Kennen Sie den Mechanismus, Miß Crane?«

Dorothy schüttelte den Kopf. »Es ist Vaters Marotte. Er hat eine Schwäche für solche kleinen Geheimnisse.«

»Danke, Miß Crane.« Bramwell gab den Beamten, die ihre Tätigkeit unterbrochen hatten, ein Zeichen. Wieder ging das Zischen der Stichflamme durch den Raum.

»Schade um die schöne Stahlplatte.« Eine klare Stimme übertönte das Geräusch des Apparates. Der Fremde war näher getreten und stand dicht hinter dem Beamten von Scotland Yard.

Bramwell sah erstaunt auf den Sprechenden. »Sie sind es, Mister Jenkins?«

»Guten Abend, Herr Kollege«, sagte der Detektiv freundlich, »finden Sie nicht auch, daß man diese schöne Tür eigentlich schonen müßte?«

Der Inspektor zuckte die Achseln. »Es gilt einen Menschen zu retten.«

»Wenn Mister Crane auf Ihre Rufe keine Antwort gegeben hat, dürfte es entweder zu spät sein oder ...«

»Oder, Mister Jenkins?« fragte Dorothy hastig.

»Oder er ist überhaupt nicht im Zimmer.«

»Wie wollen Sie diese verdammte Tür denn öffnen, Mister Jenkins?« Es lag ein leichter Ton von Ironie im Stimmklang des Inspektors.

»Lassen Sie Ihre Leute mit dem Schweißen aufhören, Bramwell. Ich möchte die Tür untersuchen.«

Kopfschüttelnd gab der Inspektor den Beamten einen Wink.

Joe Jenkins trat näher. Aber, seltsam genug, seine Aufmerksamkeit galt nicht der Tür. Er stand mit verschränkten Armen vor dem Götzenbild. Mit langsamen Schritten ging er um die Figur herum; sorgfältig, mit prüfenden Blicken musterte er die Göttin. »Eine Kwannon«, sagte er, »eine achtarmige Kwannon. Wenn ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann, so ist es eine Nachbildung des Originals im Tempel Todaiji zu Nara.«

Bramwell schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Ich denke, Sie wollten die Tür untersuchen, Mister Jenkins?«

»Ich bin dabei, Bramwell«, gab der Detektiv ruhig zur Antwort.

Dorothy Crane rieb nervös die Handflächen gegeneinander. »Ich bin in Sorge um meinen Vater, Mister Jenkins«, sagte sie bittend.

»Wir werden gleich am Ziel sein, Miß Crane, gedulden Sie sich bitte noch einen Augenblick.« Der Detektiv ging an den Tisch und nahm ein voluminöses Buch zur Hand. Er blätterte im Register. Dann schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er vertiefte sich in die Lektüre. Manchmal hob er den Blick und verglich die Statue mit einer Abbildung im Buch. Jenkins nickte, sein Finger unterstrich die Zeilen. Er murmelte vor sich hin: »Fukukensaku Kwannon – – die Hauptfigur des Sungatsudo, das heißt, der ›Halle des dritten Monats‹ im Tempel Todaiji zu Nara. Lackstatue, von Kaiser Shomu gestiftet im Jahre siebenhundertdreiunddreißig. Höhe ungefähr drei Meter, fünfzig. Mittelhände gefaltet, wie zum Gebet ...«

»Nehmen Sie's mir nicht übel, Jenkins, aber das ist schon mehr als grausam«; Bramwells Stimme grollte im verhaltenen Unmut. »Sie sehen, die Dame ist einer Ohnmacht nahe, dort drinnen ringt vielleicht ein Mensch mit dem Tode – und Sie stehen hier und vertiefen sich in kulturhistorische Dinge ...«

»Mittelhände gefaltet, wie zum Gebet«, wiederholte Jenkins unbeirrt, »können Sie mir sagen, Bramwell, warum diese Figur, die zweifellos sonst eine vollendet schöne Kopie des Originals ist, die Mittelhände nicht gefaltet hat? Sehen Sie, die Göttin hält diese Hände nach außen! Das ist doch seltsam, nicht wahr? Es ist doch kaum anzunehmen, daß der nachbildende Künstler sich so geirrt haben sollte. Das dürfte doch wohl schwerlich eine Willkür sein. Eher scheint mir hier eine bestimmte Absicht zugrunde zu liegen. Sind sie nicht auch der Meinung?«

Jenkins war bei diesen Worten an die Statue herangetreten. Er packte die beiden seitwärts stehenden Arme, drückte sie zusammen. Als die Hände der Göttin sich berührten, gab es einen klickenden Laut: die Stahltür zum Tresorzimmer rollte geräuschlos zur Seite.

