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Eine neue Religion?

I.

Meinen Sie, die Welt sei im Begriff, eine neue Religion zu bekommen?«

Diese Frage stellte vor einigen Jahren ein Journalist an Rabindranath Tagore.

»Eine neue Religion könnte nicht geschaffen werden,« antwortete der alte weise Inder. »Die tiefen Wahrheiten aller Religionen wurden schon in den alten Zeiten durch Denker und Seher in Worte gefaßt.«

Zweifellos hat Tagore recht.

Auf verschiedene Weise, zu verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Völkern sind die großen ewigen Wahrheiten ausgesprochen worden. Ab und zu hat eine inspirierte Persönlichkeit etwas geäußert, was ihre Volksgenossen als Worte göttlicher Wahrheit anerkannt haben.

Sprüche von wunderbarer Tiefe finden sich in den alten Schriften.

In den Vedabüchern ist gesagt:

»Die Engel versammelten sich um den Thron des Allmächtigen, redeten ihn in aller Demut an und fragten, wer er selbst sei?

Er antwortete:

»Wenn es außer mir noch einen gäbe, würde ich mich durch einen Vergleich mit ihm beschreiben. Ich bin von Ewigkeit her gewesen und werde in Ewigkeit sein. Ich bin der Ursprung von allem, was da ist. – Ich bin die Wahrheit. Ich bin der Geist der Schöpfung und der Schöpfer selbst. Ich bin Weisheit und Reinheit und Licht, ich bin allmächtig.«

In den heiligen Schriften des Parsismus lesen wir:

»Der hat nichts gewonnen, der nicht die Seele gewonnen hat. Nichts gewinnt, wer nicht die Seele gewinnt. – Die nur kämpfen, um Vergnügen zu gewinnen, kämpfen für Böses. – Heiligkeit ist das höchste Gut! Heiligkeit ist Glück.«

Der weise Laotse sagt: »Ein wahres menschliches Wesen zu sein, ist: in Harmonie mit der Gottheit sein.«

Etwa fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung sagt Kungfutse: »Tu andern nicht das an, was du nicht wünschest, daß andere dir antun sollen.«

Etwa ein Jahrhundert später sagte der athenische Redner Isokrates: »Sei gegen andere, wie du wünschest, daß andere gegen dich sein sollen.«

Ist dieser Gedanke auf unbekannten Pfaden von dem fernen Osten an die Ufer von Attika gelangt? Es ist möglich, aber kaum glaublich. Der wirkliche Grund wird sein: In der tiefsten Tiefe haben alle Seelen eine geheimnisvolle Verwandtschaft. Weil alle ein und demselben Ursprung entstammen.

II.

Sollen wir demnach so sprechen, wie einige es tun: »Es ist einerlei, welcher Religion man angehört. In jeder Glaubenslehre ist die Möglichkeit gegeben, das Beste in uns zu entwickeln.«

Ja, die Möglichkeit ist da, aber es mag ein unmeßbarer Unterschied da sein in der Schnelligkeit der Entwicklung. Der Einfluß einer erhabenen Persönlichkeit darf nicht übersehen werden, noch die Tatsache, daß Christus eine einzig dastehende Gestalt in der Weltgeschichte ist.

Gewiß gibt es solche, die dies verneinen. Es gibt sogar welche, die zu beweisen versuchen, daß Jesus nicht existiert habe, daß die Erzählungen der Evangelien Erfindung seien. Durch eine solche Ansicht wird doch u. a. dargetan, daß deren Vertreter der literarischen Einfühlung ermangeln, oder daß ihre Intuition eben in diesem Fall durch vorgefaßte Meinungen getrübt war. Wer immer literarisches Verständnis hat, begreift das eine: niemand kann eine Persönlichkeit erfinden, die größer wäre, als er selbst.

Wenn ein Schriftsteller uns versichert, sein Held sei ein Genie, dann ist der kritische Leser durchaus nicht davon überzeugt, falls es dem Dichter nicht gelungen ist, seiner Schöpfung ein geniales Gepräge zu geben. Wenn man also sagt, die Gestalt Christi sei eine Erfindung, dann ist es genau so, als würde man sagen, die ganz unbekannten Schreiber, die diese Geschichte von Jesus verfaßt haben, seien die größten Genies gewesen, die die Weltliteratur kennt. Denn wie wäre es ihnen sonst möglich gewesen, eine Gestalt von so überwältigender Erhabenheit, von solch geistigem Reichtum zu erfinden? Wie hätten sie fähig sein sollen, diese gewaltigen Aussprüche, diese Gleichnisse von so erstaunlicher Schönheit, diese Antworten, die wie Blitzstrahlen wirken, hervorzubringen?

