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V.

Das gewohnte morgendliche Bad, das das Blut verflüssigte, befähigte Peter Florian zu gewissenhaften Erwägungen rein theoretischer Natur; die praktischen stellte er derweilen hintan. So wartete er auf Dick Tom, um ihn um eingehende Mitteilungen über den Kapitän Okamoto zu bitten.

Florian kramte aus seinem Koffer eine feiste Mappe mit Aufzeichnungen heraus und wühlte darin. Da gab es Auszüge aus den Werken von Hans Groß, Löwenstimm, Jans, Berribarraud und zahlreicher anderer Autoritäten, die der Kulturmenschheit im Kampf gegen verbrecherische Elemente Waffen schmiedeten. Hierauf vergegenwärtigte er sich die anthropometrischen Systeme Alfons Bertillons und die fortschreitende Lehre Georg Bertillons, der es zuwege brachte, ziemlich sichere Schlüsse auf die Körperbeschaffenheit eines Menschen schon aus dessen Beinkleidern und Westen zu ziehen ... Dazu seufzte er: »Schade, daß der Mörder Duniphans nicht seine Hose im Zimmer 39 vergaß – er hätte mir damit die Arbeit bedeutend erleichtert! Aber Verbrecher pflegen leider mit dem Ablegen von Kleidungsstücken am Tatort zu geizen!« – Und er grübelte weiter, besonders auch über die spekulativen Schriftsteller, die in Detektivromanen die Kriminalistik ausschroteten. Ach, was schmierten sie nicht alles zusammen! Unwahrscheinliches und Unmögliches, um die Lesewut sensationslüsterner Nichtstuer zu befriedigen. Conan Doyle mit seiner Sherlock-Holmesgestalt machte dabei immerhin eine kleine Ausnahme und sang das Hohelied der alles ergründenden Logik. Logik und Scharfsinn, recht hübsch, aber sie reichten fast niemals zur Lösung wirklicher Rätsel aus. Neben der Logik mußte man Glück haben und eine Art Ahnungsvermögen, das instinktiv den Weg zur Wahrheit erspäht. Das Leben, im Gegensatz zur Literatur, gestattet so selten, aus einem Fingerabdruck die Person eines Täters zu ergründen oder aus einem abgeschnittenen Holzstück zu erkennen, daß ein bretonischer Matrose mit schütterem Haar und vorstehendem Unterkiefer den Splitter von einem dreizölligen Brett abhobelte und dazu ein schwedisches Klapptaschenmesser benützte ... Derartige Kunststücke gelingen eben nur Sherlock Holmes – auf dem Papier ... Wunderbarerweise konnte jegliche Erscheinung der sichtbaren Welt zehn und zwanzig und hundert Ursachen haben, und aus der erdrückenden Menge galt es jedesmal die einzige auf den besonderen Fall zutreffende zu erraten. Ein Blindekuhspiel, bei dem man oft daneben tappt, weil wir immer nur einen kleinen Ausschnitt aus einer unendlichen Wirklichkeit wahrzunehmen und zu überblicken vermögen.

Peter Florians Selbstsicherheit wuchs durch solche Erkenntnis nicht, und er sehnte sich geradezu nach Dick Tom, um auf andere Gedanken zu kommen.

Endlich ging die Tür, der Detektiv trat ein und begann sofort: »Dürfte Sie interessieren – Eliot hat Bankräuber in San Franzisko auf Landungssteg der Nippon Comp. vor Auslaufen des ›Mikado‹ nach Osten gefaßt und wird in einer Woche wieder in Washington sein.«

»Eine feine Leistung!«

Tom verzog den Mund: »Kunststück! Wußte ja aus den Fingerspuren, die der Kerl an der erbrochenen Kasse zurückließ, daß ihm Daumen rechter Hand fehlt. Brauchte also bloß suchen. Gibt nicht viele Leute ohne rechten Daumen.«

Florians Hochachtung vor den erst kürzlich gering geschätzten kriminalistischen Ideen stieg um hundert Prozent. »Ich freue mich schon auf den Polizeileutnant!«

»Ist 'n ganz tüchtiger Boy, wirklich 'n ganz tüchtiger, bildet sich aber noch mehr ein, kalkuliere ich.«

»Erfuhren Sie etwas Neues, das sich auf den Fall Duniphan bezieht?« lenkte Florian ab.

