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Das Dogma.

Die stellvertretende Sühne.

Als Jesus von Nazareth wie in einer Vision den entscheidenden Tag der Menschheit erblickt, spricht er von einem Gericht, in dem jeder gerichtet werden wird nach dem, was er getan oder unterlassen hat. Wer weder die Hungrigen gespeist, noch die Nackten bekleidet, noch die Kranken besucht, noch die Betrübten getröstet hat, der hat – wie Christus sagt – keinen Anteil am künftigen Leben.

Allein die orthodoxe Kirche lehrt: »Was Erlösung gibt, ist der Glaube des Menschen, daß der Schuldlose für die Sünden der Menschen gelitten hat. Der Gedanke, daß unsere eigenen Taten in dieser Hinsicht von irgendwelcher Bedeutung seien, ist zu verurteilen.«

Wir kennen alle die Erzählung von dem kleinen Mann, der die Sykomore erkletterte, um Jesus sehen zu können, und der freudig überrascht war, als Jesus ihm zurief: »Heute, Zachäus, werde ich in deinem Hause einkehren.« Als dieser Mann Jesum in seinem Hause empfangen und dessen Reden gehört hatte, da reifte in ihm ein neuer Entschluß. Er war ein Zöllner, einer von jenen, die höhere Steuern verlangten, als richtig war, und den Überschuß in die eigene Tasche steckten. Zachäus jedoch erklärte jetzt, er wolle in Zukunft diese Ungerechtigkeit unterlassen und jedem vierfältig wiedergeben, was er ihm zuviel abgenommen habe.

Was würde ein Prediger des offiziellen Christentums sagen, wenn er einer solchen Beichte und einem solchen Vorsatz gegenüberstünde? Er würde entgegnen: »Mein guter Zachäus, das ist ja alles gut und schön, aber das wichtigste für dich ist, einzusehen, daß keine Anstrengung, die du machst, kein gutes Werk dich der ewigen Seligkeit nur einen Schritt näher bringen kann – das tut nur der Glaube, daß Christus für dich gestorben ist.«

Aber welche Antwort hat Christus dem Zachäus gegeben?

Er sagte: »Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.«

Und als Christus nach seiner Auferstehung dem Jünger gegenübertrat, der ihn verleugnet hatte, sagte er da zu diesem: »Deine Sünde ist ausgelöscht, wenn du nur glaubst, daß ich am Kreuze geblutet habe, um die Strafe für deine Sünden zu tragen?« Nein. Nachdem er Petrus gefragt hatte, ob er seinen Herrn lieb habe und des Jüngers traurige, demütige Antwort entgegengenommen, richtete er an ihn dreimal die Mahnung: »Weide meine Schafe!«

Seine Liebe für seinen Herrn dadurch zu beweisen, daß er der Menschheit, die sein Herr liebte, half, das sollte wieder gutmachen, was er verbrochen hatte, das sollte die Sühne sein für seinen Abfall.

So viel weicht die Lehre der Kirche von der Lehre Christi ab!

*

Es ist wohlbekannt, daß sich diese verhängnisvolle orthodoxe Lehre von der Erlösung in der Hauptsache auf einige Worte des Apostels Paulus gründet.

Allein Paulus war ein temperamentvoller Mensch, der starke Worte und oftmals paradoxe Ausdrücke gebrauchte; außerdem sagt er selbst, er spreche zu jedem, wie es für diesen am angemessensten sei. »Unter den Griechen bin ich ein Grieche.« Darum ist es offenbar völlig ungereimt, einzelnen Aussagen dieses Mannes eine solche Bedeutung zuzumessen, daß darüber übersehen wird, was sein Meister über denselben Gegenstand gesagt hat: »Des Menschen Sohn – – wird einem jeglichen vergelten nach seinen Werken.«

Es ist dies um so ungereimter, als sich Paulus an andern Stellen über dieselbe Frage völlig anders ausspricht. Vor dem König Agrippa sagt er, er habe die Leute gelehrt, »daß sie Buße täten und sich bekehrten zu Gott und täten rechtschaffene Werke der Buße«. Er schreibt an die Römer: »Die das Gesetz tun, werden gerecht sein.« Und an die Gemeinde in Korinth: »Ein jeglicher aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit, sie sei gut oder böse.« Und an die Gemeinde in Ephesus: »Und wisset, was ein jeglicher Gutes tun wird, das wird er von dem Herrn empfangen.«

Wie wir wissen, stieß Paulus auf Widerstand nicht nur seitens der Juden, sondern auch seitens der Christen, die Juden gewesen waren und die lehrten, daß man immer noch opfern und auch in anderer Hinsicht das Gesetz Mose halten müsse; darum war es für ihn von größter Wichtigkeit, klar und deutlich zu machen, daß solche Opfer nicht länger nötig seien, denn das Opfer sei ein Vorbild gewesen, und das, was es vorgebildet habe, sei nun geschehen. Dabei legte er den Nachdruck darauf, Jesus sei als das Lamm zu betrachten, das als Sühnopfer für alle Ewigkeit geschlachtet worden sei. Wie die Israeliten, als sie Ägypten verließen, mit dem Blut des Opferlammes ihre Türpfosten bestrichen und dadurch, nach der alten Erzählung, von dem Todesengel verschont wurden, in derselben Weise wurde das Blut Jesu zur Erlösung für alle, die an ihn glauben.

Aus den Briefen des Apostel Paulus heraus ist die »Bluttheologie« entstanden, die das ethische Niveau des Christentums heruntergedrückt hat. Aber der erste Ursprung dieser Lehre ist viel älter.

Plato lehrte, Gott sei von dieser Welt durch einen tiefen Abgrund geschieden; Logos jedoch sei der Mittler, der Gott mit seiner Schöpfung vereine.

Philo Judäus, der vom Platonismus stark beeinflußt war, sah in dem Logos des Plato eine Hindeutung auf den Messias, den sein Volk erwartete. Und die ersten christlichen Philosophen, die früher Schüler des Platonismus gewesen waren, nahmen etwas von diesen Gedanken von Gottes weiter Ferne mit hinüber und merkten nicht, wie stark das von Christi Lehre von einem liebenden Vater abweicht. Allmählich erwuchs aus dieser vorausgesetzten Ferne des Gottes die Lehre von seinem Zorn über die Menschen, der nicht anders besänftigt werden könne, als durch die Bestrafung des Schuldlosen.

*

Die Lehre von der Rechtfertigung nur durch den Glauben an die stellvertretende Sühne hat es verursacht, daß Millionen und Millionen von Menschen Moral und Religion in einer verhängnisvollen Weise trennen. Ein Mann, der in der Politik den Grundsätzen der Gewalttat und Grausamkeit folgt, braucht nicht ein bewußter Heuchler zu sein, wenn er sagt, er sei ein Christ; aber diese seine Selbsttäuschung wäre nicht möglich, wenn nicht seit Jahrhunderten gesunde, ethische Instinkte durch die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung verdorben worden wären. Moral zu predigen hat wenig Wert, solange man zur selben Zeit predigt: daß eines Menschen eigene Taten ohne alle und jede Bedeutung seien, was das Erreichen des Ziels seines Daseins angehe, nämlich das Erlangen der ewigen Seligkeit.

Übrigens was dieses Ziel betrifft: ist das unausgesetzte Denken an die eigene Rettung wirklich ein Ziel, des Strebens einer suchenden und kämpfenden Seele würdig?

Die Buddhisten in ihrer Bildersprache sprechen von dem »kleinen Wagen« und dem »großen Wagen«. Das »kleine Wagen« bedeutet, vor allem auf die eigene Seligkeit bedacht zu sein, und sie kann nicht zu mehr führen, als zu einer verhältnismäßig ärmlichen Seligkeit. Das »große Wagen« dagegen bedeutet das Bemühen, seine Mitbrüder höher zu heben, ja die ganze Menschheit höher zu heben, einem Ziel von unendlicher Größe entgegen. Ihm, der groß denkt und groß handelt, wird der große Lohn zuteil werden.

Gewißlich hat das Christentum von den sogenannten heidnischen Religionen viel zu lernen.

Aber die Christen könnten gewißlich in dieser Hinsicht auch vieles von ihrem eigenen Meister lernen. Sein Leben war der Aufgabe geweiht, seine Mitbrüder zu Gott heraufzuheben, und er ermahnte seine Jünger, dieses sein Lebenswerk fortzusetzen. Niemals hat er das Suchen nach der eigenen Rettung als das einzige Ziel unseres Strebens hingestellt.

»Dem Vater gleich.«

I.

Ihre Lehre, Christus sei »dem Vater gleich«, stützt die Orthodoxie hauptsächlich auf elf Bibelstellen.

Wenn ich diese Bibelstellen einer kurzen Prüfung unterwerfe, so besteht, was ich zu sagen habe, vornehmlich aus Anführungen aus den Werken verschiedener Bibelforscher aus verschiedenen Ländern. Da die meisten Menschen aber sich nicht Zeit dazu nehmen, von den Ergebnissen neuerer unabhängiger Forschungen Kenntnis zu nehmen, möchte es nicht überflüssig sein, folgendes auszuführen:

Als hauptsächliche Stütze für das Dogma, Christus sei »die zweite Person in der Gottheit«, wird oftmals der Anfang des Evangelium Johannis angeführt: »Und Gott war das Wort.«

Die Beweiskraft dieses Satzes ist aber nicht unbestreitbar.

Ich will nicht betonen, daß die ersten vierzehn Verse des vierten Evangeliums meistens als erst später und von einem anderen Verfasser als das übrige herrührend angesehen werden. Als Einwand gegen die, welche an eine wörtliche Inspiration glauben, hat diese Ansicht freilich ihre Bedeutung. Allein für den, der als Wort Gottes das betrachtet, was der Geist als Wort Gottes empfindet – unabhängig von der Zeit, aus der es stammt – für den ist die oben genannte Annahme von geringer Bedeutung, selbst wenn sie bewiesen werden könnte. Jedenfalls liegt in diesen vierzehn Versen eine Erhabenheit, ein Ton von Inspiration, wovor jeder geistig erfassende Mensch sein Haupt in Ehrfurcht beugen wird.

Auf etwas anderes soll hier hingewiesen werden.

Wenn im Neuen Testament das griechische Wort für Gott – θεός – vorkommt, so hat es zuweilen den Artikel – ὁ θεός – der Gott; an anderen Stellen bleibt das Wort ohne Artikel. Gewöhnlich ist »ὁ θεός« mit »Gott« übersetzt worden. Unzweifelhaft richtig. Denn unter »der Gott« verstanden die Verfasser des neuen Testamentes ohne Zweifel den Gott, der ihnen der einzig wahre Gott war. Wenn das Wort »θεός« ohne den bestimmten Artikel steht, ist es in der Regel nicht mit »Gott«, sondern entweder mit »ein Gott« oder mit dem Eigenschaftswort »göttlich« übersetzt worden.

Diese Regel hat jedoch ein paar Ausnahmen, und eine davon findet sich im ersten Vers des Evangelium Johannis.

Die lutherische Übersetzung der beiden ersten Verse lautet: »Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott.«

Der griechische Text jedoch hat an der ersten und an der letzten Stelle ὁ θεός, in der Mitte θεός.