Wahrhaftig, Jean Jacques Rousseau hatte recht, als er schrieb: Wenn das Bild von Christus, das die Evangelien zeigen, eine Erfindung wäre, so wäre das ein noch erstaunlicheres Wunder, als daß eine Persönlichkeit wie der Menschensohn wirklich auf der Erde gelebt hat. »So etwas erfindet man nicht.« Rousseau hatte selbst eine starke Einbildungskraft, deshalb ist dieses Zeugnis von Wert; Dichter haben ein intuitives Gefühl, was Erfindung sein kann und was nicht.

Ein wichtiger Beweis, daß die Geschichte von Christus im ganzen genommen historischen Wert hat, ist auch der innere Zusammenhang zwischen den synoptischen Evangelien und dem Evangelium Johannes. Gewiß gibt es Verschiedenheiten in diesen beiden Darstellungen von Christus. Aber es sind Verschiedenheiten, die entstehen müssen, wenn von zwei Biographen der eine den Menschen vom Standpunkt seines öffentlichen Wirkens aus betrachtet, der andere aber ihn so zu beschreiben versucht, wie er in einem intimen Kreise erscheint, in dem er sein Herz erschließt – derselbe Unterschied folglich, der sich zwischen Xenophons Beschreibung des Sokrates und dem Bilde findet, das Plato von eben diesem Manne uns vorgelegt hat.

Wenn das Bild Christi erdichtet wäre, so wäre es durchaus unbegreiflich, daß es, nachdem in den ersten drei Evangelien ein exoterisches Bild von ihm gegeben worden war, einem späteren Autor vollkommen gelungen wäre, das Leben seiner Seele so zu schildern, daß das innere Bild dem äußeren völlig entspricht.

Wer sagt, die Gestalt Jesu sei eine Erfindung, behauptet tatsächlich das folgende:

1. Ein großer Genius, ganz unbekannt, obgleich zu einer Zeit und in einem Lande lebend, die durch die Weltgeschichte ziemlich klar erforscht sind, hat die erste Dichtung von Jesu Leben verfaßt, aus der, wie angenommen werden könnte, die drei Synoptiker ihren Stoff geschöpft hätten.

2. Von diesen drei auch in der Literatur gänzlich unbekannten Autoren hat jeder nach seiner Eigenart jene Darstellung bearbeitet und erweitert, und zwar merkwürdigerweise, ohne irgendwo den psychologischen Zusammenhang zu zerreißen.

3. Ein neuer genialer Dichter hat das Bild vollendet, indem er uns eine tiefe, innig vertraute Beschreibung derselben erdichteten Gestalt gegeben hat.

Die Annahme einer solchen Kette von Übereinstimmungen ist eine ebenso große Ungereimtheit wie das, was Cicero einmal in einem hypothetischen Argument vorgelegt hat: »Wenn man eine große Menge Buchstaben durcheinander würfe und sie sich dann selbst zu Ennius' Geschichtsbüchern zusammenfügten – – –«

III.

Die, welche behaupten, Jesus sei keineswegs eine einzig dastehende Persönlichkeit, werden oft mit ihm Sokrates als einen Charakter und einen Genius vergleichen.

Jene scheinen aber das Leben Sokrates, wie es von seinen Schülern beschrieben ist, nicht genau zu kennen.