»Nichts von Bedeutung, leider gar nichts von Bedeutung, und habe sogar auf eigene Faust Erkundigungen eingezogen, weil ich meinte, könnte von Nutzen sein. Ließ mir von Amts wegen die vorhandene Korrespondenz des Commanders geben und sichtete sie. Einförmige Beschäftigung, Mahnbriefe der Gläubiger und Liebesbriefe von Damen zu lesen, die süß anfingen und sauer endeten. Gab auch Grund dazu, der Tote, hat es toll getrieben! Notabene, begreife Duniphan senior nicht, daß er hier alles liegen und stehen ließ, so daß jeder lesen kann, was er lesen mag. Geizhalz erklärte, Angelegenheiten des Sohnes, der großjährig, kümmerten ihn keinen Deut, und Wucherer sollten zusehen, wie sie zu Geld kämen. Also, ich prüfte die Briefe und die Charakterqualitäten ihrer männlichen und weiblichen Autoren, ob man einem oder einer Mord zutrauen könnte. Jemine, Herrschaften sind mir ja durch die Bank vorzüglich bekannt, die einen gewerbsmäßige Halsabschneider, die anderen, die weiblichen Geschlechts, entgegenkommende Damen. Archibald Duniphan war weder in der Wahl seiner Geldgeber noch in der Wahl seiner Freundinnen wählerisch. Wucherer fügten ihrem Schuldner gewiß kein Leid zu, der ihnen lebend ein Kapital war, aber als Leiche, die man nicht einmal an Meistbietenden versteigern kann, erheblich entwertet wurde. Und Frauenzimmer lecken erst recht nach Geld und nicht nach Blut, kalkuliere ich. In dieser Richtung brauchen Sie Fühlhörner nicht ausstrecken, Sir, wäre schade um Zeit und Mühe.«

»Und ich kann mich darauf verlassen, daß Ihnen keine Wichtigkeit entging, lieber Tom?«

Der setzte eine gekränkte Miene auf: »Zwölf Jahre übe ich meinen Beruf zur vollen Zufriedenheit des Herrn Polizeileutnants aus und machte niemals groben Schnitzer.«

»Ich danke Ihnen, Sie überzeugten mich. Und jetzt werde ich Ihnen kurz erzählen, was ich gestern erlebte.« Florian gab einen Auszug aus den Geschehnissen in der »Rebe« und seinem Vorsprechen bei Carmen Pereira, und schloß: »Das Gasthaus der Frau Smuls, das Sie und Eliot so übel schilderten, machte auf mich einen recht unschuldigen Eindruck, ja, einen förmlich gediegenen. Man wird dort gut bedient, und es geht sehr ehrbar zu.«

Dick Tom kniff die Augen: »Wirklich? Wirklich? Haben die Nase wohl nur in die Vorderstube gesteckt und am hellichten Tag. Gehen Sie mal um Mitternacht hin und werden Urteil ändern. In Hinterzimmern nämlich wird Opium geraucht und verkehren dort Leute – Leute, sag ich Ihnen!«

»Verbrecher?«

»Auch das, aber blieben diese unter sich, hätte ich das Nest bald ausgeräuchert. Doch mit den Gaunern verbrüdern sich Herren bester Gesellschaft, der unantastbaren Gesellschaft – Senatoren, Deputierte, hohe Beamte, Militärs und Diplomaten, mit einem Wort: Duniphans! In das Wespennest greift meiner Mutter Sohn nicht, auch keiner meiner Kollegen, kalkuliere ich.«

»Ach so«, sagte Florian. »Maud Smuls jedoch, das werden auch Sie bestätigen, ist eine tadellose junge Dame!«

»Tadellose junge Dame – derzeit darf man wohl noch so sagen – wurde in gutem Pensionat erzogen, lebt erst seit einem Monat bei ihrer Mutter und ist mit Betrieb in der ›Rebe‹ noch nicht vertraut. Wird schon noch dazulernen; Frauenzimmer sind gelehriger als dumme Männer glauben; im Guten und Bösen, hervorragend im Bösen.«

»Also dort, wo Opium geraucht wurde, war Duniphan Gast?«

»Er und Kapitän Okamoto, der ihn Laster lehrte.«

»Und was sagen Sie zum Verhalten Carmen Pereiras?«

»Sage dazu gar nichts. Hätten sich den Weg zu ihr sparen können, falls Sie ihn nicht zum eigenen Pläsier machten. Solche wie die rennen dem ungetreuen Liebhaber im Streit Messer in den Leib, aber sind keineswegs vorbedachten Verbrechens fähig. Dazu reicht das Strohfeuer eines unbeständigen Temperaments nicht. Bin überzeugt, daß reizende Sennoritta, wären Sie nicht so rasch geflohen, Viertelstunde später Rachegefühle und ganzen Kommander vergessen gehabt hätte. Romanische Rasse mit schlechter Beimischung. Lichterlohe Flammen haben graueste Asche, kalkuliere ich.« Zwinkernd fragte er: »Werden spanischen Studien fortsetzen?«

»Vielleicht – bei einer Lehrperson männlichen Geschlechtes.« Florian beschäftigte ausschließlich der Japaner, das Auffällige der Weinsendung des Kapitäns an den Kommander. »Und wie stellen Sie sich zu Okamoto, der einen Korb mit zwölf Flaschen, den er erst eine Woche in seiner Wohnung behielt, an Duniphan weitergab – ebendenselben Korb, in dem sich jene vergiftete Flasche befand?«

Der Detektiv drehte die Fransen der Tischdecke zu einem dünnen Zopf. »Sir, nicht übel nehmen, teile Ihre Vermutungen nicht. Lasen neueste Nummer der ›Washingtoner Post‹? Nein?«

