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Die Ethik des Christentums.

I.

Harnack spricht in seinem Buch über Augustinus von »einer Gedankenart, die die Religion hauptsächlich zu einer Krücke für die Moral gemacht habe«.

Ein etwas seltsamer Ausdruck, wenn wir an Jesu Bergpredigt denken, die doch allgemein als der Kern der Religion Christi betrachtet wird, und die ja im ganzen eine Predigt über das sittliche Leben ist – eine erhabene Moral darstellend, die, wie es uns scheinen will, unerreichbare Ideale zeigt. Hier wie überall empfiehlt Jesus Barmherzigkeit und Gerechtigkeit; unser sittliches Leben ist es, das unsere Liebe zu dem Vater und ihm, den er gesandt hat, beweisen soll. Und andererseits, nur durch unsere Liebe zu dem Vater und dem Sohn erhalten wir Kraft genug, Wärme genug für die sittliche Vollkommenheit, die von dem Menschensohne verlangt wird.

Wenn jemand das so ausdrücken will, Jesus habe die Religion zu einer Krücke für die Moral gemacht – nun, dann mag er es tun.

Die Neigung, eine entschiedene Trennung zwischen Religion und Moral festzustellen, die bei Theologen sowohl der alten wie der neuen Zeiten oft angetroffen wird, kann indes bis zu einem gewissen Grad für erklärlich gehalten werden. Leute, die selbst erklären, der Religion fremd gegenüber zu stehen, sagen bisweilen: »Wenn wir doch sähen, daß das Christentum die Menschen wesentlich besser machte, dann würden wir es jedenfalls verehren. Wir verlangen ja keine Unmöglichkeiten, wir erwarten nicht, daß ein Mensch alle seine Fehler ablegt, indem er sich dem Christentum zuwendet. Aber wenn wir sehen, daß ein Mensch, der sich einen Christen nennt, Fehler begeht, von denen wir uns selbst zurückhalten, so muß man uns verzeihen, wenn wir dem Wert der Religion als Erzieher zweifelnd gegenüberstehen.«

Solchen Feststellungen gegenüber muß selbstverständlich in erster Linie darauf hingewiesen werden, daß sich die Menschen sehr häufig in ihrer Beurteilung der andern irren. Und zweifellos ist die Kritik oftmals besonders mißtrauisch denen gegenüber, die christliche Religion und Moral predigen. Aber es bleiben immerhin unleugbare Tatsachen bestehen, die solche Urteile, wie das eben angeführte, unterstützen.

»Je größer der Sünder, desto größer der Heilige« ist ein Ausdruck, der nicht selten mit einer gewissen Ironie angeführt wird. Und der liberale christliche Denker J. Brierley zitiert die Behauptung, daß »zu allen Zeiten die großen religiösen Persönlichkeiten große Lügner gewesen seien«, eine Behauptung, die ohne Zweifel stark übertrieben ist, die aber trotzdem eine nicht wegzuleugnende Tatsache unterstreicht, nämlich die, daß es tief religiöse Naturen gegeben hat, die bedeutende Charakterfehler aufweisen.

Aber wenn wir solches erkennen, sollten wir dann sagen: »Da wir die Fehler dieser Männer sehen, haben wir weder den Wunsch, noch ist es unsere Pflicht, ihre Predigt anzuhören«, – so wie sich manche von den Zeitgenossen Augustins gegen seine Lehren ablehnend verhielten, weil sie wußten, daß er eine stürmische Jugend hinter sich hatte, während der er das Gebot, das zu jener Zeit für das allerwichtigste gehalten wurde, mannigfach übertreten hatte.

Oder sollten wir sagen: »Religion und Moral sind zweierlei Dinge; darum können wir die Predigt solcher Männer mit Nutzen hören, obgleich wir ihre Charaktere mißbilligen.«

Ziemlich unbefriedigend auch dieser Ausweg.

Aber es gibt noch eine dritte Art, diese Frage zu lösen, eine, die nicht – wie die eben angeführten – von Jesu Ansicht über die enge Verbindung zwischen Sittenlehre und Religion abweicht.

II.

Welche Grundlage wird im allgemeinen für die Morallehre angenommen?

Die zehn Gebote Moses.

Und um was handelt es sich hauptsächlich in diesen zehn Geboten?

Um eine Reihe von Verboten: »Du sollst nicht« und »Du sollst nicht«. Nur zwei von den Geboten – das dritte und das vierte – fangen nicht mit »Du sollst nicht« an; aber in der Art, wie das dritte Gebot meist verstanden wird, liegt doch auch ein Verbot: »Du sollst am Sonntag keine Arbeit tun.« Mit der Hinzufügung in strengeren Kreisen: »Du sollst am Sonntag keinem Vergnügen nachgehen.«

Was muß nun die Folge davon sein, wenn einer Generation nach der andern eingeprägt wird, daß die Grundlage der christlichen Moral lediglich in Verboten bestehe? Die allgemeine Ansicht wird ganz natürlicherweise die sein, daß der Beweis für einen für christliche Anschauungen guten Menschen darin besteht, daß er dies oder jenes nicht tut. Wer eines dieser Gebote nicht gehalten hat, wird für einen schlechten Menschen angesehen. Das Negative, nicht das Positive wird das Hauptmerkmal der Heiligkeit. Die Kraft, der Mut, edle Gesinnung, Nächstenliebe, Suchen nach Wahrheit, all das wird als wertlos betrachtet, wenn der moralische Wert eines Menschen abgeschält wird. Ein engherziger, niedriger Mensch, der andern weder zur Freude noch zum Nutzen lebt, oder einer, der durch seine kleinliche und streitsüchtige Natur seiner Umgebung das Leben zur Qual macht, wird jenem moralischen Standpunkt zufolge, falls er, soweit es bekannt ist, keines von den Verboten übertreten hat, für achtbarer gehalten als eine Person von allgemein gütiger, hochherziger Gesinnung, die aber der Versuchung, eines der zehn Gebote zu übertreten, nicht immer widerstanden hat, – oder sagen wir, eines der vier, die für die wichtigsten gehalten werden.