Zum Beispiel, sowohl Platos Beschreibung des Sokrates sowie die des Xenophon zeigen, daß Sokrates die Vielgötterei seiner Zeit sowie deren oft abgeschmackte Mythen nicht mit dem furchtlosen Mut angriff, den Jesus an den Tag legte, als er sich dem widersetzte, was er in den religiösen Ansichten der Juden für überlebt oder verkehrt hielt. In Platos Phädros wird Sokrates von einem seiner Schüler um seine Ansicht über eine Göttersage befragt – über die von Boreas, dem Gott des Nordwinds und einem jungen Mädchen, der Tochter eines alten Königs von Athen. Boreas, so erzählt die Mythe, hatte sich in das Mädchen verliebt, und einmal, als sie auf einem Felsenriff stand, entführte er sie. Sokrates antwortete, seiner Ansicht nach sei das Mädchen einfach in den Fluß geweht worden und daraus sei die Mythe entstanden. Aber, fügte er sofort hinzu, er habe wahrhaftig keine Zeit, sich mit mehr oder weniger unwahrscheinlichen Mythen zu beschäftigen.

Mehrere Male hebt Xenophon hervor, daß Sokrates alle alten Gebräuche und Sitten, und nicht zum wenigsten die religiösen beobachtet habe. Und in beiden Wiedergaben von Sokrates' Verteidigungsrede drückt der angeklagte Philosoph offen sein Erstaunen über die Anklage aus. Mit reinem Gewissen kann er versichern, er habe niemals die festgelegten Glaubensanschauungen kritisiert, oder jemals seinen Jüngern verboten, die Gebräuche ihrer Vorfahren aufrecht zu erhalten. Außerdem habe er nun seit dreißig Jahren öffentlich gelehrt, ohne jemals auch nur im geringsten belästigt worden zu sein – ausgenommen während der kurzen Regierung der dreißig Tyrannen, wo er unter dem Verdacht gestanden habe, in größerem Maße ein Freund der Freiheit zu sein, als es diesen Führern lieb gewesen sei.

Niemand wird leugnen wollen, daß Sokrates ein mutiger Mann war und ein ehrlicher Mensch. Aber wie unvergleichlich größer war nicht der Mut jenes Galiläers, der vom Beginn seiner Laufbahn an offen und energisch gegen die Mächtigen seiner Zeit und seines Volks auftrat, und der niemals zögerte, das, was er unwahr und tadelnswert an ihnen fand, anzugreifen, trotzdem er verfolgt und fast vom Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit an an seinem Leben bedroht war.

Gewiß war das Wirken des Sokrates sehr verdienstvoll. Gewiß, er war uneigennützig, indem er, obgleich selbst arm, während viele von seinen Jüngern reich waren, doch nie eine Bezahlung von ihnen annahm. Und doch – wie könnte sein Leben mit der heldenhaften Selbstaufopferung des Nazareners verglichen werden? Er, der umherzog und die Kranken heilte, selbst die von allen gemiedenen Aussätzigen – der alle lehrte, alle heilte, allen half, er, dem oft nicht Zeit zum Schlafen und Essen gegönnt war, weil die Scharen, die Hilfe bei ihm suchten, ihn hart bedrängten – er, dem für seine unermüdliche Güte Hohn und Verfolgung zuteil wurde!

Und als der Märtyrertod kam – wie verschieden war er für diese beiden!

Sokrates verbrachte seine letzten Stunden mit seinen Schülern, die ihn verehrten. Und er erklärte seinen Freunden freimütig, daß das ihm zugewiesene Schicksal tatsächlich das beste sei, das ihm zuteil werden könnte. Denn er war siebzig Jahre alt, und obgleich noch bei voller körperlicher und geistiger Kraft, wußte er doch wohl, daß die Zeit bald herannahen würde, wo ihm das Leben eine Last wäre. Er war imstand gewesen, sein Lebenswerk jahrzehntelang durchzuführen, und er hielt es für einen Vorteil, der Zeit des allmählichen Verfalls enthoben zu werden. Auch betonte er seinen Freunden gegenüber den Vorteil, daß sein Schicksal das des unschuldig Leidenden sei. Er kannte die Menschheit gut genug, um zu wissen, daß der Neid, den Überlegenheit hervorruft, im Angesicht von Unglück und Tod hinstirbt. Darum, so sagte er sich, würde gerade die Ungerechtigkeit, die er erleiden mußte, die Geneigtheit erwecken, das, was groß und bewunderungswürdig in seinem Leben war, anzuerkennen und zu bewundern. Und Sokrates verbirgt seine Genugtuung, daß die Nachwelt ihn preisen würde, keineswegs.

