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Und das Ergebnis davon?

I.

Also:

Wenn die Hauptgedanken Christi – die nämlich, daß Gott ein liebender Vater sei, der unser Leben mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit regiert – so sind, daß sie sowohl die Logik der menschlichen Vernunft als auch das Verlangen menschlicher Herzen befriedigen;

wenn christliche Ethik in Wirklichkeit nicht durch Engherzigkeit und Verneinung, deren sie nur zu oft angeklagt wurde, gekennzeichnet ist;

wenn Dogmen, die christlich zu sein behaupten, niemals von Christus oder seinen Aposteln gelehrt worden sind;

wenn das, was in den Riten der christlichen Kirche Magie und Aberglauben zu sein scheint, tatsächlich von dem alten Heidentum herrührt, während das übrige davon Adiaphora sind; Gebräuche, die gehalten werden können, wenn sie unsere Herzen wirklich himmelwärts lenken, und die wieder aufgegeben werden dürfen, wenn sie ihre Kraft in dieser Hinsicht verloren haben –

dann bekommt die Frage, ob das Christentum für heutige intelligente Menschen annehmbar sei, ein anderes Aussehen.

Dann kann es sein, daß das Christentum gerade die Religion ist, nach der sich die Menschheit jetzt sehnt.

Es ist wahr: eine Religion, die Riten und Zeremonien Wichtigkeit beimißt, ist verkappter Aberglaube. Es ist unleugbar: Religion, die die Seelen mit Ketten des Dogmas bindet, wird tief unreligiös. Es muß zugegeben werden: Religion, die als ihr einziges Ziel das eigene Glück kennt, ist reiner Egoismus. Aber es gibt doch eine andere Art von Religion.

Wahre Religion bedeutet: sich immer von neuem darauf zu konzentrieren, Gott zu suchen; es bedeutet, immer von neuem seinen Brüdern zu helfen versuchen.

Wahre Religion hat nichts von Engherzigkeit, nichts von Kleinlichkeit an sich – sie ist Sturm und Glanz und offene Weiten.

*

»Was bleibt aber vom Christentum übrig, wenn alles, was Sie veraltet nennen, abgetan wird?« – so werden viele fragen.

Es bleibt das Gebot, in das Christus einst seine ganze Lehre zusammenfaßte: »Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.«

Es bleibt auch Christus selbst.

Auch andere Religionen haben die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen verlangt; nirgends sonst aber hat die Menschheit diese Liebe – tätig, stark, alles umspannend – so verwirklicht gesehen, wie in dem Leben Christi.

Deshalb, wenn es tatsächlich, wie Emerson sagt, für die menschliche Seele eine Notwendigkeit ist

»Seinen Wagen festzumachen, an einem Stern –«

wo könnte sie einen heller strahlenden Stern finden, als den, über den vor achtzehnhundert Jahren einer der alten Kirchenväter schrieb: »Ein Stern leuchtete am Himmel, heller als alle Sterne, und sein Licht war unaussprechlich.«

II.

Seit einigen Jahrzehnten könnte die allgemeine Stellung der zivilisierten Welt den großen Lebensfragen gegenüber als Agnostizismus bezeichnet werden.

Agnostiker – das bedeutet jemand, der nicht weiß. Der französische Gelehrte Littré, der das Wort zuerst aufbrachte, verband es indes mit der Vorstellung von nicht wissen wollen, gar nicht das Verlangen haben, nach irgendeiner Kenntnis von dem Ziel der Menschen, von dem Zweck des Lebens, von dem Dasein Gottes zu streben, – nicht wollen, weil man überzeugt ist, daß ein solches Streben vergeblich wäre.

Deshalb ist ein Agnostiker ein Mensch, der sich das fernhält, was dem Leben seinen wichtigsten Inhalt verleiht.

Ein Agnostiker ist ein Mensch, der es unbequem findet, in den tiefsten Tiefen des Wissens zu graben, unbequem, zu den fernen Höhen der Gedanken aufzustreben.

Ein Agnostiker ist ein Mensch, der sich weigert, an dem großen Weltkampf zwischen Licht und Finsternis teilzunehmen – der es vorzieht, ruhig zuzusehen.