Es ist der negative Standpunkt der allgemeinen sittlichen Anschauung, warum sich manche Menschen gewissen Aussprüchen Jesu gegenüber so ängstlich und verständnislos verhalten.

Vor achtzehnhundert Jahren schrieb der römische Schriftsteller Celsus, der gegen das Christentum auftrat, daß Christus eine besondere Vorliebe für Sünder gehabt hätte – eine Anschauung, der Origenes widersprach. Geleugnet kann indes nicht werden, daß Celsus im Evangelium eine gewisse Unterstützung für diese Feststellung hat. Man denke an die Worte, daß im Himmel über einen Sünder größere Freude sein werde als über neunundneunzig Gerechte. Und denkt an das Gleichnis vom verlorenen Sohn! Wer würde nicht beim Lesen dieses Gleichnisses größere Teilnahme für den reuigen Sünder empfinden als für den mürrischen älteren Bruder, der bei der Rückkehr des jüngeren nur Ärger über die festliche Aufnahme an den Tag legt? Und außerdem – ist nicht der Vater selbst etwas parteiisch? Er hat dem älteren, untadeligen Bruder niemals ein Böcklein gegeben, aber er schlachtet das fette Kalb vor Freude über die Heimkehr des Sünders!

Es ist klar, daß Jesus in der Beurteilung eines Menschen dessen Natur als etwas Ganzes in Betracht zieht, das heißt, sowohl seine positiven als auch seine negativen Seiten. Er sah, wo die großen Möglichkeiten lagen. Er wußte, welch eine treibende Kraft die Reue sein kann. Ein Mensch, der gesündigt, aber dann bereut hat, kann, wie der verlorene Sohn, der zu seinem Vater zurückkehrt, oder wie Petrus, der hinausgeht und bitterlich weint, sein ganzes nachheriges Leben lang von dem dringenden Wunsche erfüllt sein, für seine Sünden Genugtuung zu leisten.

Es gibt ein altes spanisches Volkslied über die Sünderin, die im Hause des Pharisäers zu Jesu Füßen weint: in diesem Liede wird sie als mit Maria von Bethanien, Marthas und Lazarus Schwester, identisch aufgefaßt, – eine Ansicht, die sich auch bei mehreren anderen Legenden in verschiedenen Ländern findet. Und mehrere ernste Bibelforscher halten aufrecht, daß in den Erzählungen von den beiden, die die köstliche Salbe auf den angebeteten Meister gegossen haben, eine auffallende Ähnlichkeit herrsche, so daß diese Erzählungen – trotz unerheblicher Abweichungen – als dieselbe Person betreffend angesehen werden müßten.

»Aber dies ist ungereimt,« werden die meisten Leute sagen. »Wie könnte diese Frau, von der die Pharisäer höhnisch erklärten: ›,Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührte,‹, wie könnte sie eine von den beiden Schwestern sein, von denen im Evangelium gesagt ist, daß Jesus sie liebte?«

Es mag sein, daß Jesus der Freund »von Zöllnern und Sündern« war; aber darunter verstehen die Leute meist, daß diese Freundschaft von anderer Art war, als die er einem »Gerechten« zuteil werden ließ; sie halten es für eine etwas herablassende Freundlichkeit. Wie unangenehm berührt sich die Kirche immer über die Milde des Meisters Sündern gegenüber gefühlt hat, zeigt sich am besten in dem Schicksal, das einer der ergreifendsten Erzählungen des Evangeliums zuteil geworden ist: der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin. Wie bekannt, ist diese Geschichte in mehreren der ältesten und wichtigsten Quellen zum vierten Evangelium nicht zu finden. Aber es ist unmöglich, zu glauben, daß diese Geschichte eine Erfindung sei. Welche Kraft und welche Ursprünglichkeit zeigt sie doch! Und wie lebendig, wie charakteristisch für Jesus ist die beißende Schärfe, mit der er die Pharisäer zurückweist, sowie die wehmütige Güte, womit er die Sünderin behandelt. Diese Geschichte muß sicherlich echt sein. In gewissen Kreisen scheint man sich doch darüber beunruhigt gefühlt zu haben, und so hatte man schon früh Abschriften der Evangelien hergestellt, worin sie ausgeschaltet ist. Es gab schon vorher mehr als eine Stelle in ihnen, die auf die Anhänger der negativen Moralität beunruhigend wirkte; so zum Beispiel die Tatsache, daß Jesus dem samaritischen Weibe, die auch eine Sünderin war, so viel höheres Wissen mitteilte und ganz davon absah, ihr Vorwürfe zu machen.