In der Todesart, die Sokrates zugeteilt worden war, lag nichts Beleidigendes oder Erniedrigendes. Und der Vollstrecker des Urteils bat ihn, als er ihm den Giftbecher reichte, mit Tränen um Verzeihung. Auch scheint der Tod nicht sehr schmerzhaft gewesen zu sein. Von denen umgeben, die ihm die liebsten waren, tat er seinen letzten Atemzug, fest überzeugt, daß seine Freunde für seinen Nachruhm sorgen würden.

Wie viel größerer Mut, wie viel mehr Charakterstärke ward von dem Manne verlangt, der, obgleich noch jung, den Tod unter Pontius Pilatus erlitt! Nur wenige Jahre waren ihm für sein Lebenswerk vergönnt gewesen. Von seinen Freunden verlassen, von rohen Kriegsknechten beschimpft, von der brüllenden Volksmenge geschmäht, zu der schrecklichsten von allen Strafen verurteilt und vorher noch durch die grausame Geißelung gemartert, wurde er zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt. Und bis zu seinem letzten Augenblick wurde er verspottet – verspottet wegen seiner großen Güte … »Andern hat er geholfen und kann sich selbst nicht helfen.« Und doch – nicht ein Wort der Bitterkeit! In den letzten schmerzensvollen Stunden gedachte er noch in mitleidvoller Fürsorge derer, die er zurückließ.

Wenn man aber die Intelligenz dieser beiden Männer vergleichen will, dann muß man daran denken, daß Sokrates von zwei hervorragenden Schriftstellern geschildert wurde, von denen der eine einer der tiefsten und glänzendsten Denker war, die je gelebt haben. Es ist deshalb anzunehmen, daß diese Biographen Sokrates in ihren Aussagen vollkommen gerecht geworden sind. Wenn Xenophons nüchterne Natur das Bild des Meisters möglicherweise etwas prosaisch darstellte, ist es andererseits wahrscheinlich, und es wird auch allgemein angenommen, daß Plato den Worten seines Meisters mehr poetischen Schwung verliehen hat, als sie ursprünglich enthielten.

Jesus dagegen wurde, wie schon hervorgehoben, von Männern beschrieben, die gar nicht literarisch gebildet waren, ja nicht einmal das, was wir gebildet nennen. Und doch – wenn wir die Aussprüche der beiden Männer vergleichen – wo wäre bei Sokrates etwas zu finden, das den unübertrefflichen Gleichnissen der Evangelien entspräche? Wenn Parabeln, wie die von dem verlorenen Sohn und dem barmherzigen Samariter unserem Gedächtnis für immer eingeprägt sind, so kommt es nicht allein daher, weil wir sie in unserer Kindheit gehört haben, sondern weil sie so wunderbar lebendig sind und jede einzelne Kleinigkeit darin charakteristisch ist. Und wo fänden wir bei Sokrates solche kraftvolle, konzentrierte Ausdrücke wie die, von denen die Evangelien eine Überfülle haben? Aber sich konzentriert ausdrücken, heißt in Gold prägen; es heißt, einem Gedanken Dauerhaftigkeit durch Jahrhunderte geben. Und jene schnellen, schlagenden Erwiderungen, die die Widersacher jederzeit zum Schweigen brachten – wo fänden sie sich?

Tiefe und wunderschöne Worte finden sich allerdings in Platos Schriften, aber ist in ihnen allen etwas enthalten, das an sternenheller Erhabenheit, an bebendem Gefühl, an ruhigem Heldentum mit den Abschiedsreden verglichen werden könnte, die der Meister an seine Jünger richtete, so, wie sie im vierten Evangelium enthalten sind – diese Abschiedsreden, die, angesichts des herannahenden Todes voll Schmach und Leiden, dennoch ruhig verkündigten: »Eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden. – Eure Freude soll niemand von euch nehmen!«?

IV.

Andere, die Christus mit Buddha verglichen haben, waren geneigt, von diesen beiden den indischen Weisen für die größere Persönlichkeit zu halten. Diese Ansicht hat auch Graf Hermann Keyserling in seinem Werk »Das Reisetagebuch eines Philosophen« verkündigt, und er begründet sie mit der Behauptung, Prinz Siddharta habe seine Ideen durch Askese und Gedankenkämpfe erworben, während Jesus von Nazareth ein »Sonntagskind« gewesen sei, dem alle seine Ideen durch Eingebung, ohne eigenes Bemühen, zugeflossen seien.

