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Drittes Buch
Das Haus

Ich habe einen Freund ... O Wonne, eine Seele gefunden zu haben, an die man sich mitten im Sturm schmiegt, ein warmes Obdach, unter dem man endlich aufatmend abwarten kann, bis das wildschlagende Herz sich beruhigt. Nicht mehr allein sein, nicht immer gewappnet stehen müssen, mit ewig in Wachsamkeit offenen und brennenden Augen, bis die Übermüdung uns dem Feind ausliefert. Einen lieben Gefährten besitzen, in dessen Hand man sein ganzes Wesen gelegt hat   der sein ganzes Wesen in unsere Hand gelegt hat. Endlich Ruhe kosten, schlafen, während er wacht   wachen, während er schläft. Die Freude kennen lernen, den zu beschützen, den man liebt und der sich uns wie ein kleines Kind anvertraut. Die größere Freude kennen lernen, sich ihm hinzugeben, zu fühlen, daß er alle unsere Geheimnisse kennt, daß er über uns bestimmen kann. Gealtert, verbraucht, müde von der jahrelang getragenen Last des Lebens, wiedergeboren werden, jung und frisch im Leib des Freundes, mit seinen Augen die erneuerte Welt sehen, mit seinen Sinnen die schönen vorüberziehenden Dinge umfangen, mit seinem Herzen genießen, wie herrlich es ist, zu leben ... Selbst mit ihm leiden ... ach, selbst leiden ist ja Freude, wenn man nur beisammen ist!

Ich habe einen Freund ... Mir fern, mir nahe, immer in mir. Ich habe ihn, ich gehöre ihm. Mein Freund liebt mich, mein Freund besitzt mich. Die Liebe hat unsere Seelen zu einer einzigen Seele verschmolzen.

Als Christof am Morgen nach der Abendgesellschaft bei den Roussin aufwachte, galt sein erster Gedanke Olivier Jeannin. Er war sogleich vom unwiderstehlichen Wunsch beseelt, ihn wiederzusehen. Er stand auf und ging aus. Es war noch nicht acht Uhr. Der Morgen war lau und ein wenig drückend. Ein verfrühter Apriltag: Gewitterdunst schwebte über Paris.

Olivier wohnte am Fuß des Sainte-Geneviève-Hügels in einer kleinen Straße in der Nähe des Jardin des Plantes. Das Haus stand an der engsten Stelle der Straße. Die Treppe ging auf einen dunklen Hof, in dem unsaubere und verschiedenartige Gerüche ausdünsteten. Die steilgewundenen Stufen fielen nach der Mauer zu ein wenig ab; diese war mit Bleistiftgekritzel beschmutzt. Im dritten Stockwerk öffnete eine Frau mit grauen ungeordneten Haaren und einer halboffenen Nachtjacke die Tür, als sie jemand heraufsteigen hörte, und schlug sie heftig wieder zu, als sie Christof sah. In jedem Stockwerk waren mehrere Wohnungen; und durch die schlecht schließenden Türen hörte man Kindergezänk und -gekreisch. Ein Gewimmel von schmutzigen und minderwertigen Existenzen, in den niedrigen Stockwerken, die sich um den widerlichen Hof drängten, übereinandergepfercht. Angeekelt fragte sich Christof, welche Begierden all diese Geschöpfe wohl hierher gezogen hätten, von den Feldern fort, die doch Luft für alle haben, und welche Vorteile sie wohl aus diesem Paris ziehen könnten, in dem sie sich dazu verdammten, ihr ganzes Leben lang in einem Grabe zu leben.

Er war bis zu Oliviers Stockwerk gelangt. Eine geknüpfte Schnur diente als Klingel. Christof zog sie so heftig, daß auf das Geräusch sich wieder einige Türen auf der Treppe halb öffneten. Olivier machte auf. Christof fiel die einfache, aber sorgfältige Vornehmheit seines Anzugs ins Auge; und diese Sorgfalt, die ihn bei jeder anderen Gelegenheit wenig gekümmert hätte, war ihm hier eine angenehme Überraschung; inmitten der beschmutzten Atmosphäre hatte dies etwas Lächelndes und Gesundes. Sofort gewann er denselben Eindruck wieder, den ihm am Abend vorher die ehrlichen und klaren Augen Oliviers gemacht hatten. Er reichte ihm die Hand. Olivier stotterte erschreckt:

»Sie, Sie hier! ...«

Christof, ganz damit beschäftigt, diese liebenswürdige Seele in der Unverhülltheit ihrer vorübergehenden Verwirrung zu erfassen, begnügte sich damit, ohne Antwort zu lächeln. Er schob Olivier vor sich her und trat in den einzigen Raum, der zugleich als Schlafgemach und Arbeitszimmer diente. Ein schmales Eisenbett stand beim Fenster an der Wand. Christof fiel der Stoß von Kissen auf, die am Kopfende gehäuft lagen. Drei Stühle, ein schwarz gestrichener Tisch, ein kleines Klavier, Bücher auf den Regalen füllten das Zimmer. Es war winzig, niedrig, schlecht erhellt; und doch war in ihm gleichsam der Widerschein der klaren Augen, die es bewohnten. Alles war sauber, wohlgeordnet, als hätte eine Frauenhand sich damit befaßt; und ein paar Rosen in einer Wasserflasche ließen ein wenig vom Frühling zwischen die vier Wände, die Photographien nach alten Florentiner Malern schmückten.

»Sie kommen also zu mir, Sie besuchen mich?« wiederholte Olivier mit überströmendem Gefühl.

»Ja, mein Gott ... Ich mußte doch wohl,« sagte Christof, »Sie wären ja doch nicht zu mir gekommen.«

»Glauben Sie?« meinte Olivier.

Dann gleich darauf:

»Ja, Sie haben recht. Aber nicht, weil es mir nicht in den Sinn gekommen wäre.«

»Was hielt Sie denn zurück?«

»Ich sehnte mich zu sehr danach.«

»Das ist ein schöner Grund.«

»Nun ja, lachen Sie mich nicht aus. Ich hatte Angst, Sie könnten es nicht ebensosehr wünschen.«

»Mit solchen Gedanken hab' ich mich nicht aufgehalten. Ich hatte Lust, Sie wiederzusehen, und bin hergekommen. Wenn es Ihnen unangenehm ist, werde ich es ja sehen.«

»Dazu müßten Sie gute Augen haben.«

Lächelnd blickten sie einander an.

Olivier begann von neuem:

»Ich war gestern so einfältig. Ich fürchtete schon, ich hätte Ihnen mißfallen. Meine Schüchternheit ist eine wahre Krankheit: ich kann dann nichts mehr reden.«

»Bedauern Sie das nicht. Ihr habt in euerem Lande genug Leute, die reden; man ist sehr zufrieden, einmal einen zu treffen, der von Zeit zu Zeit stillschweigt, sei es auch aus Schüchternheit, das heißt wider Willen.«

Christof lachte, vergnügt über seinen eigenen Witz.

»Also besuchen Sie mich wegen meines Schweigens?«

»Ja, wegen Ihres Schweigens   wegen der Art Ihres Schweigens. Denn es gibt verschiedene Arten: ich mag die Ihre gern   und damit fertig ...«

»Wie konnten Sie nur irgend eine Zuneigung zu mir fassen? Sie haben mich ja kaum gesehen.«

»Das ist meine Sache. Ich brauche nicht viel Zeit, um meine Auswahl zu treffen. Wenn mir im Leben ein Gesicht begegnet, das mir gefällt, entschließe ich mich rasch: ich gehe ihm nach; ich muß es wiedersehen.«

»Geschieht es Ihnen niemals, daß Sie sich dabei irren?«

»Oft.«

»Vielleicht täuschen Sie sich diesmal wieder.«

»Das werden wir sehen.«

»Oh, dann bin ich verloren. Sie verschüchtern mich. Wenn ich nur daran denke, daß Sie mich beobachten, so lassen mich die wenigen Fähigkeiten, die ich habe, gleich im Stich.«

Christof betrachtete mit herzlicher Neugierde dieses empfindsame Gesicht, das von einer Minute zur anderen errötete und erblaßte. Die Gefühle gingen darüber hin, gleich Wolken über das Wasser.

»Was für ein nervöses Geschöpfchen,« dachte er. »Man könnte meinen, es sei eine Frau.«

Er klopfte ihm sanft aufs Knie.

»Nicht doch,« sagte er, »glauben Sie, daß ich in Waffen zu Ihnen komme? Die sind mir gräulich, die auf Kosten ihrer Freunde Psychologie treiben. Alles was ich will, ist für uns beide das Recht, frei und aufrichtig zu sein, sich offen dem, was wir fühlen, hinzugeben, ohne falsche Scham, ohne Furcht, sich für ewig darin zu verschließen, ohne Angst, sich selber zu widersprechen   das Recht, jetzt zu lieben und eine Minute später nicht mehr zu lieben. Ist diese Art nicht männlicher und anständiger?«

Olivier sah ihn ernsthaft an und antwortete:

»Ohne allen Zweifel. Das ist männlicher und Sie sind stark; aber ich bin es nur sehr wenig.«

»Ich bin vom Gegenteil überzeugt,« antwortete Christof: »Sie sind es nur auf andere Weise. Außerdem komme ich gerade her, um Ihnen dazu zu verhelfen, stark zu sein, wenn Sie es wollen. Denn was ich eben sagte, erlaubt mir, mit mehr Offenheit, als ich es sonst getan hätte, hinzuzufügen, daß ich Sie   ohne mich für morgen zu binden   gern habe.«

Olivier errötete bis zu den Ohren. Vor Verlegenheit reglos, fand er keine Antwort.

Christof ließ seine Blicke ringsumher wandern.

»Sie haben eine recht mäßige Unterkunft. Haben sie kein anderes Zimmer?«

»Eine Rumpelkammer.«

»Uff, man hat ja keine Luft. Können Sie hier leben?«

»Man gewöhnt sich daran.«

»Ich würde mich niemals daran gewöhnen.«

Christof riß seine Weste auf und holte tief Atem.

Olivier ging zum Fenster und öffnete es weit.

»Sie können sich gewiß in einer Stadt niemals recht wohl fühlen, Herr Krafft. Ich laufe nicht Gefahr, durch meine Stärke zu leiden. Ich brauche so wenig Luft, daß ich überall genug zum Leben finde. Allerdings, manche Sommernächte fallen selbst mir schwer. Ich ängstige mich vor ihnen. Dann bleibe ich in meinem Bett sitzen und mir ist, als müßte ich ersticken.«

Christof betrachtete den Stoß Kopfkissen auf dem Bett, dann das überarbeitete Gesicht Oliviers; und er sah ihn im Dunkel ringen. »Ziehen Sie aus,« sagte er, »warum bleiben Sie hier?«

Olivier zuckte die Achseln und antwortete in gleichgültigem Tone: »Oh, ob hier oder anderswo ...«

Schwere Stiefel gingen oberhalb der Decke entlang. Im unteren Stockwerk stritten sich spitze Stimmen.   Und alle fünf Minuten wurden die Wände vom Rollen des Omnibus auf der Straße erschüttert.

»Und solch ein Haus,« fuhr Christof fort. »Solch ein Haus, das Schmutz ausdünstet, unsaubere Hitze, gemeines Elend, wie können Sie nur jeden Abend hierher zurückkommen? Drückt Sie das nicht nieder? Mir wäre es unmöglich, hier zu leben. Ich würde lieber unter einer Brücke schlafen.«

»Zuerst habe ich auch darunter gelitten. Ich bin ebenso empfindlich wie Sie. Als ich noch klein war und man mich spazieren führte, zog es mir schon das Herz zusammen, wenn ich durch gewisse dicht bewohnte und schmutzige Straßen mußte. Sie flößten mir ein wunderliches Entsetzen ein, das ich nicht auszusprechen wagte. Ich dachte: Wenn in diesem Augenblick ein Erdbeben stattfände, so würde ich hier für immer tot liegen bleiben; und das erschien mir als das schrecklichste Unglück. Ich stellte mir nicht vor, daß ich eines Tages aus freiem Willen da leben und wahrscheinlich da sterben würde. Ich mußte mir wohl oder übel die Zimperlichkeit abgewöhnen. Es widert mich immer noch an; aber ich versuche, nicht daran zu denken. Wenn ich die Treppe wieder hinaufsteige, stopfe ich mir Augen, Ohren, Nase, alle Sinne zu, vermauere mich in mich selber. Und schauen Sie dahinten hin; über diesem Dach sehe ich die höchsten Zweige einer Akazie. Ich setze mich in diesen Winkel und zwar so, daß ich nichts anderes sehe; abends, wenn sie vom Wind bewegt werden, bilde ich mir ein, fern von Paris zu sein. Das Wogen großer Wälder ist mir niemals so wonnevoll erschienen wie in gewissen Minuten das seidige Rascheln jener gezackten Blätter.«

»Ja, das kann ich mir gut vorstellen, daß Sie immer träumen; aber es ist schade, wenn man im Kampf gegen die kleinen Ärgernisse des Lebens eine Kraft der Phantasie verbraucht, die dazu dienen könnte, anderes Leben zu schaffen.«

»Ist das nicht das Schicksal fast aller? Verausgaben Sie sich nicht selber in Zorn und Kampf?«

»Bei mir ist es etwas anderes. Ich bin dazu geboren. Schauen Sie meine Arme, meine Hände an. Mich herumzuschlagen, gehört zu meiner Gesundheit. Aber Sie, Sie haben nicht allzu viel Kraft: das sieht man ja übrigens.«

Olivier betrachtete schwermütig seine mageren Handgelenke und sagte:

»Ja, ich bin schwach, ich bin es immer gewesen. Aber was soll man machen? Man muß leben.«

»Wovon leben Sie?«

»Ich gebe Stunden.«

»Was für Stunden?«

»Alles, lateinische, griechische Nachhilfestunden, Geschichte. Ich bereite zum Abiturientenexamen vor. Ich habe auch einen Kursus für Moralunterricht in einer städtischen Schule.«

»Was für einen Kursus?«

»Für Moralunterricht.«

»Was für eine Hirnverbranntheit ist denn das? Man lehrt in Ihren Schulen Moral?«

Olivier lächelte: »Allerdings.«

»Und darüber kann man länger als zehn Minuten sprechen?«

»Ich trage zwölf Stunden in der Woche vor.«

»Sie bringen ihnen also bei, wie man Böses tut?«

»Wieso?«

»Es bedarf nicht soviel Redens, um zu wissen, was gut ist.«

»Oder um es nicht zu wissen.«

»Meiner Treu, ja, um es nicht zu wissen. Und das ist nicht der schlechteste Weg, das Gute zu tun. Das Gute ist keine Wissenschaft, es ist eine Tat. Nur die Neurastheniker haben nötig, über Moral zu schwätzen, und das oberste aller sittlichen Gesetze ist, nicht Neurastheniker zu sein. Verdammte Schulmeister! Sie sind wie Krüppel, die mich laufen lehren wollen.«

»Sie reden ja nicht zu Ihnen. Sie können laufen; aber da sind so viele, die es nicht können.«

»Nun, so laßt sie wie die Kinder auf allen vieren kriechen, bis sie es von selbst gelernt haben. Aber ob auf zweien oder vieren, die Hauptsache bleibt, daß sie laufen.«

Er ging weit ausholend von einem Ende des Zimmers zum andern; es war mit vier Schritten durchquert. Vor dem Klavier stand er still, öffnete es, durchblätterte die Noten, schlug das Klavier an und sagte:

»Spielen Sie mir etwas vor.«

Olivier gab das einen Ruck:

»Ich!« sagte er. »Was für eine Idee!«

»Frau Roussin hat mir gesagt, daß Sie sehr musikalisch seien. Also los, spielen Sie.«

»Vor Ihnen?   O!« sagte er, »das wäre mein Tod.«

Dieser aus dem Herzen kommende Aufschrei brachte Christof zum Lachen und Olivier lachte selbst, ein wenig verwirrt, mit. »Nun, wenn auch,« sagte Christof, »ist das ein Grund für einen Franzosen?«

Olivier wehrte sich weiter:

»Aber warum, warum wollen Sie das?«

»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Spielen Sie.«

»Was?«

»Was Sie wollen.«

Olivier setzte sich mit einem Seufzer vor das Klavier; er fügte sich dem Willen des gebieterischen Freundes, der ihn erwählt hatte, und begann nach langem Schwanken das schöne Adagio in H-Moll von Mozart zu spielen. Zuerst zitterten seine Finger und hatten nicht die Kraft, die Tasten herunterzudrücken; dann wurde er nach und nach kühner; und während er nur Mozarts Worte wiederzugeben glaubte, enthüllte er unbewußt sein eigenes Herz. Die Musik ist eine rückhaltslose Beichte: sie offenbart denen, die sie lieben, die geheimsten Gedanken derer, die sie ebenfalls lieben. Unter dem göttlichen Gebilde des Adagio von Mozart entdeckte Christof die unsichtbaren Züge, nicht Mozarts, sondern des unbekannten Freundes, der da spielte: die schwermütige Heiterkeit, das schüchterne und zärtliche Lächeln dieses nervösen, reinen, von Liebe erfüllten und vor Liebe errötenden Geschöpfes. Aber, beinahe am Ende der Melodie, auf dem Gipfel, wo der Ton schmerzensreicher Liebe emporsteigt und sich bricht, hinderte eine unüberwindliche Scham Olivier am Weiterspielen und die Stimme versagte ihm. Er löste seine Hände vom Klavier und sagte:

»Ich kann nicht mehr ...«

Christof, der aufrecht hinter ihm stand, neigte sich nieder und vollendete, indem seine beiden Arme ihn umschlossen, auf dem Klavier die unterbrochene Stelle; dann rief er:

»Jetzt kenne ich den Klang Ihrer Seele.«

Er streckte ihm beide Hände hin und schaute ihm lange ins Gesicht.