Dorothy Crane stieß die Beamten, die sich um den Eingang gedrängt hatten, beiseite. Helles Licht schlug ihr aus dem kleinen Raum entgegen.

Das Zimmer war leer!

Auch hier fand sich zunächst nicht die geringste Spur einer Unordnung, die auf einen Kampf oder das gewaltsame Eindringen einer fremden Person hätte schließen lassen. Der runde, fensterlose Raum, dessen Wände farbige Gobelins bedeckten, war in ein weiches, mildes Licht getaucht, das von einer indirekten Beleuchtung der Decke ausströmte. Der Boden war mit einem tiefroten dicken Teppich belegt. Unregelmäßig im Zimmer verteilt standen Vitrinen, in denen, wie in einem Museum, die Kunstwerke der Sammlung zur Schau standen. Alle Schränke waren sorgfältig verschlossen, nirgends fanden sich Anzeichen einer gewaltsamen Zerstörung. In der Mitte des Zimmers stand ein ebenholzschwarzer Schreibtisch, übersät mit Zeitschriften und Büchern. Auf dem riesigen Eisbärfell lag der Schreibtischsessel.

Bramwell, der als erster ins Zimmer drang, hob ihn auf – ein Stuhlbein war zerbrochen. Der Inspektor ließ seine Blicke über den Schreibtisch gleiten: dort stand das Telephon. Der Hörer war abgenommen und hing an der Schnur über die Tischplatte herab. Die Hörmuschel berührte knapp das Fell am Boden. Seitwärts an der Wand war die Schaltung angebracht. Die weiße Scheibe des Apparates stand auf »Tresorzimmer«.

Dorothy blickte mit fragenden Augen auf die Männer. »Wo ist mein Vater?« kam es beklommen von ihren Lippen.

Bramwell rieb sich das Kinn. »Das ist in der Tat seltsam. Sicher hat Mister Crane von hier aus die Polizeiwache angerufen. Der umgestürzte und zerbrochene Stuhl scheint zweifellos auf einen Kampf hinzuweisen. Ist das nicht auch Ihre Meinung, Mister Jenkins?«

Der Detektiv war an der Tür des Zimmers stehengeblieben. Mit peinlicher Sorgfalt prüfte er den Mechanismus. »Ich stelle fest, daß diese Tür sich von innen nur zuziehen, aber nicht hermetisch verschließen läßt. Das ist nur von draußen durch den Hebeldruck zu ermöglichen.«

»Und was folgern Sie daraus, Mister Jenkins?«

»Daß der Eindringling, wenn es einen solchen gab, das Geheimnis des Türverschlusses gekannt haben muß.«

Bramwell nickte. »Das leuchtet mir ein. Ich würde es jetzt für das beste halten, zunächst einmal das Personal zu verhören. Vielleicht erhalten wir dadurch irgendeinen Fingerzeig. Ich bitte Miß Crane, die Aussagen der Dienerschaft mit anzuhören.«

Dorothy gab schweigend ihre Zustimmung.

»Hawley, lassen Sie die Leute in den Parlour kommen. Ich werde sie dort befragen.«

Der Haushofmeister geleitete sorgsam seine junge Herrin aus dem Zimmer.

»Wachtmeister, durchsuchen Sie das ganze Haus nochmals gründlich. Auch den Vorgarten und vor allem den Park. Nehmen Sie den großen Scheinwerfer vom Wagen und leuchten Sie jeden Winkel ab. Ich erwarte dann Ihren Bericht.« Bramwell entließ die Beamten mit einem Wink. »Bitte, Mister Jenkins, Sie haben vielleicht die Liebenswürdigkeit, mich bei dem Verhör zu unterstützen. Zum Teufel, was suchen Sie denn dort auf dem Boden?«

Jenkins kniete auf dem Teppich und ließ seine Hand tastend über das Gewebe streichen. Er hob den Kopf. »Sehen Sie einmal her, Bramwell, wofür halten Sie das?«

Der Inspektor bückte sich. Kopfschüttelnd betrachtete er das vielfarbige Muster. »Ich sehe nichts«, sagte er brummig.