In Wirklichkeit hatte Celsus mit seiner Bemerkung, daß der Gründer des Christentums eine gewisse Vorliebe für Sünder gehabt habe, vielleicht recht. Jesus wußte, daß im ganzen genommen die Grundsätze von der negativen Moral anerkannt waren, wenn sie auch sicherlich nicht allgemein befolgt wurden; aber er wußte zugleich, daß die Menschen sich kaum des Werts der positiven Moral bewußt waren – des Wertes der Güte, der Großmut, der Menschenliebe. Er mochte es deshalb für notwendig gehalten haben, die positive Ethik wenigstens als ebenso wertvoll wie die negative hervortreten zu lassen.

Deshalb hebt er zum Beispiel in der Beschreibung des jüngsten Gerichts durchaus nicht hervor, was die Menschen gegen die zehn Gebote gesündigt hatten; er spricht nur davon, wie sie die Forderungen der Barmherzigkeit erfüllt haben.

Die Zöllner und die Sünderinnen, bei denen Jesus einkehrte, sie, die sich von aller Welt verachtet wußten und darum wohl vor Selbstgefälligkeit ziemlich sicher waren, diese Menschen, welcherlei Fehler sie auch sonst gehabt haben mochten – sie waren doch empfänglicher für die Ermahnungen des Meisters als die Pharisäer, die sich selbst für vorzüglich hielten.

III.

Es gibt ein Schauspiel, das seinerzeit sehr viel besprochen worden ist und das eine Art modernes Seitenstück des obengenannten Gleichnisses von den zwei Brüdern ist, da es eine Weltanschauung andeutet, die der, welche der Meister hervorhebt, entspricht. Es ist Ibsens »Nora, ein Puppenheim«, das nicht, wie häufig falsch verstanden wird, als ein Schauspiel der Emanzipation der Frauen geschrieben worden ist. Ibsen stellt zwei verschiedene Typen dar: »den Sünder« und »den Gerechten« – die Frau, die gesündigt hat, und den Mann, der empört darüber ist. Diese beiden trennen sich, weil keines den Standpunkt des andern versteht und weil eines dem andern seine Fehler nicht vergeben kann. Der Mann erregt sich über den Mangel an Wahrheitsliebe und Rechtsgefühl bei der Frau, die Frau aber ist über den Mangel an Güte und Großmut des Mannes empört. Es ist nicht schwer, zu erkennen, nach welcher Richtung die größere Teilnahme des Autors neigt. Wie der große Menschenkenner, der uns das Gleichnis von dem verlorenen Sohn gab, hat der tiefschauende Dramatiker instinktmäßig gefühlt, wo die größere Kraft und die reicheren Möglichkeiten zu finden seien. Wenn die Frau in »ein Puppenheim« gelernt hat, sich ihrer Fehler bewußt zu sein und gegen sie anzukämpfen, wird sie zu einer Persönlichkeit heranwachsen, die in hohem Grade fähig ist, ihren Mitmenschen zu Nutz und Frommen zu sein, während sich andererseits ihr ausgezeichneter Gatte mit den Jahren zu einem noch trockeneren, korrekteren, unfruchtbareren und selbstzufriedeneren Menschen auswachsen wird.

*

Wenn man eine Anzahl Leute auffordern würde, ihre Ansicht über die Jünger Jesu darzulegen, würde wohl keiner meinen, nächst Judas Ischariot sei Petrus der schlechteste von ihnen gewesen. Keiner von den andern Aposteln hat sich jedoch, so viel wir wissen, jemals halb so schwer versündigt wie Petrus in der Nacht, da Jesus verraten ward. Nicht allein hat er sich des Meineids schuldig gemacht, als er erklärte, er kenne Jesus nicht, sondern er hat auch diese Verleugnung ausgesprochen in dem Augenblick, wo Jesus – von allen verlassen, verspottet, verhöhnt und mit dem Tode bedroht – hören mußte, was der Jünger sagte. In der Beurteilung von Petrus Charakter bedenken wir aber auch das Gute, das er getan hat, seine ganze wichtige nachherige Wirksamkeit.

Dasselbe kann von Paulus gelten.

Er hatte getan, was allgemein als verabscheuenswert betrachtet wird: er hatte Menschen ihres Glaubens wegen verfolgt, gemartert und getötet. Allerdings hatte er es in der Überzeugung getan, Gott damit zu dienen. Aber der grausame spanische Großinquisitor Torquemada glaubte auch, Gott zu dienen, als er Ketzer verbrannte, welche Tatsache uns jedoch nicht hindert, ihn höchst unsympathisch zu finden. Jedenfalls aber hat Paulus, als er die Verbrechen, die er begangen hatte, als solche erkannte, sein ganzes Leben lang Buße dafür getan, und zwar so, daß ihn die Christenheit als einen ihrer größten Söhne anerkennen muß. Offenbar empfand er die Erinnerungen an seine Verfehlungen als eine beständige Mahnung. Daß er sich über seine vielen schweren Prüfungen nie beklagt, daß er geduldig das Wissen hinnimmt, das ihm, wie er sagt, durch den Geist kundgetan worden sei, nämlich, er werde immer und überall Leiden entgegengehen, daß er da, trotz allem, Gott dankt und die Menschen zu beständiger Freude, beständiger Liebe auffordert – das hat seinen Grund gewiß zum großen Teil in dem Gefühl, daß er eine große Schuld abzutragen habe.