Aus verschiedenen Ländern sind Fälle berichtet worden von jungen Leuten, die sich selbst verstümmelten, um dem Kriegsdienst zu entgehen; und solche Taten haben, wenn sie bekannt wurden, einen Schrei der Entrüstung hervorgerufen. Aber ist es nicht auch Feigheit, sich selbst untauglich zu machen, um dem unendlich wichtigen Lebenskampf zu entgehen?

Untauglich?

Ja, es heißt wirklich, sich selbst zum Krüppel machen! Denn man bilde sich doch nicht ein, ein Mensch könnte sich davon zurückhalten, wozu er geboren ist – nach Hohem zu trachten – ohne daß er dadurch in seinem Innern etwas verwelken und hinsterben ließe. Das nämlich ist das Gesetz des Lebens: ein Organ, das nicht in Tätigkeit gesetzt wird, verkümmert.

Die Zivilisation unseres Zeitalters würde nicht so leer, so unfruchtbar sein, wie sie jetzt ist, wenn nicht allzuviele von denen, die kraft ihrer Begabung Führer sein sollten, es vernachlässigt hätten, diese Pflicht zu erfüllen, indem sie sich geistig selbst verstümmelt haben.

 

Es wird uns erzählt, wenn die indischen Brahminen den Zenith ihres Lebens erreicht haben, dann verlassen sie die Heimat, die Familie und die öffentlichen Ämter, um in der Einsamkeit über ewige Wahrheiten nachzudenken. Es wird uns ebenso gesagt, daß die Papuas in Australien, wenn sie das vierzigste Lebensjahr erreicht haben, sich in der Regel jener primitiven Magie ergeben, die für sie den Hauptinhalt der Religion bildet. Alle beide, die hochentwickelten indischen Weisen und die primitiven Australier, sind davon überzeugt, daß dieses Leben nur eine Episode in einem Dasein ist, das sich durch unermeßliche Zeiten erstreckt; und wie sie es natürlich finden, daß die Menschen in der Jugend und in dem mittleren Alter meist mit den Belangen des irdischen Lebens beschäftigt sind, so halten sie es auch für natürlich, daß man in dem Alter, wo sich das Leben seinem Ende zuneigt, sein Interesse auf die nächstfolgende Existenz konzentriert.

Was ist aber für uns Abendländer die regelmäßige Wandlung am Zenith des Lebens?

In der Regel kommen die Menschen in diesem Zeitabschnitt zu dem Schluß, daß doch die Hauptsache sei, sich dieses irdische Leben so angenehm wie möglich zu machen. Erfolg, Geld, eine soziale Stellung – das sind Dinge, nach denen zu trachten einen Wert hat. Und mit einem mitleidigen Lächeln schaut man auf die idealistischen Träume seiner Jugend zurück.

Herablassende Ironie der älteren Menschen geht an der Jugend nicht spurlos vorbei. Junge Menschen merken zu lassen, daß Enthusiasmus etwas Lächerliches ist, kann man als ein sicheres Mittel betrachten, jede Neigung in dieser Richtung auszurotten.

So hat seit Jahrzehnten eine Generation nach der andern – obgleich unbewußt – der nächsten Generation eine materielle Lebensanschauung eingeimpft.

*

Losungsworte kommen und gehen, und das Wort Agnostizismus wird jetzt nicht mehr so oft gehört wie vor einigen Jahrzehnten. Doch was in dem Wort liegt, ist noch immer da, und es hat zweifelsohne zu dem heutigen Triumph des Freudianismus beigetragen. Denn die Hinneigung zu jener Gedankenrichtung kommt meistens aus einer unklaren Überzeugung, daß in Beziehung auf geistige Werte nichts sicher sei, während in der genannten Theorie wir unbestreitbaren, durch die Wissenschaft garantierten Tatsachen gegenüberstehen. In »The Hibbert Journal« hat kürzlich ein Schriftsteller, W. J. Blyton, von der »intellektuellen Verwirrung und Ratlosigkeit der Nachkriegsgenerationen« gesprochen und den Freudianismus als eine der hauptsächlichsten Ursachen der »sehr häufig vorkommenden geistigen Entmutigung unter jungen Leuten« bezeichnet, die ihm täglich in der Frage entgegentrete: »Was hat es alles für einen Sinn?«