Der Detektiv nahm die Hand des Beamten und führte sie über das Gewebe. »Hier, fühlen Sie. Nein, nicht mit dem Handballen – nehmen Sie die Fingerspitzen und fahren Sie ganz leicht darüber. Nun?«

»Ja, alle Wetter, Sie haben recht, Jenkins, da ist – warten Sie mal – da ist eine Einbuchtung. Und hier – parallel eine andere. Es fühlt sich an wie zwei schmale Rillen im Stoff.«

»Verfolgen Sie diese Rillen weiter, Bramwell.«

Der Inspektor rutschte auf den Knien, den Teppich mit den Fingerspitzen betastend.

»Diese Spuren gehen von dem umgestürzten Stuhl aus.«

»Ganz recht – und sie führen hierher zur Tür.«

Bramwell erhob sich ächzend. »Was bedeutet das, Jenkins?«

»Das bedeutet: hier ist ein schwerer Körper durch das Zimmer geschleift worden. Die Absätze der Stiefel haben sich in den Stoff eingegraben und so diese Einbuchtungen hinterlassen.«

»Hm«, der Inspektor nickte, »ich wäre geneigt, Ihrer Theorie zuzustimmen. Aber ...«

»Es gibt kein Aber und keine Theorie«, sagte Jenkins lächelnd, »sondern nur die Tatsache.«

»Oho – ich gestatte mir, noch nicht ganz überzeugt zu sein. So ohne weiteres.«

»Das ist Ihr gutes Recht, Inspektor. Aber was sagen Sie hierzu?« Jenkins zog ein Blatt Papier aus der Jackettasche und reichte es dem Beamten hinüber.

Bramwell glättete den zerknitterten Bogen. Nur wenige Zeilen in Schreibmaschinenschrift standen auf dem Blatt:

» Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache. Sie sind zum letztenmal gewarnt

Bramwell überlas kopfschüttelnd diese Zeilen. »Woher haben Sie den Wisch?« fragte er verständnislos und gab dem Detektiv das Papier zurück.

»Ich fand ihn hier unter dem Briefbeschwerer.«

»Die Sache wird immer rätselhafter. Das ist so ein Fall für Sie, mein lieber Jenkins, meinen Sie nicht auch? Aber jetzt wollen wir mal hören, was uns die Leute zu sagen haben.« Er wandte sich zur Tür. »Übrigens eine Frage noch. Sind Sie eigentlich so durch Zufall hier vorbeigekommen? Oder haben Sie etwa die Sache schon vorher verfolgt?«

Jenkins machte ein undurchdringliches Gesicht. »Weder das eine noch das andere, Bramwell. Der ganze Fall ist mir so neu wie Ihnen.«

Die beiden gingen in die Diele hinüber. Die gesamte Dienerschaft war versammelt. Eben kam der Wachtmeister von seinem Rundgang zurück. »Wir haben alles durchsucht, Herr Inspektor. Das Haus, den Garten und den Park. Nichts Auffälliges gefunden. Alle Türen sind geschlossen.«

»Es ist gut. Fahren Sie jetzt zur Wache zurück und machen Sie Ihren Rapport.«

Die Polizisten verließen den Raum.

Jenkins warf einen Blick auf Dorothy Crane. Das junge Mädchen saß blaß und fröstelnd in dem breiten Sessel zu Füßen der Kwannon. Der Haushofmeister hatte sorgsam eine Decke um ihre Knie gebreitet.

Bramwell begann mit dem Verhör. Er befragte den Chauffeur, den jungen Footman, den Gärtner, der zugleich das Amt des Pförtners im Park versah. Auch das Kammermädchen von Dorothy wurde vernommen.

Die Aussagen des Personals waren nicht geeignet, Licht in die mysteriöse Angelegenheit zu bringen. Niemand hatte ein verdächtiges Geräusch, einen Hilferuf oder irgend etwas Ungewöhnliches gehört. Alle bekundeten übereinstimmend, daß die Ruhe des Hauses keinen Augenblick gestört worden war.

Bramwell wandte sich zu dem Haushofmeister. »Sind hier sonst noch Leute im Haus angestellt, Hawley?«

»Nein, Herr Inspektor«, erwiderte der Angeredete, »das heißt, zeitweilig wird ja Personal aushilfsweise beschäftigt – als Silberputzer oder in der Garage.«

»War in letzter Zeit jemand als Aushilfe eingestellt?«

Der Butler blickte fragend umher. »Bei Ihnen, Jones?« Er sah erstaunt auf den Gärtner, der vorgetreten war und verlegen seine Mütze in der Hand drehte.