Endlich sagte er:

»Wie seltsam das ist ... Ich habe Sie schon gesehen ... Ich kenne Sie so gut   und seit langer Zeit! ...«

Oliviers Lippen zitterten; er war im Begriff, zu sprechen, aber er schwieg.

Christof schaute ihn noch einen Augenblick sinnend an. Dann lächelte er schweigend und ging fort.

 

Er schritt die Treppe hinunter und sein Herz strahlte. Er kam an zwei sehr häßlichen Rotnasen vorbei, von denen der eine ein Brot, der andere eine Flasche Öl hinauftrug. Freundschaftlich kniff er sie in die Wangen. Dem brummigen Hausmeister lächelte er zu. Auf der Straße sang er halblaut vor sich hin. Er befand sich im Luxembourg-Garten. Auf einer schattigen Bank streckte er sich aus und schloß die Augen. Die Luft war reglos und schwer; wenige Spaziergänger wanderten umher. Sehr gedämpft hörte man den unregelmäßigen Wasserstrahl rauschen und manchmal den Sand unter einem Schritt knirschen.

Christof empfand eine unwiderstehliche Lust zum Faulenzen; wie eine Eidechse ließ er sich von der Sonnenglut betäuben; der Schatten war längst von seinem Gesicht fortgegangen; aber er konnte sich nicht zu irgendeiner Bewegung entschließen. Seine Gedanken gingen in der Runde; er versuchte nicht, sie festzuhalten; alle waren in einem glücklichen Licht gebadet. Die Uhr am Luxembourg klang; er hörte sie nicht; aber einen Augenblick später war ihm, als habe es Mittag geläutet. Mit einem Ruck stand er auf und stellte fest, daß er zwei Stunden herumgelungert, ein Stelldichein bei Hecht versäumt und seinen Morgen verloren hatte. Er lachte und kehrte pfeifend heim. Er komponierte ein Rondo in Kanonform über den Ruf eines Verkäufers. Selbst traurige Melodien gestalteten sich in ihm zu vergnügten. Als er bei der Wäscherin in seiner Straße vorbeikam, warf er wie gewöhnlich einen Blick in ihren Laden und sah den kleinen Rotkopf mit der matten, von der Hitze rosig angehauchten Haut; sie plättete, wobei die mageren Arme beinahe bis zur Schulter nackt waren, die Bluse offen stand; sie warf ihm wie gewöhnlich einen kecken Blick zu; zum erstenmal glitt dieser Blick an dem seinen ab, ohne ihn aufzureizen. Er lachte wieder. In seinem Zimmer nahm er keine der unterbrochenen Beschäftigungen auf. Hut, Jacke und Weste streute er nach rechts und links und setzte sich mit einem Feuereifer, als gälte es die Welt zu erobern, an die Arbeit. Er nahm die musikalischen Entwürfe, die auf allen Seiten verstreut lagen, wieder vor. Seine Gedanken waren nicht dabei; nur mit den Augen überlas er sie. Nach wenigen Augenblicken fiel er in die glückliche Traumbefangenheit wie im Luxembourg zurück und sein Kopf war trunken, wie betäubt. Zwei- oder dreimal wurde er sich dessen bewußt und versuchte, den Bann abzuschütteln; aber vergeblich. Mit einem heitern Fluch sprang er auf und tauchte seinen Kopf in ein Waschbecken mit kaltem Wasser. Das machte ihn ein wenig nüchterner. Still, mit unbestimmtem Lächeln, setzte er sich von neuem an seinen Tisch. Er sann:

»Welcher Unterschied ist zwischen dem und der Liebe?«

Unwillkürlich hatte er begonnen, leise zu denken, als schäme er sich. Er zuckte die Achseln: Es gibt nicht zweierlei Arten der Liebe ... oder vielmehr doch, es gibt zwei: die Art derer, die mit ihrem ganzen Selbst lieben, und derer, die der Liebe nur einen Teil ihres Überflusses schenken. Gott bewahre mich vor solcher Herzensknickerei!

Eine Art Schamgefühl hinderte ihn, seine Betrachtung weiterzudenken. Lange Zeit tat er nichts anderes, als seinen innern Traum anlächeln. Sein Herz sang in der Stille:

»  Du bist mein und nun ist das Meine meiner als jemals ...«

Er nahm ein Blatt und schrieb ruhevoll nieder, was sein Herz ihm sang.

 

Sie beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Christof wollte, daß man sich sofort einrichte, und sorgte sich nicht darum, ob man ein halbes Quartal verlor. Obgleich Olivier ihn nicht weniger liebte, war er doch vorsichtiger und riet, den Ablauf ihres Mietvertrages abzuwarten. Christof begriff solche Rechnereien nicht. Gleich vielen Leuten, die kein Geld haben, kümmerte er sich nicht darum, ob er welches verlor. Er bildete sich ein, Olivier sei noch mehr in Geldverlegenheit als er. Eines Tages, als ihm die Mittellosigkeit seines Freundes aufgefallen war, verließ er ihn plötzlich, kehrte nach zwei Stunden zurück und legte triumphierend ein paar Fünf-Frankenstücke vor ihn hin, die er sich von Hecht hatte vorstrecken lassen. Olivier errötete und wies sie zurück. Ärgerlich wollte sie Christof einem Italiener zuwerfen, der im Hofe spielte. Olivier hielt ihn davon ab. Christof ging anscheinend verletzt wieder davon, in Wahrheit aber auf sich selber wütend, weil er den Widerstand Oliviers seinem Ungeschick zuschrieb. Ein Brief des Freundes streute Balsam auf seine Wunde. Olivier schrieb ihm, was er laut nicht aussprechen konnte: er sprach ihm von dem Glück, ihn kennen gelernt zu haben, und wie gerührt er von dem gewesen sei, was Christof für ihn hatte tun wollen. Christof antwortete mit einem überschwenglichen und tollen Brief, der sehr an die erinnerte, die er mit fünfzehn Jahren seinem Freund Otto geschrieben hatte; er war voller Gemüt und Unsinn; er machte darin französische und deutsche Kalauer und setzte diese sogar in Musik.

Endlich richteten sie sich ein. Sie hatten im Montparnasse-Viertel nahe der Place Denfert im fünften Stock eines alten Hauses eine Wohnung von drei winzigen Zimmern und einer Küche gefunden, die auf einen von vier großen Mauern umschlossenen kleinen Garten gingen. Vor ihrem Stockwerk breitete sich die Aussicht über eine gegenüberliegende Mauer, die weniger hoch war als die anderen, bis zu einem jener großen Klostergärten, von denen noch so viele unbekannt und versteckt in Paris vorhanden sind. In den verödeten Alleen sah man niemand. Die alten Bäume, höher und dichter, als die im Luxembourg, schauerten in der Sonne; Scharen von Vögeln sangen; von Sonnenaufgang an hörte man die Flöten der Amseln und dann den ungestümen und rhythmischen Choral der Spatzen; und an Sommerabenden das trunkene Geschrei der Segler, die die leuchtende Luft durchspalteten und am Himmel hin und her glitten. Und nachts bei Mondenschein stiegen die zirpenden Töne der Kröten gleich Luftblasen zur Oberfläche eines Teiches empor. Man hätte vergessen können, daß man in Paris war, wenn das alte Haus nicht beständig vom Rollen schwerer Wagen erzittert wäre, als ob die Erde von einem Fieberschauer geschüttelt würde.

Eins der Zimmer war größer und schöner als die anderen. Und die beiden Freunde stritten darüber, wer von ihnen es haben sollte. Man mußte darum losen; und Christof, der den Gedanken angeregt hatte, verstand mit Hinterlist und einer Geschicklichkeit, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, es so einzurichten, daß er verlor.

Nun begann für sie eine Zeit ungetrübten Glücks. Das Glück lag nicht in etwas Bestimmtem, sondern in allem gleichzeitig; es durchflutete ihr ganzes Tun und Denken, es konnte sich in keinem Augenblick von ihnen lösen.

Während dieses Honigmondes ihrer Freundschaft redeten sie kaum miteinander, wagten kaum, miteinander zu reden; sie durchlebten jene erste Zeit tiefen ungestümen Jubels, die der allein kennt, der »eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund«. Es genügte ihnen, das Bewußtsein von der Nähe des anderen zu haben, einen Blick auszutauschen, ein Wort, das ihnen bewies, daß ihre Gedanken nach langem Stillschweigen denselben Weg gingen. Ohne irgendeine Frage aneinander zu richten, ja ohne einander auch nur anzuschauen, sahen sie sich doch beständig. Ein Mensch, der liebt, wandelt sich unbewußt nach dem Vorbild dessen, den er liebt; er wünscht so sehr, ihn nicht zu verletzen, alles das zu sein, was dieser ist, daß er, durch ein geheimnisvolles und jähes Ahnungsvermögen, auf dem Grunde des anderen die unmerklichsten Regungen liest. Der Freund ist dem Freunde durchsichtig; sie tauschen miteinander ihr Wesen aus. Die Züge bilden sich nach den Zügen, die Seele bildet sich nach der Seele des anderen   bis zu dem Tag, wo die innerste Kraft, der Dämon der Rasse, sich mit einem Ruck befreit und die Hülle der Liebe zerreißt, die ihn fesselte.

Christof sprach mit gedämpfter Stimme, er ging leise, er nahm sich in acht, im Zimmer neben dem des stillen Olivier keinen Lärm zu machen; er war durch die Freundschaft verklärt; er hatte einen Ausdruck von Glück, von Zuversicht, von Jugend, den keiner an ihm kannte. Er liebte Olivier über alles. Es wäre diesem sehr leicht gefallen, seine Macht zu mißbrauchen, wenn er über sie nicht wie über ein unverdientes Glück errötet wäre: denn er fühlte sich, Christof gegenüber, als der Kleinere, obgleich Christof ebenso bescheiden war. Diese gegenseitige Bescheidenheit, die ihrer großen Liebe entsprang, war eine Wonne mehr. Es war köstlich, zu fühlen   war man sich auch bewußt, es nicht zu verdienen  , daß man einen so großen Raum im Herzen des Freundes einnehme. Einer empfand für den andern dankbare Rührung.

Olivier hatte seine Bücher zu denen Christofs gestellt. Er machte unter ihnen keinen Unterschied. Wenn er von einem sprach, sagte er nicht: »Mein Buch«, sondern: »Unser Buch«. Nur ganz wenige Gegenstände behielt er zurück, ohne sie dem gemeinsamen Schatz einzuverleiben. Es waren die, welche seiner Schwester gehört hatten oder mit der Erinnerung an sie verbunden waren. Christof bemerkte das mit der Feinfühligkeit, die ihm die Liebe gegeben hatte, bald; aber er kannte Oliviers Gründe nicht. Niemals hatte er gewagt, Olivier über die Seinen auszufragen. Er wußte nur, daß dieser sie verloren hatte; und der etwas stolzen Zurückhaltung seiner Zuneigung, die es vermied, sich der Geheimnisse des Freundes zu bemächtigen, gesellte sich die Furcht, in ihm vergangenen Schmerz wieder aufzuwecken. So sehr es ihn auch dazu drängte, hatte er sogar in einer eigenartigen Schüchternheit vermieden, die Photographien, die auf Oliviers Tisch standen, näher zu betrachten; sie stellten einen Herrn und eine Dame in feierlich steifer Haltung dar und ein kleines Mädchen von etwa zwölf Jahren mit einem großen Wachtelhund zu Füßen.

Zwei oder drei Monate nach ihrem Einzug erkältete sich Olivier. Er mußte sich zu Bett legen. Christof, der eine mütterliche Seele in sich entdeckt hatte, pflegte ihn mit besorgter Herzlichkeit; der Arzt hatte, als er Olivier behorchte, eine kleine Lungenspitzenentzündung festgestellt und Christof beauftragt, den Rücken des Kranken mit Jod einzureiben. Als Christof sich seiner Aufgabe mit sehr viel Ernst entledigte, entdeckte er um Oliviers Hals ein Reliquienmedaillon. Er kannte jetzt Olivier genügend, um zu wissen, daß dieser, mehr noch als er selbst, jeden kirchlichen Glauben überwunden hatte. So konnte er sich nicht enthalten, sein Erstaunen zu zeigen.

Olivier errötete. Er sagte:

»Es ist ein Andenken. Meine arme kleine Antoinette trug es in ihrer Sterbestunde.«

Christof fuhr auf. Der Name Antoinette war eine Erleuchtung für ihn.

»Antoinette?« meinte er.

»Meine Schwester,« sagte Olivier.

Christof wiederholte:

»Antoinette ... Antoinette Jeannin. Sie war Ihre Schwester? ...«

»Aber,« sagte er mit einem Blick auf die Photographie, die auf dem Tisch stand, »sie war noch ein Kind, als Sie sie verloren?«

Olivier lächelte traurig.

»Es ist eine Kinderphotographie,« sagte er. »Leider habe ich keine andere ... Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie mich verließ.«

»Ach,« meinte Christof bewegt, »und sie ist in Deutschland gewesen, nicht wahr?«

Olivier bejahte, mit dem Kopf nickend.

Christof ergriff Oliviers Hände:

»Dann habe ich sie ja gekannt,« sagte er.

»Ich weiß wohl,« sagte Olivier.

Er warf sich an Christofs Hals.

»Arme Kleine, arme Kleine,« sagte Christof immer wieder.

Sie weinten beide. Dann fiel es Christof wieder ein, daß Olivier krank sei. Er suchte ihn zu beruhigen, zwang ihn, seine Arme unter die Bettdecke zu stecken, zog ihm die Tücher über die Schultern, trocknete ihm mütterlich die Augen und setzte sich an seinem Lager nieder; er betrachtete ihn.

»Daher kommt es also,« sagte er, »daß du mir so bekannt vorkamst. Gleich am ersten Abend habe ich dich wiedererkannt.« (Man wußte nicht, sprach er zu dem anwesenden Freunde oder zu der, die nicht mehr war.)