»Nein.«

»Werde mir gestatten, daraus ein Telegramm vorzulesen.« Dick Tom zog ein zerknülltes Zeitungsblatt aus der Tasche, faltete es auseinander und las: » Eine Mörderkolonie. In der verstrichenen Woche wurden einer Reihe bekannter Persönlichkeiten in Los Angelos, Sacramento und Neu-Almaden aus San Franzisko mit der Post unter dem Deckmantel von Mustersendungen Zigarren, Bonbons und Wein zugestellt, und wer sich verleiten ließ, die Proben zu kosten, der hatte es schwer zu büßen: Sie waren vergiftet, und zwar mit einem Gift, das den Chemikern nur zu bekannt ist! Drei der unglücklichen Opfer sind bereits gestorben und fünf andere ringen mit dem Tode. Bisher blieben andere Städte außer den obengenannten von dem scheußlichen Verbrechen verschont, dessen Beweggründe sich nur ahnen lassen. Wir veröffentlichen diese Notiz nur als Warnung und bringen absichtlich keine Einzelheiten, um nicht etwas zu verraten, was den Tätern auf der Flucht vor der Gerechtigkeit behilflich sein könnte. Übrigens ist man ihnen auf den Fersen.« Dick Tom grinste: »Na?«

Florian knotete nervös die Finger ineinander: »Das ist aber doch eine Sache für sich! Hier im Osten fiel bisher nichts ähnliches vor, ferner wurde der Wein nicht durch die Post und nicht von unbekannter Seite an den Kommander Duniphan geschickt, sondern durch einen Negerjungen vom Kapitän Okamoto. Und was das Gift anlangt ...«

»So schweigt Telegramm darüber.«

»Kümmern wir uns nicht um die Räuberbande von San Franzisko und suchen wir den Täter lieber in allernächster Nähe. Da werden wir ihn auch finden.«

»Hm«, machte Dick Tom. »Hm ... stimme bei, zumal Kommander meiner unmaßgeblichen Meinung nach wahrscheinlich überhaupt nicht an Gift starb.«

»Nanu?«

»Haben ihn nicht obduziert. Familie bestand nicht darauf. Ich behaupte, solange nicht Gegenteil bewiesen, daß Herrn Duniphan mitten in der Arbeit Schlag traf.«

»Lieber Freund, sagen Sie lieber gleich, er sei überhaupt nicht gestorben und lebe lustig und fröhlich weiter!«

»Möchte ich nicht behaupten, da verläßliche Zeugen Tod bestätigen.«

»Und das Gift in der Flasche und das Gift in dem beinahe gänzlich geleerten Glas?«

Der Detektiv dachte nach: »Alles schön, aber hätten ihn doch obduzieren sollen! Mir liefen schon ungeheuerlichste Fälle unter, wo Sache sonnenklar – und dabei ganz anders war.« Er stand auf und nahm seinen Hut.

»Daß ich nicht vergesse!« sagte Florian, »ich bat Sie hauptsächlich zu mir, um Sie zu ersuchen, mir eine knappe Charakteristik des Kapitäns Okamoto zu beschaffen. Darin sind Sie unbestrittener Meister!«

»Gern, obwohl es schwer halten wird, denn Gelber weilt erst kurz in Amerika, und Japaner nicht mitteilsam.«

»Wann darf ich darauf rechnen?«

»Werde dazu längere Zeit benötigen – sagen wir: Morgen früh.«

Florian ärgerte sich über Dick Tom. Die Leute hatten sich allesamt verschworen, die Sachlage zu verwirren. In der Hauptsache war er auf sich allein angewiesen.

Die alte Geschichte von Buridans Esel sprang ihm ins Gedächtnis: Da verhungerte ein Grautier zwischen zwei fetten Bündeln Heu, die gleich groß und gleich weit von ihm entfernt waren, weil es ein unheimlich logisches Vieh war, das wegen derselben Menge Heu und derselben Entfernung keiner Seite den Vorzug geben konnte. Der Graue blieb unerschütterlich in der Mitte stehen und ging elend zugrunde. Florian sprach mit edler Offenherzigkeit zu sich: »Ein solcher Quadratesel bin auch ich, und mein eines Bündel Heu heißt Mac Douglas, mein anderes Okamoto. Aber ich werde nicht an der reinen Logik verenden wie mein Vorbild, sondern verschlinge das zweite Heubündel – den Japaner!«

Das Stubenmädchen klopfte und brachte eine Visitkarte.