»Ja, Mister Hawley«, sagte der Mann zögernd. »Vor vierzehn Tagen wurde mein Bursche – Sie wissen doch, der Finny, krank. Ich war gerade beim Umgraben der großen Beete im Obstgarten. Die Arbeit drängte. Da nahm ich einen Aushilfsarbeiter an ...«

»Davon haben Sie mir gar nichts gesagt, Jones«, tadelte Hawley streng.

»Ich glaubte, Finny käme jeden Tag zurück. Außerdem brachte ich ihn ja nicht im Hause unter. Er schlief im Geräteschuppen, hinter dem Gärtnerhaus und ...«

»Wo ist der Mann?« unterbrach Bramwell den Gärtner.

Jones zerknüllte seine Mütze und warf einen schüchternen Blick auf den Fragenden. »Er ist nicht zu finden, Herr Inspektor.«

»Was heißt das, Mann?«

»Er bat mich heute um Urlaub. Er wollte in die Stadt. Ist aber nicht zurückgekommen. Vielleicht hat ihn der Nebel ...«

Bramwell wiegte den Kopf. »Hm. Wie hieß der Mann?«

»Riggs, hieß er, Danny Riggs.«

»Haben Sie seine Papiere gesehen?«

Jones zögerte mit der Antwort. »Nein«, sagte er schließlich, »er war arbeitslos seit langer Zeit, aber er war ein ganz geschickter Arbeiter. Ich wollte ihn ja auch nur kurze Zeit beschäftigen.«

»Auf jeden Fall sehr leichtsinnig von Ihnen, Jones, einen fremden Arbeiter einzustellen, ohne mich zu fragen.« Hawley schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Zeigen Sie mir die Schlafstelle des Burschen«, sagte Bramwell. »Ich möchte doch mal einen Blick hineinwerfen.«

Die beiden verließen den Raum.

»Ich muß um Entschuldigung bitten, Miß Crane, wegen dieser Eigenmächtigkeit des Gärtners«, sagte der Haushofmeister.

Dorothy hob den Kopf. Ihre Augen hatten einen abwesenden Ausdruck, als hing sie einer Erinnerung nach. Sie blickte hilfesuchend auf Jenkins.

»Schon gut, Hawley. Wir wollen hoffen, daß Jones hier keine Dummheit gemacht hat. Aber jetzt, wo er diesen Menschen erwähnt hat, fällt mir etwas ein.«

Dorothy strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ungefähr acht Tage ist es her, da machte ich nach dem Dinner einen Spaziergang durch den Park. Es war schon vollständig dunkel. Ich war bis zum Obstgarten gekommen und kehrte um, weil mich fröstelte. Als ich ins Haus gehen wollte, sah ich eine Gestalt vor dem Fenster des großen Parterrezimmers stehen. Dort liegt die Treppe, die zum Arbeitszimmer meines Vaters führt. Ich ging auf den Fremden zu. Als der Sand unter meinen Füßen knirschte, drehte sich der Mann hastig um. Er hatte eine Laterne in der Hand. Ich wurde fast geblendet durch den grellen Strahl der Lampe. Der Mann verschwand dann blitzschnell im Dunkel.«

»Haben Sie ihn deutlich gesehen, Miß Crane?« fragte Jenkins. »Würden Sie den Burschen wiedererkennen?«

»Ich glaube kaum. Ich weiß nur so viel; er war von untersetzter Figur. Ja, das habe ich noch im Gedächtnis: er hatte dunkles glattes Haar und buschige Augenbrauen.«

»Konnten Sie erkennen, wie er gekleidet war?«

»Nein. Es war zu dunkel. Wenn ich mich nicht täusche, so trug er einen Arbeitsanzug, einen sogenannten ›overall‹.«

»Haben Sie jemandem von dieser Begegnung etwas gesagt, Miß Crane?«

»Ja, dem Chauffeur. Bill hat sofort den ganzen Park abgesucht. Er hat nichts Verdächtiges gefunden.«

Der Haushofmeister räusperte sich.

»Wollten Sie etwas sagen, Hawley?« fragte Dorothy.