»Aber du,« fuhr er nach einem Augenblick fort, »hast doch davon gewußt? ... Warum hast du mir nichts gesagt? ...«

Aus Oliviers Augen antwortete Antoinette:

»Ich konnte es nicht sagen, an dir war es, es herauszulesen.«

Sie schwiegen einige Zeit; dann erzählte Olivier, der reglos in seinem Bett ausgestreckt lag, mit halber Stimme im Schweigen der Nacht Antoinettes Geschichte, während Christof seine Hand hielt;   aber er sagte nicht, was er nicht sagen durfte: das Geheimnis, das sie verschwiegen hatte und das Christof vielleicht kannte, ohne daß man es ihm zu sagen brauchte.

 

Von nun an umhüllte sie beide Antoinettes Seele. Waren sie beieinander, dann war sie unter ihnen. Es war nicht nötig, daß ihre Gedanken bei ihr weilten. Alles, was sie gemeinsam dachten, dachten sie in ihr. Ihre Liebe war die Stätte, an der ihre Herzen sich einten.

Olivier beschwor oft ihr Bild herauf. Es waren zusammenhangslose Erinnerungen, kurze kleine Geschichten. Sie ließen in flüchtigem Schein eine ihrer schüchternen und lieblichen Gebärden wieder auferstehen, ihr junges, ernsthaftes Lächeln, die nachdenkliche Anmut ihres versonnenen Wesens. Christof hörte schweigend zu und ließ den Widerschein der unsichtbaren Freundin in sich eindringen. Kraft eines Gesetzes seiner Natur, die überall und immer gieriger als irgendeine andere das Leben in sich einschlürfte, vernahm er manchmal in Oliviers Worten einen mitschwingenden Ton, der Olivier selbst entging; und er machte sich besser als Olivier das Wesen der jungen Toten zu eigen.

Unwillkürlich ersetzte er sie bei Olivier. Und es war rührend zu sehen, wie der ungeschickte Deutsche unbewußt gewisse zarte Aufmerksamkeiten und Zuvorkommenheiten Antoinettes wiederfand. In manchen Augenblicken wußte er nicht, ob er Olivier in Antoinette oder Antoinette in Olivier liebe. In einem zärtlichen Gedanken besuchte er, ohne davon zu reden, Antoinettes Grab; er brachte ihr Blumen. Lange Zeit ahnte Olivier nichts davon. Er merkte es erst an einem Tag, als er auf dem Grab ganz frische Blumen fand; aber er erlangte nur mit Mühe die Gewißheit, daß Christof dort gewesen war. Als er schüchtern versuchte, mit ihm davon zu reden, lenkte Christof mit mürrischer Barschheit die Unterhaltung ab. Er wollte nicht zugeben, daß Olivier davon erfahre; und er blieb so lange bei seinem Trotz, bis sie sich eines Tages auf dem Kirchhof von Ivry trafen.

Olivier seinerseits schrieb, ohne daß Christof etwas davon wußte, an dessen Mutter. Er gab Luise Nachricht von ihrem Sohn. Er sagte ihr, wie lieb er ihn habe und wie sehr er ihn bewundere. Luise antwortete Olivier mit ungeschickten und demütigen Briefen, in denen sie ihm überschwenglich dankte. Von ihrem Sohn sprach sie stets wie von einem kleinen Jungen.

 

Nach einer Zeit liebevollen Halbschweigens   »einer entzückenden Ruhe, die genießt, ohne zu wissen warum«   hatte sich ihre Zunge gelöst. Stunden verbrachten sie damit, die Seele des Freundes zu entdecken.

Sie waren sehr verschieden voneinander, beide aber von reinem Metall. Sie liebten sich gerade um ihrer Verschiedenheit willen und weil sie dennoch von derselben Art waren.

Olivier war schwach, kränklich, unfähig, gegen Schwierigkeiten anzukämpfen. Wenn er gegen ein Hindernis stieß, kehrte er um, nicht so sehr aus Furcht, als ein wenig aus Schüchternheit und besonders aus Widerwillen gegen gewaltsame und grobe Mittel, die man anwenden mußte, um zu siegen. Er verdiente sein Brot, indem er Nachhilfestunden gab, Bücher über Kunst schrieb, die nach alter Gewohnheit erbärmlich bezahlt wurden, ab und zu Aufsätze in Zeitschriften veröffentlichte, in denen er sich niemals frei geben konnte und über Dinge, die ihn nur mäßig fesselten, denn über jene, die ihm am Herzen lagen, wollte man nichts von ihm haben; niemals verlangte man das von ihm, worauf er sich am besten verstand: er war ein Dichter und man verlangte Kritiken von ihm, er verstand viel von Musik und man wollte, daß er über Malerei spräche; er wußte selbst, daß er darüber nichts anderes als Mittelmäßigkeiten sagen konnte: aber gerade das gefiel; so redete er denn mit den Mittelmäßigen die Sprache, die sie verstehen konnten. Schließlich widerte ihn das Ganze an und er wies die Aufträge zurück. Freude machte es ihm nur, für kleine Zeitschriften zu arbeiten, die nicht zahlten und für die er, wie so viele junge Leute, seine besten Kräfte hergab, weil er dort frei war. Nur dort konnte er alles zutage fördern, was in ihm lebenswert war.

Er war sanft, höflich, scheinbar geduldig, aber übermäßig empfindlich. Ein etwas heftiges Wort kränkte ihn bis aufs Blut; eine Ungerechtigkeit brachte ihn außer sich; er litt darunter um seiner selbst und um der anderen willen. Manche Gemeinheiten, die vor Jahrhunderten begangen worden waren, zerrissen ihm noch das Herz, als wäre er ihr Opfer gewesen. Der Gedanke, wie unglücklich der Betroffene gewesen sein mußte und wie viele Jahrhunderte ihn, Olivier, von seiner Anteilnahme trennten, ließ ihn erblassen, erzittern und sich unglücklich fühlen. War er Zeuge einer solchen Ungerechtigkeit, so wurde er von einer so tiefen Empörung befallen, daß er am ganzen Körper bebte, manchmal ganz elend wurde und nicht schlafen konnte. Gerade weil er diese Schwäche kannte, zwang er sich zur Ruhe: denn er wußte, daß er, wenn er sich erregte, alle Grenzen überschritt und Dinge sagte, die man ihm nicht verzieh. Man trug ihm dergleichen mehr als Christof nach, der ja immer heftig war, denn es schien, daß Olivier in den Augenblicken seiner Wut weit mehr als Christof seine innersten Gedanken verriet. Und das war wahr. Er beurteilte die Leute ohne die blinden Übertreibungen Christofs, aber auch ohne dessen Illusionen, mit klarem Blick. Das aber verzieh man ihm am wenigsten. Er schwieg also und vermied es, zu streiten, da er die Nutzlosigkeit jeder Auseinandersetzung kannte. Er hatte unter dem eignen Zwang gelitten. Mehr noch unter seiner Schüchternheit, die ihn manchmal dazu verführte, seinen Gedanken im Stich zu lassen oder ihn nicht mutig bis zu Ende zu verteidigen, ja sogar sich mit Entschuldigungen zurückzuziehen, wie in dem Christof betreffenden Streit mit Lucien Lévy-Cœur. Er hatte viele Verzweiflungskrisen durchgemacht, bis er sich in die Welt und in sich selber schickte. Als er heranwuchs und seinen Nerven noch mehr ausgeliefert war, lösten sich in ihm beständig Perioden der Übererregtheit mit Perioden der Niedergeschlagenheit ab und eine folgte der anderen unvermittelt und unvermeidlich. Im Augenblick, wo er sich am ruhigsten und sogar glücklich fühlte, konnte er sicher sein, daß der Gram auf ihn lauerte. Und in der Tat wurde er plötzlich von ihm niedergeworfen, ohne daß er vorher sein Kommen verspürt hätte. Dann genügte es ihm nicht, unglücklich zu sein; er mußte sich sein Mißgeschick noch vorwerfen, seine Worte, seine Handlungen, seine Anständigkeit verdammen, sich auf die Seite der anderen, gegen sich selbst, stellen. Dann pochte sein Herz zum Zerspringen, er schlug sich jämmerlich mit sich herum, der Atem ging ihm aus. Seit Antoinettes Tod und vielleicht dank ihr, dank dem beruhigenden Licht, das von manchen geliebten Toten ausstrahlt, gleich dem Schein der Morgenröte, die die Augen und die Seele der Kranken erfrischt, war es Olivier gelungen, wenn auch nicht sich aus seinen Wirrungen zu lösen, so sich doch wenigstens darein zu ergeben und sie zu beherrschen. Wenige Menschen ahnten etwas von diesen innern Kämpfen. Er verschloß ihr demütigendes Geheimnis in sich und ließ niemand etwas von der ruhelosen Aufgeregtheit seines kränklichen und gequälten Leibes merken, den sein freier und klarer Geist beobachtete, ohne ihn meistern zu können, aber auch ohne von ihm in Mitleidenschaft gezogen zu werden   sein freier Geist, der da war wie der tief innere Friede, der im Kern einer endlosen Unruhe beharrt.

Dieser Friede fiel Christof auf. Ihn sah er in Oliviers Augen. Olivier besaß das Vermögen, Seelen intuitiv zu erfassen, und eine Wißbegier, die weit, fein, allem offen war, nichts ableugnete, nichts haßte und die Dinge mit großzügiger Anteilnahme betrachtete: jene Frische des Blicks, die eine unersetzliche Gabe ist und durch die man mit einem immer neuen Herzen das ewig Neue genießen kann. In jener inneren Welt, in der er sich frei, unbegrenzt und herrschend fühlte, vergaß er seine körperlichen Ängste und seine Schwäche. Es lag für ihn sogar eine gewisse Wonne darin, von weitem und mit spöttischem Mitleid diesen armseligen Körper, der immer nahe am Vergehen schien, zu betrachten. Auf diese Weise lief man nicht Gefahr, sich an sein Leben zu hängen. Und man hing dafür um so leidenschaftlicher an dem Leben. Olivier übertrug alle Kräfte, die er dem Handeln entzogen hatte, auf die Liebe und das Denken. Er hatte nicht genug Saft, um aus eigenem Vermögen zu leben. Er war Efeu, er mußte sich anranken. Niemals war er so reich, als wenn er sich gab. Er war eine weibliche Seele, die immer lieben und geliebt werden mußte. Er war für Christof geschaffen und Christof für ihn. Ganz so wie jene aristokratischen und reizenden Freunde, die man in der Gefolgschaft großer Künstler trifft und die aus deren mächtiger Seele hervorgeblüht scheinen: Beltraffio aus Leonardo; Cavalieri aus Michel-Angelo; die liebenswürdigen umbrischen Gefährten des jungen Raffael; Aert van Geldern, der dem elenden und gealterten Rembrandt treulich nahe blieb. Sie haben nicht die Größe der Meister, aber es ist, als ob alles Edle und Reine der Meister in ihnen, den Freunden, sich noch vergeistigt habe. Sie sind die idealen Gefährten der Genies.

 

Ihre Freundschaft war beiden eine Wohltat. Die Liebe verleiht der Seele Flügel. Die Gegenwart des Freundes vollendet das Leben zu seinem ganzen Wert; für ihn lebt man, für ihn verteidigt man die Unversehrlichkeit des eignen Wesens gegen die abnutzende Gewalt der Zeit.

Sie bereicherten sich aneinander. Olivier besaß die stille Heiterkeit des Geistes und den kränklichen Körper. Christof hatte mächtige Kräfte und eine stürmische Seele. Sie waren der Blinde und der Lahme. Jetzt, da sie zusammen waren, fühlten sie sich stark. In Christofs Schatten begann Olivier wieder das Licht zu lieben; Christof übertrug ihm etwas von seiner überströmenden Lebenskraft, von seiner körperlichen und sittlichen Stämmigkeit, die selbst in Schmerz, selbst in Ungerechtigkeit und Haß zum Optimismus neigte. Dafür nahm er weit mehr von ihm an; denn es ist ein Gesetz des Genies, daß es in der Liebe stets weit mehr nimmt als es gibt, mag es auch noch so viel geben, quia nominor leo, weil es eben das Genie ist und weil das Genie zur Hälfte darin besteht, alles Große rings umher für sich in Anspruch zu nehmen und es in das noch Größere hinein zu gestalten. Die Volksweisheit sagt, daß den Reichen der Reichtum zufließt. Die Kraft strömt den Starken zu. Christof nährte sich an Oliviers Gedankenwelt; er durchtränkte sich mit dessen geistiger Ruhe, dessen geistiger Ungebundenheit, jenem umfassenden Blick über die Dinge, der alles schweigend begreift und überschaut. Aber die guten Eigenschaften seines Freundes wucherten in ihm, in einen reicheren Boden verpflanzt, mit ganz anderer Energie.

Es war ihnen beiden ein Erstaunen, was sie alles ineinander entdeckten. Wie vieles hatten sie zu teilen. Jeder von beiden trug unendliche Reichtümer herbei, die ihnen bis dahin selber nicht zum Bewußtsein gekommen waren: den sittlichen Schatz seines Volkes; Olivier die weitgespannte Kultur und das psychologische Talent Frankreichs; Christof die innere Musik Deutschlands und dessen unmittelbare Naturanschauung.

Christof konnte nicht begreifen, daß Olivier Franzose sei. Allen ihm bekannten Franzosen glich sein Freund so wenig ... Bevor er ihm begegnet war, hätte er beinahe Lucien Lévy-Cœur für den Typus des modernen französischen Geistes angesehen; und der war doch nur sein Zerrbild. Nun sah er an Oliviers Beispiel, daß auch Paris Menschen hervorbringen konnte, die nicht mindere Freidenker als Lucien Lévy-Cœur waren und die dennoch so rein und standhaft blieben, wie irgend einer in Europa. Christof wollte Olivier beweisen, daß dessen Schwester und er, Olivier, nicht völlig Franzosen sein könnten.

»Mein armer Freund,« erwiderte ihm Olivier, »was weißt du denn von Frankreich?«

Christof führte ins Feld, wie viele Mühe er sich gegeben hätte, es kennen zu lernen; er zählte alle Franzosen auf, die er in den Kreisen der Stevens und der Roussin gesehen hatte: Juden, Belgier, Luxemburger, Amerikaner, Russen, Morgenländer und sogar hier und da ein paar wirkliche Franzosen.