Wenn derselbe Grundsatz wie sonst aufrecht erhalten worden wäre, müßte die Übersetzung lauten:

»Das Wort war bei Gott, und das Wort war ein Gott (oder göttlich). Dasselbige war im Anfang bei Gott.«

Auch dem, der mit der Sprache des Neuen Testaments nicht vertraut ist, muß das klar sein: wenn ein Wort dreimal dicht nebeneinander vorkommt, und zweimal mit dem Artikel, einmal aber ohne ihn geschrieben ist, dann muß seine Bedeutung verschieden sein. Also: dieser Vers kann nicht – die Frage nach seinem Alter ganz beiseite gelassen – ein Beweis sein, daß die älteste Kirche an die Göttlichkeit des Wortes glaubte in dem Sinne, wie sie die Orthodoxie lehrt, das heißt, daß das Wort – oder Christus – dem Vater gleich sei.

Im vierzehnten Verse desselben ersten Kapitels lesen wir: »Und das Wort ward Fleisch … und wir sahen seine Herrlichkeit.« Aber der achtzehnte Vers desselben Kapitels lautet: »Niemand hat Gott je gesehen.«

Hätte der Verfasser der ersten vierzehn Verse gemeint, das Wort sei nicht »ein Gott« (göttlich), sondern sei Gott, dann stünde er in entschiedenem Widerspruch mit dem Evangelisten, der den achtzehnten Vers geschrieben hat.

Jetzt jedoch besteht kein Widerspruch zwischen diesen beiden. Denn ihnen beiden ist Christus wohl »ein Gott«, aber nicht »der Gott«.

 

Im Evangelium Johannes, Kapitel 20, Vers 28, ruft der Apostel Thomas seinem auferstandenen Meister gegenüber: »Mein Herr und mein Gott!«

Es gibt Religionsgeschichtsforscher, die in diesem Ausdruck einen bewußten Protest sehen wollen gegen die in Syrien und Kleinasien und später auch bei den Römern verbreitete Sitte, den Kaiser mit dem Namen »Herr und Gott« zu begrüßen. Diese Hypothese, ob sie wahrscheinlich ist oder nicht, macht uns aber jedenfalls darauf aufmerksam, wie sehr die Zeitgenossen Christi daran gewöhnt waren, das Wort »Gott« auf Menschen angewendet zu sehen, und wie wenig sie daran gedacht haben mögen, dieses Wort immer nur in Verbindung mit dem Begriff Gott als dem Höchsten zu gebrauchen.

Überdies hatten die Juden in ihren eigenen Schriften viele Beispiele, wo der Name »Gott« sowohl Engeln wie Menschen beigelegt wird.

Psalm 95, 3 steht: »Denn der Herr ist ein großer Gott, und ein großer König über alle Götter.« Und Psalm 97, 7: »Betet ihn an (den Herrn) alle Götter!« Psalm 82, 1: »Gott stehet in der Gemeinde Gottes, und ist Richter unter den Göttern.«

»Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern!« singen Moses und die Israeliten. Und als die Wahrsagerin von Endor Samuels Geist sieht, sagt sie: »Ich sehe einen Gott heraufsteigen aus der Erde.«

Dieser Sprachgebrauch der Juden, das Wort »Gott« zu benützen, um ein hohes und heiliges Wesen zu bezeichnen, scheint zu Christi Zeit nicht erloschen gewesen zu sein, denn Jesus selbst führt ohne ein Wort des Tadels eine Stelle aus den Psalmen an: »Ihr seid Götter.«

Was den oben angeführten Ausruf des Apostel Thomas anbelangt, so ist es augenscheinlich, daß die dabei Anwesenden ihn keineswegs als eine aufdämmernde Erkenntnis von Christus als Gott auffaßten, denn keiner der Apostel hat später in seinen Predigten – soweit sie uns erhalten sind – die Vorstellung erraten lassen, daß Christus Gott sei.

In der Apostelgeschichte, wo die Apostel immer wieder vor dem Hohen Rat und vor Menschenansammlungen Zeugnis ablegten von dem, was sie für den Kern des neuen Evangeliums hielten, treffen wir Ausdrücke wie: Gottes Knecht Jesus (3, 13; 3, 26). Gottes »heiliger Knecht Jesus« (4, 27; 4, 30) und (2, 22) »den Mann von Gott, unter euch mit Taten und Wundern und Zeichen erwiesen, welche Gott durch ihn tat unter euch«. Es wird dargelegt (2, 33), »daß er empfangen hat die Verheißung des Heiligen Geistes vom Vater« und (5, 31) »daß Gott ihn erhöhet hat zu einem Fürsten und Heiland«, daß »Gott ihn von den Toten auferweckt hat«, daß »Gott denselbigen Jesum von Nazareth gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und Kraft«. Und: »daß Gott diesen Jesum, den ihr gekreuzigt habt, zu einem Herrn und Christ gemacht hat« (2, 36).

Was den Evangelisten betrifft, der allein den Ausruf des Apostels Thomas übermittelt hat, so ist offenbar, daß auch er diesen Ausspruch nicht als die richtige Erklärung der Natur Christi angesehen hat, da er gleich drei Verse später erklärt, dieses Evangelium sei geschrieben, »daß ihr glaubet, Jesus sei Christ, der Sohn Gottes« (20, 31). Nie vorher ist im Evangelium Johannes Christus »Gott« genannt worden; darum hätte der Verfasser natürlich den von Thomas benützten Ausdruck betont, indem er verkündigte: »Sehet, von nun an werdet ihr wissen, daß Jesus Christus Gott ist,« wenn er dieser Meinung gewesen wäre.

Wahrscheinlich erblickten alle die Apostel bei jener Gelegenheit in den Worten des Thomas den Ausbruch eines raschen, überwältigenden Gefühls von anbetender Liebe, inniger Freude und tiefem Kummer seiner früheren Zweifel wegen. Ihnen lautete das Wort »Gott«, an den Sohn Gottes gerichtet, weder fremdartig noch sonderbar, waren sie doch daran gewöhnt, in ihren heiligen Schriften es andern gegenüber und von andern als dem Ewigen, dem Einzigen, angewendet zu sehen.

 

Im vierzehnten Kapitel des vierten Evangeliums sagt einer der Jünger zu Jesus: »Herr, zeige uns den Vater, so genüget uns!« Und Jesus antwortet ihm: »So lange bin ich bei euch, und du kennest mich nicht, Philippus? Wer mich siehet, der siehet den Vater.«

Dieser Ausspruch braucht indes, selbst wenn wörtlich angeführt, durchaus nicht den Begriff von Christus als »dem Vater gleich« einzuschließen.

Christus, die reinste Emanation des Vaters, konnte – und kann – sterblichen Menschen einen klareren Begriff von Gott beibringen, als ihnen sonst möglich wäre; deshalb hebt er in seiner Antwort auf Philippus' kindlich anthropomorphisches Verlangen richtigerweise hervor, daß, soweit dieses Verlangen gewährt werden könne, es schon erfüllt sei.

 

Im ersten seiner Briefe sagt der Apostel Johannes, nachdem er von dem »Wahrhaftigen« und »seinem Sohn Jesus Christus« gesprochen hat: »Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.« Rein formal betrachtet, kann dieser Ausspruch auf Christus bezogen werden. Aber er kann sich auch auf den Vater beziehen, der gerade vorher »der Wahrhaftige« genannt worden ist. Und wenn in Betracht gezogen wird, was vorher in diesem Briefe gesagt ist, so muß sich der fragliche Ausdruck notwendig auf den Vater beziehen, da sonst der Apostel am Ende seines Briefes seinen vorherigen Behauptungen direkt widerspräche. Denn er hat erklärt: »Welcher nun bekennt, daß Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibet Gott und er in Gott.«

Der Apostel verlangt also hier nur das Bekenntnis, daß Jesus der Sohn Gottes ist – ein Bekenntnis, das zu allen Zeiten von allen christlichen Kirchen und Sekten abgelegt worden ist.

 

Wenn Johannes als der Verfasser der Offenbarung angenommen wird, so ist der Seher von Patmos noch für einen andern Ausspruch verantwortlich, der als Stütze des obengenannten Dogmas gilt.

In der Offenbarung 1, 8 lesen wir die Worte: »Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende«; 1, 11 steht: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte«, und 22, 13: »Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte«.

In Vers 8 des ersten Kapitels folgt nach jenen Worten: »spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige«.

Die angeführten Worte in 1, 11 scheinen dagegen von Christus gesprochen zu sein. Es wurde aber von den gelehrtesten und gewissenhaftesten Forschern – wie Tischendorf und Lachmann – bewiesen, daß sie eine Fälschung sind und von irgendeinem Abschreiber eingefügt wurden.

Von den Worten 22, 13 ist festgehalten worden, sie müßten von Christus gesprochen worden sein; hervorragende Forscher jedoch, wie die beiden eben genannten, sind der Ansicht, sie müßten als von dem Vater selbst gesprochen angesehen werden, oder von einem Engel, der ihn vertrat. Jedenfalls der entscheidende Punkt ist dieser: Die Worte 22, 13 stünden in einem merkwürdigen Widerspruch zu dem übrigen Inhalt der Offenbarung, wenn sie – wie die Orthodoxie es haben will – als von Christus gesprochen ausgelegt werden sollen. Denn sonst ist in diesen Offenbarungen überall ein deutlicher Unterschied zwischen Vater und Sohn, was Macht und Herrlichkeit betrifft, festgehalten. Christus ist geschildert als in die volle ihm gebührende Herrlichkeit eingegangen, doch wird er der »treue und wahrhaftige Zeuge« genannt, »der Anfang der Kreatur Gottes«, der »uns gemacht hat – – – zu Priestern vor Gott und seinem Vater«.

In der Offenbarung, wie überall im Neuen Testament sind die Ausdrücke des alten christlichen Glaubens, daß der Sohn dem Vater nicht gleich sei, klar und unzweideutig, während die Stellen, von denen man behauptet, daß sie den orthodoxen Gedanken unterstützen, unklar und zweideutig sind und bisweilen sich als offenbare Entstellungen des ursprünglichen Textes herausstellen.

II.

Ein Teil der sogenannten Beweise für die orthodoxe Lehre ist den Schriften des Apostels Paulus entnommen, und Stellen aus der Apostelgeschichte und aus seinen Briefen werden angeführt. Apostelgeschichte Kapitel 20, 28 spricht Paulus von der »Gemeinde Gottes, welche er durch sein eigenes Blut erworben hat«. Der ursprüngliche Text jedoch, wie er von Forschern wieder hergestellt worden ist, spricht von der »Gemeinde des Herrn, die er durch sein Blut erworben hat«.