Der alte Mann schien sonderbar erregt. »Ja«, sagte er, mühsam nach Atem ringend, »ich habe es vorhin schon dem Herrn Inspektor angedeutet. Wir wurden unterbrochen.«

Jenkins legte dem Erregten die Hand auf die Schulter. »Denken Sie scharf nach, Hawley. Erzählen Sie alles, was Sie wissen. Der kleinste Zwischenfall, auch wenn er Ihnen ganz geringfügig erscheint, kann von großer Bedeutung sein.«

Hawley nickte. »Mister Bramwell fragte mich, ob ich irgendeine Unruhe an Mister Crane bemerkt hätte. Das muß ich sagen: wenn auch Mister Crane äußerlich ruhig und freundlich war, irgendetwas schien ihn doch zu bedrücken oder zu erregen.«

»Wie äußerte sich diese Erregung?«

»Er fragte jeden Abend, ob alle Türen und Fenster gut geschlossen seien. Ich bemerkte auch, daß er vor dem Schlafengehen seinen Browning auf den Nachttisch legte ...«

»War das sonst nicht seine Gewohnheit?«

»Nein, Mister Jenkins«, beantwortete Dorothy die Frage, »aber da fällt mir ein, daß mein Vater in letzter Zeit häufig den Wunsch äußerte, unsere Stadtwohnung in Pall Mall zu beziehen.«

»Sie meinen, er fühlte sich hier draußen nicht sicher genug?«

»So schien es. Er hat sich mir gegenüber allerdings nicht so ausgedrückt.«

»Glauben Sie, Hawley, etwas bemerkt zu haben, worauf die Erregung Mister Cranes zurückzuführen wäre?«

Der Haushofmeister blickte zögernd auf seine junge Herrin.

»Sie müssen alles sagen, was Sie wissen, Hawley«, forderte sie ihn auf.

»Es können jetzt wohl vier Wochen her sein, da bekam Mister Crane eines Tages seltsamen Besuch. Es war ein älterer Mann. Das heißt, er war wohl gar nicht so alt, wie er aussah. Er hatte graue Haare, aber sein Gang und seine Haltung waren noch elastisch. Nur in seinem Wesen hatte der Fremde irgendetwas Scheues, Gedrücktes. So als – so als ob –« Hawley suchte nach einem passenden Ausdruck. »Ja richtig; so als ob er lange nicht unter Menschen gewesen wäre. Wissen Sie, Mister Jenkins, so wie einer guckt, der eben nach langer Zeit aus dem Gefängnis kommt.«

»Nannte er seinen Namen?« fragte der Detektiv.

»Nein. Er wollte Mister Crane sprechen. Aber er weigerte sich entschieden, seinen Namen zu nennen. Ich sagte ihm, daß Mister Crane niemanden empfange, den er nicht kenne. Aber er blieb dabei, daß er den Herrn sprechen müsse.«

»Wie war der Mann gekleidet? Wofür hielten Sie ihn?«

»Er sah aus wie ein Seemann. Aber manches sprach doch gegen diese Annahme.«

»Wie sprach er? Ich meine, hielten Sie ihn für einen Engländer?«

»Keinesfalls. Er sprach zwar fließend englisch, aber mit fremden Akzent. Etwa wie ein Südländer.«

»Was also taten Sie?«

»Ich wies ihn ab. Ich sagte dem Mann, er solle versuchen, Mister Crane in seiner Office in der Wardour Street aufzusuchen.«

»Ließ er sich darauf ein?«

»Ja. Er muß Mister Crane auch gesprochen haben, denn abends ordnete der Herr an, daß ihm der Fremde, falls er wiederkäme, sofort zu melden sei.«

»Kam der Mann noch einmal?«

»Ja, nach drei Tagen. Er hatte eine lange Unterredung mit Mister Crane.«

»Miß Crane«, der Detektiv wandte sich zu der jungen Dame, »hat Ihr Vater mit Ihnen über diesen Besuch gesprochen?«

»Nein, Mister Jenkins. Mein Vater hat nie ein Wort darüber verloren.«

»Haben Sie eine Ahnung, um was es sich handeln könnte?«

»Nicht die geringste.«

»Sie glauben nun bemerkt zu haben, Hawley, daß Mister Crane nach diesem Besuch stark beunruhigt war?«