Auch in Petrus wurde die Reue die Macht, die ihn änderte. Zwar nicht so, daß er auf einmal von allen seinen Fehlern frei wurde. In den Ereignissen, die in dem zweiten Kapitel des Briefs an die Galater geschildert sind, benimmt er sich noch feige und unwahr. Sonst aber zeigte er hinlänglich, daß er zu denen gehörte, deren Weg aufwärts führt.

Wenn wir versuchen wollen, uns klar zu machen, was das Schuldgefühl für diese beiden gewesen sein muß – für sie, deren Arbeit von solcher Bedeutung für die Menschheit war – dann können wir vielleicht verstehen, was Jesus meinte, als er sagte, es sei mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tue, als über neunundneunzig Gerechte, »die der Buße nicht bedürfen«, fügt Jesus hinzu. Welche wehmütige Ironie liegt in diesen Worten! Nicht begreifen, daß sie der Buße bedürfen – das gerade ist, im tiefsten Sinn genommen, ihr Unglück.

 

Wenn ein Mensch auf Grund einer Schwäche, deren er sich vorher vielleicht nicht einmal bewußt war, einer Versuchung erlegen ist, dann kommt es vor, daß für ihn die Erkenntnis seines Fehltritts und die nachfolgende tiefe Reue der Anfang der Entwicklung zu einem nach oben führenden Leben wird. Alles Leben ist entweder zunehmend oder abnehmend; so ist es auch bei dem geistigen Leben. Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet ist es darum von größter Wichtigkeit, daß ein Mensch auf die Stufe gelangt, wo er sich nicht mehr im geheimen selbst bewundert, sondern im Gegenteil streng beurteilt.

Sokrates' Behauptung: »Wer erkennt, was recht ist, tut es«, ist als ein allzu kindlicher Optimismus oft belächelt worden. Und doch ist in diesen Worten eine tiefe Wahrheit verborgen. Wer in die tiefsten Tiefen seines eigenen Wesens hinunterschaut, und da, mit Angst und Schmerz, Selbstsucht als den verhängnisvollen dunklen Punkt entdeckt; wer gefühlt und erkannt hat, daß er allein durch seine Hingabe an die ewige Liebe von dieser Selbstsucht befreit werden kann, der mag gewiß noch viele Kämpfe auszufechten haben, er mag noch viele Niederlagen erleiden, aber sein Streben, sich wieder zu erheben, vorwärts und aufwärts weiterzukommen, kann nie erlöschen.

Also, von dem Standpunkt der Ewigkeit aus liegt der Unterschied zwischen den »neunundneunzig Gerechten« und »dem Sünder«, der ernstlich bereut, hauptsächlich darin: dieser ist durch die enge Pforte, die aufwärts führt, gegangen, während jeder von den neunundneunzig noch vor der Entscheidung steht. Wie ehrbar er in diesem Leben auch immer erscheinen mag, so ist doch durchaus nicht sicher, daß er in einem künftigen Leben in vielleicht schwierigeren Lagen, als er sie jemals hier unten durchgemacht hat, aufrecht bestehen kann.

Vielleicht ist das Gesetz, vielleicht Gottes Plan für die Welt derart, daß jede Seele zu irgendeiner Zeit vor die schwierigste Versuchung gestellt wird – vor die Versuchung, der sie am schwersten widerstehen kann. Und vielleicht kann dann keiner, der es nicht gelernt hat, Kraft in der Kraft selbst zu finden, vor dem Fall bewahrt bleiben. So wird möglicherweise jeder von den neunundneunzig Gerechten zu irgendeiner Zeit ein Sünder werden – einer, der schwer gesündigt hat. Und dann wird es darauf ankommen, ob der Fall ihn zu der tieferen Selbstbetrachtung führt – oder nicht führt – die die Angst in erneuernde Reue und Buße verwandelt.

Wenn es so ist, können wir es verstehen, warum im Himmel keine große Freude sein kann über die Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.

IV.

Schon frühzeitig war negative Moralität in der Christenheit vorherrschend.

Nicht als ob sie jemals von Jesus gepredigt worden wäre. Aber in der griechischen Philosophie, die in der ersten christlichen Zeit die Völker am Mittelmeer so sehr beeinflußte, gab es eine entschiedene Neigung nach dieser Richtung hin.

Die griechische Philosophie war schon im Anfang pessimistischer in ihren Ansichten als im allgemeinen anerkannt wird. Als im zweiten Jahrhundert nach Christus Plutarch seinem Freund Apollonius, der einen lieben Verwandten verloren hatte, in einem Briefe seine Teilnahme bezeugte, begann er das Schreiben mit einer Reihe von Zitaten aus griechischen Dichtern, die sich in Beziehung auf das Leben der Menschen auf Erden höchst pessimistisch ausgedrückt hatten.

Unter diesen Zitaten führt er Äschylos an:

»Kein Sterblicher sollte scheu'n sich vor dem Tode,
Die beste Heilung ist der Tod für vieles Leid.«

Er könnte auch Sophokles zitiert haben, welcher sagt, daß es für den Menschen das beste ist, nicht geboren zu werden und das nächstbeste, früh zu sterben.

Und ebenso Euripides:

»Wenn erst der Mensch wird tot getragen aus dem Haus,
Dann freuet euch, sein Schmerz hat dann ein Ende!
Doch wenn ein Mensch geboren wird, dann klagt,
Denn vieles Leid er zu erwarten hat.«

In naher Verbindung mit dieser düsteren Lebensauffassung gab es eine Askese, die die Materie für die Ursache alles Bösen hielt.