»Das ist genau das, was ich dir sage,« erwiderte Olivier, »du hast nicht einen einzigen gesehen. Eine ausschweifende Gesellschaft, ein paar Sumpfvögel, die nicht einmal Franzosen sind, Lebemänner, Politiker, unnützes Pack, alles, was sich da an der Oberfläche der Nation geschäftig regt und vergeht, ohne ihren Grund zu berühren. Du hast nur Myriaden von Wespen gesehen, die ein schöner Herbst und üppige Weinberge anziehen. Die arbeitsamen Bienenstöcke, die Arbeitsstadt, die Forschgier ist dir entgangen.«

»Entschuldige,« sagte Christof, »ich habe auch eure geistige Auslese gesehen.«

»Was?   Zwei oder drei Dutzend Schriftsteller? Das ist auch etwas Rechtes. In unserer Zeit nehmen Wissenschaft und Tatkraft so viel Raum ein, daß die Literatur der oberflächlichste Niederschlag vom Denken eines Volkes geworden ist. Und von der Literatur selbst hast du kaum mehr als das Theater kennen gelernt, und zwar das Luxustheater, die internationale Küche, die nur für eine reiche kosmopolitische Hotelkundschaft da ist. Die Pariser Theater? Meinst du, daß ein ernster Arbeiter auch nur weiß, was in ihnen gespielt wird? Pasteur ist nicht zehnmal in seinem Leben hineingegangen. Wie alle Ausländer legst du unseren Romanen, unseren Boulevardtheatern, unseren politischen Intrigen eine maßlos übertriebene Bedeutung bei ... Ich kann dir, wenn du willst, Frauen zeigen, die niemals Romane lesen, junge Pariser Mädchen, die niemals ins Theater gegangen sind, Männer, die sich niemals mit Politik beschäftigt haben   und das alles unter den geistig Hochstehenden. Du kennst weder unsere Gelehrten noch unsere Dichter. Du hast weder unsere einsam schaffenden Künstler gesehen, die sich in der Stille verbrauchen, noch die lodernden Feuergarben unserer Revolutionäre. Du kennst nicht einen einzigen großen Gläubigen, nicht einen einzigen großen Ungläubigen. Vom Volk ganz zu schweigen. Was kennst du von ihm außer der armen Frau, die dich gepflegt hat? Wo hättest du es sehen können? Wie viele Pariser kennst du, die oberhalb des zweiten oder dritten Stockwerks wohnen? Wenn du sie nicht kennst, kennst du Frankreich nicht. Die tapferen wahrhaftigen Seelen, die in armseligen Behausungen, in Pariser Mansarden, in der stummen Provinz leben, kennst du nicht, sie alle, die ein ganzes bescheidenes Leben lang an ernste Gedanken und täglichen Verzicht gebunden sind   die kleine Gemeinde, die zu allen Zeiten in Frankreich bestanden hat  , klein an Zahl, an Seele groß; sie ist fast unbekannt, ihr Tun ist unscheinbar und doch liegt in ihr die ganze Kraft Frankreichs, die Kraft, die schweigt und dauert, während die, welche sich die Auslese nennen, unaufhörlich verwesen und durch Neuankömmlinge ersetzt werden. Du bist erstaunt, einen Franzosen zu finden, der nicht lebt, um glücklich zu sein, glücklich um jeden Preis, sondern um seiner Überzeugung zum Sieg zu verhelfen oder zu dienen? Es leben Tausende wie ich, verdienstvoller, frommer, bescheidener als ich, die, ohne müde zu werden, bis zu ihrer Todesstunde einem Ideal dienen, einem Gott, der ihnen nichts vergilt. Du kennst nicht das kleine Volk, das sparsam, methodisch, arbeitsam, ruhig dahinlebt   auf dessen Herzensgrunde eine schlummernde Flamme lebt   dies hingeopferte Volk, das mein Landsmann, der alte blauäugige Vauban, einst gegen die Selbstsucht der Großen verteidigt hat. Du kennst das Volk nicht. Hast du ein einziges der Bücher gelesen, die uns treue Freunde und stützende Gefährten sind? Weißt du auch nur etwas vom Dasein unserer jungen Zeitschriften, in denen sich eine Unsumme von Hingebung und Überzeugung ausgibt? Ahnst du etwas von den sittlich großen Menschen, die unsere Sonne sind, deren stumme Strahlenkraft dem Heer der Heuchler Angst macht? Sie wagen nicht, von vorn anzugreifen. Sie beugen sich vor den anderen, um sie desto besser zu verraten. Der Heuchler ist ein Sklave, und wo ein Sklave ist, da ist auch ein Herr. Du kennst nur die Sklaven, du kennst nicht die Herren ... Du hast unsere Kämpfe mit angesehen und du hast sie roh und unzusammenhängend genannt, weil du ihren Sinn nicht erfaßt hast. Du siehst Schatten und Reflexe des Lichts, nicht aber das innere Licht, unsere ewige Seele. Hast du jemals versucht, sie kennen zu lernen? Hast du jemals etwas von unseren heroischen Taten erfahren, von den Kreuzzügen bis zur Kommune? Hast du jemals das Tragische im französischen Geist erfaßt? Hast du dich jemals über den Abgrund gebeugt, der Pascal heißt? Wie darf man wagen, ein Volk zu verleumden, das seit mehr als zehn Jahrhunderten schafft und sich regt, ein Volk, das durch die Gotik, durch das siebzehnte Jahrhundert und durch die Revolution die Welt nach seinem Bilde geformt hat   ein Volk, das zwanzigmal die Feuerprobe bestanden hat und in ihr gehärtet wurde und, ohne jemals zu sterben, zwanzigmal auferstanden ist! ...

Ihr seid alle gleich. Alle deine Landsleute, die zu uns kommen, sehen nichts als die Parasiten, die an uns fressen, die Abenteurer der Literatur, der Politik und der Finanz mit ihren Lieferanten, ihrer Kundschaft und ihren Dirnen; und sie beurteilen Frankreich nach diesen Elenden, die am Lande zehren. Nicht einer von euch sinnt dem wahren unterdrückten Frankreich nach, denkt an die Schatzkammern von Leben in der französischen Provinz, an dieses ganze Volk, das da arbeitet, gleichgültig gegen das Gelärm seiner Eintagsherren ... Ja, es ist nur allzu natürlich, daß ihr nichts von ihm kennt, ich mache euch keinen Vorwurf daraus: wie solltet ihr es kennen? Frankreich wird ja kaum von den Franzosen gekannt. Die Besten unter uns sind abgesperrt, sind Gefangene auf unserem eigenen Boden ... Niemals wird man wissen, was wir gelitten haben, wir, die am Genius unserer Rasse hängen, die wie ein heilig anvertrautes Gut das Licht, das wir von ihm empfingen, bewahren und es gegen den feindlichen Atem, der es verlöschen möchte, verzweifelt verteidigen; und dabei stehen wir allein, fühlen rings um uns die verpestete Luft jener Metöken, die sich gleich einem Mückenschwarm auf unser Denken gestürzt haben und deren widerliche Larven unsere Vernunft benagen und unser Herz beschmutzen; von denen, deren Mission es wäre, uns zu verteidigen, unseren Führern, unseren blöden oder feigen Kritikern, sind wir verraten, sie umschmeicheln den Feind, um sich Verzeihung dafür zu erwirken, daß sie unseres Geschlechtes sind; von unserem Volk, das sich nicht um uns bekümmert, das uns nicht einmal kennt, sind wir verlassen ... Welche Mittel haben wir, um uns ihm verständlich zu machen? Wir können nicht bis zu ihm gelangen ... Und das ist das Schwerste. Wir wissen, daß wir unserer Tausende in Frankreich sind, die dasselbe denken; wir wissen, daß wir in deren Namen sprechen und wir können nichts tun, um gehört zu werden! Der Feind hält alles besetzt: Zeitungen, Zeitschriften, Theater ... Die Presse flieht jeden Gedanken oder läßt ihn nur zu, wenn er Vergnügungsinstrument oder Parteiwaffe ist. Intrigen und Literatencliquen lassen den Durchgang nur dem frei, der sich wegwirft. Elend und Überarbeitung drücken uns zu Boden. Die Politiker, die einzig darauf bedacht sind, sich zu bereichern, interessieren sich nur für den käuflichen Teil des Proletariats. Die gleichgültige und eigennützige Bürgerschaft schaut unserem Sterben zu. Unser Volk kennt uns nicht; selbst die, welche gleich uns kämpfen, gleich uns vom Schweigen umhüllt sind, wissen nichts von unserem Dasein und wir wissen nichts von dem ihren ... Unseliges Paris! Gewiß, es hat auch Gutes gewirkt, indem es alle Kräfte französischen Denkens in Gruppen ordnete. Aber das Übel, das es geschaffen hat, steht dem Guten mindestens gleich; und das Gute selbst wandelt sich in einer Epoche gleich der unseren in Böses. Es genügt, daß eine Pseudo-Elite Paris an sich reißt und die ungeheure Glocke der Öffentlichkeit läutet, um die Stimme des übrigen Frankreichs zu ersticken. Weit mehr noch: Frankreich verwirrt sich selbst; es schweigt bestürzt und drängt seine Gedanken ängstlich in sich selbst zurück ... Früher habe ich unter all dem sehr gelitten. Jetzt aber, Christof, bin ich ruhig. Ich habe meine Kraft, habe die Kraft meines Volkes verstanden. Wir müssen nur warten, bis die Überschwemmung vorüberzieht. Frankreichs guten Granit wird sie nicht benagen. Unter dem Schlamm, den sie mit sich forttreibt, will ich ihn dich fühlen lassen. Und schon treten hier und dort hohe Gipfel zutage ...«

 

Christof entdeckte die ungeheure Macht des Idealismus, die in den französischen Dichtern, Musikern, Gelehrten seiner Zeit lebte. Während die Herren des Tages mit dem Gelärm ihres plumpen Sinnenkults die Stimme des französischen Denkens übertönten, dichtete dieses vor sich und vor Gott sein feuriges und liebeglühendes Lied weiter   zu adelig, um an Ungestüm mit dem übermütigen Geschrei des Gesindels zu wetteifern. Ja, es schien, daß es im Wunsch, den widerwärtigen Lärm von draußen zu fliehen, sich bis in die innersten Schlupfwinkel zurückgezogen hatte, ins Herz seiner Burg.

Die Dichter, die einzigen, die diesen schönen, von der Presse und den Akademien an die nach Eitelkeit und Geld gierigen Schwätzer verschwendeten Namen verdienten, diese Dichter verachteten ebenso die schamlose Schönrednerei wie den gemeinen Realismus, die beide die Rinde der Dinge benagen, ohne in sie eindringen zu können, und sie hatten sich in den innersten Kern ihrer Seele zurückgezogen, in eine mystische Vision, in der das Universum der Formen und Gedanken gleich einem Strudel, der in einen See fällt, eingesogen und von dem Schein des inneren Lebens gefärbt wurde. Die Größe dieses Idealismus, der sich in sich selbst verschloß, um das Weltall neu zu schaffen, machte ihn für die Menge unzugänglich. Christof selbst verstand ihn zuerst nicht. Nach dem Jahrmarktstrubel drang dessen Gegenteil allzu unvermittelt auf ihn ein. Es war, als käme er aus rasendem Getümmel und grellem Licht in die Stille der Nacht. Es sauste ihm in den Ohren. Er sah nichts mehr. Er, der das Leben glühend liebte, prallte im ersten Augenblick vor dem Gegensatz zurück. Draußen brüllten Sturzfälle der Leidenschaft, durchrüttelten Frankreich, setzten die Menschheit in Bewegung. Und nichts davon war auf den ersten Blick in der Kunst zu sehen. Christof fragte Olivier:

»Ihr seid von eurer Dreyfus-Affaire bis zu den Sternen emporgehoben und bis in die Abgründe geschleudert worden. Wo ist der Dichter, in den der Aufruhr übergegangen ist? Der schönste Kampf, der seit Jahrhunderten zwischen der Macht der Kirche und den Rechten des Gewissens stattgefunden hat, wird in diesem Augenblick in den gläubigen Seelen ausgefochten. Wo ist der Dichter, in dem sich diese heilige Pein widerspiegelt? Das Volk der Arbeiter bereitet sich zum Krieg; Nationen sterben, Nationen stehen wieder auf. Die Armenier werden hingemetzelt, Asien erwacht aus tausendjährigem Schlaf und wirft den russischen Riesen, den Schlüsselhüter Europas, um. Die Türkei öffnet gleich Adam die Augen dem Tag; die Luft wird vom Menschen erobert. Die alte Erde kracht unter unseren Schritten und öffnet sich. Sie verschlingt ein ganzes Volk ... Alle jene in zwanzig Jahren vollbrachten Wunder, von denen sich zwanzig Jahre nähren könnten, wo sind sie, wo ist ihre Feuerspur in den Büchern eurer Dichter? Sehen sie allein nicht die Poesie der Welt?«

»Geduld, mein Freund, Geduld,« erwiderte ihm Olivier, »sei still, rede nicht, hör zu.«

Nach und nach verklang das Geknirsch der Weltachse und das Rollen des schweren Wagens der Tat auf dem Pflaster verlor sich in der Ferne. Und es erhob sich der göttliche Gesang der Stille.

Le bruit d'abeilles, le parfum de tilleul ...
Le vent,
Avec ses lèvres d'or frôlant le sol des plaines ...
Le doux bruit de la pluie avec l'odeur des roses.

Man hörte den Hammer des Künstlers klingen, der auf den Flächen der Vase ausmeißelte

La fine majesté des plus naïves choses;

das ernste und freudvolle Leben

Avec ses flûtes d'or et ses flûtes d'ébène,

die fromme Freude, die gleich einem Springquell der Seelen rieselt

Pour qui toute ombre est claire ...

und den guten Schmerz, der dich wiegt und lächelt,

De son visage austère, d'où descend
Une clarté surnaturelle

und

La mort sereine aux grands yeux doux.

Eine ganze Symphonie von harmonischen und reinen Stimmen. Nicht eine hatte die klingende Fülle jener Völkertrompeten, die Corneille und Hugo waren; wie viel tiefer und abgetönter aber war ihr Konzert. Die reichste Musik des heutigen Europa. Olivier sagte zu dem still gewordenen Christof:

»Begreifst du jetzt?«

Christof machte ihm seinerseits ein Zeichen, zu schweigen. Wider Willen und obgleich er mannhaftere Klänge vorzog, trank er doch das Murmeln der Wälder und jener Springbrunnen der Seele, die er rauschen hörte. Sie sangen zwischen den vergänglichen Kämpfen der Völker die ewige Jugend der Welt: die

Bonté douce de la Beauté.

Während die Menschheit,

Avec des aboiements d'épouvante et des plaintes,
Tourne en rond dans un champ aride et ténébreux,

während Millionen Geschöpfe sich abmatteten, einander blutige Fetzen der Freiheit zu entreißen, sangen Quellen und Wälder immer wieder:

» Libre! ... Libre! ... Sanctus, Sanctus ...«

Und doch entschlummerten sie nicht in einem Traum selbstsüchtiger Heiterkeit. Dem Chor der Dichter fehlten die tragischen Stimmen nicht: Stimmen des Stolzes, Stimmen der Liebe, Stimmen der Angst. Da war der trunkene Sturmwind,

Avec sa force rude ou sa douceur profonde,

die entfesselten Kräfte, die bilderbeschwörenden Heldengedichte derer, die das Fieber der Massen singen, die Kämpfe zwischen den menschlichen Göttern, die atemlosen Arbeiter, die das künftige Paradies schmieden;

Visages d'encre et d'or trouant l'ombre et la brume,
Dos musculeux tendus ou ramassés, soudain,
Autour de grands brasiers et d'énormes enclumes ...

So sah die heldenhafte Bitterkeit der einsamen Seelen aus, die in dem grellen und düsteren Licht, das auf die Gletscher der Verstandeskräfte fällt, mit einem verzweifelten Jubel sich selbst verzehren.

Viele Züge dieser Idealisten mußten einem Deutschen mehr deutsch als französisch erscheinen. Aber alle waren von der Liebe zu »Frankreichs reiner Sprache« beseelt und der Saft der Mythen Griechenlands rann in ihren Dichtungen. Die Landschaften Frankreichs und das tägliche Leben wandelten sich durch geheimnisvollen Zauber zu Visionen Attikas. Man hätte meinen können, daß antike Seelen in jenen Franzosen des zwanzigsten Jahrhunderts fortlebten und daß es ihnen not tue, ihr zeitgenössisches Kleid abzuwerfen, um sich in ihrer schönen Nacktheit wiederzufinden.

Aus der Gesamtheit dieser Dichtung stieg ein Duft einer reichen, in Jahrhunderten gereiften Kultur empor, die man nirgends anders in Europa finden konnte. Hatte man ihn einmal eingesogen, dann konnte man ihn nicht mehr vergessen. Er zog aus allen Ländern der Welt fremde Künstler an. Sie wurden französische Dichter, französisch bis zum Haß gegen alles andere; und die klassische französische Kunst hatte keine begeisterteren Schüler als jene Angelsachsen, jene Vlamen und jene Griechen. Christof ließ sich unter Oliviers Führung von der gedankenvollen Schönheit der Muse Frankreichs durchdringen, zog er auch im Grunde jenem adligen, für seinen Geschmack ein wenig allzu verstandesmäßigen Geschöpf immerhin ein schönes, einfaches, gesundes, kräftiges Mädchen aus dem Volke vor, das nicht so viel überlegt, aber liebt.