Graf Keyserling hat indes einen großen Unterschied übersehen: Prinz Siddharta wurde als Königsohn von seiner frühen Jugend an von vielen beobachtet; daher kennt die Nachwelt seine Kämpfe und seine Leiden, zum Beispiel, daß er Frau und Kind und die Freuden des königlichen Palastes für ein Leben in Armut und Einsamkeit aufgab –, während wir von Jesus, dem Sohn eines armen Zimmermanns in einer kleinen Stadt, von seinem zwölften Jahr an, bis er, ungefähr dreißig Jahre alt, als Lehrer seines Volks auftrat, nichts wissen. Augenscheinlich war er nicht ein Mensch, der viel von sich selbst redete. Und als sich ein Kreis von Jüngern um ihn gebildet hatte, war er von seiner Aufgabe, seine Zuhörer große Wahrheiten zu lehren, so hingenommen, daß er ihnen wahrscheinlich sehr wenig von den achtzehn Jahren erzählte, über die das Neue Testament schweigt.

In einem jener frühen Evangelien, die nicht in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments aufgenommen sind, wird indes etwas von jenen Jahren berichtet: es wird uns da gesagt, daß Jesus in seiner Jugend weit und breit umhergewandert und auf diesen Wanderungen auch nach Ägypten gekommen sei.

Die Nachwelt hat nun allerdings keine Möglichkeit, die Tatsächlichkeit dieser Angabe nachzuweisen; aber es gibt doch zwei wichtige Gründe, die sie wahrscheinlicher machen als die herkömmliche Annahme, Jesus habe seine ganze Jugendzeit hindurch in der Zimmermannswerkstatt seines Vaters gearbeitet, in seinen Mußestunden jedoch sei er zu einem Rabbi gegangen und habe da in den heiligen Büchern seines Volkes geforscht.

Der erste Grund ist ein psychologischer:

Für alle begabten Menschen ist die Jugend eine Zeit eifrigen Strebens nach Kenntnissen und neuen Erfahrungen mit einem starken Bedürfnis, Welt und Menschen kennen zu lernen. Das Verlangen der Seele nach Kenntnissen ist ebenso naturgemäß wie das Verlangen des Körpers nach Nahrung. Allerdings muß es für eine Persönlichkeit wie Jesus ganz natürlich gewesen sein, selbst in jungen Jahren die Antworten auf die größten Fragen aus den Tiefen seines eigenen mit Gott verbundenen Geistes zu suchen. Das aber schließt jene Art von Wißbegierde nicht aus, die ihre Befriedigung darin sucht, anderer Menschen Art, die großen Fragen zu lösen, kennenzulernen. Eine frühzeitige innere Unabhängigkeit und die Fähigkeit, selbständig zu handeln, zeigt jenes merkwürdige Ereignis des zwölfjährigen Jesus, als er allein nach dem Tempel ging, wo er die Schriftgelehrten durch seine Fragen in Erstaunen setzte und den halb vorwurfsvollen Worten seiner Mutter sein Recht und seine Pflicht, »daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist«, entgegenhielt.

Danach dürfen wir es für wahrscheinlich halten, daß Jesus sich derselben Möglichkeiten bediente, Kenntnisse zu erlangen, wie andere junge Leute jener Zeit, nämlich in verschiedenen Teilen der Welt umherzuwandern und den Lehren weiser Meister zu lauschen. So ist es sehr wahrscheinlich, daß er eine Zeitlang, vielleicht einige Jahre hindurch, bei den Essäern weilte (obgleich es sicherlich ein Irrtum ist, ihn als einen »Jünger« der Essäer darzustellen, da seine Ansichten in vieler Beziehung von den ihren abweichen); vielleicht hat er da die gründliche Kenntnis der heiligen Schriften seines Volkes erlangt, die er später an den Tag legte. Auch scheint es glaubhaft, daß er sich einmal einer jener Karawanen angeschlossen habe, die die Wüste zwischen Palästina und Ägypten durchquerten, und auf diese Weise in das seiner alten Wissenschaft wegen berühmte Land gelangte.