Peter Florian las die Karte und war bestürzt. »Ich lasse bitten ...« Und las abermals: »Kapitän Okamoto, Marineattaché bei der japanischen Botschaft in Washington.«

Schon der erste Eindruck auf Entfernung einer halben Zimmerlänge bestätigte es Florian neuerdings, daß der Kapitän ein ungemein häßlicher Mensch war. Ein runder, dichtbehaarter Schädel saß auf einem feisten, niederen Hals, im gekniffenen, zitronengelben Gesicht blinzelten geschlitzte Augen, die eingedrückte Nase und besonders der asymmetrische Knochenbau des ganzen Gesichtsschädels, an dem sich der linke Backenknochen um einen Zentimeter stärker ausbog als der rechte, erhöhten den Widerwillen, den der Europäer vor dem asiatischen Typus überhaupt empfindet. Um den breiten Mund spielte ein ewiges unverschämtes Lächeln, ein widerliches Grinsen. Und zu dem abstoßenden Kopf paßte die übrige mißliche Gestalt: Ein walzenähnlicher Oberkörper, mächtige Hüften, verkürzte O-Beine und unmännlich zierliche Hände und Füße. Das häßliche Männchen stak in einer Uniform, die den Vergleich mit einem dressierten Affen, den sein Wärter kostümierte, noch bedeutend verstärkte. Doch von der Aufdringlichkeit des Gesamteindruckes zog das ewige Grinsen, das etwas Gefährliches, Unergründliches an sich hatte, immer wieder den Blick auf sich.

Okamoto verneigte sich und sagte in einem akzentfreien Englisch: »Sie wundern sich, mich hier zu sehen, aber mein Besuch hängt eng mit dem Tod meines besten Freundes zusammen. Der Kommander Duniphan und ich waren Brüder in jenem höheren Sinne, der auf Blutsverwandtschaft verzichten darf, weil die Übereinstimmung des Denkens und Fühlens die mangelnde Gemeinsamkeit der Abstammung mehr als aufwiegt. Der Totenschein, den die Behörden als richtig anerkennen, behauptet, der arme Archibald habe sich selbst das Leben genommen, und um so herzlicher freut es mich, daß Sie, Herr Doktor, dem widersprechen. Die allgemeine Ansicht der Leute, wie ich Ihnen mitteilen kann, obschon ich Ihnen damit kaum etwas Neues sage, geht gleichfalls dahin, daß der Offizier das Opfer eines verbrecherischen Anschlages wurde. Ihr Europäer habt ein wunderbares Sprichwort, das auch hier anzuwenden ist: Volkesstimme ist Gottesstimme!«

Florian sagte trocken: »Woher weiß – das Volk von der Angelegenheit?«

»So etwas läßt sich auf die Dauer nicht geheimhalten. Zuerst bemächtigte sich die auswärtige Presse des Falles, und jetzt schreiben auch schon die hiesigen Zeitungen mancherlei darüber.«

Peter Florian bot dem Gast Platz an und reichte Zigaretten: »Bitte wollen Sie sich bedienen.«

»Danke. Eigentlich rauche ich nur schärfere Kräuter, wie sie in meiner Heimat gedeihen, was Sie wohl lasterhaft schelten. Warum soll aber ein wesentlicher Unterschied zwischen der leichteren Betäubung mit Nikotin, der schwereren durch Alkohol und der tiefsten durch Opium bestehen? O, ich weiß, man hat es meinem lieben Duniphan sehr übel vermerkt, daß er sich in dieser Beziehung meinen Gewohnheiten anpaßte, aber kein Kulturmensch vermag heute in dem Trubel des modernen Treibens ohne jegliches Narkotikum sein Auslangen zu finden. Wie wehklagt der weise Inder: ›Warum neidet Ihr es mir, wenn ich mir um eine viertel Rupie die Seligkeit des Paradieses kaufe‹!«

Florian erwiderte zurückhaltend: »Was die Opiumliebhaberei des Commanders anlangt, so ist sie mir ein wichtiger Beweis für die von ihm ungewollte Art seines Todes, da Opium in kurzer Zeit die Willenskraft derart untergräbt, daß ein Raucher oder Esser nicht mehr die Energie aufbringt, sein Dasein abzustreifen.«

»Eine Ansicht, die vermutlich für die Veranlagung der Europäer, nicht für die der Asiaten zutrifft. Unsere bedeutendsten Staatsmänner aßen Opium und übten dennoch Harakiri an sich, wenn es die Sitte vorschrieb.«

Florian lenkte das Gespräch auf Archibald Duniphan zurück: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kapitän, so teilen Sie meine Meinung, daß Ihr Freund ermordet wurde?«

»Allerdings.« Und das ewige Grinsen des Japaners ließ verheimlichte Gedanken ahnen.

»Wer ist aber der Mörder?« Florians kurzsichtige Blicke forschten in den Schlitzäuglein des Zitronengelben.