 

Aus der gesamten französischen Kunst stieg derselbe odor di bellezza gleich einem Duft von reifen Erdbeeren und Himbeeren, der aus sonnendurchwärmten Wäldern strömt. Die Musik war eines jener kleinen Erdbeerpflänzchen, die unter dem Grase verborgen stehen und deren Hauch doch genügt, einen ganzen Wald zu berauschen. Christof war zuerst daran vorbeigegangen, ohne es zu sehen, da er von seiner Heimat her an viel üppigere Büsche von Musik und an viel lachendere Früchte gewöhnt war. Nun aber veranlaßte ihn der zarte Duft, sich umzuwenden; mit Oliviers Hilfe entdeckte er unter den Steinen, den Dornen, dem toten Laub, die alle den Namen Musik ungerechterweise führten, die überfeine und freie Kunst einer handvoll Musiker. Zwischen Gemüsefeldern und den Fabrikschornsteinen der Demokratie in einem kleinen heiligen Haine mitten in der Plaine St. Denis tanzten unbekümmerte Faune. Christof lauschte überrascht ihrem spöttisch-heiteren Flötengesang, der in nichts dem glich, was er bisher gehört hatte:

Un petit roseau m'a suffi
Pour faire frémir l'herbe haute
Et tout le pré
Et les doux saules
Et le ruisseau qui chante aussi;
Un petit roseau m'a suffi
A faire chanter la forêt ...

Unter der nachlässigen Anmut und dem scheinbaren Dilettantismus dieser kleinen Klavierstücke, dieser Lieder, dieser französischen Kammermusik, auf die einen Blick zu werfen die deutsche Musik sich nicht herabließ und deren dichterische Meisterschaft Christof selber bisher nicht beachtet hatte, begann er jetzt das Fieber zu fühlen, das nach Neuem drängte, die   auf der anderen Seite des Rheins unbekannte   Ruhelosigkeit, mit der die französischen Musiker auf dem unbebauten Boden ihrer Kunst die Samenkörner hervorsuchten, die die Zukunft befruchten konnten. Während die deutschen Musiker in den Lagern ihrer Väter untätig liegen blieben und die Entwicklung der Welt an der Schranke ihrer vergangenen Siege aufzuhalten meinten, ging die Welt weiter; und allen voran machten sich die Franzosen an die Entdeckung; sie erforschten die Fernen der Kunst, die erloschenen und die aufglühenden Sonnen, das verschollene Griechenland und den fernen Osten, der nach jahrhundertelangem Schlaf seine großen geschlitzten Augen voll ungeheurer Träume dem Lichte neu öffnete. In der Musik des Abendlands, die von dem Genius der Ordnung und der klassischen Vernunft in Kanäle geleitet war, öffneten sie die Schleusen der alten Formen. Sie leiteten in ihre Becken von Versailles alle Wasser der Welt: volkstümliche Melodien und Rhythmen, exotische und altertümliche Tonfolgen, neue und erneuerte Arten der Intervalle. Ebenso wie vor ihnen die impressionistischen Maler Frankreichs, Kolumbusse des Lichts, dem Blick eine neue Welt erschlossen hatten, machten sich jetzt Frankreichs Musiker an die Eroberung der Welt der Töne; sie drangen tief in die geheimnisvollen Schlupfwinkel des Gehörs ein; sie entdeckten neues Land in diesem Meer des Innern. Übrigens war es mehr als wahrscheinlich, daß sie mit ihren Eroberungen nichts anzufangen wissen würden. Nach alter Gewohnheit waren sie die Quartiermacher der Welt.

Christof bewunderte die bahnbrechende Kraft dieser Musik, die, erst gestern geboren, schon im Vortrabe der Kunst schritt. Wieviel Tapferkeit lebte in dieser eleganten und zierlichen kleinen Person! Gegen die Dummheiten, die er jüngst noch in ihr entdeckt hatte, wurde er nachsichtig. Jene allein, die nichts machen, irren sich niemals. Aber der Irrtum, der nach lebendiger Wahrheit strebt, ist fruchtbarer und gesünder als die tote Wahrheit.

Wie auch immer der Erfolg sein mochte, der Anstoß war erstaunlich. Olivier zeigte Christof das seit fünfunddreißig Jahren vollbrachte Werk und die Summe an Kraft, die man verausgabt hatte, um die französische Musik dem Nichts zu entreißen, in dem sie vor 1870 geschlafen hatte: Ohne symphonische Schule, ohne tiefe Kultur, ohne Überlieferungen, ohne Meister, ohne Zuhörerschaft; einzig auf Berlioz beschränkt, der aus Mangel an Bewegungsfreiheit und vor Kummer starb. Christof empfand jetzt Achtung vor denen, die die Urheber der nationalen Erhebung gewesen waren; er dachte nicht mehr daran, sie wegen der Enge ihrer ästhetischen Anschauung oder selbst wegen ihres Mangels an Genie zu hänseln: sie hatten weit mehr als ein Werk geschaffen: ein musikalisches Volk. Unter allen großen Arbeitern, die an der neufranzösischen Musik mitgeschmiedet hatten, war ihm vor allem eine Gestalt teuer: die von César Franck; er war gestorben, bevor er den Sieg, den er vorbereitete, geschaut hatte. Er hatte, wie der alte Schütz, durch die dunkelsten Jahre der französischen Kunst hindurch, den Schatz seines Glaubens und den Genius seiner Rasse unversehrt bewahrt. Eine herzbewegende Erscheinung: mitten im genießerischen Paris dieser engelhafte Meister, dieser Heilige der Musik, der in einem sorgenvollen Leben in verachteter Arbeit die unwandelbare Heiterkeit seiner geduldigen Seele bewahrte, deren ergebungsvolles Lächeln seine von Güte erfüllte Musik durchleuchtete.

 

Die Erscheinung dieses großen gläubigen Künstlers im Herzen eines atheistischen Volkes war für Christof, der das innere Leben Frankreichs nicht kannte, fast ein Wunder.

Olivier jedoch zuckte leise mit den Achseln und fragte ihn, in welchem Lande Europas man noch einen Maler fände, der vom Hauch der Bibel ebenso durchglüht wäre wie der puritanische François Millet;   einen Gelehrten, der mehr von glühendem und demütigem Glauben durchdrungen wäre als der hellsichtige Pasteur, der vor der Idee des Unendlichen das Knie beugte und, wenn der Gedanke daran sich seines Geistes bemächtigte, »in stechender Angst«, wie er selber sagte, »seine Vernunft noch um eine Gnadenfrist anflehte, da er sich nahe daran fühle, dem erhabenen Wahn Pascals zu verfallen«. Ein tiefer Katholizismus war für den heldenhaften Wirklichkeitssinn des ersten dieser beiden Männer ebensowenig eine Fessel wie für die leidenschaftliche Vernunft des anderen, der mit sicherem Schritt, ohne einen Fuß breit abzuweichen, »die Kreise der elementaren Natur durchlief, die große Nacht des unendlich Kleinen, die letzten Abgründe des Seins, aus denen das Leben geboren wird«. Aus dem Volke der Provinz, aus dem sie hervorgegangen waren, hatten sie jenen Glauben geschöpft, der immer noch in der Erde Frankreichs fortglomm und den die Redseligkeit einiger Demagogen vergeblich abzuleugnen suchte. Olivier war dieser Glaube wohl bekannt. Er hatte ihn in seinem Herzen getragen.

Er zeigte Christof die wunderbare Bewegung eines erneuerten Katholizismus, die seit fünfundzwanzig Jahren angebahnt war, den mächtigen Aufschwung des christlichen Gedankens in Frankreich, der sich mit der Vernunft, der Freiheit, dem Leben vermählen wollte, er zeigte jene wundervollen Priester, die den Mut hatten, sich, wie einer von ihnen es ausdrückte, »zu Menschen taufen zu lassen«, die für den Katholizismus das Recht in Anspruch nahmen, alles zu begreifen und sich mit jedem aufrichtigen Gedanken zu vereinigen: denn »jeder aufrichtige Gedanke, selbst wenn er in die Irre geht, ist geheiligt und göttlich«; er zeigte jene Tausende von jungen Katholiken, die den hochherzigen Wunsch vertraten, eine christliche, freie, reine, brüderliche Republik aufzubauen, die allen Menschen guten Willens offenstünde; und trotz widerwärtiger Bekämpfungen, trotz der Beschuldigung der Ketzerei, trotz aller Perfidien von rechts und von links   vor allem von rechts, denen diese großen Christen ausgesetzt waren, schritt die kleine unerschrockene Legion auf dem harten Wege, der zur Zukunft führte, vorwärts; ihre Stirn blieb heiter, in Trübsal blieben sie ergeben, denn sie wußten, daß man nichts Dauerndes aufbauen könne, ohne es mit seinen Tränen und seinem Blut zu besiegeln.

Derselbe Hauch von lebendigem Idealismus und leidenschaftlichem Freiheitsdrang belebte die anderen Religionen in Frankreich. Ein Schauer neuen Lebens durchrann die breiten, verschlafenen Massen des Protestantismus und des Judentums. Alle mühten sich mit großherzigem Eifer, die Religion einer freien Menschheit zu schaffen, die nichts opferte, weder von den Kräften ihrer Vernunft noch von den Kräften ihrer Begeisterung.

Diese fromme Begeisterung war nicht den Religionen allein eigen; sie war die Seele der revolutionären Bewegung. Dort nahm sie einen tragischen Charakter an. Christof hatte bisher nur den niedrigen Sozialismus gesehen, den Sozialismus der Politiker, die den Augen ihrer gierigen Klientel den kindlichen und plumpen Traum vom Glück vorgaukelten oder, mit ehrlicheren Worten, vom allgemeinen Vergnügen, das ihrer Meinung nach die Wissenschaft in den Händen der Macht ihnen verschaffen sollte. Christof sah, wie sich gegen diesen widerlichen Optimismus die mystische und gewaltsame Gegenbewegung der Auslese richtete, die die Arbeiterverbände in den Kampf führte. Es war ein Aufruf zum »Krieg, der das Erhabene zeugt«, zum heldenhaften Krieg, »der allein der sterbenden Welt wieder einen Sinn, ein Ideal, ein Ziel geben kann.« Diese großen Revolutionäre, die den »bürgerlichen, feilschenden, friedensseligen Sozialismus nach englischem Vorbild« von sich spieen, stellten ihm die tragische Vorstellung eines Weltalls entgegen, dessen Gesetz der Gegensatz ist, das vom Opfer lebt, vom beständig, unablässig erneuten Opfer.   Konnte man auch zweifeln, ob das Heer, das jene Anführer zum Ansturm gegen die alte Welt hetzten, diesen kriegerischen Mystizismus begriff, der Kant und Nietzsche gleichzeitig für die gewaltsame Tat in Anspruch nahm, so war diese revolutionäre Adelspartei doch ein ergreifendes Schauspiel. Ihr berauschter Pessimismus, ihre heldenhafte Lebensraserei, ihr begeisterter Glaube an den Krieg und den Opfermut glichen dem soldatischen und religiösen Ideal eines deutschen Ritterordens oder der japanischen Samuraï.

Und doch war nichts echter französisch: hier handelte eine französische Rasse, deren Züge sich seit Jahrhunderten unverändert erhalten hatten. Mit Oliviers Augen schauend, lernte Christof sie in den Tribunen und Prokonsuln des Konvents wiederfinden, in manchen Denkern, manchen tatenreichen Männern und französischen Reformatoren der alten Zeit. Bei Calvinisten, Jansenisten, Jakobinern, Syndikalisten   überall fand sich derselbe Geist eines pessimistischen Idealismus, der ohne Illusion und ohne müde zu werden, gegen die Natur ankämpfte: die eiserne Rüstung, die die Nation aufrecht hält.

Christof sog den Atem dieser mystischen Kämpfe in sich ein und er begann die Größe dieses Fanatismus zu begreifen, in dem Frankreich einen Glauben und eine bedingungslose Wahrhaftigkeit betätigte, von denen die anderen Nationen, die mit den combinazioni vertrauter waren, keinerlei Vorstellung hatten. Wie alle Fremden hatte er sich zuerst darin gefallen, mit leichten Witzen den allzu deutlichen Widerspruch zu verspotten, der zwischen dem despotischen Geist der Franzosen und der Zauberformel auf den Gebäuden der Republik bestand. Zum erstenmal durchschaute er nun den Sinn jener kriegerischen Freiheit, die sie anbeteten und die das furchtbare Schwert der Vernunft war. Nein, sie bedeutete ihnen nicht nur eine klingende Schönrednerei, eine unbestimmte Ideologie, wie er geglaubt hatte. Bei einem Volk, für das die Bedürfnisse der Vernunft die obersten von allen waren, beherrschte der Kampf für die Vernunft alle anderen. Was lag daran, daß solcher Kampf den Völkern, die sich praktisch nannten, unsinnig erschien? Einem tiefen Blick stellen sich die Kämpfe um die Welteroberung, um die Macht oder um Geld nicht weniger eitel dar; und in einer Million Jahren wird weder von den einen noch von den anderen etwas übrig sein. Aber wenn der Wert des Lebens von der Wucht des Kampfes abhängt, in dem alle Kräfte des Wesens bis zur völligen Aufopferung für ein höheres Wesen sich erheben, so ehren wenige Kämpfe das Leben mehr als die ewige Schlacht, die Frankreich für oder gegen die Vernunft ausgefochten hat. Denen aber, die von dieser herben Kost genossen hatten, erschien die vielgelobte, gleichgültige Duldsamkeit der Angelsachsen ohne Reiz und wenig männlich. Die Angelsachsen machten das wieder gut, indem sie ihre Kraft anderswo verwendeten. Hier aber zeigte sich ihre Tatkraft nicht. Duldsamkeit zwischen den Parteien ist nur groß, wenn sie Heldentum bedeutet. Im heutigen Europa ist sie meistens nur Gleichgültigkeit, Mangel an Überzeugung, Mangel an Leben. Die Engländer rühmen sich gern, indem sie einen Ausspruch Voltaires für sich zurechtstutzen, daß die »Unterschiedlichkeit der Glaubensüberzeugungen in England mehr Duldsamkeit mit sich gebracht habe,« als die Revolution in Frankreich;   das kommt aber daher, daß in dem Frankreich der Revolution mehr Glauben lebt, als in den Glaubenslehren Englands.

 

Aus diesem ehernen Kreis von kriegerischem Idealismus, von Schlachten der Vernunft führte Olivier Christof gleich Virgil, der Dante leitete, zum Gipfel des Berges, auf dem sich schweigend und in heiterem Frieden die kleine auserwählte Schar der wahrhaft freien Franzosen aufhielt.

Freiere Männer lebten nirgends auf Erden. Hier war der heitere Friede des Vogels, der am reglosen Himmel schwebt. Auf diesen Höhen war die Luft so rein, so dünn, daß Christof mit Mühe atmete. Man sah hier Künstler, die die völlige unbegrenzte Freiheit des Traumes für sich beanspruchten;   zügellose Subjektivisten, die, wie Flaubert, »die Rohlinge, die an die Wirklichkeit der Dinge glauben«, verachteten; Denker, deren wogende und vielfältige Gedankenwelt die unendliche Flut des ewig Bewegten nachbildete und »unaufhörlich rinnend und rollend« ihren Weg ging, sich niemals festnistete, nirgends auf widerstandskräftigen Felsboden traf und »nicht das Wesen der Dinge malte, sondern den Übergang« wie Montaigne sagte, »den ewigen Übergang von Tag zu Tag, von Minute zu Minute«;   Gelehrte, die sich des Nichts, der Leere alles Bestehenden bewußt waren, in die der Mensch sein Denken, seinen Gott, seine Kunst, seine Wissenschaft hineingedichtet hatte, und die dennoch fortfuhren, die Welt und ihre Gesetze, jenen mächtigen Eintagstraum zu schaffen. Sie verlangten von der Wissenschaft nicht Ruhe, nicht Glück, nicht einmal die Wahrheit:   denn sie zweifelten daran, sie zu erreichen;   sie liebten sie um ihrer selbst willen, weil sie schön war, einzig schön, einzig wirklich. Auf den Gipfeln der Gedankenwelt sah man Gelehrte, leidenschaftliche Pyrrhoniker, die für jedes Leiden, jede Enttäuschung, fast für jede Wirklichkeit unempfindlich waren, die mit geschlossenen Augen dem schweigenden Konzert der Seelen lauschten, der zarten und großartigen Harmonie von Zahlen und Formen. Jene großen Mathematiker, jene freien Philosophen   die unerbittlichsten und zuverlässigsten Köpfe der Welt   waren an der Grenze der mystischen Ekstase; sie schufen rings um sich Leere, sie lagen über den Abgrund geneigt, an dessen Untiefen sie sich berauschten; sie ließen mit erhabener Heiterkeit in der grenzenlosen Nacht den Blitz ihres Gedankens leuchten. Christof neigte sich neben ihnen nieder und versuchte auch zu schauen; und der Kopf schwindelte ihm. Er, der sich frei glaubte, weil er sich von jedem anderen Gesetz, außer dem seines Gewissens, gelöst hatte, fühlte erschreckt, wie wenig er es neben jenen Franzosen war, die sich sogar von jedem absoluten Gesetz des Geistes, von jedem kategorischen Imperativ, von jedem Zweck des Lebens befreit hatten. Warum lebten sie dann?