»Ja. Aber es war noch etwas anderes ...«

»Nun?« drängte Jenkins, »erzählen Sie doch.«

Dorothy Crane sah voller Spannung auf den alten Mann. Hawley legte die Hand an die Stirn. Er schien seine Gedanken zu sammeln. »Vorigen Freitag, Mister Crane war gerade von einer Parlamentssitzung nach Hause gekommen, ließ er mich rufen. Er stand in großer Erregung vor mir. In seiner Hand hielt er einen Zettel. ›Wie kommt das auf meinen Schreibtisch?‹ fragte er und gab mir das Papier. Es standen nur zwei Zeilen darauf. Sie waren mit der Schreibmaschine geschrieben. Ehe ich noch den Sinn der Worte begriff, fragte Mister Crane wieder: ›War jemand in meinem Zimmer?‹ Ich verneinte und wußte auch ganz genau, daß niemand das Arbeitszimmer des Herrn in seiner Abwesenheit betreten konnte. Er pflegte stets abzuschließen, wenn er ins Büro oder ins Parlament fuhr.«

»Hatte noch eine andere Person einen Schlüssel zu diesem Zimmer?«

»Ja. Ich selbst, Mister Jenkins.«

»Hm.« Joe Jenkins warf einen fragenden Blick auf Dorothy.

Sie lächelte. »Hawley steht seit fünfzehn Jahren in unseren Diensten, Mister Jenkins.«

Der Detektiv schien den Einwurf zu überhören. »Erzählen Sie weiter«, sagte er trocken.

»Ich befragte das ganze Personal. Niemand hatte eine fremde Person in den oberen Stockwerken gesehen. Es ließ sich nicht feststellen, wie dieser Zettel auf den Schreibtisch Mister Cranes gekommen war.« Hawley schwieg. Er trocknete sich mit zitternden Händen die Stirn.

»Von diesem Vorfall hat Ihr Vater doch gewiß mit Ihnen gesprochen, Miß Crane.«

Dorothy schüttelte den Kopf. »Nein, Mister Jenkins. Bestimmt nicht. Aber mir fällt ein, daß mein Vater an einem der letzten Tage sehr verstimmt und zerstreut war. Ja, je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher steht es vor mir: er sah mich oft mit einem seltsamen Blick an. Es lag etwas wie Angst in diesem Ausdruck. Manchmal schien es mir, als wollte er sprechen; aber er unterdrückte diese Regung. An diesem Tage war er besonders zärtlich zu mir. Aber meinen besorgten Fragen wich er aus.«

Der Detektiv ging im Zimmer hin und her. Endlich blieb er vor dem Alten stehen. »Hören Sie, Hawley, es kommt viel darauf an, daß Sie jetzt Ihr Gedächtnis anstrengen. Können Sie sich noch darauf besinnen, was auf dem Zettel stand? Denken Sie scharf nach.«

Der Haushofmeister setzte sich mit zitternden Knien. Er stützte den Kopf in beide Hände. Es lag ein bedrückendes Schweigen im Zimmer. Dorothy streifte mit bangem Blick das Standbild der achtarmigen Göttin. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen und streckte ihre Hände gegen den Kamin. Einer der Diener hatte das Feuer wieder angezündet. Die Flamme warf einen freundlichen und tröstenden Schimmer durch den Raum. Die Glut des Kamins umgab die Figur der Kwannon mit einer eigenartigen Beleuchtung. Der Körper und die Arme der Göttin waren in den roten Widerschein des Feuers gehüllt. Das ewig lächelnde Antlitz lag im Dunkel. Aber durch die Finsternis fühlte man dieses Lächeln, hinter dem sich die Mysterien der Jahrtausende verbargen.

Endlich hob der Alte den Kopf. »Nein«, sagte er verzweifelt, »ich kann mich nicht mehr darauf besinnen. Mister Crane riß mir den Zettel schnell aus der Hand. Ich hatte ihn nur flüchtig gelesen.«

Jenkins griff in die Tasche. Er zog den zerknüllten Zettel hervor und legte ihn vor den Haushofmeister hin.

Hawley sprang jäh auf. »Das ist ja der Brief, den Mister Crane mir zeigte!« rief er.