Der obengenannte Schreiber in »The Hibbert Journal« hebt hervor, daß auch von anderer Seite her moderne junge Menschen »mit verstärkten verneinenden Gedanken bombardiert werden«, nämlich von Seiten der »Relativität«, und zwar nicht als eine physikalische Theorie betrachtet, sondern als eine Gültigkeit auch »auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Werte und des Betragens«. Doch hat, wie auch W. J. Blyton hervorhebt, Einstein selbst seine Theorie niemals für diese Gebiete als wertgültig betrachtet, ja es sogar ausdrücklich für bedauerlich erklärt, wenn dieses Wort auf jenem Gebiet angewendet werde.

III.

Neben dem müßigen » Ich-kümmere-mich-nicht-darum-Agnostizismus« der Menge steht indes seit einigen Jahrzehnten ein ernster, bewußter »Wir-wissen-leider-nicht-Agnostizismus« hervorragender Denker und Gelehrter.

Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts hat der berühmte deutsche Physiologe Du Bois-Reymond in seinem Buche »Die sieben Welträtsel« hervorgehoben, daß die Wissenschaft niemals imstande sei – und es auch niemals sein werde – die Lebensrätsel zu lösen; sie werde niemals sagen können, wie das Leben entstanden ist, was Kraft ist, was Materie ist, was Bewegung ist, oder wie wir überhaupt irgendeine Sinnes-Wahrnehmung haben könnten.

Ein hervorragender französischer Mathematiker, Henri Poincaré, hat in seinem Buche »La science et l'hypothèse« darauf hingewiesen, wie unberechtigt es sei, von der Wissenschaft zu sagen, sie gebe eine unbedingte Sicherheit. »All unser Wissen,« sagt Poincaré, »ist auf Hypothesen aufgebaut. Selbst das Dasein der Materie ist eine Hypothese, es ist ein handlicher, in die Berechnungen einzuführender Koeffizient. Also in den Wissenschaften, die für die exaktesten und unwiderleglichsten von allen gehalten werden – in der Mathematik, der Geometrie, der Mechanik – bewegen wir uns in lauter Hypothesen; wir benutzen Begriffe, die sich unmöglich definieren lassen. So ist zum Beispiel das Gesetz von dem Beharrungsvermögen der Körper – eine der hauptsächlichsten Grundlagen der Mechanik – eine Hypothese, weil es weder eine Wahrheit a priori sein kann, noch beruht es auf durch Experimente nachweisbaren Tatsachen. Wurden jemals Versuche angestellt mit Körpern, die der Beeinflussung von jeglicher Kraft entzogen waren? Und wenn es geschehen ist, wie können wir wissen, daß diese Körper überhaupt nicht unter dem Einfluß von irgendeiner Kraft standen?«

Poincaré sagt auch: Ohne einen gewissen Glauben an die Kräfte des eigenen Denkvermögens sei es unmöglich, irgendeine Wissenschaft, selbst nicht die elementarste, zu pflegen. Und obgleich die physischen Gesetze im ganzen genommen unerschütterlich zu sein scheinen, so finde man doch, sagt der berühmte Gelehrte, in den letzten Ziffern Abweichungen, die schwer zu erklären seien und die uns zeigten, daß diese großen Gesetze nicht die ganze Wahrheit sprächen, sondern daß da ein Geheimnis sei, das sich uns entziehe.