»Um der Freude willen, frei zu sein,« antwortete Olivier.

Christof aber, der in dieser Freiheit den Boden unter den Füßen verlor, kam dazu, sich nach dem mächtigen Geist der Zucht, nach dem deutschen Autoritätsglauben zurückzusehnen; und er sagte:

»Euere Freude ist ein Köder, der Traum eines Opiumrauchers. Ihr berauscht euch an Freiheit, ihr vergeßt das Leben. Bedingungslose Freiheit!   Wer ist in dieser Welt frei? Wer ist in eurer Republik frei?   Die Schufte. Ihr, die Besten, ihr werdet erstickt; ihr könnt nichts anderes mehr als träumen. Bald werdet ihr nicht einmal mehr träumen können.«

»Was liegt daran?« sagte Olivier. »Du, mein armer Christof, kannst die Wonne, frei zu sein, nicht nachempfinden. Sie wiegt es reichlich auf, daß man sie mit etwas Gefahr, mit etwas Leid, ja selbst mit dem Tod bezahlt. Frei sein, fühlen, daß alle Geister rings um dich her frei sind   ja selbst die Schufte: das ist unaussprechliche Wollust; es ist, als schwimme die Seele in der unendlichen Luft. Sie kann anderswo nicht mehr leben. Was gilt mir die Sicherheit, die du mir bietest, die schöne Ordnung, die einwandfreie Zucht zwischen den vier Mauern deiner kaiserlichen Kaserne? Ich würde dort an Erstickung sterben. Luft! ... Immer noch mehr Luft! ... Immer noch mehr Freiheit!«

»Die Welt braucht Gesetze,« sagte Christof. »Früher oder später erscheint der Herr.«

Aber der spottlustige Olivier erinnerte Christof an das Wort des alten Pierre de l'Estoile:

»Es liegt ebensowenig in der Macht
aller irdischen Gewalt, die
französische Redefreiheit
zu beschränken, als
die Sonne in die Erde
zu vergraben, oder
sie in ein Loch
zu sperren.«

 

Nach und nach gewöhnte sich Christof an die Luft der unbegrenzten Freiheit. Von den Gipfeln der französischen Gedankenwelt, auf denen die Geister träumen, die völlig Licht sind, schaute er zu seinen Füßen die Bergabhänge, wo die heldenhafte Auslese um einen lebendigen Glauben   welcher Art auch immer   kämpft und ewig zum Gipfel emporstrebt;   wo alle die stehen, die den heiligen Krieg gegen die Unwissenheit, die Krankheit, das Elend führen, wo das Fieber der Erfindungen herrscht, der durchdachte Rausch der modernen Prometheus- und Ikarussöhne, die das Licht erobern und die Pfade der Luft bahnen; der Gigantenkampf der Wissenschaft gegen die Natur, die von ihr überwunden wird;   weiter unten die kleine, schweigende Truppe, die willigen Männer und Frauen, die tapferen, demütigen Herzen, die nach tausend Anstrengungen zur halben Höhe gelangt sind und nicht weiter empor können, weil sie an ein mittelmäßiges und mühseliges Leben gefesselt sind und im geheimen in dunkler Hingabe verglühen;   und noch weiter unten am Fuße des Berges schaute er in dem engen Hohlweg, zwischen den steilen Abhängen, die unaufhörliche Schlacht, die Fanatiker abstrakter Ideen, blinder Instinkte, die wütend einander umschlingen und nicht ahnen, daß es irgend etwas darüber, oberhalb der Felsenmauer gibt, die sie einschließt;   ganz unten dann die Sümpfe und das Vieh, das sich in seinem Mist wälzt.   Und überall längs der Bergabhänge hier und dort verstreut die frischen Blumen der Kunst, die duftigen Erdbeersträucher der Musik, den Sang der Quellen und der Dichtervögel. Und Christof fragte Olivier:

»Wo ist euer Volk?   Ich sehe nur Auslesen, sei es vom Guten oder Bösen.«

Olivier erwiderte:

»Das Volk? Es bebaut seinen Garten. Es kümmert sich nicht um uns. Jede Gruppe der Auslesen versucht es in Beschlag zu nehmen. Es sorgt sich um keine. Einstmals lauschte es   wenn auch nur zur Zerstreuung   auf die Marktschreierei der politischen Schaumschläger. Jetzt läßt es sich nicht mehr stören. Ein paar Millionen von ihm machen nicht einmal von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Mögen sich die Parteien untereinander die Köpfe einschlagen, das Volk sorgt sich nicht um das, was geschehen wird, wenigstens solange die Kämpfenden nicht in seine Felder einfallen: in diesem Fall erbost es sich und verhaut aufs Geratewohl die eine oder andere Partei. Es handelt nicht aus eigenem Antrieb, es wehrt sich nur gegen alle Übergriffe, die seine Arbeit und seine Ruhe stören, ganz gleich, von welcher Seite sie kommen. Mögen Könige, Kaiser, Republiken, Pfaffen, Freimaurer oder Sozialisten seine Führer sein   es verlangt von ihnen nichts anderes als den Schutz gegen die großen gemeinen Gefahren: den Krieg, die Zerrüttung, die Epidemien   und daß man es im übrigen in Frieden seinen Garten bebauen lasse. Im Grunde denkt es: »Werden diese Kerle mich wohl in Ruhe lassen?« Aber diese Kerle sind so dumm, den Biedermann aufzureizen, und wenn sie ihm nicht Ruhe geben, so greift er schließlich zu seiner Mistgabel und schmeißt sie alle zur Tür hinaus   und so wird es eines Tages unseren Parlamentariern ergehen. Einstmals hat sich dies Volk für große Unternehmungen ins Zeug gelegt. Vielleicht kommt es auch wieder einmal dazu, obgleich es seine Kinderkrankheiten schon lange überwunden hat; in jedem Fall dauern seine Aufwallungen nur kurze Zeit; sehr bald kehrt es wieder zu seiner Jahrhunderte alten Gefährtin zurück, der Erde. Sie ist es, die die Franzosen an Frankreich fesselt, weit mehr als es die Franzosen tun. So viele verschiedene Völker arbeiten seit Jahrhunderten Seite an Seite auf dieser guten Erde, daß sie es ist, die sie alle untereinander eint, daß sie ihrer aller große Liebe ist. Ohne Unterlaß, in Glück und Unglück bebauen sie diese Erde; und sind mit allem zufrieden, mit dem kleinsten Fleckchen Boden.

Christof schaute.   So weit man den Weg entlang sehen konnte, rings um die Sümpfe herum, auf den Felsenabhängen, mitten in den Schlachtfeldern und den Trümmern der Tat, war der große Berg, war die weite Ebene Frankreichs bebaut und beblüht: hier lag der große Garten der europäischen Zivilisation; sein unvergleichlicher Reiz war ebenso sehr das Verdienst der fruchtbaren Erde wie der hartnäckigen Anstrengung eines unermüdlichen Volkes, das seit Jahrhunderten niemals aufgehört hatte, sich zu regen, sie neu zu besäen und sie immer schöner zu gestalten.

Sonderbares Volk! Jeder nennt es unbeständig; und nichts ändert sich in ihm. Die geübten Augen Oliviers fanden in den gotischen Standbildern alle Typen der heutigen Provinzen wieder; und ebenso grüßten ihn aus den Entwürfen der Clouet und der Dumoustier die müden und ironischen Gesichter der Gesellschaftsmenschen und der geistig Schaffenden oder in den Lenain der Geist und die klaren Augen von Arbeitern und Bauern aus der Ile-de-France oder der Picardie. So war es auch die damalige Denkart, die in der Geistigkeit von heute kreiste. Der Geist Pascals war lebendig, nicht nur in der denkenden und gläubigen Auslese, sondern auch in namenlosen kleinen Bürgern oder in revolutionären Syndikalisten. Die Kunst Corneilles und Racines lebte, und zwar mehr noch für das Volk als für die Auslese, denn jenes war von fremden Einflüssen weniger durchdrungen. Ein kleiner Angestellter in Paris stand einer Tragödie aus der Zeit Ludwigs XIV. näher als einem Roman von Tolstoi oder einem Ibsenschen Drama. Die Gesänge des Mittelalters, der altfranzösische Tristan waren den modernen Franzosen verwandter als der Tristan von Wagner. Die Blumen der Gedankenwelt, die seit dem 12. Jahrhundert niemals aufgehört hatten, zu blühen, waren, wenn auch noch so verschiedenartig, alle miteinander verwandt und hoben sich von allem, was sie umgab, deutlich ab.

Christof kannte Frankreich viel zu wenig, als daß er die Beständigkeit seiner Charakterzüge hätte begreifen können. Was ihm in dieser fetten Landschaft besonders auffiel, das war die aufs Äußerste getriebene Parzellierung des Grundbesitzes. Jeder Einzelne hatte, wie Olivier sagte, seinen Garten; und jeder Garten, jedes Erdfleckchen war von dem der anderen durch Mauern, durch Strauchhecken, durch Zäune aller Art abgetrennt. Es war schon viel, wenn man hier und dort ein paar Gemeindewiesen und Wälder fand, oder wenn die Bewohner eines Flußufers gezwungenerweise untereinander enger verbunden waren als mit denen des anderen Ufers. Jeder schloß sich in seinem Haus ein; und es schien, als ob diese eifersüchtige Eigenbrödelei, anstatt nach so vielen Jahrhunderten der Nachbarschaft schwächer zu werden, jetzt stärker war als jemals.

Christof dachte: »Wie einsam sie sind!«

 

Nichts war in dieser Hinsicht bezeichnender als das Haus, das Christof und Olivier bewohnten. Es war eine kleine Welt für sich, ein kleines, ehrbares und arbeitsames Frankreich, nichts darin band die verschiedenen Elemente aneinander. Ein fünfstöckiges Haus, ein altes zittriges Haus, das sich zur Seite neigte, dessen Dielen krachten und dessen Decken wurmstichig waren. Der Regen drang bei Christof und Olivier, die unterm Dach wohnten, ein, man hatte sich entschließen müssen, Arbeiter zu bestellen, um das Dach, so gut es eben ging, ausbessern zu lassen. Christof hörte sie über seinem Kopf arbeiten und schwatzen. Einer unter ihnen belustigte und ärgerte ihn besonders; nicht einen Augenblick hörte er auf, vor sich hinzureden, Gassenhauer zu pfeifen, sich mit sich selbst zu unterhalten, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. Er konnte nichts tun, ohne es zu verkünden:

»Ich werd noch'n Nagel einschlagen. Wo steckt mein Werkzeug? Da sitzt ein Nagel, so, nun sitzen zwei. Noch einen Schlag. So, Alte, jetzt haben wirs ...«

Wenn Christof spielte, hielt der Mann einen Augenblick den Mund, hörte zu und begann dann desto lauter zu pfeifen; bei fortreißenden Stellen schlug er mit großen Hammerschlägen auf dem Dache den Takt. Christof geriet außer sich, kletterte schließlich auf einen Stuhl und steckte den Kopf durch die Dachluke seiner Mansarde, um den Lärmenden anzuschnauzen. Kaum aber hatte er ihn mit seinem treuherzigen Gesicht gesehen, wie er, die Backe voller Nägel, rittlings auf dem Dach saß, so brach er in Lachen aus, und der Mann tat desgleichen. Christof vergaß seinen Ärger und fing zu plaudern an. Erst zum Schluß erinnerte er sich daran, warum er ans Fenster gekommen war: »Ach, übrigens,« meinte er, »ich wollte Sie fragen: Stört Sie mein Klavierspiel nicht?«

Der andere versicherte das Gegenteil. Aber er bat Christof, etwas weniger langsame Weisen zu spielen, da sonst, wenn er den Takt dazu schlüge, seine Arbeit sich verzögere. Sie verließen einander als gute Freunde. In einer Viertelstunde hatten sie mehr Worte miteinander gewechselt, als Christof während sechs Monaten mit allen Hausbewohnern zusammen geredet hatte.

In jeder Etage lagen zwei Wohnungen, von denen die eine drei, die andere nur zwei Zimmer hatte. Keine Dienstbotenkammer: jede Mietspartei bediente sich selbst, außer den Bewohnern des Parterres und des ersten Stockwerks, die die beiden vereinigten Wohnungen innehatten. Christof und Olivier hatten im fünften Stock als Flurnachbarn den Abbé Corneille, einen Priester, der vierzig Jahre alt und sehr gebildet war   ein Freigeist mit weitem Sinn, früher Lehrer der Exegese an einem großen Seminar, der kürzlich wegen seines modernistischen Geistes von Rom einen öffentlichen Verweis erhalten hatte. Er hatte diese Rüge schweigend hingenommen und, obgleich er sich im Grunde nicht unterwarf, doch keinen Kampf versucht, da er das ihm gebotene Mittel, seine Lehrsätze zu veröffentlichen, von sich wies, weil er den Lärm floh und lieber seine Gedanken der Vernichtung verfallen sah, als den Anschein eines Skandals erwecken wollte. Christof konnte diesen Typus des Verzicht leistenden Empörers nicht verstehen. Er hatte den Versuch gemacht, mit ihm zu reden; aber der Priester blieb kalt, wenn auch sehr höflich, redete von keinem der Dinge, die ihm am meisten am Herzen lagen, denn er glaubte, es seiner Würde schuldig zu sein, sich lebendig einzumauern.