Anaxagoras, sagt Aristoteles, wäre der Ansicht gewesen, daß die Materie die Ursache des Bösen sei. Diese Ansicht wurde auch von Empedokles vertreten. Pythagoras lehrte, daß die Seele zur Strafe in dem Körper gefangen sitze. Plato läßt Sokrates sagen: »Solange wir den Körper haben und unsere Seele mit einem solchen Übel zusammengeknetet ist, werden wir niemals dasjenige in genügendem Maße erwerben können, wonach wir Verlangen tragen; dieses aber, sagen wir, sei das Wahre.

Würde nicht die Reinigung gerade darin bestehen, die Seele so viel wie möglich von dem Körper zu trennen und sie daran zu gewöhnen, getrennt von dem Körper, als von Ketten befreit, allein mit sich selbst zu sein? – – Gerade ihr (der Seele) Eintritt in den menschlichen Körper war wie eine Krankheit für sie, es war der Anfang ihrer Zerstörung.«

Auch von Plato sagt Aristoteles, daß er die Materie für die Ursache alles Bösen gehalten habe. Noch größeres Gewicht auf diesen Zug legten die Neuplatoniker. Sie glaubten, diese Welt sei durch Sünde hervorgebracht: aus verbrecherischer Lust seien die Seelen in die Materie herabgezogen worden. Und Erlösung werde gewonnen, indem man sich von aller Sinnlichkeit durch strenge Askese frei mache.

Die Gnostiker, die in sehr weitem Maße ihre Anregungen von der hellenischen Philosophie erhielten, waren von der überwältigenden Wichtigkeit der Befreiung von der Materie ebenso überzeugt wie die Neuplatoniker. Und die christliche Kirche war, obwohl sie sonst den Neuplatonismus und auch den Gnostizismus bekämpfte, in Beziehung auf die Sinnlichkeit als die Hauptsünde der gleichen Ansicht.

Um die Mitte des zweiten Jahrhunderts waren noch die hervorragendsten christlichen Denker, Männer wie Justinus und Clemens Alexandrinus, von asketischen Ansichten ziemlich frei. Am Ende desselben Jahrhunderts aber wurde diese asketische Richtung schon stärker und gewann schließlich einen entschiedenen Sieg.

Wenn indes heißblütige südliche Naturen dies für die stärkste Forderung der Gottheit hielten: daß die Menschen den mächtigen Naturinstinkt, der ihnen befiehlt, »sich zu mehren und die Erde zu füllen«, vollständig in sich ertöten sollten – dann wurde ihr Kampf so gesteigert, so verzweiflungsvoll, daß es für sie recht wenig Raum mehr für ein anderes Streben gab. Das Verlangen nach anderen positiven Tugenden schwand hin zu einer verhältnismäßig unbedeutenden Sache.

Und wenn ein Mann wie Augustin zu der Überzeugung kam, es wäre unmöglich, jedes fleischliche Verlangen zu unterdrücken, dann wurden hieraus zwei verhängnisvolle Lehren geboren: die von der angeborenen Sünde, die dem Menschen selbst den Wunsch, Gutes zu tun, unmöglich mache, und die von der stellvertretenden Versöhnung, die allein Gottes Zorn über die Unfähigkeit der Menschheit, die Sünde zu lassen, abwenden könne.

Wenn aber ein Mensch der Versuchung der Fleischessünde widerstanden hatte, dann wurde er für einen großen Heiligen gehalten, einerlei, ob er sonst auch eine Menge unchristlicher Unzulänglichkeiten, wie Hochmut, Feindseligkeit und Härte, aufwies. Man meinte, er habe etwas so Großes vollbracht, daß eigentlich Gott sein Schuldner sei – was San Luiz Gonzaga, einer der berühmten Heiligen des Mittelalters, offen erklärte.

Von den Reformatoren brach in gewisser Hinsicht Luther mit der asketischen Lebensanschauung – während er an den Dogmen der Erbsünde und der davon ausgehenden stellvertretenden Genügeleistung festhielt. Aber mit der Ansicht von der negativen Moral brach er nur halb. Die in den von ihm und Calvin gegründeten Kirchen vorherrschenden moralischen Ansichten zeigen zur Genüge, daß sie sich durchaus nicht von der einseitigen verbietenden Moral freigemacht haben.

V.

Heutigentags allerdings sind andere Ansichten vorherrschend. Mit Ausnahme einiger Menschen von puritanischem Charakter sind die meisten weit davon entfernt, die Fleischessünde als die Hauptsünde anzusehen. Im Gegenteil hört man häufig die Erklärung, daß in diesem Fall von Sünde keine Rede sein könne. Die Leute würden nur den unwiderstehlichen Lebensforderungen unterliegen, wenn sie wieder und wieder der Lust ihres heißen Blutes nachgäben.

Aber dem Leibe die ihm nötige Nahrung zu geben, ist ja auch einer der stärksten und unwiderstehlichsten Instinkte der Natur; wird dann der Mensch, der am Verhungern ist und nun stiehlt, um sich am Leben zu erhalten, auch so leicht entschuldigt wie einer, der in rücksichtsloser Weise seine sinnlichen Lüste befriedigt?

Nein, das wird durchaus nicht zugegeben.

Und warum?