Noch früher als die eben genannten Gelehrten hat der große englische Physiker Huxley eine ähnliche Ansicht ausgesprochen. Er schrieb: »Unser ganzes Wissen ist ein Wissen von dem Zustand des Bewußtseins. Nach allem, was wir wissen können, sind Kraft und Stoff nur Namen für gewisse Zustände unseres Bewußtseins. Wir nennen etwas notwendig, weil wir uns das Gegenteil nicht vorstellen können. Gesetz meint eine Regel, die sich immer bewährt hat. Deshalb ist es eine unbestreitbare Wahrheit, daß das, was wir die materielle Welt nennen, uns nur in der Form der idealen bekannt ist, und daß, wie Descartes sagt, ›,unsere Kenntnis von der Seele uns vertrauter und sicherer ist, als die Kenntnis unseres Körpers‹,. – ›, Materie ist in Wirklichkeit nur der Name für die unbekannte und hypothetische Ursache von Zuständen des eigenen Bewußtseins‹,.«

Huxley gab zu, daß die direkte Folge dieser Annahme »Kants kritischer Idealismus sei – – der feststelle, daß die Existenz der Seele das erste von allem Wissen und in Wirklichkeit das einzige absolute Wissen sei«.

*

Im Jahr 1930 hat der Herausgeber einer englischen Zeitschrift (»Everyman«) die heutige Geistesverfassung so charakterisiert: »Wir sind stolz auf unsere kritischen Fähigkeiten und unseren Skeptizismus gewesen. Wir sind sehr besorgt gewesen, uns nichts zu Herzen zu nehmen und nichts zu gründlich zu glauben. Alles ist angegriffen worden. Die Religion hat versagt. – – Sittlichkeit ist aus der Mode gekommen. Die Götter sind gestürzt worden. Und jetzt, nachdem wir alles in Frage gestellt haben, warten wir auf die Antwort. Hierin liegt die Hoffnung für die Zukunft.«

Ja, hierin liegt die Hoffnung. Es ist wahr, daß »die Zeit des nur destruktiven kritischen Geistes vorüber ist«. Die Menschheit weiß jetzt, daß Verneinungen die allermagerste Kost sind, von der man zu leben versuchen könnte.

IV.

»Mordzeit! Sturmzeit!
Es wehklagt die Welt. – –
Brüder erwürgen
in Wut einander. – –
Es träufelt Blut,
wo die Götter bauten. – –
Sterne fallen
flammend herab.«

Die alten Worte wurden wahrgemacht. Die Menschheit mußte sehen – wie in dem von der Edda vorhergesagten Weltuntergang – wie Sterne herabfallen und Götter sterben.

Manch ein funkelnder Stern, von dem man gedacht hatte, er würde der Menschheit die Wege zum Glück weisen, hat seinen Glanz verloren. Und die alten Götter, die angerufen wurden, als der Zar erklärte, daß »Der Gott Rußlands ein mächtiger Gott sei«, als der Kaiser den »Gott der Hohenzollern« pries, als die Engländer von »Gottes eigenen Engländern« sprachen und ein französischer Dichter schrieb: »Gott sagt: Ich bin ein guter Franzose« – erscheinen sie heute nicht alle miteinander tot und dahingegangen, wie der Kemos der Moabiter oder der Dagon der Philister?

Aber – ob auch Götter sterben mögen – die Menschheit kann nicht ohne Götter leben.

Damit die Menschen von den Schmerzen und Sorgen dieses Lebens nicht zu Boden gedrückt werden, von den Freuden, die diese Welt bieten kann, nicht hingerissen werden, müssen sie jenseits der irdischen Nebel etwas haben, zu dem sie aufschauen können.

Ja, die Menschheit sehnt sich nach neuen Göttern. Oder besser gesagt: nach einer neuen, starken Überzeugung von dem ewigen Gott, nach dem sie sich seit undenklichen Zeiten gesehnt hat.

Denn ist nicht in der Tiefe jeder menschlichen Seele etwas, das nach ihm, dem Allerhöchsten verlangt? Ist nicht in jedem Herzen ein Durst nach strahlender Größe, ein Wunsch nach lebendigem Licht?

V.

»Gesunde Menschen brauchen keine Religion,« sagten die früher angeführten Studenten in London.

Welch ein Irrtum!

Die geistige Gesundheit muß ein Verlangen nach vermehrtem Leben in sich tragen, geradeso wie es keine körperliche Gesundheit gibt, wenn nicht ein Verlangen nach Nahrung vorhanden ist.