»Bevor ich diese bedeutungsvolle Frage beantworte, muß ich Ihnen mein Verhältnis zu dem Toten klarlegen. – Ich darf sagen, daß mir keine Falte im Herzen Duniphans verhüllt blieb. Wir sahen uns zum erstenmal in Tokyo und empfanden sofort Sympathien für einander. Wir ruderten gemeinsam, wir schwammen, segelten und fischten gemeinsam in den geheimnisvollen Seen meines Vaterlandes, und ich lehrte ihn die verschwiegenen Schönheiten Japans, das noch kein Ausländer richtig beurteilte, würdigen und lieben. Eure Reisenden haften immer an Äußerlichkeiten und übersehen, daß das, was wir sind, die Folge einer abertausendjährigen euch verschlossenen Kultur und Entwicklung ist. In den nächtelangen Gesprächen, die ich mit meinem Freunde führte, offenbarte sich mir eine Harmonie der Weltanschauungen, die uns, den Osten und den Westen, untrennbar verband. Das knüpfte das Band der Freundschaft aufs Engste, und unsere Herzen pochten im Eintakt. – Als damals die Trennung kam, weil die amerikanische Regierung an der Freundschaft eines ihrer fähigsten Offiziere mit einem Fremden im fremden Land Anstoß nahm, da ging für mich die Sonne nieder, und ich trachtete mit allen Mitteln, die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen. Duniphan wurde ins Marineministerium in Washington versetzt, und deshalb bewarb ich mich um den Posten eines Marineattachés in der Union. So erreichte ich wieder die Nähe meines Freundes. Wir setzten hier den Verkehr fort, der in Japan begonnen hatte – und vielleicht wäre mir der Commander in nicht zu ferner Zeit für immer ins Land der Chrysanthemen und der Kirschblüten, wie sich eure Poeten manchmal ausdrücken, gefolgt, da er in seiner Seele schon halb Japaner geworden war. Das grausame, Schicksal zerstörte alle Pläne und Wünsche ... Noch waren wir nicht so weit, um an eine trauliche Einsamkeit an den Ufern des geheimnisvollen Biwa-Sees zu denken, und begnügten uns derweilen mit einer Vertiefung unserer innigen Beziehungen. Wir mieden die sogenannte Gesellschaft, die unsere Freundschaft beargwöhnte und bekrittelte, und genossen freudig das Zusammensein innerhalb unserer vier Wände oder im Gasthaus ›Zur Rebe‹, das es uns erleichterte, jener Seligkeiten teilhaftig zu werden, die wir liebten.«

»Mit anderen Worten, Sie tranken dort Floridawein und rauchten Opium«.

»Ja ... Ein herrlicher Wein, wie ich einen ähnlichen nirgends gefunden habe. Er lockte uns in die Kneipe, die sonst wenig Anziehungskraft besitzt. Und nun nähere ich mich jenen Tatsachen, auf die Sie – beurteile ich Ihre Physiognomie richtig – gespannt sind ... Ich ließ mir jede Woche abwechselnd einen Korb mit zwölf und mit vierundzwanzig Flaschen bringen – vierundzwanzig in jener Woche, wo ich einmal des Abends eine kleine Gesellschaft Gleichgesinnter bei mir versammelte, zwölf, wenn Duniphan und ich allein über die Dinge der sichtbaren und unsichtbaren Welt philosophierten. Und in die vertrauliche Unterhaltung klang oft mißtönend die Klage meines Freundes über die Feindschaft, der er unter seinen Kameraden begegnete. Am härtesten beklagte er sich über den Leutnant Leslie Mac Douglas, dessen Haß ihn, seit sie gemeinsam die Akademie besucht hatten, verfolgte. ›Er wünscht mir das Schlimmste!‹ wiederholte Archibald immer wieder. ›Und warum? Weil meine Arbeit gesegneter ist als die seine. Er hält sich für zurückgesetzt und schiebt die Schuld dafür mir zu, und doch dürfte er sich nur über die eigene Unfähigkeit beklagen, die ihn in die zweite Reihe stellt.‹ Vergebens sprach ich ihm Trost zu und war dabei innerlich gewiß, daß mein Freund nur zu sehr Recht hatte. So wälzte sich die Katastrophe heran, die Sie und ich aufzuklären versuchen. Anfangs dieses Monats besuchte ich den Commander in seinem Büro, und wir verabredeten eine Reise zu zweit während unseres diesjährigen Urlaubes. Schon waren wir beinahe einig, als er plötzlich aufsprang und erregt erklärte, es sei unmöglich, er reise nicht, er bleibe in Washington. Ich drang in ihn, mir den Grund seiner Sinnesänderung mitzuteilen, den ich allerdings halb und halb ahnte, und er sagte endlich, eine Frau, eine Mexikanerin halte ihn hier fest und drohe mit einem unerhörten Skandal, wenn er die Stadt verlasse. Seine Reise sei nur ein Vorwand, behauptete die Person, er wolle sie im Stich lassen und nie mehr zurückkehren. Die Komödie dieses liederlichen Weibes lief freilich nur auf eine unverschämte Erpressung hinaus, sie wollte ihn nicht freigeben, obwohl er keinerlei bindende Pflichten gegen sie hatte. Ich riet ihm ernstlich, es auf einen Skandal ankommen zu lassen und die Beziehungen, wenn schon nicht anders, so gewaltsam zu lösen. Aber das entsprach nicht seiner zarten Veranlagung, und er wünschte, seine Unabhängigkeit und Freiheit auf gütlichem Wege zu erreichen. Da ich dies für ausgeschlossen hielt und einen erbitterten Kampf voraussah, der Duniphans Nerven zerrütten mußte, widersprach ich, ein Wort gab das andere, und wir stritten – zum erstenmal stritten wir! Ich machte ihm Vorwürfe, er verzettle sein Leben, er berief sich hingegen auf seine Offiziersehre, und ehe wir noch die alte Eintracht wieder zwischen uns herstellten, trat Admiral Kirk ins Zimmer und verwickelte den Commander in ein dienstliches Gespräch. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu entfernen, von der Hoffnung getragen, abends würde mich der Freund trotz der Meinungsverschiedenheit, der keinerlei Bedeutung zukam, aufsuchen. Ich wartete vergeblich, er kam nicht, er trotzte – trotzte auch den nächsten und die folgenden Tage. Ich erwog verschiedene Möglichkeiten, mich ihm wieder zu nähern, ohne ihn zu beschämen, und da ergab sich die erwünschte Gelegenheit von selbst, als mir der Negerjunge aus der ›Rebe‹ den fälligen Korb mit vierundzwanzig Flaschen Floridawein brachte. Ich übernahm ihn und gab ihm dafür den Korb der vergangenen Woche mit zwölf Flaschen, der noch unberührt bei mir stand, er möge ihn mit einem Grus; von mir zum Commander Duniphan ins Ministerium tragen.«