Wer sich erinnert, worauf schon hingewiesen wurde, daß nämlich in der Apostelgeschichte die Auffassung Jesu als Diener Gottes überall vorherrschend ist, muß, auch wenn er nicht die philologischen und historischen Einsichten hat, die nötig sind, um zu entscheiden, welche Lesart die richtige ist, dennoch zu dem Schluß kommen, daß die orthodoxe Lesart in 20:28 kaum die ursprüngliche sein kann. Wenn in einem Werk von so klarem und einfachem geschichtlichem Charakter wie die Apostelgeschichte ein Mann, der für den Helden der Erzählung angesehen werden muß, plötzlich in einer wichtigen Frage eine Ansicht äußert, die mit dem übrigen Inhalt des Werkes in Widerspruch steht, dann müßte diese plötzliche neue Ansicht begründet werden, wenn der Verfasser des Buches nur eine Spur von Logik im Leibe hätte.

 

In seinem Brief an die Philipper schreibt Paulus im zweiten Kapitel im sechsten Vers: »ob er (Jesus) wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein«.

Aber auch hier fehlt im ursprünglichen griechischen Text vor »θεός« der Artikel. Also sagt der Apostel hier nicht, daß Christus »Gott gleich sei«, sondern daß er es nicht für einen Raub hielt, einem Gotte gleich oder göttlich zu sein.

 

Im Römerbrief, im neunten Kapitel, Vers fünf steht: »welcher auch sind die Väter, und aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit.«

Erforscher des Bibeltextes wie Lachmann und Tischendorf haben jedoch nach gründlicher kritischer Prüfung des Textes den genannten Vers wie folgt übersetzt: »welcher sind die Väter, von denen nach dem Fleisch Christus herkommt. Der Gott, der über allem ist, sei gelobt in Ewigkeit.«

Im zweiten Korintherbrief (5, 19) steht: » Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber.«

Zwei Verse früher jedoch sagt der Apostel: »Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur.«

Hier drückt sich dieselbe geheimnisvolle Einheit aus von allem, was in Gott ist.

 

Im ersten Brief an Timotheus Kapitel 3, 16 schreibt – in der geläufigen Übersetzung – der Apostel: »Gott ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt von der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.«

In »Bibelns lära om Kristus« von dem berühmten schwedischen Dichter und Forscher Viktor Rydberg wird aber die Geschichte von jenem Bibelvers gegeben.

In den alten Textquellen wird hier geschrieben: » Er, der offenbar geworden ist« usw. Er, der heißt in der griechischen Sprache δς oder mit Unzialbuchstaben geschrieben ΟΣ /. Nun ist es auffallend leicht, das griechische Ο in θ zu ändern. Man sagt, es wäre der Bischof Makedonios in Konstantinopel gewesen, der gegen Ende des fünften Jahrhunderts zum ersten jenen kleinen Strich dahinsetzte. θΣ ist aber eine gewöhnliche Verkürzung von θΕΟΣ = Theos = Gott. Makedonios wurde wegen dieser Fälschung angeklagt und von dem damaligen Kaiser abgesetzt. Aber seine Fälschung wurde damit nicht ausgetilgt.

In Bibelübersetzungen der letzten Zeit – z. B. in der von Dr. Hermann Menge – ist aber der ursprüngliche Wortlaut wiedergegeben, indem der oben zitierte Ausspruch mit Er, der beginnt.

 

Dagegen gibt es viele Stellen, wo Paulus auf das nachdrücklichste sagt, daß Christus nicht Gott sei.

In seiner Rede vor den Athenern sagt er, daß »Gott einen Tag gesetzt hat, auf welchen er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, in welchem er's beschlossen hat«. Er spricht davon, wie schließlich der »Sohn selbst untertan sein werde dem, der ihm alles untergetan hat«, er nennt Gott den »Seligen und allein Gewaltigen, den König aller Könige und den Herrn aller Herren. – Er, der allein hat Unsterblichkeit.« Er spricht von »Gott, der alle Dinge lebendig macht« – – und von Jesus Christus, der unter Pontius Pilatus »bekannt hat ein gutes Bekenntnis«. Er sagt, daß wir nur »einen Gott haben, den Vater – – und nur einen Herrn, Jesum Christum«. – »Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus.«

Wie Petrus und die andern Apostel, wiederholt auch Paulus immer wieder, daß Gott Christum auferweckt habe, nicht, daß er aus eigener Kraft auferstanden sei. Wie Johannes sagt er, niemand habe Gott je gesehen – obgleich er selbst Jesus sah, nachdem dieser die Erde verlassen hatte und sich im Reiche seiner Herrlichkeit befand; er sagt: Gott sei Christi Haupt, wie Christus das Haupt der Gemeinde ist. Also steht nach der Ansicht des Paulus Gott so hoch über Christus, wie Christus über uns Menschen steht.

 

Der Verfasser des Hebräerbriefs führt (1, 9) aus einem der Psalmen an: »Gott, dein Stuhl währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. – – Darum hat dich Gott, dein Gott, gesalbet mit Freudenöl mehr denn deine Gesellen.«

Wenn zum Messias gesagt wird, »dein Gott«, so muß das doch bedeuten, daß der Messias selbst nicht der Allerhöchste ist.

Übrigens geht aus verschiedenen Stellen des Hebräerbriefs hervor, daß sein Verfasser durchaus nicht der Lehre von der Göttlichkeit Christi im orthodoxen Sinn geneigt ist. Er schreibt zum Beispiel, Christi Gebet sei erhört worden, weil er »Gott fürchtete«, und daß Gott ihn »vollkommen gemacht« habe. Er spricht auch von unserem Hohenpriester Jesus Christus, »der dem getreu war, der ihn eingesetzt hatte«; ebenso: »Wir haben einen solchen Hohenpriester, der da sitzet zu der Rechten auf dem Stuhle der Majestät im Himmel und ist ein Pfleger des Heiligen …« Das griechische Wort, das hier mit Pfleger wiedergegeben wird, wird in anderen geläufigen Übersetzungen, wie die englische und die schwedische, mit Diener verdolmetscht.

III.

Das wichtigste Zeugnis in der vorliegenden Frage ist jedoch das, was Jesus selbst sagte.

»Der Vater ist größer als ich,« spricht er. »Das Wort, das ihr höret, ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich gesandt hat.« »Ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt.« »Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, denn was er siehet den Vater tun.« »Ich bin vom Himmel gekommen, nicht, daß ich meinen Willen tue, sondern des, der mich gesandt hat.« »Von Gott bin ich ausgegangen, ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern er hat mich gesandt.« »Ich tue nichts von mir selber, sondern wie mich mein Vater gelehret hat, also rede ich.« »Ich habe vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, daß ich es tun soll.«

Gewiß hat er gesagt: »Wer mich sieht, der siehet den, der mich gesandt hat«; aber er sagte auch zu seinen Jüngern: »Wer euch höret, der höret mich.« Gewiß hat er gesagt: »Ich und der Vater sind eins«; aber er hat auch gesagt: »Auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns eins seien.« »Ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen seien und eines …«

Also, wenn Jesus mit den angeführten Worten: »Ich und der Vater sind eins« und »wer mich siehet, der siehet den Vater«, sich selbst als Gott verkündigen will, dann verkündet er auch seine Jünger als Christusse – – das heißt, daß auch sie Gott wären.

*

Der gelehrteste der Kirchenväter, Origenes, der etwa zweihundert Jahre nach dem Tode des Menschensohnes seine sieben Abhandlungen über den christlichen Glauben schrieb, nennt Christus allerdings Gott, legte aber großen Nachdruck darauf, daß der Vater größer ist. Für Origenes ist der Sohn das Abbild des Vaters, der uns Menschen in gewissem Grade die Natur des Vaters kundtun sollte, die uns sonst in ihrer unendlichen Größe völlig unverständlich gewesen wäre. Während Origenes lebte, fiel es keinem Menschen ein, ihn wegen dieser seiner Ansicht der Irrlehre zu beschuldigen. Im Gegenteil, er wurde für eine der Säulen der Orthodoxie angesehen. Denn zu seiner Zeit war diese ursprüngliche Ansicht über die Beziehungen zwischen dem Sohn und dem Vater noch in der Kirche vorherrschend.

 

Später, als sich allmählich eine andere Ansicht durchsetzte und die bleibende wurde, gab es eine Beweisführung, die auf viele einen starken und entscheidenden Eindruck machte. Es wurde gesagt: »Wenn du Christus nicht als den höchsten Gott ehrst, dann liebst du ihn nicht.«

Diese Beweisführung wurde immer und bis in unsere Zeit wiederholt, und sie hat stets einen tiefen Eindruck auf fromme und feinfühlende Seelen gemacht.

Wenn ich aber solches höre, dann denke ich an eine alte Geschichte:

Jener französische König, der von seinen schmeichlerischen Untertanen »Sonnenkönig« genannt wurde, sagte einmal zu seinen Höflingen, ein Engländer, der damals sein Gast war, würde sich ihm gegenüber artiger benehmen als sonst jemand an seinem Hofe – was die Höflinge für unmöglich erklärten. Als einige Tage später der König eben in seine Kutsche steigen wollte, befahl er einem aus seiner Umgebung, vor ihm einzusteigen. Der Höfling wehrte ab, entsetzt beim bloßen Gedanken an eine solche Vermessenheit. Wie er, so auch alle andern. Der König richtete dieselbe Aufforderung an den Engländer. Dieser gehorchte sofort. »Sie sehen, meine Herren, daß ich recht hatte,« sagte der König. »Ist es nicht die größte Höflichkeit, zu tun, wie ich befehle?«

Was ehrt Christus am meisten: ihn für das zu halten, was er selbst sagte, daß er sei, oder ihm einen Platz als Gott gleich zu erkennen, von dem er selbst gesagt hat, daß er ihm nicht zukomme?

*

Swedenborg, der ein ganz entschiedener Gegner des Dogmas von der Dreieinigkeit war, versuchte die Frage von der Göttlichkeit Christi so zu erklären, daß Christus der zur Erde herabgestiegene Vater selbst sei und daß außer Christus kein Gott existiere. Von der Frage ganz abgesehen, wie jemand sich den Unendlichen, den Erhalter des Weltalls, dreißig Jahre lang auf Erden lebend vorstellen könnte, so müßte hier nur auf den Ausgangspunkt Swedenborgs hingewiesen werden: Er sagt in »Vera Religio Christiana«, daß niemand aufrichtig und innig zu einem Gott beten könne, den er sich in seinen Gedanken nicht vorzustellen vermöge; deshalb sei Gottes einzige Möglichkeit, die Menschen dazu zu bringen, ihn zu lieben und anzubeten, die gewesen, als ein Mensch auf die Erde herabzusteigen. Denn darnach hätten die Menschen die Möglichkeit, sich wie in einer inneren Vision ihren Gott vorzustellen.

Über das angeborene Verlangen des Menschen, sich das vorzustellen, was er nicht sehen kann, kann kein Zweifel herrschen. Und Sekten, wie die der Herrnhuter Brüder, von denen, obgleich sie weit davon entfernt sind, die eben angeführte Swedenborgische Theorie anzunehmen, doch beinahe gesagt werden kann, daß sie Christus als ihren einzigen Gott verehren, zeigen, daß die psychologische Beweisführung des schwedischen Sehers eine gewisse innere Wahrheit enthält. Aber selbst wenn uns die innere Vision von Christus näher zu Gott hinbringt, so entbindet uns das doch nicht von der Verpflichtung, uns immer wieder daran zu erinnern, daß der Unendliche unermeßlich über unser Verständnis hinaus geht – wenn auch nicht über unsere Liebe.