Die Vermehrung des Lebens, wie könnte sie aber anders gewonnen werden, als durch den Umgang mit der größten Kraft, dem Ursprung des Lebens?

Vor etwa zwei Jahrzehnten schrieb ein russischer Schriftsteller: »Ihr Abendländer wißt ja gar nicht, wie alt ihr uns Russen vorkommt,« und erklärte diese Ansicht durch folgende Feststellung: »So oft zwei bis drei Russen zusammentreffen, fangen sie unfehlbar ein Gespräch über religiöse Dinge an, während zwei oder drei Europäer immer über Geschäfte oder Politik miteinander sprechen.«

In dem Lande des oben angeführten Schriftstellers scheint dies allerdings jetzt anders zu sein. Aber die Beobachtung, daß das Interesse an religiösen Gesprächen Jugendlichkeit des Gemüts andeutet, ist unzweifelhaft richtig. Gerade wie ein geistig gesundes Kind ein unerschöpfliches Interesse für seine Umgebung hat, so wird sich bei begabten und gesund denkenden jungen Leuten der starke, natürliche Wunsch regen, über den Sinn und den Ursprung des Lebens und über den Zweck ihrer eigenen Seelen etwas zu erfahren.

VI.

Ein neuer Tag für die Menschheit – ist es nicht das, worauf wir alle hoffen?

Ein neuer Tag mit neuen Idealen …

»Ein Ideal haben – das bedeutet, ein Recht zu leben haben,« schrieb ein französischer Denker vor einigen Jahren.

Wenn wir mit diesem Maß gemessen werden – haben wir denn, wir Abendländer, in der Tat das Recht zu leben?

 

Was hat den Verfall der hellenischen Zivilisation und den Fall des römischen Reiches herbeigeführt?

Die Geschichtschreiber haben darauf hingedeutet, daß in unzähligen Kriegen die wertvollsten Persönlichkeiten – die tapfersten, die gewissenhaftesten und die am treusten gesinnten – getötet worden seien. Sie haben die nachteiligen Folgen verminderter Geburten und einer beständigen Vermischung der Rassen hervorgehoben.

Diese Gesichtspunkte sind gewiß gerechtfertigt. Aber wer in der Geschichte der Menschheit einen Kampf zwischen verschiedenen Ideen sieht, wird in solchen Fällen zu der Ansicht gelangen, daß jene Zivilisationen ihre Kraft erschöpft hatten, weil ihr Reichtum an Ideen verbraucht war. Sie hatten gegeben, was sie zu geben hatten.

Gewiß gibt es für die Nationen wie für den einzelnen Menschen eine Möglichkeit zur Erneuerung durch eine Vertiefung der Ideen, von denen sie gelebt haben. Die Idee der Schönheit, auf der die Kultur Griechenlands aufgebaut war, wurde durch ihren größten Sohn dadurch vertieft, daß er hervorhob, daß auf dem Weg der Schönheit die menschliche Seele selbst das Allerhöchste erreichen könne. Aber Plato war im ganzen genommen der große Einsame. Sein Zeitalter und sein Volk ließen sich durch seine Ideen nicht umwandeln. Erst einige Jahrhunderte nach seinem Tod erstanden seine wirklichen Anhänger. In jener Zeit aber war die Lage schon verwickelt geworden durch das Aufkommen einer neuen Lebensanschauung, die in vielem höher reichte als die Platos.

Und Rom – welche großen Werte gab Rom der Menschheit?

War es nicht die Idee des Gesetzes, der Gerechtigkeit, der Ordnung? Alle die von Rom regierten und beeinflußten Nationen erhielten in dieser Richtung wertvolle Anregungen.

Als aber in dem weltbeherrschenden Imperium jene Bewegung entstand, die in einem tieferen Sinn als alle vorhergehenden die Idee der Gerechtigkeit vertrat, verfolgte Rom zuerst diese Bewegung, und später, als es sich die neue Lebensanschauung zu eigen machte, mischte es gerade die Kehrseite seines Gerechtigkeitsgefühls hinein: durch ein steifes Formenwesen trug es mächtig bei zu der verhängnisvollen Verzerrung des Christentums.