Okamoto blinzelte Florian rätselhaft zu: »Es liegt Ihnen eine wichtige Frage auf der Zunge, nicht wahr? Sie wollen eine Aufklärung, warum der Korb mit den zwölf Flaschen noch unberührt war? Nichts leichter als das, mein Herr. Ohne Duniphan schmeckte mir kein Trunk, auch setzte ich mich nicht Abend für Abend allein in meine Wohnung, sondern besuchte, um mir die Zeit zu vertreiben, Theater und Konzerte, um den Freund trauernd, oder ging in die ›Rebe‹, von der Hoffnung erfüllt, ihn dort anzutreffen. So blieb der Floridawein daheim ungetrunken.«

Peter Florian empfand es peinlich, wie ihm der Japaner die Fragen vom Gesicht ablas.

Okamoto setzte seinen Bericht fort: »Archibald bestätigte mir umgehend den Empfang der Sendung, dankte warm dafür und erwähnte mit keinem Wort unsere Meinungsverschiedenheit – aber lesen Sie selbst!« Er reichte ein beschriebenes Kärtchen hin.

Darauf stand: »Lieber Freund! Dein liebes Gedenken freut mich herzlich, zumal ich eben an die ›Rebe‹ telephonieren wollte! Da kam auch schon der Negerjunge. Wieder einmal erfülltest Du mir einen Wunsch, ehe ich ihn aussprach! Seelenharmonie! Wie sehne ich mich nach Dir, aber leider werde ich Dich auch in den nächsten Tagen nicht aufsuchen können, da mir der Admiral eine Arbeit zuschanzte – es handelt sich um eine Untersuchung wegen eines im Hafen von New-York gestrandeten Torpedobootes –, die mich seit einer Woche bis spät in die Nächte hinein beschäftigt, denn daneben müssen ja die laufenden Angelegenheiten der Abteilung erledigt werden. Doch nicht zu lange mehr soll unsere unfreiwillige Trennung währen! Wie immer Dein Duniphan.«

Schweigend gab Florian das Kärtchen zurück.

Der Kapitän barg es in der Brusttasche, und für Augenblicke verschwand das undurchdringliche Lächeln aus seinen Mienen. »Das Nächste, was ich von meinem Freunde hörte, war dessen Tod ... Nein und tausendmal nein, er tötete sich nicht selbst – warum hätte er es auch tun sollen?«

»Er war arg verschuldet.«

»Arg verschuldet! Was verstehen Sie darunter? Die paar Läpperschulden waren nicht der Rede wert für den Sohn eines Duniphan senior, der Milliarden gebietet.«

»Und sich weigert, die Gläubiger zu befriedigen, sich schon früher weigerte, als sein Sohn noch lebte!«

»Weiß ich, kenne auch die Gründe. Dem Alten macht im Augenblick eine böse Konkurrenz das Leben sauer, und im vergangenen Jahr war bei ihm das Geld knapp. Seien Sie versichert, in einigen Monaten hat er die Krisis überwunden und wird wortlos die Verbindlichkeiten regeln. Eine Silbe von ihm, ein Federstrich hätte die ungeduldigen Wucherer sehr geduldig gemacht, aber dem Milliardär stieg die vorübergehende peinliche Geschäftslage zu Kopf, und so kehrte er den Unerbittlichen heraus. O, die Yankees sind Menschen von besonderem Schlag und müssen besonders beurteilt werden!« Er lachte quiekend auf: »Ein Mitglied der Familie Duniphan soll sich wegen ein paar tausend Dollars entleibt haben – wo es überdies wußte, daß ihm mein ganzes nicht unbedeutendes Vermögen jederzeit vom Herzen gern zur Verfügung stand! Die Freundschaft eines Japaners ist schwer zu erwerben, aber einmal erworben, ist sie grenzenlos.«