Drei und doch Einer.

»Alles Vollkommene hat drei Teile,« lehrte die alte ägyptische Mythologie. Und Plutarch berichtet, daß nach diesem Grundgesetz die alten Ägypter jede gute Gottheit für dreifach ansahen, während der böse Gott einer und ungeteilt war.

Dieser Begriff von der Heiligkeit der Zahl drei findet noch in mehreren anderen Mythologien Ausdruck. Der Brahmanismus hat seine Dreieinigkeit: Brahma, Wischnu, Schiwa. Die Hellenen sprachen von drei Weltherrschern, die einander gefolgt seien: Uranus, Kronos und Zeus, und von einer Teilung der Welt in drei Teile unter Zeus, Poseidon und Pluto. In der alten germanischen Mythologie finden wir Wotan und seine zwei Brüder Wili und Weh, die miteinander die Welt schufen. Die Gallier glaubten an Teutates, Esus und Taranis als Herrscher der Welt, und die Irländer an Breß, Balar und Tethra. Sowohl die hellenische Mythologie als auch der alte nordische Glaube hatten drei Schicksalsgöttinnen.

Wenn die Pythagoräer in ihrer Zahlenlehre dieser alten Heilighaltung der Zahl drei einen philosophischen Grund geben wollten, erklärten sie, die Eins sei die Zahl der Gottheit, die in sich alle andern Zahlen einschließe, während die Zwei die Materie bedeute, die aus der Einheit ausgegangen und darum die Zahl der Auflösung, der Uneinheit sei. Aber die Drei, die sowohl die Eins wie die Zwei in sich begreife, bedeute die Wiedervereinigung der geläuterten Materie mit der ursprünglichen Einheit.

Die »dreifache unbekannte Finsternis« war der Name der Gottheit im Orphismus. Und der Begriff von der Heiligkeit der Zahl drei war so weit verbreitet, daß man wohl annehmen darf, der Trieb, sich nach einer dritten Person umzusehen, die die heilige Zahl vervollständige, sei gegeben gewesen, sobald die Menschen anfingen, Christus Gott zu nennen.

Professor Samuel Sharpe, der berühmte Ägyptologe, weist in seinem Werk »Ägyptische Mythologie und Ägyptisches Christentum« nach, bis zu welchem Grad in alter Zeit Ägypten einen Einfluß auf die religiösen Gedanken in Hellas und Rom ausübte. Dieser Einfluß ist schon bei Herodot zu erkennen, der die Ansicht vertritt, die Hellenen hätten ihre meisten religiösen Begriffe aus Ägypten empfangen. Selbst zu der Zeit, wo Ägypten seine politische Unabhängigkeit verloren hatte und dem römischen Weltreich gehörte, wurde es als die Wiege der Religion verehrt. Mit ihrer großen Hochachtung vor Überlieferungen waren die Römer besonders geneigt, die ägyptische Mythologie für heilig und als von den Göttern stammend anzusehen.

Wenn wir bedenken, daß die Ägypter, was die Heiligkeit der Zahl drei anbelangt, weiter gingen als alle andern und nur den bösen Gott nicht für dreifach erklärten, so muß es ganz selbstverständlich erscheinen, daß in Ägypten früher und stärker als anderswo ein Verlangen nach der Dreieinigkeit auch im Christentum eintrat.

Zu gewisser Zeit war eine Neigung vorhanden, die Jungfrau Maria als die dritte Person in der Gottheit aufzustellen. Später wurde aber der Begriff vom Heiligen Geist als der dritten Person vorherrschend.

Was das Dogma, Gottes Geist sei »die dritte Person in der Gottheit« betrifft, so sei hier an einige Bibelstellen erinnert:

»Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne den Geist des Menschen, der in ihm ist? Also auch weiß niemand, was in Gott ist, ohne den Geist Gottes.« Paulus vergleicht hier das Verhältnis zwischen Gott und seinem Geist mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Geist. Gewiß aber wird niemand behaupten wollen, der Mensch und sein Geist seien zwei Personen.

Im neunzehnten Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, Paulus sei mit einigen Jüngern zusammengetroffen und habe gefragt: »Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, da ihr gläubig geworden seid?« Sie sprachen zu ihm: »Wir haben auch nie gehört, ob ein Heiliger Geist sei.«

Wohl wird erzählt, daß diese Männer zu Ephesus nur »die Taufe des Johannes« empfangen hatten. Dennoch werden sie »Jünger« genannt, und es wird uns gesagt, daß sie »glaubten«. Trotzdem wissen sie nichts von dem Heiligen Geist. Gibt es einen besseren Beweis, daß die älteste Kirche – die Gemeinde der Apostel – nicht lehrte, der Heilige Geist sei Gott?

Meint wirklich irgend jemand, ein Mensch, der niemals die Lehre von der Dreieinigkeit gehört hätte, könnte von sich aus, nur durch Bibellesen, zu dem Schluß kommen, sie lehre einen dreieinigen Gott? Wer ehrlich sein will, muß diese Frage mit »nein« beantworten. Und der beste Beweis, daß dies keine Lehre der ersten Christen war, ist der: in den ersten zwei Jahrhunderten nach Christus wird sie von keinem der christlichen Schriftsteller erwähnt.

Erst etwa dreihundert Jahre nach Christus war die Lehre von der Dreieinigkeit völlig entwickelt. Und auf dem Konzil zu Nizäa wurde ihre Anerkennung durchgesetzt durch einen Kaiser, der fand, die leichteste Art, den unaufhörlichen Streitigkeiten ein Ende zu machen, sei die, das anzunehmen, was die gebieterischen Prälaten von Alexandrien lehrten. Im Jahre vor dem Konzil zu Nizäa war Bischof Hosius, der vertraute Freund des Kaisers Konstantin, nach Alexandrien gekommen mit einem Brief des Kaisers, worin dieser die Bischöfe und Priester ermahnte, nicht zu streiten und zu kämpfen »wegen solcher Kleinigkeiten« wie die verschiedenen Ansichten über die Natur des Vaters und des Sohnes. Es ist wohl wahrscheinlich, daß Hosius, wenn er eine solche Botschaft seines kaiserlichen Freundes überbrachte, die darin ausgesprochenen Ansichten bis zu einem gewissen Grade teilte. Bei seiner Rückkehr zu dem Kaiser schlug Hosius jedoch diesem vor, ein allgemeines Konzil einzuberufen, das diese wichtige Frage entscheiden solle. Die Beredsamkeit der Theologen von Alexandria scheint den Bischof von Kordova für ihre Ansicht gewonnen zu haben. Und wenn Hosius beim Konzil von Nizäa die kaiserliche Ansicht umlenkte – wie allgemein angenommen wird – so waren es die ägyptischen Theologen, die triumphierten.

»Aber noch im ersten Teil des dritten Jahrhunderts bezeugten Tertullian, Hippolytus und Origenes, die meisten Christen seien strenge Monotheisten und wollten es auch bleiben,« sagt Harnack in seiner großen Dogmengeschichte.

Und augenscheinlich fühlte sich noch Augustin gelegentlich in Verlegenheit gebracht durch das Gerede von »einem Gott und doch drei, von drei und doch einem«. Einmal läßt er sich die Worte entschlüpfen: »Wenn von der Gottheit gesagt wird, daß drei Personen in ihr seien, so ist das nicht gesagt, um irgend etwas auszudrücken, sondern nur um zu vermeiden, nichts zu sagen.«

Die Unverständlichkeit dieser Behauptungen brachte aber Zweifel und Seelenkämpfe in die Herzen unzähliger Menschen.

*

Ich kannte einen kleinen Jungen, der eine nahe Verwandte fragte: »Wie heißt der dritte Gott?«

»Meinst du den Heiligen Geist?« lautete die etwas verlegene Antwort.

»Ja, den meine ich,« sagte das Kind erfreut.

Und ich kannte ein kleines Mädchen, das Angst hatte, der Heilige Geist könne sich vernachlässigt fühlen, da nie jemand zu ihm betete, und deshalb wissen wollte, ob es nicht hie und da zu ihm beten sollte – als eine kleine Ermutigung.

»Zweifellos,« gab mir einmal ein höherer Geistlicher freimütig zu, »zweifellos bedeutet der Glaube an die Dreieinigkeit für die meisten Menschen einen Glauben an drei Götter.«

Aber trotzdem wollte er keine Veränderung des Glaubensbekenntnisses.

Wer war er?

Wenn Christus nicht das ist, was die Kirche erklärt, das er sei, wenn er nicht »die zweite Person in der Gottheit« ist – was war er dann?

War er, wie viele glauben, ein menschliches Wesen wie wir? Obschon jedenfalls ein religiöser Genius, reiner und größer als irgend sonst jemand, von dem wir je gehört haben.

Daß er ein Mensch sei – ja, dies hat er unzählige Male erklärt. »Der Menschensohn,« das war der Name, den er sich selbst stets beilegte.

Aber »ein Mensch wie wir« – nein, das war augenscheinlich doch nicht seine Meinung.

Vor allen Dingen finden wir in ihm nicht die leiseste Spur von einem Sündenbewußtsein.

Einmal erklärt er klar und deutlich, wenn auch mit indirekten Worten, daß er frei von Sünde sei. Das war, als er die stolzen Worte zu den Juden sagte: »Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?« Im Munde eines oberflächlichen Menschen würden diese Worte bedeutet haben: »Ich habe keine der Taten begangen, die gewöhnlich Sünde genannt werden.« Ein Heuchler könnte bei diesen Worten in seinem Innern gedacht haben: »Meine Sünden sind wohl verborgen.« Von einem Zyniker ausgesprochen, hätten sie bedeutet: »Wenigstens bin ich nicht schlechter als ihr andern!« Aber im Munde eines tiefen und wahrhaftigen Menschen müssen sie bedeuten: »Ich weiß von keiner Sünde.«

Wenn man also Christus nicht für den größten Heuchler halten will, muß man glauben, daß er vollständig frei war von Sünd' und Fehle.

Weiter: was er von sich selbst sagt, zeigt, daß er sich seiner einzigartigen Bedeutung für die Menschheit bewußt ist. »Ich bin das Licht der Welt«; »ich bin das Brot des Lebens«; »ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben«. Solche Worte im Munde eines Menschen, der augenscheinlich frei ist von jeder Neigung zur Prahlerei, enthüllen das Bewußtsein, die ihm gegebene Botschaft sei von unendlicher Größe, und er sei der einzige, dem sie habe anvertraut werden können.

Wer ist er also, dieser Christus, der ein Mensch ist wie wir und dennoch viel größer als wir?

Könnte das nicht so erklärt werden: Er ist der einzige von allen, die auf dieser Erde gelebt haben, der niemals vom Vater abgefallen ist, der niemals auch nur für einen Augenblick das Band zerrissen hat, das ihn mit dem Urquell des Lebens verbindet? Darum, während die andern heruntersanken, befleckt wurden, mit der Disharmonie, in der sie befangen waren, kämpften, hat er dauernd zugenommen an Weisheit und Macht und Herrlichkeit.