Der zweite Grund, der es einleuchtend macht, daß Jesus einen großen Teil seiner Jugend fern von der Stätte seiner Kindheit weilte, ist das, was in den Evangelien von dem Erstaunen der Leute von Nazareth über Jesu Weisheit und Kenntnis der Schriften berichtet wird, als er in der Synagoge zu predigen begann. »Woher kommt dem solches? – Ist er nicht der Zimmermann?« (Mark. 6, 2. 3.)

In jedem Land und zu jeder Zeit wäre es undenkbar, daß in einer kleinen Stadt ein hochbegabter Knabe zum Manne heranwachsen könnte, ohne bei den Bewohnern seiner Vaterstadt Aufmerksamkeit zu erregen. Und ganz besonders, wenn Jesus der Schüler eines Rabbi in Nazareth gewesen wäre, hätte diesem die ungewöhnliche Begabung seines Schülers unmöglich entgehen können.

Außerdem ist im Neuen Testament tatsächlich ein Bericht, der andeutet, daß Jesus, wo auch immer er seine Jugendjahre verbracht haben mag, von den Kämpfen und Versuchungen des Lebens, von denen Graf Keyserling ihn unberührt hält, nicht verschont blieb. Ich meine die Erzählung in den Synoptikern von den Versuchungen Christi.

Dies ist augenscheinlich etwas, das Jesus seinen Jüngern erzählt hat, vielleicht als Antwort auf einige ihrer Fragen über seine früheren Jahre. Hier hat er ihnen in einer zusammengefaßten, symbolischen Form mitgeteilt, mit welchen Versuchungen er zu kämpfen gehabt hatte.

Da war die Versuchung: seine hohen Gaben zu gebrauchen, um die Forderungen seiner eigenen körperlichen Natur zu befriedigen.

Da war die Versuchung: die Menge durch Taten, die seine wunderbaren Kräfte gezeigt hätten, in Erstaunen zu versetzen, um sie dadurch geneigter zu machen, seinen Worten zu glauben.

Da war die Versuchung: die Macht über alle Völker und alle Länder der Erde, die er als sein eigen wußte, auf einen Schlag zu erlangen, die aber – wie er ebenfalls erkannte – wenn durch äußere Taten rasch erworben, für die Menschheit niemals ein solcher Segen sein würde, als wenn sie durch innere Entwicklung gewonnen ward.

Versuchungen des Fleisches, Versuchungen des Ehrgeizes, Versuchungen der Herrschsucht – viele, viele junge Leute sind von ihnen heimgesucht worden! Hier war einer, der ihnen allen widerstanden hat. Aber es verrät nicht viel seelische Erkenntnis, wenn man denkt, sie würden ohne Kämpfe besiegt.

*

Es ist nicht schwierig, sich vorzustellen, warum der Bericht von Jesu Wanderungen in seinen Jugendjahren nicht in die kanonischen Schriften, selbst wenn er ganz zuverlässig wäre, aufgenommen wurde. Die erste christliche, hauptsächlich aus Juden bestehende Gemeinde war gewiß nicht frei von dem engherzigen nationalen Geist jenes Volkes; ihnen wäre es wie eine Beleidigung erschienen, wenn ihnen gesagt worden wäre, der Messias ihres Volkes sei umhergewandert und habe heidnische Religionen studiert. Später, als die meisten Mitglieder der führenden christlichen Kirchen nicht jüdischer Abstammung waren, gab es einen andern Grund, warum der Bericht von jenen Wanderungen entschieden unwillkommen war: es stellte sich eine zunehmende Neigung ein, Christus als Gott zu betrachten, dem Allmächtigen und Allwissenden vollkommen gleichstehend. Wie hätte da die Annahme von solchen Wanderungen, um heidnische Religionen zu studieren, anders als beleidigend sein können? Zwar war die Orthodoxie schon dabei, die Theorie von den zwei Naturen in Christus zu entwickeln, eine ganz menschliche und eine ganz göttliche, und so war da immer die Möglichkeit, zu sagen, daß dies oder jenes, was er sagte oder tat, ganz von dem Standpunkt seiner menschlichen Natur käme; jedenfalls schien es klüger, solche Feststellungen zu unterdrücken, die den Ketzern gute Argumente geben könnten.

V.