Der Grund dafür kann nicht sein, daß bei dem ersten mehr Schaden angerichtet werde als bei dem letzten. Wenn ein Mann eine Frau verführt, oder eine Frau einen Mann dazu verlockt, seiner Gattin untreu zu werden, so bringt das in den meisten Fällen mehr Schmerz und Leiden über die Mitmenschen, als wenn ein Bäcker von dem armen Kerl geschädigt wird, der ihm einen Laib Brot stiehlt.

Hier ist die Oberflächlichkeit der jetzigen Moral gezeigt. Wenn der Dieb entdeckt ist, wird er durch das Gesetz gestraft und ist in der öffentlichen Meinung für immer entehrt, wohingegen der rücksichtslose Erotiker, mit Ausnahme von ganz krassen Fällen, niemals vom Gesetz bestraft wird und demzufolge auch in der öffentlichen Meinung nicht entehrt ist, selbst wenn er viele Leben zugrunde gerichtet und seine eigenen Möglichkeiten, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden, zerstört hat.

 

Die größte Veränderung in den Ansichten, wie weit es erlaubt sei, den erotischen Gefühlen nachzugeben, ist zweifellos durch die Künstler und Dichter herbeigeführt worden. Die, welche durch erotische Berauschung die Zunahme der schöpferischen Kraft erfahren haben, sind geneigt, darin die notwendige Quelle der Schöpferkraft zu sehen.

Sie wissen natürlich, daß in der Kunst nicht allein die daherbrausenden Stürme der Kraft, sondern auch die kritische Betrachtung notwendig ist. Aber immerhin sind sie nur selten geneigt gewesen, Selbstbeherrschung als eine Kraftquelle anzuerkennen.

 

Oft ist über die Verantwortung talentvoller Menschen in Beziehung auf sittliche Fragen lebhaft gestritten worden.

Die einen erklären, für Übermenschen gäbe es eine besondere Moral. Andere neigen zu der Meinung, – obgleich sie sie nicht offen aussprechen – daß gerade die hohe Begabung eines Menschen, wenn es sich um die Beurteilung seiner Lebensweise handle, als erschwerender Umstand ins Gewicht zu fallen habe. Oder wenigstens, daß eine hohe Begabung ein ernstes Argument gegen einen Menschen sei, wenn es sich darum handle, die Wahrhaftigkeit einer üblen Nachrede zu beurteilen.

 

»Die größten Männer sind nicht die fehlerfreiesten,« sagt der Historiker Mommsen.

Michelangelo, einer der Größten, die die Menschheit je gesehen hat, verkaufte einmal eines seiner eigenen Bildwerke, indem er es fälschlicherweise für ein antikes Kunstwerk ausgab. Und mehr als einmal verriet er in einem gefährlichen Augenblick seine Freunde oder verleugnete seine Ideen.

Sollen wir also sagen, wie manche es tun: dies sei aus einer gerechtfertigten Sorge um ein für die Menschheit wertvolles Leben geschehen?

Es würde wahrhaftig den schöpferischen Geistern ein schlechter Dienst erwiesen, wenn man in sittlicher Beziehung weniger von ihnen verlangte als von anderen Menschen.

Aber wenn wir eine positive Moralauffassung anwenden, die, wie wir schon gezeigt haben, von Jesus klar und deutlich festgehalten wurde, erblicken wir eine Lösung der Frage: ob wir wirklich berechtigt sind, die moralischen Verirrungen eines schöpferisch begabten Menschen mit ein wenig Nachsicht zu beurteilen.

Eins ist gewiß: Unendlich viel Arbeit liegt hinter dem Lebenswerk eines jeden Genies.

Und wenn Entwicklung göttliches Gesetz und das Ziel der Menschheit ist, ist dann nicht Arbeit die allerwichtigste Pflicht?

Wenn alles, was die Sphäre unserer Gedanken erweitert oder unserer Sehnsucht nach Schönheit Nahrung gibt, ein Gewinn für die Menschheit ist, darf dann nicht diese Arbeit zum Vorteil der Menschheit als eine positive Tugend betrachtet werden?

Der gedankenlose Einwand, die Arbeit des Genies sei häufig nur ein Spiel, wird nur von Menschen erhoben, die von dem Wesen des Genies keine Vorstellung haben.

Der weltberühmte schwedische Maler Zorn, der in der Regel nur zwei Stunden am Tage arbeitete und von dem allgemein angenommen wurde, er arbeite mit »großer Leichtigkeit«, teilte seinen Freunden mit, er verbrauche in diesen zwei Stunden alle seine Fähigkeiten in einem Maße, daß es ihm unmöglich wäre, eine längere Zeit zu arbeiten.

In der Tat besteht ein hauptsächlicher Bestandteil des Genies in der Fähigkeit, alle Geistesgaben aufs äußerste anzustrengen. Nicht, daß ihre Schöpfungen immer von ihnen selbst als eine Arbeit empfunden würden; sehr häufig werden sie als Inspiration gewertet. Aber eine Möglichkeit, eine Inspiration zu erhalten – ob das nun als eine direkte Beeinflussung von anderen nicht verkörperten Intelligenzen oder als eine Schöpfung aus den Tiefen des Unterbewußtseins zu betrachten ist – wird sicherlich von vorhergehender intensiver Arbeit abhängen. In den meisten Fällen wahrscheinlich auch von der Arbeit in früheren Leben.