Paulus nennt ihn den »Erstgeborenen vor allen Kreaturen«. Daß er der erste Ausfluß von Gottes Liebe ist, das vollkommene Vorbild der Menschheit, das Wort, durch das die Welt geschaffen ist – das haben seit der ältesten Zeit Apostel und Lehrer der Christenheit geglaubt und bekannt.

Hat er das selbst gesagt? Wir wissen es nicht. Aber was wir wissen und was wir wissen müssen, ist dies: Er wurde uns gesandt, damit wir die Natur Gottes kennen lernen.

Niemals hätten wir begreifen können, wie Gott zu gleicher Zeit unfehlbare Gerechtigkeit und unendliche Liebe sein könne, wenn wir diese Eigenschaften nicht in der Gestalt des Sohnes vereinigt gesehen hätten.

Die Aufgabe seines Liebeswerkes auf Erden war, seine verlorenen Brüder zu dem Vater zurückzuführen. Er ist unser Oberhaupt. Er ist auch unser Bruder. Mit Stolz und zugleich mit Beschämung unserer selbst wegen können wir sagen: »Auch er ist unseres Geschlechts.«

Wenn viele Christen sagen: »Dies und das kann ein nur menschliches Wesen nicht gesagt haben«; so geben sie damit nur zu erkennen, daß sie sich der hohen Auszeichnung, die die Bibel tatsächlich dem Menschengeschlecht zuerkennt, nicht bewußt sind. Wenn Jesus verlangt: »Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist,« so enthält dieses Verlangen – das nur Spott wäre, wenn es das Unmögliche begehrte – in Wirklichkeit ein Versprechen: daß dieses Verlangen später, wenn auch erst in unendlich ferner Zeit, erfüllt werde. Wenn Jesus sagt: »Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere denn diese tun,« so deutet er damit die gewaltigen Gaben an, die in den Menschen gelegt sind, und die, wenn sein Wille mit dem des Allmächtigen eins geworden ist, ihm eine wunderbare Macht über die Naturkräfte verleihen werden. Wenn gesagt ist, der Mensch sei »zu Gottes Ebenbild« erschaffen, so liegt in diesen Worten eine Hindeutung auf eine zukünftige Herrlichkeit der Menschheit, die größer ist, als wir jetzt zu fassen vermögen.

Wenn also, wie die Schrift sagt, der Mensch für eine so große Herrlichkeit erschaffen ist, wie hoch muß dann nicht der sein, der in der Morgenröte der Welt vom Vater ausging, niemals von ihm abgefallen und das Haupt und der König der Menschheit ist, der der Weg ist, der zum Vater führt, der uns die Wahrheit lehrt und der zuletzt, wenn er die ganze Menschheit in Liebe zum Höchsten vereinigt hat, sein Zepter niederlegen wird, »auf daß Gott sei alles in allem«.

Mehr als einmal ist es vorgekommen, daß die Menschheit als Verlust beklagt hat, was sich später als Gewinn erwies. Als Christus nicht als der triumphierende Messias auftrat, der seine Feinde schlug, wie die Juden erwarteten, so empfanden das seine Jünger als eine Enttäuschung. Und doch ist er durch sein Leiden zu viel größerer Bedeutung für die Menschheit geworden, als sie sich je träumen ließen.

Wenn die Reformation lehrte, daß keine Menschen, weder lebende noch tote, angebetet werden dürften, so haben es zweifellos viele als einen Verlust empfunden, die Heiligen, die sie lieb gewonnen hatten, nicht mehr anrufen zu dürfen. Aber mit der Zeit müssen diese Menschen verstanden haben, daß dies ein Gewinn für ihr inneres Leben war, sie hatten gelernt, sich an den himmlischen Vater selbst zu wenden.

Vielleicht haben viele, die zu der Überzeugung gekommen sind, daß Christus nicht Gott ist – wie sie in ihrer Kindheit gelehrt wurden –, dies im Anfang als einen schmerzlichen Verlust aufgefaßt. Aber es ist möglich, daß sie mit der Zeit anders empfinden lernen. Christus wird ihnen nicht länger als eine Doppelnatur erscheinen, daß er, wenn er zu Gott betete, in Wirklichkeit gewissermaßen zu sich selbst betete. Bei seinen Reden brauchen sie sich nicht mehr zu fragen: Spricht er hier als Mensch oder als Gott? was sie früher bei mehr als einem seiner Aussprüche zu fragen genötigt waren. Hinsichtlich seiner Versuchungen wird es nicht mehr nötig sein, zu denken, sie seien unwirklich gewesen, weil er doch als Gott über jede Versuchung erhaben gewesen sei.

Wenn er aber als ein lebendiger Mensch vor uns steht, allerdings groß und heilig und liebend wie sonst niemand, dann mag es geschehen, daß wir ihn heißer lieben als je zuvor. Eine unendliche Verehrung wird uns erfüllen, eine tiefe Hingabe an ihn, der – wie wir jetzt einsehen – aufs schwerste gelitten haben und mehrmals in Versuchung gewesen sein muß, die ihm gegebene Macht zu gebrauchen, um erstaunliche Wunder zu tun und rasches Vertrauen in einer trotzenden Menschheit zu erwecken; aber der dennoch das Kreuz der Verkennung und schweren Leidens auf sich nahm und zuletzt die Herzen der Menschheit eroberte in einer Weise, wie es kein äußerer Erfolg vermocht hätte.

*

Soll man zu Christus beten?

Diese Frage ist unter den Christen vielmals erörtert worden. Sie wurde schon zur Zeit der Kirchenväter abgehandelt, und auch zu der Zeit, wo Lelius und Faustus Socinius ihre Reformationsfehde zu gleicher Zeit gegen das Papsttum und gegen den Protestantismus, der ihnen in vielen Dingen nur halb durchgeführt erschien, ausfochten. Auch heute noch ist sie ein Gegenstand der Fragen und Zweifel.

Sollen wir zu Christus beten?

Nein, sagen einige, er hat uns oftmals geheißen, zu dem Vater zu beten, aber niemals hat er ermahnt, zu ihm zu beten.

Die diese Ansicht hegen, scheinen jedoch einigen der Aussprüche Jesu keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben.

»Wer in mir bleibet und ich in ihm, der bringet viele Frucht,« sagt er zu seinen Jüngern.

Was heißt das, »in Christus bleiben«?

Dies muß wohl als eine tiefe Hingabe aufgefaßt werden, wie Paulus sie fühlte, als er sagte: »Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebet in mir.« Wie könnte aber dieses Feuer der Hingabe in unsern Herzen entzündet und brennend erhalten werden, wenn wir nicht im Geiste mit Christo sprächen?

Beten, das heißt nicht, vor allem Gunst und Gaben erbitten, beten heißt, sich Gott nahen, um von ihm Kraft und Mut, Liebe und Weisheit zu empfangen. Und da der Menschensohn mehrmals nachdrücklich die Wichtigkeit für uns, ihm nahe zu sein, betont, um »Frucht bringen« zu können, dann ist es offenbar ein Irrtum, zu verbieten, daß sich das Gebet des Herzens an den Sohn Gottes wende.

Jedenfalls ist es gut, das eine zu wissen: Wenn auch unser Verständnis für die Natur des Menschensohnes irrt, er wird uns darum nicht verurteilen. Höchstens wird er vielleicht sagen, wie er zuweilen zu den Jüngern gesagt hat: »Seid ihr auch noch unverständig?«

Die rechte Lehre.

In der Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea wird mit lebhaftem Abscheu von Irrgläubigen und Irrlehren gesprochen.

Als dieser »Vater der Kirchengeschichte« eine nicht gänzlich widerspruchslose Geschichte vom Apostel Johannes erzählt – dieser sei in ein Badhaus in Ephesus eingetreten, als er aber erfuhr, daß Cerinthus drinnen sei, wäre er sofort wieder herausgeeilt, indem er sagte, wo solch ein Irrgläubiger anwesend sei, stehe zu befürchten, daß das Dach einstürze – ist Eusebius von dieser Unduldsamkeit so befriedigt, daß er dieselbe Erzählung an einer anderen Stelle seines Werkes wiederholt. Mit nicht weniger Befriedigung erzählt er von Origenes, daß dieser sich schon in seiner Jugend geweigert habe, mit Irrgläubigen gemeinsam zu beten. Und wo Eusebius zugeben muß, daß selbst unter den irrgläubigen Montanisten Märtyrer gewesen seien, berichtet er doch triumphierend, daß sich bei den Verfolgungen die anderen Märtyrer von diesen ferngehalten hätten. Man sagt, daß selbst die wilden Tiere bei gemeinsamer Gefahr denen, die mit ihnen bedroht sind, keine Feindseligkeit mehr zeigen. Ist es wohl ein erhebender Gedanke, daß Menschen, die sich Jünger Christi nannten, selbst in Todesnot noch Sorge trugen, Menschen fern zu bleiben, die die Lehre Christi anders auffaßten als sie?

Was uns aber bei allen diesen Ausbrüchen von Intoleranz einen tragikomischen Eindruck macht, ist die Tatsache, daß sowohl Origenes wie Eusebius später von der orthodoxen Kirche für Irrgläubige erklärt wurden. Schon ein Jahr, nachdem Eusebius seine Kirchengeschichte vollendet hatte, war er durch die Beschlüsse des Konzils zu Nizäa zum Irrgläubigen gemacht worden wegen seiner Ansicht von der Dreieinigkeit.

Zu gleicher Zeit scheint auch ein Schatten von Irrgläubigkeit auf Papias gefallen zu sein, was vermutlich die Ursache war von dem sehr bedauerlichen Verschwinden von Papias' Sammlung der Worte Jesu. Eusebius erzählt, Papias, ein jüngerer Zeitgenosse der Apostel, sei mit großem Eifer umhergereist und habe die noch lebenden Jünger Jesu aufgesucht, um sie zu fragen, was der Meister gesagt hatte. Eusebius stellt fest, daß sich dieses Buch zu seiner Zeit – im Anfang des vierten Jahrhunderts – in den Händen vieler Christen befinde. Trotz aller Verfolgungen, trotz Befehle der römischen Kaiser, alle Schriften der Christen zu verbrennen, waren viele Abschriften dieses wertvollen Buches erhalten geblieben. Als das Christentum aber Staatsreligion wurde, verschwand es. Nächst den Evangelien hätte doch dieses Buch den Christen als das wertvollste erscheinen müssen. Sein Verschwinden kann kaum anders erklärt werden, als daß die orthodoxe Kirche einige Aussprüche darin fand, die sie in Verlegenheit setzte, und demzufolge dieselbe Taktik befolgte wie anderen von ihrer Lehre abweichenden Schriften gegenüber, nämlich das Buch verschwinden zu lassen.

*

Wenn man einen heutigen Mann der Kirche fragt, warum die Menschen etwas über die Natur Gottes und die Person Christi gelehrt werden sollten, das doch sowohl der Bibel wie auch dem gesunden Menschenverstand widerspricht – so wird er entweder diese Tatsache zugeben, wenn er ein »Neutheologe« ist, oder er wird, wenn er zur konservativen Partei gehört, einen Versuch machen, den Argumenten zu widersprechen. In beiden Fällen jedoch würde meistens die Schlußbetrachtung die sein: die alten Formen müßten erhalten bleiben aus Rücksicht auf den Glauben unserer Vorväter, aus Rücksicht darauf, daß diese Formen noch jetzt vielen Menschen teuer seien.