In der Wohnung des unteren Stockwerks, die über derjenigen der beiden Freunde lag, lebte eine Familie Elias Elsberger: ein Ingenieur, dessen Frau und beiden kleinen Mädchen von sieben und zehn Jahren: vornehme sympathische Leute, die ganz zurückgezogen lebten, hauptsächlich aus falscher Scham wegen ihrer bedrängten Lage. Die junge Frau, die tapfer ihren Haushalt selbst besorgte, fühlte sich dadurch tief gedemütigt. Sie hätte die doppelten Anstrengungen ertragen, wenn nur niemand etwas davon gewußt hätte: auch das war ein Gefühl, das Christof unverständlich blieb. Sie entstammten protestantischen Familien aus dem Osten Frankreichs. Alle beide waren wenige Jahre zuvor von dem Sturm der Affäre Dreyfus mit fortgerissen worden; beide hatten leidenschaftlich bis zur Raserei an jenem Prozeß Anteil genommen, gleich Tausenden von Franzosen, über die während sieben Jahren der wütende Wind jener heiligen Hysterie hinweggestürmt war. Sie hatten dabei ihre Ruhe, ihre Stellung, ihre Beziehungen geopfert; beinahe wäre ihre Gesundheit dabei zugrunde gegangen. Monate lang schliefen sie nicht, aßen nicht, suchten mit der Hartnäckigkeit von Irrsinnigen immer von neuem dieselben Gründe hervor; einer stachelte den anderen auf; trotz ihrer Schüchternheit und Furcht vor dem Lächerlichen hatten sie an öffentlichen Kundgebungen teilgenommen, bei den Zusammenkünften gesprochen. Mit fieberndem Kopf und krankem Herzen kamen sie davon zurück; und nachts weinten sie miteinander. Sie hatten in dem Kampf eine derartige Kraft der Begeisterung und der Leidenschaft verausgabt, daß ihnen, als der Sieg endlich gekommen war, nicht mehr genug blieb, sich mit ihm zu freuen; aller Kraft beraubt, blieben sie fürs ganze Leben niedergedrückt. Ihre Hoffnungen waren so hohe gewesen, die Glut ihres Opfermutes so rein, daß der Triumph im Vergleich zu dem, was sie erträumt hatten, wie ein Hohn schien. Für solche Seelen, die ganz aus einem Stück sind, in denen nur eine einzige Wahrheit Raum hat, mußten die Schiebungen der Politik, die Zugeständnisse ihrer Helden, bittere Enttäuschungen mit sich bringen. Sie hatten erlebt, wie ihre Kampfgenossen, Leute, die sie von derselben einzigen Leidenschaft für die Gerechtigkeit durchglüht glaubten   als der Feind einmal besiegt war, sich auf die Pfründe stürzten, die Macht an sich rissen, Ehren und Stellen errafften und nun ihrerseits die Gerechtigkeit mit Füßen traten. Nur eine Handvoll Menschen blieb ihrer Überzeugung treu, arm, einsam, von allen Parteien zurückgestoßen und sie selber alle zurückstoßend; sie verkrochen sich ins Dunkel, hielten sich einer vom anderen fern, wurden von Kümmernis und Nervenzerrüttung verzehrt, hegten keinerlei Hoffnung mehr, und der Ekel vor den Menschen und niederdrückende Lebensmüdigkeit blieb ihr Teil. Der Ingenieur und seine Frau gehörten zu diesen Opfern.

Sie machten keinerlei Geräusch im Hause. Sie hatten eine geradezu krankhafte Furcht, ihre Nachbarn zu stören, um so mehr, als sie selber darunter litten, wenn sie gestört wurden, und ihren Stolz darein setzten, sich nicht zu beschweren. Christof hatte mit den beiden kleinen Mädchen Mitleid, deren Heiterkeitsausbrüche, deren Bedürfnis, zu schreien, zu springen und zu lachen in jedem Augenblick unterdrückt wurde. Er liebte Kinder über alles und erwies seinen kleinen Nachbarinnen, wenn er sie auf der Treppe traf, tausend Freundlichkeiten. Die anfangs schüchternen Mädchen waren bald mit Christof vertraut geworden, denn er hatte stets irgend einen Scherz oder eine Leckerei für sie bereit; sie erzählten ihren Eltern von ihm; und diese, die anfangs seine Zuvorkommenheiten ziemlich scheel angesehen hatten, wurden durch die freimütige Art ihres geräuschvollen Nachbars gewonnen, obgleich sie mehr als einmal sein Klavier und seinen verteufelten Lärm über ihren Köpfen verwünscht hatten, (denn Christof, der in seinem Zimmer fast erstickte, rannte wie ein Bär im Käfig hin und her). Nur widerstrebend machten sie Bekanntschaft mit ihm. Die etwas bäuerische und derbe Art Christofs gab Elias Elsberger manchmal einen Ruck. Vergeblich versuchte der Ingenieur, zwischen dem Deutschen und sich eine schützende Mauer von Zurückhaltung bestehen zu lassen: es war unmöglich, der ungestümen guten Laune dieses Menschen zu widerstehen, der einen mit ehrlichen, treuen Augen ohne Hintergedanken anschaute. Von Zeit zu Zeit entlockte Christof seinem Nachbarn ein paar persönliche Mitteilungen. Elsberger war ein forschbegieriger Geist, tapfer und zugleich abgestumpft, vergrämt und resigniert. Er besaß die Kraft, ein schwieriges Leben mit Würde zu tragen, nicht aber, sich herauszureißen. Man hätte meinen können, daß er diesem Leben dankbar war, weil es seinen Pessimismus rechtfertigte. Eben hatte man ihm in Brasilien eine vorteilhafte Stellung angeboten, wo er die Leitung eines Unternehmens hätte übernehmen sollen; aber er hatte abgelehnt, weil er in dem Klima für die Gesundheit der Seinen fürchtete.

»Nun, so lassen Sie sie doch hier,« sagte Christof. »Gehen Sie allein hinüber und machen Sie drüben ihnen zu Liebe ihr Glück.«

»Sie verlassen?« hatte der Ingenieur entsetzt gerufen. »Man sieht, daß Sie keine Kinder haben!«

»Ich versichere Ihnen, daß ich ebenso denken würde, wenn ich welche hätte.«

»Niemals, niemals; und dann: das Vaterland verlassen ... Nein, lieber will ich hier unglücklich sein.«

Christof fand es merkwürdig, daß man die Liebe zum Vaterland und zu den Seinen dadurch ausdrückte, daß man in gemeinsamem Elend dahinvegetierte.

Olivier dagegen begriff es.

»Bedenke doch,« sagte er, »daß man Gefahr läuft, da unten zu sterben, auf einer Erde, die man nicht kennt, fern von denen, die man liebt ... das ist zu grauenvoll! Alles andere eher als das! Und dann lohnt es sich doch gar nicht der Mühe, sich für die paar Jahre, die man zu leben hat, so anzustrengen ...«

»Als ob man immer ans Sterben denken müßte,« meinte Christof achselzuckend. »Und selbst wenn es dazu kommt, ist es nicht besser, im Kampfe um das Glück derer zu sterben, die man liebt, als in Stumpfheit zu verlöschen?«

Auf demselben Flur in der kleinen Behausung des vierten Stockwerks wohnte ein Mechaniker namens Aubert. Wenn dieser vom übrigen Haus abgetrennt lebte, so war das nicht ganz allein seine Schuld. Dieser Mensch, der dem Volk entstammte, war von dem leidenschaftlichen Wunsche beseelt, für immer aus dem Volke herauszukommen. Er war klein, sah kränklich aus, hatte eine harte Stirn, tief unter die Stirn gebaute Augen, deren lebhafter und gerader Blick wie ein Bohrer eindrang; einen blonden Schnurrbart und einen spöttischen Mund; seine verschleierte Stimme pustete gleichsam die Worte hervor; um den immer kranken Hals, der durch fortwährendes Rauchen noch mehr gereizt wurde, trug er ein seidenes Tuch; er besaß einen fieberhaften Tätigkeitsdrang und das Temperament eines Schwindsüchtigen. Er hatte im Grunde einen enthusiastischen, schwungvollen, naiven, aber vom Leben beständig enttäuschten Sinn, den er unter einem Harnisch von Geckenhaftigkeit, Ironie und Bitterkeit verbarg. Er war als Bastard irgend eines Bürgers, den er niemals gekannt hatte, von einer Mutter, die er unmöglich achten konnte, erzogen worden und hatte in seiner frühesten Kindheit viel Trauriges und Schmutziges gesehen. Er hatte sich in allen Arten von Berufen versucht, war viel in Frankreich umhergereist. Mit einem erstaunlichen Drange nach Bildung hatte er sich allein durch unglaubliche Anstrengungen emporgearbeitet; er las alles: Geschichte, Philosophie, dekadente Gedichte; er verfolgte alles: Theater, Ausstellungen, Konzerte. Mit der Kunst, der Literatur, dem bürgerlichen Denken trieb er einen rührenden Kultus: sie hielten ihn in einem Zauberbann. Er war von einer unbestimmten und glühenden Ideologie durchtränkt, wie sie in den ersten Zeiten der Revolution die Bürgerschaft berauschte. Mit unumstößlicher Gewißheit glaubte er an die Unfehlbarkeit der Vernunft, an den unbegrenzten Fortschritt   quo non ascendam?   an die nahe Verwirklichung des Glückes auf Erden, an die allmächtige Wissenschaft, an die Gott-Menschheit und an Frankreich, die älteste Tochter der Menschheit. Er war ein begeisterter und gläubiger Antiklerikaler, stellte die Religion, vor allem den Katholizismus, dem Obskurantentum gleich und sah im Priester den Erbfeind des Lichts. Sozialismus, Individualismus, Chauvinismus wohnten in seinem Kopf dicht nebeneinander. Er war im Geist Menschheitsverehrer, im Temperament Despot und im Handeln Anarchist. Er war eingebildet, kannte aber die Mängel seiner Erziehung und war in seiner Unterhaltung sehr vorsichtig. Aus allem, was man vor ihm redete, zog er Nutzen, aber er wollte keinen Rat einholen; dadurch hätte er sich gedemütigt gefühlt; wie groß aber auch seine Intelligenz und seine Geschicklichkeit waren, so konnten sie die Erziehung doch nicht ganz ersetzen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt zu schreiben. So wie vielen Leuten in Frankreich, die ihn nicht erlernt haben, war auch ihm ein guter Stil angeboren und Aubert beobachtete gut; aber er dachte unklar. Er hatte ein paar Seiten seiner Ergüsse einem großen Zeitungsmann gezeigt, an den er glaubte und der sich über ihn lustig gemacht hatte. Tief gedemütigt sprach er von der Zeit an zu niemand mehr über das, was er machte. Aber er schrieb weiter: denn es war ihm ein Bedürfnis, sich mitzuteilen, und es erfüllte ihn mit stolzer Freude. Innerlich war er höchst befriedigt von seinen redseligen Seiten und philosophischen Gedanken, die nicht einen Pfifferling wert waren. Von seinen Bemerkungen über das wirkliche Leben aber, die ausgezeichnet waren, machte er keinerlei Aufhebens. Er hatte die fixe Idee, ein Philosoph zu sein, und wollte durchaus soziale Theaterstücke, Tendenzromane schreiben. Mühelos löste er die unlöslichsten Fragen und entdeckte bei jedem Schritt Amerika. Merkte er dann, daß es schon entdeckt war, so fühlte er sich enttäuscht, gedemütigt, erbittert; beinahe hielt er es für eine Ungerechtigkeit und für Hinterlist. Er verzehrte sich in Liebe zum Ruhm und in einer Opferglut, die darunter litt, nicht zu wissen, wie und wo sie sich betätigen könnte. Sein Traum wäre es gewesen, ein großer Schriftsteller zu sein und zu jener vielschreibenden Elite zu gehören, die ihm mit übernatürlichen Vorzügen begabt schien. Jedoch, so gern er sich Täuschungen hingab, er hatte genug gesunden Menschenverstand und Ironie, um einzusehen, daß er dazu nicht die geringste Aussicht habe. Aber er hätte wenigstens gern in jenem Dunstkreis von Kunst und bürgerlichem Denken gelebt, der ihm von fern so leuchtend und rein von jeder Mittelmäßigkeit erschien. Dieser recht unschuldige Wunsch hatte aber den Nachteil, daß ihm die Gesellschaft von Leuten, mit denen er seiner Lage gemäß zusammen leben mußte, unangenehm war. Und da die bürgerliche Gesellschaft, der er sich zu nähern suchte, ihre Türen vor ihm verschlossen hielt, sah er niemand. So hatte denn Christof auch keinerlei Anstrengungen zu machen brauchen, um mit ihm in Beziehungen zu kommen. Er mußte sich ihn vielmehr sehr bald vom Leibe halten: sonst wäre Aubert öfters bei Christof gewesen als bei sich zuhause. Er war allzu glücklich, einen Künstler gefunden zu haben, mit dem er über Musik, Theater usw. sprechen konnte. Aber Christof fand das begreiflicherweise nicht ebenso anziehend: mit einem Manne des Volkes hätte er lieber vom Volke geplaudert. Das aber wollte der andere nicht, konnte es gar nicht mehr.

Je mehr man in die unteren Stockwerke hinunterstieg, um so loser wurden natürlich die Beziehungen zwischen Christof und den übrigen Mietern. Übrigens hätte man wohl eine Zauberformel besitzen müssen, ein »Sesam, öffne dich«, um bei den Leuten im dritten Stock Einlaß zu finden. Auf der einen Seite wohnten zwei Damen, die sich in einer längst verjährten Trauer gewaltsam festhielten: Frau Germain, eine Frau von 35 Jahren, die ihren Mann und ihr kleines Mädchen verloren hatte und nun mit ihrer alten, frommen Schwiegermutter ganz zurückgezogen lebte. Auf der anderen Flurseite hatte sich ein rätselhafter Mensch von unbestimmtem Alter, zwischen 50 und 60 Jahren, eingenistet, der ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren bei sich hatte. Er war kahlköpfig, hatte einen gepflegten, schönen Bart, eine besondere Art, sanft zu sprechen, ein vornehmes Auftreten, aristokratische Hände. Man nannte ihn Herrn Watelet. Man sagte ihm nach, er sei ein Anarchist, ein Revolutionär, ein Ausländer, wußte man auch nicht genau, aus welchem Lande, vielleicht ein Russe oder Belgier. In Wahrheit war er Nordfranzose und wohl kaum noch revolutionär gesinnt; aber er zehrte noch von seinem vergangenen Rufe. Er war in die Kommune von 1871 verwickelt gewesen und zum Tode verurteilt worden. Er war entwischt, wußte selbst kaum, wie; und zehn Jahre lang hatte er so ungefähr in ganz Europa gelebt. Er war Zeuge von so vielen Häßlichkeiten gewesen, nicht nur während des Pariser Aufruhrs, sondern auch später in der Verbannung und noch mehr nach seiner Rückkehr unter den alten Gefährten, die wieder zur Macht gelangt waren, und ebenso in den Reihen der übrigen revolutionären Parteien, daß er sich von ihnen zurückgezogen hatte und seine makellosen und nutzlosen Überzeugungen friedlich in sich verschloß. Er las viel, schrieb manchmal Bücher, die leise brandstifterisch waren, und unterhielt (man behauptete es wenigstens) Nachkömmlinge der anarchistischen Bewegung in weiter Ferne, in Indien oder im fernen Osten, er kümmerte sich um die Weltrevolution und gleichzeitig um andere Bestrebungen, die nicht weniger weitgespannt, aber doch friedlicher Art waren: so um eine Weltsprache, eine neue Methode für den volkstümlichen Musikunterricht. Er kam mit niemand im Hause in Berührung; er begnügte sich damit, die, welche er auf der Treppe traf, außerordentlich höflich zu grüßen. Immerhin ließ er sich dazu herab, Christof ein paar Worte über seine musikalische Methode zu sagen. Das gerade interessierte Christof am wenigsten: auf die Zeichen, durch die sich sein Gedanke mitteilte, kam es ihm nicht an; in welcher Sprache auch immer, es wäre ihm stets gelungen, ihn auszudrücken. Aber der andere ließ nicht nach und erklärte mit sanfter Hartnäckigkeit sein System; von seinem übrigen Leben konnte Christof nichts herausbringen. So blieb er, wenn er ihn auf der Treppe kreuzte, höchstens stehen, um das kleine Mädchen zu betrachten, das den Alten begleitete: eine kleine bläßliche Blonde, blutarm, mit blauen Augen, einem etwas trocken gezeichneten Profil, einem gebrechlichen Körper, stets sehr sauber angezogen, kränklich und nicht sehr ausdrucksvoll dreinschauend. Er meinte, wie alle Welt, daß sie Watelets Tochter sei. Sie war eine kleine Waise, ein Arbeiterkind, das Watelet mit vier oder fünf Jahren nach dem Tode ihrer bei einer Epidemie verstorbenen Eltern adoptiert hatte. Er war von einer fast grenzenlosen Liebe für die Armen, besonders für die armen Kinder erfüllt. Sie wurde bei ihm zu einer Art mystischer Zärtlichkeit, die der des heiligen Vincenz von Paula glich. Da er jedem öffentlichen Wohltun mißtraute und wußte, was man von den philanthropischen Gesellschaften zu halten habe, wollte er auf eigene Faust wohltätig sein, und er fand seine heimliche Freude daran, dies zu verbergen. Um sich nützlich machen zu können, hatte er Medizin studiert; eines Tages, als er bei einem Arbeiter seines Stadtviertels eintrat, hatte er Kranke gefunden und sich an ihre Pflege gemacht; einige medizinische Kenntnisse besaß er bereits, nun ging er daran, sie zu vervollständigen. Er konnte kein Kind leiden sehen: das zerriß ihm das Herz. Welch köstliche Freude war es für ihn, wenn es ihm gelungen war, eines jener armen kleinen Wesen der Krankheit zu entreißen, wenn ein blasses Lächeln zum ersten Mal wieder auf dem mageren Gesichtchen erschien. Dann schmolz Watelets Herz. Er durchlebte paradiesische Minuten; sie ließen ihn den Verdruß vergessen, den er nur allzuoft mit seinen Schützlingen hatte; denn sie bezeigten ihm selten Dankbarkeit. Andererseits war die Hausmeisterin wütend, so viel Gesindel mit schmutzigen Füßen die Treppen hinaufsteigen zu sehen: sie beschwerte sich heftig. Der Hauseigentümer, den diese Anarchistenversammlungen beunruhigten, ließ Bemerkungen fallen. Watelet dachte daran, die Wohnung zu verlassen, aber das wurde ihm schwer: er hatte seine kleinen Eigenheiten; er war sanft und hartnäckig und so ließ er sie reden.