Und die moderne europäische Kultur – was ist ihre größte Gabe, die sie der Menschheit verliehen hat?

Zweifellos die hoch gesteigerte Entwicklung des Intellekts, die zu großartigen Ergebnissen in dem Bereich der Wissenschaft und des materiellen Fortschritts führte.

Den Geschichtschreibern eines künftigen Zeitalters wird es aber vielleicht klar sein, daß gerade in dem letzten Jahrhundert diese den Intellekt besonders betonende Zivilisation ihre Schicksalsstunde hatte: Gewogen und zu leicht erfunden. Während des neunzehnten Jahrhunderts kam die Religion der Wissenschaft von einer neuen Seite entgegen. Vorurteilslose Geschichtsforschung, eingehende Textkritik legten dar, daß die Orthodoxie nicht mit der Lehre Christi übereinstimme. Gleichzeitig wies eine neue Wissenschaft, das vergleichende Studium der Religionen, in jeder Religion Spuren nach von dem, was man eine Urreligion nennen könnte.

Was dann eingetreten sein könnte – eine neue Reformation des Christentums und gleichzeitig eine weitherzige Anerkennung, daß sich in jeder Religion ein Funken ewiger Wahrheit findet – das ist eben nicht eingetreten.

Es ist traurig, jetzt gewisse Aussprüche aus dem letzten Jahrhundert zu lesen, in denen die Kämpfer für eine neue Reformation ihre Überzeugung von deren raschem Herbeikommen darlegten. Heutigentags sind wir uns sehr klar darüber, was diese erwartete Reformation vereitelt hat. Teils war es der Egoismus der Kirche, die sich unwillig zeigte, ihre Macht aufzugeben, unwillig, ihre Fehler zuzugeben; teils ein wissenschaftlicher Materialismus, der die Religion als einen in der Geschichte der Menschheit überwundenen Standpunkt betrachtete und mit seiner Gleichgültigkeit in dieser Beziehung das Denken des Jahrhunderts negativ beeinflußt hat.

Also wurde da das neunzehnte Jahrhundert, das ein Zeitalter der größten Möglichkeiten war, in Beziehung auf geistige Entwicklung eine Epoche verpaßter Gelegenheiten.

*

Aber jetzt – jetzt ist die Stunde gekommen, das auszuführen, was das vergangene Jahrhundert versäumt hat.

Dies ist der Ruf der Zeit: Alles in der Religion, was nicht mehr lebensfähig ist, muß hinweggefegt werden!

Allerdings nach einer neuen Reformation ist schon mehr als einmal gerufen worden. Jetzt aber erscheint die Zeit für ein Vorgehen in dieser Richtung reifer als je zuvor.

Denn in diesem Augenblick herrscht ein weitverbreitetes Sehnen nach einem religiösen Lebensstandpunkt, und gleichzeitig nimmt die Überzeugung an Stärke zu, daß das Christentum, wie es jetzt meist gepredigt wird, unfähig ist, das Verlangen heutiger Menschen zu befriedigen.

VII.

Das aufzugeben, was irreleitend ist, genügt jedoch nicht. Es muß hervorgehoben werden, wie durch engherzige Begriffe von der Persönlichkeit und der Lehre Christi große Werte verdunkelt worden sind.

Als ein Mann wie Kierkegaard, der große dänische Denker, seinen heroischen Kampf um ein tieferes Verständnis für das Christentum ausfocht, gab es zwei Nachteile, die sein Lebenswerk weniger fruchtbar machten, als es sonst der Fall gewesen sein könnte.

Zu jener Zeit war es noch nicht durch eine vorurteilsfreie Exegese und eine gründliche Erforschung frühester Kirchengeschichte unbestreitbar klar dargelegt, daß das durch Kirchenkonzile im vierten Jahrhundert festgestellte Dogma Christi eigene Lehre nicht darstellte. Daher herrschte bei Kierkegaard, wie bei Pascal und anderen kämpfenden Geistern der Christenheit, die Ansicht vor: ein Christ sein bedeute, zu glauben, daß Gott den Menschen zwar mit einem Verstand geschaffen, ihm aber befohlen habe, auf seinem eigenen Verstand herumzutreten, sobald es sich um die größten Fragen handle.