Liegt es nicht auf der Hand, wie sehr solche Folgerung den Katholizismus gegen die Reformation unterstützt? Die Katholiken können mit Recht sagen, daß den Reformatoren des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts die Hochachtung für das, was ihre Vorväter jahrhundertelang geglaubt hatten, gefehlt habe. Liegt es nicht auf der Hand, daß solch eine Folgerung die jüdische Synagoge gegen Christus unterstützen würde, gegen ihn, der im ausgesprochensten Widerspruch zu den »Gesetzen der Vorväter« stand?

Wenn einmal der protestantische Standpunkt angenommen ist, dann ist es der deutlichste Mangel an Folgerichtigkeit, alte Abweichungen von Jesu Lehren mit der Behauptung stützen zu wollen, die Pietät verlange die Aufrechterhaltung der alten Dogmen.

Es gibt eine Bekenntnisschrift, das sogenannte Athanasische Glaubensbekenntnis, das bis heute allen christlichen Kirchen gemeinsam ist und das an anmaßender Unduldsamkeit nicht seinesgleichen hat. Es erklärt, jede Person, die zu behaupten wage, irgendeine der drei Personen in der Gottheit sei höher als die andere, sei ewig verdammt. Aber Jesus selbst sagt: »Der Vater ist größer als ich.« Also wäre nach diesem Glaubensbekenntnis der Heiland selbst zu ewiger Qual verurteilt.

Seit einiger Zeit haben die Kirchen diesem Glaubensbekenntnis gegenüber einige Verlegenheit erblicken lassen, aber wenn jemand sein Verschwinden aus der Zahl der Bekenntnisschriften verlangt, so widersetzen sich die meisten Männer der Kirche.

Sie haben Angst davor, irgend etwas an der hergebrachten Ordnung zu ändern, weil sie befürchten, dann würde alles zusammenbrechen.

Sie wagen nicht zu glauben, dem Gott der Wahrheit sei am besten mit offenem und furchtlosem Bekennen der Wahrheit gedient.

*

In den letzten Jahren ist viel die Rede gewesen von der »Einigung der Kirchen«. Versammlungen sind zusammenberufen, Reden gehalten und Aufsätze geschrieben worden, und große Freude wird gezeigt, so oft eine kleine Verständigung in den Einzelheiten erzielt werden kann. Aber die Tatsache findet keine Erwähnung, daß es eine sehr einfache Art gibt, wie die Einigung der verschiedenen Kirchen hergestellt werden könnte: das einzig Notwendige wäre der Beschluß aller Kirchen, nur das zu lehren, was Christus selbst gelehrt hat, und alle Fragen als offen zu betrachten, über die der Herr, soviel wir wissen, keine Ansicht geäußert hat.

Auf diese Weise käme die Einigung der Christen ganz von selbst.

Eine andere Frage ist in der letzten Zeit in den protestantischen Kirchen viel erörtert worden: »Wie sollen wir Protestanten uns gegen die katholische Propaganda schützen?«

Wenn die protestantischen Kirchen nicht von dem Hauptgrundsatz des Protestantismus abgewichen wären: daß der menschliche Geist frei sei, durch keine Autorität gefesselt seinen Gott suchen könne – dann hätte man keinen Grund, die katholische Propaganda zu fürchten. Aber es ist nicht überraschend, wenn viele Leute denken: Da innerhalb der protestantischen Kirche ebenso wie innerhalb der katholischen der Überlieferung das Recht zuerkannt wird, die Gedanken der Menschen zu binden – warum dann nicht lieber die Überlieferung wählen, die durch ihr Alter und ihre Allgemeinheit ein gewisses Übergewicht hat?

*

Als vor einigen Jahren ein protestantischer Geistlicher erklären sollte, warum es der Kirche unmöglich sei, ihr Dogmensystem zu ändern, schrieb er: »Die Kirche fühlt in allen Fällen eine größere Hinneigung zu den Gläubigen, die ängstlich an der Überlieferung festhalten, als zu jenen, die eine Änderung wünschen.«

Also hat die Kirche mehr Teilnahme für einen Menschen, dem es nicht darum zu tun ist, herauszufinden, was Christus wirklich gelehrt hat, als für einen, der vielleicht sein ganzes Leben dem Studium dieser Sache gewidmet und nachdem er die Wahrheit gefunden hat, furchtlos der Feindschaft entgegentritt, die meistens den trifft, der die Wahrheit sagt! Also hat die Kirche mehr Zuneigung zu den trägen Menschen als zu den wachen, mehr Zuneigung zu einem Feigling als zu einem Kämpfer für die Wahrheit.

Gut! Mag denn die Kirche die Trägen und die Feigen für sich behalten! Aber sie soll dann aufhören, sich die Kirche Christi zu nennen! Denn wem Christi Zuneigung gilt, das zeigt seine Lebensgeschichte mit leuchtender Klarheit. Die Trägen und Schwachherzigen liebte er nicht, er ermahnte seine Jünger, so wie er auch furchtlos und unermüdlich für die Wahrheit zu streiten. Niemals hat er gezaudert, ein hartes Urteil über diejenigen seiner Zeitgenossen zu fällen, die die öffentlichen religiösen Führer waren, obschon sicherlich viele einfache gläubige Seelen unter den Juden durch seine scharfen Worte verletzt und beunruhigt worden sind.

Also »Christus nachfolgen« heißt, von der Kirche Abstand nehmen, die zuerst seine Lehre verändert hat, und es dann – als sich die Menschheit eben wegen dieser Veränderung von Christus abwandte – ablehnt, eine späte Reue zu zeigen, ablehnt, die wahre Lehre des Herrn zu predigen.

*

Unter den Autoritäten der verschiedenen heutigen Kirchen sind immer welche, die wohl einsehen, daß sich die Lehren von der Religion Christi entfernt haben. Aber diese Leute scheinen meistens zu denken: Die neuen Änderungen müssen allmählich und ganz sachte gemacht werden. Wir wollen vermeiden, über die Dogmen zu reden. Allmählich werden die Menschen einsehen, daß sie veraltet sind. Späterhin wird es möglich sein, sie aufzuheben – wenn es notwendig erscheinen sollte.

Die Anhänger dieser langsamen Methode übersehen jedoch eines: Auf diese Weise – im Namen eines Kompromisses – wird das geistige Wohl von Generationen geopfert. In allen sogenannten christlichen Ländern verlassen jedes Jahr viele Tausende von jungen Menschen die Schulen und Lehranstalten mehr oder weniger mit dem Eindruck, die Religion sei etwas, das eine Menge von Unsinn berge. Diese jungen Leute schieben religiöse Fragen völlig zur Seite. Ohne Religion gehen sie in die Welt hinaus. Es fehlt ihnen die Hilfe und Stütze im Leben, die alle die haben, die einen Zweck im Dasein und einen liebevollen Willen im Urheber aller Dinge erkennen.

Wenn öffentlich erklärt würde, daß die vernunftwidrigen Dogmen nicht zu Christi eigener Religion gehören, würden sich vielleicht viele, die jetzt ohne Religion leben, überlegen, ob nicht in der christlichen Lebensanschauung die Macht liege, einer suchenden Seele Klarheit und Kraft zu verleihen.

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Der verstorbene Ignaz Goldziher, der berühmte Sachverständige des Islams und seiner Geschichte, führt in einem seiner Werke (Katholische Tendenz und Partikularismus im Islam) einen mohammedanischen Schriftsteller des elften Jahrhunderts an, Abdallah ibn-al-Sid, der behauptet, daß Unterschiede in den Anschauungen von Unterschieden in den Naturanlagen abhängig und darum vollständig gerechtfertigt seien, und erhärtet diese tolerante Ansicht durch eine Reihe von Stellen aus dem Koran. Im gleichen Werk zitiert Goldziher auch einen Schriftsteller aus dem zwölften Jahrhundert, Abu-l-Fada' il Ahmed, der in einem Buche, »Argumente aus dem Koran«, ganz objektiv die verschiedenen Stellen aus den heiligen Schriften des Islams anführt, die die verschiedenen Sekten zur Unterstützung ihrer Lehre anführen. Dieser Schriftsteller gehörte selbst der orthodoxen Richtung an, aber er erklärte im Vorwort seines Buches, dieses sei in der Absicht geschrieben, die Leute abzuhalten, voreilig die Sekten anzugreifen oder überheblich eine von ihnen zu verdammen, denn »es stehe da Ansicht gegen Ansicht nach Gottes verordnetem Plane«.

Zur selben Zeit, wo Abu-l-Fada' il Ahmeds Buch veröffentlicht wurde, hat die christliche Kirche voller Eifer und Grausamkeit die Albigenser verfolgt.

Im ganzen, sagt Goldziher, seien innerhalb des Islams selten Verfolgungen sogenannter Irrgläubiger vorgekommen. Im Federstreit würden allerdings viele heftige Worte fallen; aber gewöhnlich wurde den Gegnern gestattet, in Frieden zu leben und nach ihrer Ansicht zu predigen.

Die Christen hätten wohl daran getan, dem Beispiel dieser Duldsamkeit zu folgen. Sie hätten wohl daran getan, wenn sie eingesehen hätten, daß das Erzwingenwollen von Gleichheit des Denkens etwas sehr Unreligiöses ist.

In der Regel, hebt Goldziher hervor, waren es nicht die tief religiösen Gemüter, die das eine oder andere Dogma mit Eifer verfochten haben. Im Gegenteil, die religiös Veranlagten wandten sich mit Unwillen von den Forderungen über Einigkeit in jeder Einzelheit des Glaubens ab. Nein, die dürren und kalten Seelen, die intellektuellen Fanatiker waren es, die Orthodoxie verlangten und alle heftig tadelten, deren Lehre von der ihren abwich.

Dies ist eine Beobachtung, die zweifellos auch auf Anhänger anderer Religionen als des Islams angewendet werden kann.

*

Die Jünger Jesu baten einst ihren Meister: »Herr, lehre uns beten!« Ist es nicht wahrscheinlich, daß sie ihn auch einmal gebeten haben: »Herr, lehre uns, was wir glauben sollen?«

Ob sie ihn nun jemals um eine solche Anleitung gebeten haben oder nicht, gewiß ist aber, daß Christus der Menschheit niemals ein Glaubensbekenntnis vorgeschrieben hat.

Welche Grausamkeit hätte doch dies bedeutet, wenn wirklich ein »rechter Glaube« zur Erlangung der Seligkeit notwendig wäre!

Welche Anmaßung aber ist es, wenn Menschen ihre Mitmenschen zu einem eingehenden Glaubensbekenntnis zwingen wollen, da doch der Meister, der allein die Autorität dazu gehabt hätte, es vermied!

Viele sagen: »Aber wir brauchen doch ein Bekenntnis, das uns zusammenhält.«

Gut, aber wozu sollten wir ein anderes Bekenntnis brauchen, als das eine, das Christus selbst gelten ließ? Als Petrus bekannte: »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes,« nannte ihn der Herr ob dieser Worte selig.