Der Detektiv nahm dem Erregten das Blatt aus der Hand und hielt es Dorothy hin. »Sagen Ihnen diese Zeilen etwas, Miß Crane?«

Dorothy überlas den Zettel. »Nein«, sagte sie mit leiser Stimme, »das ist mir unverständlich. ›Lassen Sie die Hände von der Alina-Sache.‹ Ich vermute irgendeine geschäftliche Transaktion meines Vaters.«

»Das möchte ich bezweifeln. Mister Cranes Geschäfte sind, soweit ich unterrichtet bin, sicherlich nicht so geheimnisvoller Natur gewesen.«

»Aber was bedeutet das nur, Mister Jenkins? Alina – ist das der Name irgendeiner Person?«

»Es kann ein Eigenname sein. Vielleicht ist aber auch die Insel Alina gemeint.«

»Die Insel Alina? Ich habe nie davon gehört.«

»Es ist eine Sträflingskolonie der Italiener. Sie gehört zu den Liparischen Inseln im Tyrrhenischen Meer. Nördlich von Sizilien.«

Die Tür ging auf. Inspektor Bramwell trat mit dem Gärtner ein. »Nichts gefunden«, brummte er unwillig. Dabei warf er einige Zweige auf den Tisch. »Die Dinger hier lagen unter der Matratze seines Feldbettes.« Er wies mit einer verächtlichen Gebärde auf die Pflanzen.

Der Inspektor trat vor das junge Mädchen hin. »Ich stehe Ihnen natürlich jederzeit zur Verfügung, Miß Crane. Hier ist meine Karte. Inspektor Bramwell. Scotland Yard. Apparat achtundzwanzig. Sie brauchen nur anzurufen. Im Augenblick halte ich meine Tätigkeit hier für beendet. Von Scotland Yard aus werde ich alles weitere veranlassen. Lassen Sie den Mut nicht sinken, Miß Crane. Wir werden alles tun, um Ihren Vater zu finden. Kommen Sie, Jenkins.«

»Ich möchte noch ein paar Worte mit Miß Crane sprechen«, sagte der Detektiv, ohne von den Pflanzen aufzublicken, die er aufmerksam betrachtete.

Bramwell zuckte die Achseln. »Gut, wie Sie wollen.« Er verbeugte sich vor Dorothy und verließ schnell das Zimmer.

Joe Jenkins beschäftigte sich mit den Zweigen. Er hatte eine der Blüten zwischen den Fingern zerrieben und roch daran. Dann nahm er sein Taschenmesser und ritzte die Kapseln der knollenartigen Blüte. Ein dickflüssiger Milchsaft quoll hervor. Der Detektiv wandte sich an den Gärtner. »Kennen Sie diese Pflanze?« fragte er kurz.

Jones nahm die Staude und fuhr mit dem Finger über die angeritzte Kapsel. Er berührte leicht die Lippen mit dem Saft. »Mohn«, sagte er erstaunt.

Jenkins nickte. »Ganz recht. Aber kein einheimischer Mohn, sondern asiatischer. Papaver somniferum. Haben Sie davon Kulturen hier?«

»Bewahre. Wir gebrauchen nur die gewöhnliche Zierpflanze.«

»Miß Crane«, beantwortete Jenkins die stumme Frage Dorothys, »aus dieser Pflanze wird bekanntlich das Opium gewonnen. Man findet sie, besonders in diesem gewissen Reifzustand, natürlich hier nicht bei uns in England. Es ist auch nicht anzunehmen, daß der angebliche Gärtnerbursche aus diesem Alkaloid etwa Opiumpillen zum Rauchen herstellen wollte. Das hätte er ja in London bequemer haben können ...«

Dorothy sah den Detektiv mit schreckerfüllten Augen an. »Mein Gott, glauben Sie, Mister Jenkins, daß dieser Mensch in verbrecherischer Absicht hier eingedrungen ist?«

»Ich fürchte, es ist so.« Jenkins blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist sehr spät. Und Sie haben die Ruhe dringend nötig, Miß Crane. Nur so viel noch für heute: ich kam heute abend nicht zufällig in Ihr Haus. Ein Brief Ihres Vaters rief mich her. Leider kam ich zu spät – der Nebel hielt mich auf.«

Dorothy legte dem Amerikaner die Hand auf den Arm. »Was wissen Sie von meinem Vater, Mister Jenkins. Ich bitte, sagen Sie es mir. Ich vergehe vor Angst.«

»Beruhigen Sie sich, Miß Crane. Versuchen Sie einige Stunden zu schlafen. Bitte, besuchen Sie mich morgen Nachmittag. Ich wohne Morleys Hotel, Trafalgar Square. Gute Nacht!«

*


 << zurück weiter >>