Und wenn schöpferische Geister viel geleistet haben, dann haben sie ohne Zweifel auch viel gelitten. Ganz gewiß müssen wir alle leiden. Aber es ist, wie wir schon betont haben, eine biologisch festgestellte Tatsache, daß sich die Empfindlichkeit dem Schmerz gegenüber in dem Maße steigert, je verschiedenartiger und mannigfaltiger ein lebendiges Geschöpf veranlagt ist. Diese starke Empfindlichkeit für verschiedene Eindrücke, die eine wesentliche Eigenschaft schöpferischer Geister ist, muß auch die Leidensfähigkeit steigern. Also wenn ein Genie mit viel Arbeit und viel Leiden seine Entwicklung bezahlt hat, darf man vielleicht seine Verirrungen gerechterweise mit einer gewissen Nachsicht betrachten. Oder vielleicht sollten wir eher sagen: mit derselben Nachsicht, die wir eigentlich allen unseren Mitmenschen schulden.

Denn »Richtet nicht!« Jene warnenden Worte von dem größten Menschenkenner gelten noch heute.

 

Eines ist sicher: bei allen Menschen liegt Gutes und Böses nahe beieinander.

»Gesegnet bist du, Simon Jonas Sohn,« sagt Jesus im sechzehnten Kapitel Matthäi, »denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel.«

Aber: »Hebe dich, Satan, von mir!« sagt der Meister sechs Verse später in demselben Kapitel zu demselben Jünger.

VI.

»Wehe euch, wenn euch jedermann wohl redet!«

Wer unter uns hat nicht manchmal in seinem Herzen gesagt: »Das sind grausame Worte.« Besonders wenn wir noch jung sind und so sehr gern aller Menschen Wohlwollen zu besitzen wünschen.

Aber es wird eine Zeit kommen, wo wir die tiefe Wahrheit dieser Worte Jesu verstehen.

Warum redet man wohl von einem Menschen?

Teils, weil man ihn im Besitz der negativen Tugenden hält. Aber noch mehr, weil ihm einige von den positiven fehlen. Zum Beispiel der Eifer, die Wahrheit bei entscheidenden Gelegenheiten zu verkündigen.

Der Menschensohn verlangte von seinen Jüngern, »das Salz der Erde« zu sein und ihr »Licht vor den Leuten leuchten zu lassen«. Er ermahnte sie, ihm nachzufolgen. Und was war sein Lebenswerk, wenn nicht zuerst und vor allem anderen eine Belehrung über die Wahrheit, ein Hinwegräumen verhängnisvoller Irrtümer und veralteter Ideen?

Aber die, welche sich heutzutage Christen nennen, machen oft den Weg des Verkünders der Wahrheit ebenso dornig wie jemals.

Niemals hat Jesus negative Moral stärker angegriffen als in dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden.

Der Mensch, der nur ein Pfund erhielt, wußte sehr gut, daß sein Herr ein gestrenger Vorgesetzter war. Aber als er überlegte, in welcher Weise er bei dessen Nachfragen die Strafe vermeiden könnte, fand er keinen bessern Ausweg, als sein Pfund zu vergraben. Dadurch hatte er wenigstens keinen Schaden angestiftet; er war ein unsträflicher Mensch.

Die Leute, die an die negative Moral glauben, denken so.

Aber der Mensch mit dem einen Pfund wurde auf harte Weise aus seinen selbstzufriedenen Erwägungen herausgerissen.

»Du Schalk und fauler Knecht«, so lauteten die flammenden Worte. Sein ganzes negativ gutes Betragen nützte ihm gar nichts, denn er hatte das Wichtigste vernachlässigt: sein Pfund so zu verwalten, daß es sich vermehrte. Er hatte die Entwicklung seines inneren Menschen versäumt, die ihn befähigt hätte, seinem Meister künftighin besser zu dienen.

VII.

Nein, die Hauptsünde ist weder Sinnlichkeit noch einige andere Verstöße gegen die Moralgebote des Dekalogs. Wenn Gott Liebe ist, dann muß die Hauptsünde Selbstsucht sein.

Wenn es in Gottes Absicht liegt, daß ein Strom der Hilfe, des Trostes und lebengebender Barmherzigkeit durch das ganze Weltall kreise, in derselben Weise, wie der Strom warmen lebendigen Bluts den physischen Organismus jedes menschlichen Wesens durchkreist – dann würde jeder, der sich in Selbstsucht von andern absondert, der als Ziel aller seiner grübelnden Gedanken, aller seiner geheimen Hoffnungen nur das Vergnügen und die Verherrlichung des eigenen Ichs hat, ein Hindernis und eine Gefahr werden, so wie ungesunde Zellenbildungen den Kreislauf im menschlichen Körper beeinträchtigen.

Es ist bezeichnend, daß die heutigentags am meisten gefürchtete und sich am meisten verbreitende Krankheit, nämlich der Krebs, biologisch bedeutet: daß gewisse Zellen in aufrührerischer Selbstsucht Kräfte an sich ziehen, um einen unabhängigen Organismus im Organismus aufzubauen, einen, der dem Ganzen schadet und ihn zerstört.

Es gibt nur einen Weg, den Krebs, der Egoismus genannt wird, zu heilen. Eine Operation durch den Stahl des Willens? Nein, eine solche Operation ist fast immer nur von kurzer Wirkung. Aber wenn wir unser ganzes Wesen den Strahlen der ewigen Liebe sehnsüchtig öffnen, dann kann auch in uns die Liebe entzündet werden, die die Selbstsucht ausbrennt.