Und bei der einzigen Taufe im Neuen Testament, die von einem Bekenntnis begleitet ist – Apostelgesch. 8, 37.38 – legte der Täufling folgendes Bekenntnis ab: »Ich glaube, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist.«

Können wir nicht in allen Fällen uns als Brüder in Christo fühlen, wenn wir nur in diesem Bekenntnis einig sind: Jesus Christus ist der Sohn Gottes.

Es steht geschrieben.

I.

»Es steht geschrieben« – wie oft sind diese Worte gesprochen worden zur Bekräftigung der einen oder andern Ansicht! Bei vielen herrscht der Glaube, wenn nur in der Bibel eine Stütze für eine Ansicht zu finden sei, dann sei diese damit auch bewiesen.

Allein in den meisten Fällen muß man, wenn man ehrlich sein will, zugeben, daß auch der Gegner eine biblische Unterstützung für seine Ansicht aufweisen kann. Denn die Bibel ist kein korrektes Auskunftswerk ohne alle Widersprüche. Die Bibel ist nicht dazu da, uns das eigene Denken zu ersparen.

Daß die Bibel göttliche Worte enthält, ist jedem Menschen mit geistigem Hellsehen offenbar. Aber der Gedanke, alles in der Bibel sei von Gott eingegeben, ist doch unvernünftig, nicht allein für den gesunden Menschenverstand, sondern auch dem ganzen Sinn des Neuen Testaments gegenüber, in dem gesagt ist, »der Buchstabe tötet«.

Es gibt doch Tatsachen, die auch jene, die gern das Dogma von der Unfehlbarkeit der Schrift aufrechterhalten wollen, ein wenig nachdenklich machen sollten.

Es sind da die unleugbaren Widersprüche.

Zum Beispiel:

2. Mose 24, 10. 11 wird uns erzählt, daß Moses und Aaron und zweiundsiebzig Älteste »sahen den Gott Israels«. Und »da sie Gott geschauet hatten, aßen und tranken sie«. Und 2. Mose 33, 11 wird uns berichtet: »Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.« Im gleichen Kapitel wird aber berichtet: Moses habe Gott gebeten: »Laß mich deine Herrlichkeit sehen,« und die Antwort bekommen: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich siehet.«

Immerhin durfte Moses dem Herrn, der vorüberging, »hinten nachsehen«.

Joh. 1, 18 lesen wir jedoch: »Niemand hat Gott je gesehen.«

2. Mose 20, 4 befiehlt Gott: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.« Aber 4. Mose 21, 8 spricht der Herr zu Mose: »Mache dir eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf: wer gebissen ist und siehet sie an, der soll leben.« Von dieser ehernen Schlange ist 2. Könige 18, 4 gesagt, daß ihr die Israeliten jahrhundertelang »geräuchert« haben.

5. Mose 6, 13 steht: »Du sollst den Herrn, deinen Gott fürchten und ihm dienen und bei seinem Namen schwören.« Aber Jesus sagt: »Ihr sollt allerdings nicht schwören.«

Eines der Evangelien sagt, Christus sei zum Himmel aufgefahren am selben Tage, wo er von den Toten auferstand, während ein anderes Evangelium berichtet, daß dieses Ereignis acht Tage nach Ostern stattgefunden habe, und ein drittes, daß die Himmelfahrt vierzig Tage nach der Auferstehung vor sich gegangen sei.

Im Evangelium Johannes 3, 16 steht geschrieben: »Also hat Gott die Welt geliebt – –.« Aber 1. Joh. 2, 15 lesen wir: »Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. So jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters.«

Nun, durch einen Widerspruch dieser letzten Art wird sich der Gläubige, der nicht am Buchstaben klebt, nicht ängstigen lassen. Er wird einsehen, daß das Wort »Welt« in diesen zwei Stellen einen verschiedenen Sinn hat. In der einen Stelle bedeutet es soviel als Menschheit, an der anderen bedeutet es die oberflächlichen und eitlen Dinge dieser Welt, die eine Gefahr für die Seele sind.

Die Buchstabengläubigen jedoch nehmen großen Anstoß daran, wenn jemand behauptet, ein Wort könne an verschiedenen Stellen der Bibel einen verschiedenen Sinn haben. Dies öffne der persönlichen Kritik die Pforte, denken sie; dies würde die Autorität der Bibel gefährden.

*

Da sind auch die Fälschungen und Einschiebungen.

In den vorigen Kapiteln sind einige offenbare Fälschungen hervorgehoben. Was die Einsetzungen betrifft, sollten sie aber nicht immer als bewußte Fälschungen angesehen werden. In unserer Zeit wird, wo eine erklärende Auslegung als nötig angesehen wird, eine verdeutlichende Fußnote hingesetzt; in den ersten Jahren unserer Zeitrechnung – in der Zeit, die die Kindheit des Bücherschreibens genannt werden kann – wurden die Worte, die zur Erklärung für notwendig gehalten wurden oder ein Mißverständnis verhindern sollten, einfach dem Text eingefügt.

Die Tatsache, daß die Bibel im Lauf der Jahre mancherlei Veränderungen erfahren hat, ist unter anderen auch durch einen so orthodoxen Menschen wie den Kirchenvater Hieronymus festgestellt worden, der im vierten Jahrhundert über die Schwierigkeit klagte, zu wissen, was wirklich in der Bibel gesagt sei, da die verschiedenen Ausgaben so sehr voneinander abwichen.

Es gibt Einschiebungen, die ganz unstreitbar dargelegt worden sind; z. B. im ersten Johannesbrief, Kap. 5, V. 8, die von Luther gestrichen, sich aber später wieder in den Text einschlich, bis sie endlich aus den meisten protestantischen Bibelübersetzungen ausgetilgt wurde.

Bei anderen Stellen muß man entweder annehmen, es sei da eine Einschiebung oder man muß Christus als einen haltlosen Widersprecher seiner eigenen Worte ansehen.

Zum Beispiel siehe Matth. 11, 11.

Jesus hat soeben die Jünger Johannes des Täufers empfangen, die Jünger eines Mannes, der ins Gefängnis geworfen worden war, weil er im Namen von Recht und Gerechtigkeit gesprochen hatte, und der sich verwunderte, warum der Eine, den er für den König der Gerechtigkeit gehalten hatte, nicht zu seiner Hilfe herbeieilte. Die Jünger waren mit der zweifelvollen und ängstlichen Frage gesandt worden: »Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?« Und Jesus hatte ihnen Antwort gegeben, indem er auf seine Taten hinwies. Aber da Jesus wohl einsah, was seine eigenen Jünger beim Anhören von Johannes' Botschaft denken mußten, wollte er es betonen, daß Johannes, trotz seiner zufälligen Schwachheit, ein großer Prophet sei. Darum sagt er: »Wahrlich, ich sage euch, unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei, denn Johannes der Täufer.«

Nach diesem Text jedoch fügt er sofort hinzu: »der aber der kleinste ist im Himmelreich, ist größer denn er«. Also im selben Augenblick, wo Jesus sein großes Lob geäußert hatte, scheint ihm eingefallen zu sein – wenn der angeführte Text ganz zuverlässig ist –, daß diese Hochschätzung des Johannes ein großer Irrtum war. Seine eigenen Jünger, die um ihn her standen, gehörten dem Himmelreich an und mußten daher – nach dem Wortlaut des Textes – für entschieden höher stehend angesehen werden als er, der soeben als größer denn alle, die von Weibern geboren sind, gepriesen worden war.

Wenn Jesus sich wirklich so aussprach, wie dieser Text sagt, so hat er sich als merkwürdig sich selbst widersprechend gezeigt. Allein wenn uns die Persönlichkeit Christi lieber ist als der orthodoxe Standpunkt des Buchstabenglaubens, dann sind wir geneigt, hier eine Einschiebung anzunehmen. Es ist nicht schwer, den Grund dafür zu finden. Vielen von den Lehren der Kirche – wie z. B. der: daß kein menschliches Verdienst, sondern nur allein das »Annehmen des Verdienstes Christi«, von irgend einer Wichtigkeit sei, daß keine Rettung möglich sei außerhalb der Kirche – allen diesen wäre widersprochen worden durch Jesu hohes Lob seines Vorläufers.

Kaum ist ein entschiedenerer Beweis denkbar für das sogenannte »Tatchristentum« und gegen alle Kirchendogmatik, als das Zeugnis Jesu von der Größe des Johannes, das er im selben Augenblick ablegt, wo Johannes seinerseits im Zweifel war über die Bedeutung von Christus selbst. Den Verteidigern des Formalismus und besonders den Verteidigern von der Lehre des Sühnopfers muß es sehr wichtig erschienen sein, diese Darlegung unwirksam zu machen. Und so mag es geschehen sein, daß diese Worte, die sagen, Johannes der Täufer stehe jedenfalls tief unter allen Gliedern der Kirche, eingefügt wurden.

Im Lukasevangelium 16, 16 sagt Jesus: »Das Gesetz und die Propheten weissagen bis auf Johannem.«

Diese Worte sprechen klar und deutlich den Gedanken aus: mit der neuen Zeit, die mit Johannes dem Täufer, dem Vorläufer Christi beginnt, habe das Gesetz des Alten Testaments mit seinen vielen Regeln und Vorschriften keine Geltung mehr. Aber gleich danach, Vers 17, läßt das Evangelium Jesum sagen: »Es ist aber leichter, daß Himmel und Erde vergehen, denn daß ein Tüttel vom Gesetz falle.«

Auch hier müssen wir, wenn uns die Persönlichkeit Christi mehr lieb ist als die kirchlich festgestellte Auffassung des Bibelwortes, eine Einschiebung annehmen. Wahrscheinlich ist hier ein aus dem Judentum stammender Christ am Werk gewesen, einer, dem es nötig schien, auch die Christen sollten dem mosaischen Zeremoniegesetz nachleben. Die Darlegung in Vers 16 war ein starker Beweis gegen diese verjudende Neigung. Darum mußte durch Einfügung einiger Worte in entgegengesetzter Richtung aufgetreten werden.

Wenn jedoch ein Buchstabengläubiger jeden Gedanken an eine mögliche spätere Einfügung ablehnt – wie stellt er sich dann Lukas 16, 17 gegenüber? Wenn Christus wirklich gesagt hat »nicht ein Tüttel des Gesetzes kann fallen,« so hat er damit seinen Nachfolgern befohlen, zu allen Zeiten das mosaische Zeremoniegesetz zu halten – das verbietet, Schweinefleisch zu essen, aus Wolle und Leinen gemischte Kleider zu tragen usw. Dann muß Paulus im Irrtum gewesen sein, als er die Beschneidung abschaffte.

Aber was Paulus hierüber schreibt, gehört doch auch zu dem, »was in der Bibel geschrieben steht«. Also befinden wir uns wieder in dem hoffnungslosen Kreislauf, in dem sich der Buchstabengläubige unvermeidlich verfängt.

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Es sind da auch Stellen, welche unserem sittlichen Gefühl widersprechen.