Manchmal trifft man noch auf die Ansicht von Christus, die Ernst Renan vor etwa siebzig Jahren darlegte, nämlich, daß Christus lauter Güte und Milde gewesen sei, ein feinfühliger Träumer, ein harmloser Romantiker!

Welche Blindheit!

Er, ein harmloser Träumer! Er, mit den Worten, die wie Blitze trafen, die das Volk erstaunten und erschreckten und die Zuhörer dazu brachten, einander zuzuflüstern, daß seine Rede gewaltig sei und nicht wie die der Schriftgelehrten. Er, der den Obersten und Gelehrtesten seines Volkes Antworten entgegenschleuderte, die wie Schwertstreiche trafen, Antworten, daß »sie wagten ihn fürder nichts mehr zu fragen«. Er, der, wenn die Feinde sich um ihn zusammendrängten und schon Steine aufgehoben hatten, um ihn zu töten, allein durch die Macht seines Blickes, seiner überwältigenden Persönlichkeit, sie dazu brachte, plötzlich zurückzuweichen und zu verstummen, während er selbst wie ein Sieger mitten durch sie hinwegging. Er, der ohne andere Machtbefugnis, als die, die seine geistige Überlegenheit ihm verlieh, die Verkäufer aus dem Tempel hinauszutreiben wagte; er, der in der Nacht, da er verraten ward, mit der unvergleichlichen Hoheit seines Wesens, mit seinem ruhigen Ausspruch: »Ich bin's,« die Schar der Verfolger zum Zurückweichen und Niederfallen brachte; er, der als Gefangener dem Richter gegenüber, der die Macht hatte, ihm das Leben zu nehmen, mit stolzer Ruhe erwiderte: »Du sagst es, ich bin ein König!«

Wie sehr finden wir bei ihm das Gefühl der großen Vereinsamung, die großen Seelen eigen ist, das Gefühl, anders zu sein als die Masse und deshalb mißverstanden und beargwöhnt zu werden. »Die Welt haßt mich, weil ich nicht von der Welt bin.«

Welch eine Ironie liegt nicht in einigen seiner Aussprüche! »Weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht.« – »Viele gute Werke habe ich euch erzeiget; um welches Werk unter denselbigen steiniget ihr mich?«

Und in dem Gleichnis von dem ungetreuen Haushalter – das offenbar von dem Evangelisten, der es berichtet, nicht ganz verstanden worden ist, denn es ist teilweise widersprechend und unverständlich – wie bitter sarkastisch ist der ganze Gedankengang: »Seht, so müßt ihr handeln, wenn ihr in der Welt Erfolg haben wollt!«

Eine noch tiefere Ironie liegt indes in seiner Ermahnung an die Juden, nachdem er sie daran erinnert hatte, daß sie immer die Propheten verfolgten und töteten: »Wohlan, erfüllet auch ihr das Maß eurer Väter!«

Er ist immer bereit, zu dienen, aber in seiner Demut ist keine Selbstunterschätzung. Er weiß, was er für die Welt bedeutet, und er spricht es aus: »Ich bin das Licht der Welt.« Er fühlt sich als Sieger: »Ich habe die Welt überwunden.« Er hebt hervor, daß er aus eigenem freiem Willen in diese Welt herabgestiegen und die Leiden auf sich genommen hat. »Ich lasse mein Leben, auf daß ich's wieder nehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen.«

Wie charakteristisch ist seine Neigung, sich in Paradoxen auszudrücken – eine Neigung, nicht selten bei denen, in deren Herzen die Wahrheit brennt.

In unserer konkreten Welt ist die Wahrheit keine abstrakte Linie, sondern etwas Lebendiges; sie kann deshalb von mehr als einer Seite betrachtet werden. Eine Art, die Wahrheit zu sagen, ist, den Durchschnitt ihrer äußersten Rechten und den der äußersten Linken herauszuziehen – diese Methode wird von vorsichtigen Naturen angewendet. Eine andere Art ist, nur eine Seite zu sehen und darzustellen – das ist die Methode der Fanatiker. Eine dritte Art ist, die äußerste Rechte sowie auch die äußerste Linke mit gleicher Kraft darzustellen – dies wird von denen getan, die gleichzeitig das Feuer der Begeisterung und die große Ruhe zu eigen haben, die ihnen erlaubt, klar zu sehen und richtig zu urteilen. Die letzten werden oft mißverstanden. Aber ihre Methode ist die fruchtbarste, weil sie die Leute zwingt, selbst zu denken.