Und verbunden mit der aus dieser Überzeugung geborenen dunklen Angst und dem Mißtrauen, nicht allein in die eigene Vernunft, sondern auch in alle Gaben der Natur, war eine Furcht vor der Schönheit und vor der Liebe zur Schönheit.

Verhängnisvoll und weitverbreitet war Jahrhunderte hindurch dieses Mißverständnis über den Wert der Schönheit. Und wenn man dessen üble Folgen – sowohl positive als negative – in Betracht zieht, mag man geneigt sein, mit der Ansicht des englischen Dekans Inge übereinzustimmen, daß eine Verschmelzung mit dem Platonismus das Christentum noch retten würde – welcher Gedanke vielleicht auch so ausgedrückt werden könnte, daß die Religion Christi aufs neue siegen werde, wenn klargestellt würde, in welchem Umfang das edelste in dem griechischen Ideal in Christi Persönlichkeit nachgewiesen werden kann.

Es hat frühe christliche Denker gegeben, die dem Gedanken, daß auch auf dem Wege der Schönheit der Höchste gesucht und gefunden werden könne, nicht ablehnend gegenüberstanden. Vielleicht kann eine solche Ansicht in dem Ausspruch von Clemens von Alexandria gefunden werden, der sagt, die Hebräer und die Griechen seien alle beide so von Gott erzogen worden, daß sie fähig würden, Christus anzunehmen. Später indes war diese tiefe Wahrheit zu sehr vergessen worden. Jetzt aber ist tatsächlich die Zeit gekommen, wo sie von den Dächern gepredigt werden sollte. Denn in vielen modernen Gemütern ist die tiefste Saite die, die durch das Plektrum der Schönheit zum Klingen gebracht wird.

*

»Machet meinen Altar doppelt so groß!«

Also lautete der Befehl, der den Einwohnern von Delos durch das Orakel gegeben wurde. Und die Delier, denen es nicht gelang, den Altar Apollos genau doppelt so groß zu machen, wandten sich flehend an Plato, von dem sie wußten, daß er in Geometrie wohl erfahren war.

Allein es mag sein, daß der wahre Sinn von dem Befehl des Gottes von Delos nicht durch Geometrie zu ergründen war; und der Sohn Aristons hat auch nicht unterlassen, dies anzudeuten.

Wo auch immer göttliche Weisheit den Menschen gegeben wird, stets wird sie allmählich mit menschlicher Kleinheit vermischt werden. Darum muß immer wieder von Zeit zu Zeit die Mahnung lauten: »Machet meinen Altar größer!«

Ein Altar – ist er nicht ein Sinnbild des Opfers? Und was wir zu opfern haben, wir Menschen, sind das nicht im Grunde wir selbst? Ein Opfer, das jedoch nicht Selbst-Auflösung bedeutet, sondern Selbst-Verwirklichung im höchsten Grade.

Nur langsam, Schritt für Schritt, gelangt der Mensch dahin, seine eigene Selbstsucht zu opfern. Und die Schritte, diesem Altar entgegen, können sein: Sehnen nach Schönheit, Suchen der Wahrheit, schöpferischer Trieb, Vaterlandsliebe, Liebe zu einem Menschen, wenn wir durch diese Liebe über uns selbst und unsere eigenen kleinlichen Belange hinausgehoben werden.

Allein nicht selten haben Menschen gemeint, Religion bedeute, von all diesem Sehnen des Herzens und der Seele Abstand zu nehmen, um sich vollständig der Anbetung der Gottheit zu weihen. Sie verstanden nicht, daß alles, was uns über uns selbst hinaushebt, ein Schritt auf den Altar zu ist, ja, zum Altar selbst gehört.

Also muß alles, was groß, alles, was schön ist, in unsere Religion mit eingeschlossen sein.

Wahrlich, in dieser unserer Zeit wäre die Mahnung begründet:

»Machet meinen Altar größer!«


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