Florian fühlte, daß er auf diese Weise sein Ziel nicht erreichte. Der Gelbe hatte hundert Einwände und Behauptungen zur Hand, die sehr glaubhaft klangen, die man aber nicht sogleich überprüfen konnte und hinreichten, ihm im Redekampf einen Vorteil zu verschaffen. »Sei dem wie immer«, sagte Peter Florian, »Duniphan ist tot und wir haben Mac Douglas im Verdacht – in einem unbewiesenen Verdacht, und ich wäre Ihnen dankbar, wollten Sie mir darlegen, was nach Ihrer Meinung außer den recht allgemeinen Belastungsmomenten für seine Täterschaft spricht.«

»Gern. Der Leutnant war gestern bei mir, halb verrückt in seiner entsetzlichen Erregung, die er mit der Verfolgung durch Sie und eine bedenkliche Erkrankung seiner Braut begründete. Er redete wirres Zeug, daß ich ihn oft nicht verstand, und rückte endlich mit einer schier unglaublichen Zumutung an mich heraus. Auf ihn falle, jammerte er, der furchtbare Verdacht, seinen Kameraden vergiftet zu haben, und er sei außerstande, ihn zu entkräften, weil ein negativer Beweis auch hier fast unmöglich zu führen sei. Wie könnte er seine Unschuld dartun? Jetzt erst erfuhr ich, daß Archibald mit dem Wein, den ich ihm schickte, das Gift zu sich nahm, und die Tatsache, daß ich mittelbar, wenn auch unwissend, an dem Verbrechen beteiligt war, schmetterte mich beinahe zu Boden. Aber Mac Douglas ließ mir keine Zeit zu Grübeleien, sondern stellte überhastet das eindeutige Verlangen, ich sollte mich als Mörder meines Freundes bekennen ... Ich setze dabei ja nichts aufs Spiel, da mich die Zugehörigkeit zur japanischen Botschaft der amerikanischen Gerichtsbarkeit entziehe. Sie werden begreifen, Sir, wie mich das Ansinnen empörte. Die Szene, die darauf folgte, war grotesk – Mac Douglas sank in die Knie und beschwor mich im Namen seiner totkranken Braut, die noch mehr als er unter den Verfolgungen leide, aber ich wies ihm die Tür. Der Wahnsinnige wankte hinaus ... Doktor, was sagen Sie jetzt?«

Doktor Florian sagte gar nichts. In seinem Kopf wirbelte es, und er brachte gerade noch so viel Logik auf, daß er das Denkergebnis des vergangenen Tages umstellte: Der Kapitän Okamoto hatte den Commander nicht getötet ... Aber tat es Leutnant Mac Douglas? Seine Augen bohrten sich in den Schädel des Japaners und suchten einzudringen, als verkrieche sich dort die Wahrheit, die absichtlich verschleierte Wahrheit, die man ihm vorenthielt, die man bog und krümmte, die man zu einer unglaublichen Phantasie umformte. Einen Moment zweifelte er, ob der Gelbe nicht alles frei erfunden hatte – den Besuch des Leutnants, den Inhalt des Gespräches, das sie ohne Zeugen miteinander führten ... alles, alles ... In seinen Schläfen hämmerte es, seine Augen tränten beim scharfen Schauen, das ihm doch nicht mehr zeigte, als ein asymmetrisches, ungemein häßliches Gesicht, aus dem es grinste und das ein Geheimnis unerforschlich und verbrecherisch in sich schloß.

Der Kapitän ertrug gleichmütig den Blick der prüfenden Augen. Als Florian entmutigt die Schultern rollte, begann der Japaner wieder: »Ich begreife Ihre Zweifel, ginge es mir an Ihrer Stelle doch kaum anders. Wir beide lenkten zwar den Verdacht auf den unglücklichen Leutnant, der nicht davor zurückscheute, einen bevorzugteren Kameraden zu töten, aber der Einfall des Mannes, ich sollte seine Schuld auf mich nehmen, spottet jeglicher Vernunft. Hätte ich die wunderliche Szene nicht selbst erlebt, ich würde sie für unmöglich halten. Doch mit dem Wort ›Vernunft‹ kennzeichnete ich den springenden Punkt des Problems – die Tat geschah eben ohne Vernunft, und das Verhalten des Täters nachher entbehrt ihrer gleichfalls. Mac Douglas ist ein Narr und war schon lange unzurechnungsfähig, ein von einem Wahn Besessener, der den Ärzten und nicht vor Gericht gehört.«

»Und wie stellen Sie sich vor, Kapitän, daß der Leutnant zuwerke ging?«

»Mac Douglas mußte wissen, daß Duniphan in seinem Kasten stets einige Weinflaschen stehen hatte, um sich während der Arbeit anzuregen, und er erhaschte eine unglückliche Stunde, wo der Commander abwesend war. Er entwendete eine der Flaschen, entkorkte sie, träufelte das Gift hinein, schloß sie wieder und stellte sie in den Schrank zurück. Mein armer ahnungsloser Freund vollendete dann unwissentlich das traurige Zerstörungswerk.«

»Glauben Sie, daß Mac Douglas Mitschuldige hat? Etwa einen, der aufpaßte, daß er nicht gestört würde?«

»Die zwei Offiziere hatten allwöchentlich einmal gemeinsam Nachtdienst und einmal getrennt. Sowie Duniphan dienstfrei war, brauchte Mac Douglas Überraschungen nicht zu fürchten. Beider Kanzleien liegen nebeneinander und sind durch eine Tür unmittelbar verbunden. Aber gibt es einen Mitwisser und Gehilfen, so ist es der tückische alte Steuermann.«

Florian äußerte keinerlei Zustimmung und keinerlei Bedenken.