Voller Grimm gegen alle Halbheit und Lauheit sagt Jesus: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.« Ein anderes Mal sagt er voller Nachsicht und verständnisvoller Liebe: »Wer nicht wider uns ist, ist für uns.«

Er sagt: »Kommet her zu mir alle – – – so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen!« Aber er sagt auch: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.«

Er befiehlt uns sogar, unsere Feinde zu lieben; aber er sagt auch: »Wer zu mir kommt und nicht seinen Vater oder Mutter und Bruder und Schwester haßt, der ist mein nicht wert.«

Er sagt: »Selig sind, die da Leid tragen.«

Aber er befiehlt auch seinen Jüngern: »Seid fröhlich und getrost!«

Er sagt: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!«; aber auch: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.«

Er sagt: »Laß deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut!« Aber auch: »Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen!«

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg scheint auszudrücken, daß dieselbe Belohnung allen zuteil werde, einerlei, ob sie wenig arbeiten oder viel. Aber in dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden wird ein genauer Unterschied gemacht zwischen Menschen mit verschiedenen Talenten: »Wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe!«

VI.

Manche Leute sagen: »Welch ein Mangel an der Persönlichkeit Jesu ist es doch, daß er keinerlei Interesse für viele Dinge zeigt, die für heutige Menschen von großer Wichtigkeit sind, wie zum Beispiel Kunst und Wissenschaft.«

Wer so redet, übersieht die Tatsache, daß alle die Aussprüche von Jesus, die der Nachwelt überliefert worden sind, in einem Buch von normaler Größe keine zwanzig Seiten füllen würden. Wie könnte da Platz sein für Äußerungen über andere Stoffe, als solche, die die Hauptsache seines Lebenswerks, der Zweck seines Lebens waren?

Wenn sich bei den ihn umgebenden Menschen ein großes Interesse für Kunst und Wissenschaft gezeigt hätte, dann wäre es selbstverständlich anders gewesen. Aber für die Juden jener Zeit gab es außer der Kenntnis der heiligen Schriften keine nennenswerte Wissenschaft; auch waren sie gar nicht ein kunstliebendes Volk gewesen; sie konnten es nicht sein, da es ihnen durch ihr Gesetz verboten war, Bildnisse oder Gemälde von lebenden Wesen zu machen.

Nur wenn unter den Aussprüchen Christi einige gewesen wären, die eine feindselige Einstellung gegen den Forscherdrang oder die Liebe zur Schönheit kundgetan hätten, wäre ein Grund für den obigen Einwurf vorhanden. Aber es gibt keine solchen Aussprüche. Im Gegenteil, es sind Aussprüche da, wie zum Beispiel: »Die Wahrheit wird euch frei machen«, und wiederum zeigt sich, wenigstens an einer Stelle, eine tiefe Wertschätzung der Schönheit, nämlich in dem Wort von den Lilien auf dem Felde: »Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist, als derselbigen eine.«

Der Abschnitt in Phädros, von Plato, wo die Schönheit einer Platane gepriesen wird, wird manchmal als ein in der Literatur des Altertums einzig dastehender Ausdruck des Gefühls für die Schönheit der Natur dargestellt. Sicherlich ist aber nirgends eine innigere Liebe für die wunderbare Schönheit der Blumen ausgedrückt, als in diesem Vergleich Jesu.

*

Aber wie erhaben auch die Persönlichkeit Jesu sei, es bleibt doch die Frage: hat seine Botschaft noch für modern denkende Menschen eine Bedeutung?

Es kommt darauf an,

1. ob die Hauptgedanken Christi – die von einem Gott der Liebe sowohl als der Weisheit, und die von einer Weltregierung, die sich auf die Dauer als gerecht erweisen wird – für uns annehmbar sind? und

2. ob die landläufigen Vorstellungen von christlicher Ethik, kirchlichem Dogma und kirchlichen Riten mit Christi eigener Lehre übereinstimmen?

In den zwei früheren Absätzen habe ich die erste Frage zu beantworten versucht. In den folgenden Kapiteln werden die übrigen Fragen erörtert werden.


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