Kürzlich erhielt ich den Brief eines jungen Mädchens, die mir von ihren Erfahrungen aus dem Religionsunterricht in der Schule erzählte.

»Einmal fragte einer von den Knaben, welcher Gott denn jene bösen Völker geschaffen hätte, die von dem Gott Israels gehaßt würden? – – Es half nichts, wieviel auch der Pfarrer oder der Lehrer oder mein alter Großvater von der Güte Gottes sagte – jener Gott, von dem wir im Alten Testament gelehrt wurden, war schrecklich! Darüber waren alle die anderen Kinder in der Schule mit mir einig. Es wurde einem ja ganz angst vor diesem Gott, er ermordete Menschen während des Schlafs oder er ertränkte sie wie Mäuse, so wie es ihn gerade gelüstete. – – Er ist parteiisch, er hat Günstlinge, und um jene zu fördern, verdirbt er andere, er schleicht herum in der Nacht und erwürgt, er ist launisch, warum liebte er Abels Opfer mehr als Kains? – – Ich verstehe jetzt, es war sehr schädlich, Kindern die Geschichte von Israel zu lehren; man sollte das nicht lernen, ehe man erwachsen ist; dann würde man nicht jenen Abscheu vor Gott bekommen, der notwendigerweise jedem intelligenten Kinde eingeflößt wird durch die Erzählungen des Alten Testaments.«

Wenn man den Kindern sagte, das Alte Testament gibt die Entwicklungsgeschichte eines Volkes von der Zeit der primitivsten religiösen Vorstellungen bis zu den erhabenen Predigten der Propheten – dann würde es ja einleuchtend sein, daß, wenn z. B. dasteht, Gott habe die Israeliten geheißen, alle die Amalekiter, auch die kleinen Kinder zu erwürgen, dann ist dieses nur ein Zeugnis dafür, daß zu jener Zeit in der israelitischen Gottesauffassung noch etwas von einem blutdürstigen Despoten war.

Es gibt auch im Neuen Testament Stellen, die in viele Herzen Zweifel und Verwirrung gebracht haben, z. B. die Behauptung im Evangelium Matthäus, »daß kein Sperling zur Erde falle, ohne den Willen des Vaters,« was anzudeuten scheint, daß nichts geschehe – keine Gewalttat, kein Verbrechen – ohne Gottes Willen. Dieses Wort hat in vielen Menschen einen tatenlosen, unterwürfigen Fatalismus genährt und in andern spöttische Zweifel an Gottes Gerechtigkeit erweckt. Im Lukasevangelium jedoch lautet die betreffende Stelle: »Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zween Pfennige? Dennoch ist vor Gott derselbigen nicht einer vergessen.« Wenn ich sage, daß diese Fassung wahrscheinlich die richtige ist, so geschieht das nicht aus Gründen der sogenannten Textkritik. Allein, wenn Jesus sagen wollte, was die erste Lesart anzudeuten scheint – alles, was geschehe, geschehe nach Gottes Willen – so hätte er kein Recht gehabt, menschliche Heuchelei und Grausamkeit so stark zu verurteilen, wie er es mehr als einmal getan hat. Andererseits, daß Gott alles weiß, was geschieht – wie die Lesart des Evangeliums Lukas andeutet – ist jedem, der an Gottes Allgegenwart glaubt, selbstverständlich.

II.

Vom Alten Testament haben wir zwei Texte: die »Septuaginta«, eine Übersetzung ins Griechische, die angeblich dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung in Alexandria hergestellt wurde, und den sogenannten massoretischen Text. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Texten sind an vielen Stellen nicht unbedeutend, besonders in der Chronologie. So lebte z. B. Moses nach der Septuaginta 1550 Jahre nach der Sintflut, während der massoretische Text 800 Jahre zwischen der großen Flut und Moses annimmt.

Welcher dieser beiden Bibeltexte soll nun als der richtige betrachtet werden? Der hebräische müßte natürlich als dem Original näherstehend angesehen werden, wenn nicht die ältesten Handschriften der Septuaginta viel älter wären als die ältesten massoretischen Texte, die noch vorhanden sind. Überdies folgen die Evangelisten und Apostel, wenn sie im Neuen Testament Stellen des Alten Testamentes anführen, ziemlich regelmäßig dem Text der Septuaginta.

Die Frage, welchem der beiden Texte das Übergewicht zusteht, ist von keiner Bedeutung für solche, die in der Bibel nur eine Überleitung religiöser Wahrheiten erblicken, denn in dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen den beiden Texten. Aber für den, der an wörtliche Inspiration glaubt, muß es sehr verwirrend sein, wenn Moses einmal 800 und einmal 1500 Jahre nach der Sintflut gelebt haben soll – gerade so, wie viele sehr einfache Seelen über den augenfälligen Widerspruch der beiden Geschlechtsregister der Vorfahren des Joseph im Evangelium Matthäus und dem des Lukas nachgegrübelt haben.

Sehr bezeichnend ist diese Tatsache: Wenn Jesus Stellen aus dem Alten Testament anführt, so zitiert er, wie die Sachverständigen der beiden Bibelsprachen nachgewiesen haben, niemals wörtlich genau. Also hat Jesus entweder nach einer älteren Handschrift des Alten Testaments zitiert, oder die Evangelien geben seine Aussprüche unrichtig wieder, oder Jesus hat mit der für ihn charakteristischen Verachtung für jeglichen Formalismus seine Zitate wiedergegeben, ohne sich darum zu kümmern, ob sie wortgetreu seien oder nicht. Ihm war der Buchstabe verhältnismäßig gleichgültig, der Geist war alles. Aber welche von diesen Möglichkeiten auch als richtig angenommen wird, die Wirkung ist stets dieselbe: die Bibel widerspricht selbst dem Dogma von einer unfehlbaren wörtlichen Inspiration.

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Daß es immer noch viele Buchstabengläubige gibt, haben die beiden Gerichtsverhandlungen bewiesen, die vor einigen Jahren so lebhaft in der Weltpresse besprochen worden sind: eine Nachforschung in Holland über orthodoxe Auffassung von der Schlange in dem 1. Buch Moses und ein Gerichtsverfahren in Dayton, U.S.A. wegen der Schöpfungsgeschichte und der zeitgenössischen Wissenschaft.

Was die Schöpfungsgeschichte betrifft, so sollten die Buchstabengläubigen doch gewisse Dinge nicht außer Betracht lassen. Wenn Gott die Erde in unendlichen Zeiträumen geschaffen hat, wie die Geologie uns darlegt, wenn Gott durch lange Perioden von Entwicklungsprozessen den physischen Organismus bildete, der der Träger der Menschenseele sein sollte, – ist er dann nicht in jedem Fall der Schöpfer der Welt und des Menschengeschlechts? Selbst der hartnäckigste der Buchstabengläubigen kann nicht leugnen, daß er infolge der Umarmung eines Mannes und eines Weibes in dieses Leben geboren wurde, welche Tatsache ihn jedoch nicht hindert, zu behaupten, er sei von Gott geschaffen worden. Wenn er damit nun zugibt, daß Gott bei seinen Schöpfungsabsichten sozusagen auch indirekt handeln und Menschen als seine Werkzeuge benutzen kann, müßte er dann nicht auch zugeben, es sei möglich, daß Gott, als er das Menschengeschlecht bildete, den Gesetzen folgte und die Kräfte in Tätigkeit setzte, die seiner unergründlichen Weisheit entsprungen waren?

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Es gibt Leute, die lachen, wenn sie von Dingen wie den Dayton-Prozeß hören, die aber kein Recht haben, nur auch darüber zu lächeln: das sind die Menschen, die, wenn sie auch zugeben, daß die Bibel nicht in jedem Wort unfehlbar ist, doch dagegen sind, daß das offen und öffentlich gesagt wird.

Wenn einfache ehrliche Seelen, die gelehrt worden sind, daß jedes Wort der Bibel von Gott selbst eingegeben sei, und die weder Zeit, noch vielleicht genügend Intellekt haben, diese Dinge zu erforschen oder zu überdenken, wenn solche streng daran festhalten, daß die Menschen verpflichtet seien, an die göttlichen Worte zu glauben – wo ist denn da etwas Lächerliches?

Einmal wollte sich ein schwedischer Richter auf dem Lande an zwölf Bauern rächen, die seine Gerichtsbeisitzer waren und ihn mehr als einmal niedergestimmt hatten. Bei einer Gerichtsverhandlung über einen Mann, der seinen Bruder beschimpft hatte, sagte er: »Das schwedische Gesetz würde diesen Mann zu einer so und so großen Strafe verurteilen, aber Gottes Gesetz verurteilt ihn zu dem höllischen Feuer. – Wie urteilt ihr?«

Alle sagten: »Das Gesetz Gottes muß befolgt werden.«

Sie verurteilten also den Mann zu dem höllischen Feuer. Der Richter widersprach. Aber nach dem schwedischen Gesetz überwiegt, wenn alle die zwölf Beisitzer übereinstimmen, deren Urteil das des Richters. Und das Urteil wurde gefällt.

Die Leute lachten natürlich. Aber für den schlauen, rachsüchtigen Richter war die Sache nicht ganz angenehm. Denn von dem höheren Gerichtshof, dem der Fall vorgelegt wurde, erhielt der Richter einen scharfen Verweis, weil er einfache Menschen verleitet hatte, sich lächerlich zu machen.

Das ist ein Verweis, der auch den Theologen zugeteilt werden könnte, die gegen eine offene Aussprache sind und dadurch die Leute dazu bringen, lächerliche Meinungen zu äußern. Und – was noch viel schlimmer ist – andere beeinflussen, vollständige Zweifler zu werden.

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Wie bekannt, hat sich Luther der Bibel gegenüber ziemlich unabhängig verhalten, insofern, als er nicht mit allen Schriften des Neuen Testamentes einverstanden war, z. B. nicht mit dem Jakobusbrief und nicht mit der Offenbarung. Allein er stand nicht für die Folgerungen aus seiner freien Haltung ein, und die Kirche, die sich nach ihm nennt, tut das auch nicht.

Aber, wird eingewendet, Unabhängigkeit der Schrift gegenüber würde bedeuten, daß jeder denken kann, was er mag.

Nun ja, nennt es Subjektivismus, wenn ihr wollt. Aber man kann auch sagen, Freiheit der Schrift gegenüber bedeute ein Sich-Verlassen auf die innere Stimme. Wir sind gelehrt, daß eine göttliche Stimme in uns – unser Gewissen – uns sagt, was recht und unrecht ist. Sollte dieses »Mit-Wissen mit Gott« nicht auch imstande sein, zu unterscheiden, ob die Worte, die wir hören, von Gott ausgehen oder nicht?

Es gibt Worte, die ein verborgenes Echo in unserer Seele erwecken. Es gibt Worte, die geheime Saiten in Schwingung versetzen. Es gibt Worte, die uns dem Höchsten entgegenheben. Kein Buch in der Welt enthält so viele solcher Worte wie die Bibel. Aber es heißt der Bibel und der Menschheit einen schlechten Dienst erweisen, wenn man dieses wunderbare Buch auch als ein Handbuch der Geologie und Zoologie ansehen will.


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