Was die Selbstsucht so verhängnisvoll macht, ist, daß sie sowohl von andern als von uns selbst nur schwer erkannt wird. Vielen höchst selbstsüchtigen Naturen gelingt es, mit schönen Worten die Welt vollständig zu täuschen. Den meisten gelingt es auch wunderbar gut, sich selbst zu täuschen. Vielleicht braucht es in den meisten Fällen einer die Seele tief erschütternden Erfahrung, um solch einen Menschen dazu zu bringen, in sich selbst hineinzuschauen, sich selbst zu richten.

 

Eine alte persische Legende erzählt von Yima, dem großen König: als er sich in der Welt umschaute und sah, wie gut er alles in seinem Königreich eingerichtet hatte, rief er voller Stolz: »Wohin ich schaue, erblicke ich mich selbst.«

In demselben Augenblick aber, wo der weise Fürst sich so der Selbstbewunderung hingab, erlosch der Hvareno, der sein Haupt umgab, jene geheimnisvolle Helle, die das Verbundensein mit Gott, den Besitz inneren Lichts kennzeichnet.

Und Yima versank in die Nacht der Unterwelt – um erst am Ende der Tage gereinigt und geläutert wieder daraus hervorzugehen.

*

Sowohl in dem Weltsystem der Atome, als auch in dem der Planeten gibt es Satelliten, die sich um ihre Sonne bewegen in einer Bahn, die beinahe einen vollkommenen Kreis bildet, und zwar in einem beständig harmonischen Gleichgewicht einerseits zwischen der Anziehung, die von dem Zentrum ausgeht, und andererseits der Zentrifugalkraft, die ihnen das eigene Dasein bewahrt und sie davor beschützt, von der Sonne verschlungen zu werden. Auch gibt es Kometen, die auf ihren elliptischen Bahnen sich so weit von der Sonne entfernen, daß dabei die Möglichkeit der Entwicklung organischen Lebens ausgeschaltet wird. Es behaupten nun die Gelehrten, in der Welt der Atome könne ein Elektron, das eine elliptische Bahn habe, in die reguläre Kreisbahn übergehen. Vielleicht ist es bei den Vagabunden des Himmels, den Kometen, ebenso? Durch den Einfluß und die Anziehung von verschiedenen Seiten her, denen alle Wanderer des Himmels unterworfen sind, ist es vielleicht jedem von ihnen möglich, in eine harmonischere Bahn geleitet zu werden und dadurch an dem unbegrenzten Leben der Planeten Teil zu bekommen? – Und wir selbst – wir wandernden Seelen, die im tiefsten Innern die Anziehungskraft der Sonne unserer Welt, von der wir ausgegangen sind, fühlen, von derem Zentrum wir aber in unserer uns zersetzenden Unrast, unserer Selbstsucht manchmal sehr weit weggeirrt sind – sind wir nicht dazu geschaffen worden, dem Ziele zuzustreben:

Aus Gehorsam gegen das vollkommene Gesetz, – das Gesetz der Liebe – die Harmonie vollkommenen Gleichgewichts zu erlangen?

VIII.

Dostojewski kämpfte mit einem Problem, das er so ausdrückte: den Menschengott mit dem Gottmenschen zu vereinigen. Das heißt, das hellenische Ideal eines harmonischen, stolzen und freien Menschen mit dem christlichen Ideal zu vereinigen, das die Notwendigkeit der Demut und die Pflicht der Selbstaufopferung betont.

Es gibt vielleicht eine Lösung dieses großen Problems.

Selbst wenn die Pforten zu dem Reich Gottes Demut heißen, selbst wenn wir uns unserer Unzulänglichkeit tief bewußt sein müssen, um Kraft in vollem Maße von Gott empfangen zu können, – sobald der Mensch imstande ist, den Kraftstrom und den Lichtstrom von oben in sich aufzunehmen, wird sein Vermögen in einer Weise wachsen, die das alte Wort »ihr seid Götter« wahr werden läßt. So wird der Übermensch geboren, nicht als ein Gegensatz zu dem Gott-Menschen Christus, sondern in Kraft seiner Verbindung mit ihm, in Kraft der vollen Hingabe des Herzens an den, der auf Erden gekommen ist, die Gottnatur und die Menschennatur kundzutun.

Bei einer solchen Ansicht vom Christentum ist Raum gegeben, nicht allein für Demut, sondern auch für Selbstvertrauen, nicht nur für Barmherzigkeit, sondern auch für Mut, nicht nur für Mitleid, sondern auch für Lebensfreude.

So wird die Ethik Christi in hohem Maße dem heutigen denkenden Menschen angepaßt werden, die sich nicht mit dem alten Mönchsideal aussöhnen können, nicht mit einer Religion, die hauptsächlich aus Verneinungen besteht, die vieles unterdrückt, was, wie wir im tiefsten Grunde fühlen, seinen großen Wert hat.

Fürwahr, das Christentum besteht nicht nur aus Verneinungen. Es ist Kraft, es ist Freude, es ist der Flügelschlag starker Schwingen der Unendlichkeit entgegen. Es ist nicht nur ein Sehnen nach einer Welt der Seligkeit jenseits des Todes, es ist zuerst und vor allem ein Bestreben, unsere eigene Seele und die Welt um uns her in ein Reich des Segens zu verwandeln.


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