»Nun habe ich Ihnen nichts mehr mitzuteilen, Herr Doktor, meine Aufgabe erfüllte ich durch die Darlegung alles dessen, was ich weiß. Archibald Duniphan ist nicht mehr, niemand vermag ihn ins Leben zurückzurufen, und wir dürfen nicht einmal seinen Mörder zur Rechenschaft ziehen, denn dieser Mörder ist krank.«

Als Florian nach einer Pause des Überlegens antworten wollte, war er allein. Der Kapitän hatte sich still entfernt.

Einem plötzlichen Trieb nachgebend, kleidete er sich an und trat ins Freie. Er wollte einen langen Spaziergang machen. Das Gewoge und Getriebe unzähliger geschäftiger Menschen tat seinen gereizten Nerven wohl, und er sprang in den nächstbesten daherratternden Autobus.

Die Autolinie, in die er zufällig geraten, endete in den Flußauen des Potamac. Peter Florian stieg aus und lief, allein um der Bewegung willen, durch die beschauliche Landschaft. Er erhitzte sich, ermattete körperlich, und dabei rastete sich das Hirn aus. Langsamer, mehr bummelnd, setzte er die Wanderung stundenlang fort, und als er Hunger fühlte, kehrte er in einem kleinen Landgasthaus ein und bestellte eine ausgiebige Mahlzeit.

Die Sonne neigte schon dem bewölkten Westen zu, und so machte sich Florian mit Hilfe eines Taschenkompasses auf den Heimweg, außerstande anzugeben, ob er auf denselben höckrigen Steigen gekommen war, die er jetzt beschritt. Jedenfalls aber mußte der Feldweg früher oder später die Stadt erreichen, die irgendwo hinter Bäumen und Sträuchern, hinter Bodenwellen und Hügeln unsichtbar lag. Der Pfad krümmte sich zum Ufer des Potamac hin, und da entdeckte Peter Florian ein Plätzchen, das mit seinem kurzen Gras unter Weiden und am Wasser zum Ausruhen wie geschaffen war. Im Rücken gurgelten ihm die Wellen, rauschten gleichmäßig und besänftigend.

In geruhsamer Stimmung machte er sich nun daran, das Gespräch mit dem Japaner zu überdenken. Warum hatte es so grausam an seinen Nerven gezerrt? Weil ein verrückter Mörder, um sich der irdischen Gerechtigkeit, die auf ihn gar nicht Anspruch erhob, zu entziehen, einen unsinnigen Schritt tat, der die Vermutung seiner Schuld zur vollen Gewißheit steigerte? Wirklich zur Gewißheit? Florian grübelte über die Worte des Kapitäns, und da wußte er mit einem Male, weshalb sie ihn aus dem Gleichgewicht warfen: Sie hatten sein Inneres entspannt. Nur war die Entspannung zu plötzlich gekommen. Was er erstrebt, gesucht und ersehnt: Die Bestimmtheit, die hatte er jetzt. Und in dem Augenblick, da er sie hatte, beschlichen ihn abermals Zweifel. Ihm fielen Ungenauigkeiten und Fehler in der Darstellung Okamotos auf, die sich jedoch bei kritischem Überlegen als nebensächlich erwiesen. Natürlich waren die Aussagen des Kapitäns subjektiv gefärbt, und manches, was er sagte, sagte er so, wie er es vom Kommander gehört hatte. Aber alles, was Florian mit den eigenen Eindrücken vergleichen konnte, das war einwandfrei, war Tatsache. Alles? Hatte es auch mit dem Besuch Mac Douglas seine Richtigkeit? Und mit dem Gespräch? Und der abenteuerlichen Zumutung? Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich ... Okamoto mußte ja darauf gefaßt sein, dem Leutnant gegenübergestellt zu werden, um diesem ins Gesicht seine Aussage zu wiederholen, und da konnte es einem gewiegten Menschenkenner nicht schwer fallen, festzustellen, wer von den beiden die Wahrheit sagte und wer log – vorausgesetzt, daß Mac Douglas überhaupt zu leugnen suchte ...

In der milden Abenddämmerung näherte sich Doktor Florian den ersten Häusern Washingtons, und fernes Toben, Tosen, Wagengelärm und Maschinengepolter schlug dröhnend an sein Ohr. Einmal blieb er stehen und sagte laut ins schummrige Halbdunkel: »Leslie Mac Douglas wird nicht leugnen, er wird von den Tatsachen überwältigt gestehen. Vielleicht in den letzten klaren Minuten seines kranken Ichbewußtseins, um dann in ewigen, unheilbaren Wahnsinn zu verfallen ...«


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