Christof gewann durch die Liebe, die er Kindern bezeigte, ein wenig sein Vertrauen. Diese Liebe wurde ein Band zwischen ihnen. Dem kleinen Mädchen konnte Christof nicht begegnen, ohne daß sich sein Herz zusammenzog: denn, ohne daß er hätte sagen können warum, durch eine jener geheimnisvollen Übereinstimmungen von Formen, die der Instinkt sofort auffängt und die einem kaum zum Bewußtsein gelangen, erinnerte ihn das Kind an die kleine Tochter Sabines, seiner ersten und weit zurückliegenden Liebe, jenes flüchtigen Schattens, dessen stille Anmut in seinem Herzen niemals verloschen war. So nahm er denn an dem blassen Kind Anteil, das man niemals springen oder laufen sah und dessen Stimme man kaum vernahm; es hatte keine Freundin seines Alters; immer war es allein, stumm, vergnügte sich geräuschlos an ruhigen Spielen, mit einer Puppe oder einem Stück Holz und bewegte dabei ganz leise die Lippen, um sich irgend etwas zu erzählen. Die Kleine war zutunlich und doch ein wenig gleichgültig; irgend etwas Fremdartiges und Schwankendes war in ihr; aber der Adoptivvater sah es nicht, er liebte sie zu sehr. Ach, ist dieses Ungewisse, dieses Fremde nicht immer da, auch in den Kindern unseres eigenen Fleisches? ...   Christof suchte die kleine Einsame mit den Mädchen des Ingenieurs bekannt zu machen. Aber auf seiten Elsbergers wie auf seiten Watelets stieß er auf eine Abweisung, die zwar höflich, aber entschieden war. Diese Leute schienen ihre Ehre darein zu setzen, sich lebend begraben zu wollen, jedes in einem Kasten für sich. Allenfalls hätte jedes von ihnen darein gewilligt, dem anderen zu helfen; jedes aber lebte in der Angst, daß man von ihm glauben könne, es bedürfe der Hilfe, und da auf beiden Seiten die Eitelkeit die gleiche war   und auch die unsichere Lage die gleiche  , so war keinerlei Hoffnung vorhanden, daß eines der beiden sich dazu entschließen würde, als erstes dem anderen die Hand zu reichen.

Die große Wohnung des zweiten Stockwerks blieb fast immer leer. Der Hauseigentümer hatte sie für sich behalten und er war niemals da. Er war ein früherer Kaufmann, der seine Geschäfte mit einem Schlag abgebrochen hatte, als sein Vermögen zu einer gewissen, vorher bestimmten Summe angewachsen war. Den größeren Teil des Jahres verbrachte er außerhalb von Paris, den Winter in irgendeinem Hotel an der Riviera, den Sommer in irgendeinem Seebad der Normandie; so lebte er als kleiner Rentner, der sich bei wenig Unkosten die Illusion von Luxus gestattet, indem er den Luxus der anderen betrachtet und gleich ihnen ein unnützes Leben führt.

Die kleinere Wohnung war an ein kinderloses Ehepaar vermietet: Herrn und Frau Arnaud. Der Mann war etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt und Lehrer an einem Gymnasium. Mit Unterrichtsstunden, Abschriften, Nachhilfen überhäuft, hatte er es niemals fertig gebracht, seine Doktordissertation zu schreiben; schließlich hatte er darauf verzichtet. Die um zehn Jahre jüngere Frau war ein liebes, äußerst schüchternes Wesen. Sie waren beide klug und gebildet, liebten sich herzlich, kannten niemand und gingen niemals aus. Der Mann hatte nicht die Zeit dazu; die Frau hatte nur allzuviel Zeit, aber sie war ein tapferes kleines Geschöpf, die ihre Anfälle von Schwermut bekämpfte, wenn sie solche befielen, und sie vor allem verbarg, indem sie sich, so gut sie konnte, beschäftigte, sich zu bilden suchte, für ihren Mann Notizen machte, ihres Mannes Notizen abschrieb, die Anzüge ihres Mannes ausbesserte und sich selbst ihre Kleider und Hüte nähte. Sie wäre wohl gern von Zeit zu Zeit ins Theater gegangen, aber Arnaud lag kaum etwas daran. Er war abends so müde. Und so ergab sie sich darein.

Ihre höchste Freude war die Musik, die beide über alles liebten. Er konnte übrigens nicht spielen und sie wagte es nicht, obgleich sie es konnte: wenn sie vor jemand spielte, und war es selbst ihr Mann, hätte man gemeint, ein kleines Kind klimpere. Dennoch genügte ihnen das; und Gluck, Mozart, Beethoven, die sie stammelten, waren ihre Freunde; sie kannten bis in die Einzelheiten deren Leben und die Leiden dieser ihrer einzigen Freunde erfüllten sie mit Liebe und Mitleid. Auch die schönen Bücher, die guten Bücher, die man gemeinsam las, waren ein Glück. Aber in der heutigen Literatur gibt es deren kaum: die Schriftsteller kümmern sich nicht um diejenigen, die ihnen weder Ruf, noch Vergnügen, noch Geld eintragen können, um jene bescheidenen Leser, die man niemals in der Gesellschaft sieht, die nirgends schreiben, die nichts anderes als lieben und schweigen können. Jenes stille Licht der Kunst, das in diesen ehrlichen und frommen Herzen einen fast übernatürlichen Glanz annahm, und ihre gegenseitige Zuneigung genügte ihnen, um sie friedlich, ziemlich glücklich dahinleben zu lassen, wenn auch ein wenig traurig (das war nicht abzuleugnen), recht einsam und ein wenig zermürbt. Sie standen beide weit über ihrer gesellschaftlichen Stellung. Herr Arnaud war voller Ideen; aber er hatte jetzt weder Zeit noch Mut, sie niederzuschreiben. Man mußte sich zu sehr rühren, um Aufsätze, um Bücher erscheinen zu lassen: es verlohnte nicht der Mühe; nutzlose Eitelkeit! ... Und es war ja so wenig, gemessen an den Denkern, die er liebte. Er liebte schöne Kunstwerke viel zu sehr, um selber in der Kunst etwas schaffen zu wollen: er hätte solchen Versuch für unverschämt und lächerlich gehalten. Er sah sein Los darin, die Kunstwerke bekannt zu machen. So ließ er denn seine Schüler an seinen Gedanken teilhaben: sie würden später Bücher daraus machen   selbstverständlich ohne ihn zu nennen. Er gab ungewöhnlich viel für Bücher aus. Die Armen sind immer die Großzügigsten. Sie kaufen ihre Bücher; die anderen glauben sich entehrt, wenn es ihnen nicht gelingt, sie umsonst zu bekommen. Arnaud richtete sich an Büchern zugrunde. Das war seine Schwäche, sein Laster. Er schämte sich dessen, er verbarg es seiner Frau. Aber sie warf es ihm nicht vor, denn sie hätte es ebenso gemacht. Und bei all dem schmiedeten sie stets schöne Pläne, wie sie ihre Ersparnisse für eine italienische Reise ausgeben könnten   die sie, wie sie selber wußten, niemals machen würden; sie selber zu allererst lachten über ihre Unfähigkeit, Geld zusammenzuhalten. Arnaud tröstete sich. Seine liebe Frau, sein an Arbeit und inneren Freuden reiches Leben waren ihm genug. Genügte ihr das nicht auch? Sie sagte: Ja; sie wagte nicht einzugestehen, daß es ihr beglückend gewesen wäre, wenn ihr Mann einen gewissen Ruf genossen hätte, der ein wenig auf sie überstrahlte, ihr Leben erhellte, etwas Wohlstand hineintrüge: innere Freuden sind gewiß sehr schön; aber ein wenig Licht von außen tut von Zeit zu Zeit doch sehr wohl ... Aber da sie schüchtern war, sagte sie nichts; und dann wußte sie auch, daß, selbst wenn er zu Ruf gelangen wollte, er nicht mehr sicher war, es zu können: es war jetzt zu spät! ... Ihr größter Schmerz war, daß sie keine Kinder hatten. Sie verbargen sich ihr Leid gegenseitig und gaben darum einander um so mehr Zärtlichkeit: es war, als wollten die armen Menschen sich gegenseitig um Verzeihung bitten. Frau Arnaud war gutherzig, anhänglich; sie hätte sich gern an Frau Elsberger angeschlossen, aber sie wagte es nicht: man kam ihr in keiner Weise entgegen; und was Christof betraf, so hätte der Mann wie die Frau sich nichts Besseres gewünscht, als ihn kennen zu lernen. Seine ferne Musik zog sie magnetisch an. Um nichts in der Welt aber hätten sie die ersten Schritte getan. Das wäre ihnen aufdringlich erschienen.

Das ganze erste Stockwerk war von Herrn und Frau Felix Weil bewohnt, reichen, kinderlosen Juden, die sechs Monate im Jahr auf dem Lande in der Umgebung von Paris verbrachten. Obgleich sie seit zwanzig Jahren das Haus bewohnten   sie blieben dort aus alter Gewohnheit, obgleich es ihnen leicht gefallen wäre, eine ihrem Vermögen angemessenere Wohnung zu finden  , schienen sie doch immer durchreisende Fremde. Niemals hatten sie das Wort an einen ihrer Nachbarn gerichtet, und man wußte nicht mehr von ihnen als am ersten Tage. Das hinderte nicht, daß man sich sein Urteil über sie bildete, ganz im Gegenteil. Sie waren nicht beliebt. Und sie taten auch wirklich nichts dafür. Dennoch hätten sie verdient, etwas besser gekannt zu werden: sie waren beide ausgezeichnete Menschen mit bedeutendem Verstand. Der Mann war etwa sechzig Jahre alt, Assyriologe und wegen berühmter Ausgrabungen in Zentralasien sehr bekannt; er war, wie die meisten seiner Rasse, offenen und forschbegierigen Geistes und beschränkte sich nicht auf seine Spezialstudien; er interessierte sich für unendlich vieles: Kunst, soziale Fragen, alle Kundgebungen des zeitgenössischen Denkens. Sie konnten ihn nicht ausfüllen: denn sie machten ihm alle Spaß, aber keine versetzte ihn in Leidenschaft. Er war sehr intelligent, allzu intelligent, von jeder Bindung allzu frei, immer bereit, mit einer Hand zu zerstören, was er mit der anderen aufgebaut hatte; denn er baute viel auf: Werke und Theorien; er war außerordentlich arbeitsam; aus Gewohnheit, aus geistiger Hygiene schürfte er geduldig und ziemlich tief seine Furche in der Wissenschaft, ohne daß er an die Nützlichkeit seines Tuns geglaubt hätte. Er hatte das Unglück gehabt, immer reich zu sein, so daß er niemals den Wert des Lebenskampfes kennen gelernt hatte; und seit seinen Expeditionen in den Orient, deren er nach ein paar Jahren überdrüssig geworden war, hatte er keinerlei offizielle Stellung mehr angenommen. Außer seinen persönlichen Arbeiten kümmerte er sich indessen mit Scharfblick um die Tagesfragen, um praktische und unmittelbar mögliche soziale Reformen, um die Neuorganisation des öffentlichen Unterrichts in Frankreich. Er warf Gedanken in die Geisteswelt, er brachte manches Neue in Fluß; er setzte große geistige Räderwerke in Bewegung und wurde dessen gleich darauf überdrüssig. Mehr als einmal hatte er Leute vor den Kopf gestoßen, die infolge seiner Beweisführungen sich irgendeiner Sache angenommen hatten, weil er gleich darauf an dieser selben Sache die schneidendste und niederschmetterndste Kritik übte. Er tat das nicht mit Absicht: es kam aus einem Bedürfnis seiner Natur; nervös und ironisch, wie er war, wurde es ihm schwer, die Lächerlichkeiten der Dinge und der Leute hinzunehmen, denn er sah sie mit einem peinlichen Scharfblick. Da aber unter einem gewissen Gesichtspunkt und mit ein wenig Übertreibung angeschaut jede edle Sache und alle braven Leute gewisse lächerliche Seiten zeigen, so gab es auch niemanden, den seine Ironie lange verschonte. Das aber war nicht dazu angetan, ihm Freunde zu erringen. Dabei hatte er den besten Willen, den Leuten Gutes zu tun; er tat es sogar; aber man wußte ihm wenig Dank; die ihm Verpflichteten verziehen ihm im geheimen nicht, daß sie sich in seinen Augen lächerlich gemacht hatten. Er durfte die Menschen nicht allzuviel sehen, wenn er sie lieb behalten sollte. Nicht daß er ein Menschenfeind gewesen wäre. Für solche Rolle war er seiner selbst zu wenig sicher. Er war gegenüber jener Welt, die er verspottete, schüchtern; im Grunde wußte er nicht recht, ob diese Welt nicht gegen ihn im Recht sei; er vermied es, sich allzu verschieden von den anderen zu zeigen, übte sich darin, sich in seiner Art und auch scheinbar in seinen Meinungen ihnen anzupassen; aber so große Mühe er sich auch geben mochte, er konnte sich nicht enthalten, sie zu kritisieren; für jede Übertreibung, für alles, was nicht einfach ist, hatte er einen ausgeprägten Sinn; und er konnte seine Gereiztheit nicht verbergen. Vor allem deutlich empfand er die Lächerlichkeiten von Juden, da er sie besser kannte, und trotz seiner geistigen Freiheit, die keinerlei Schranken zwischen den Rassen gelten lassen wollte, stieß er sich doch oft an denen, die ihm die Menschen der anderen Rassen entgegenstellten   und da er sich überdies selbst trotz allem, was er sagte, in der christlichen Gedankenwelt heimatlos fühlte, zog er sich voller Würde abseits in seine Ironie zurück und in die tiefe Zuneigung, die er für seine Frau empfand.

Das Schlimme war, daß selbst diese vor seiner Ironie nicht geschützt war. Sie war eine gute, tatkräftige Frau, der daran lag, sich nützlich zu machen, und die sich stets mit Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigte. Ihre Anlagen waren weit weniger umfassend als die ihres Mannes, und so klammerte sie sich an ihre sittliche Tatbereitschaft und an die etwas herbe, verstandesmäßige, aber sehr hohe Idee, die sie sich von der Pflicht zurechtgemacht hatte. Ihr ganzes, recht trübseliges kinderloses Leben, das ohne große Freude, ohne große Liebe dahingegangen war, ruhte auf diesem sittlichen Glauben, der vor allem ein Wille zum Glauben war. Die Ironie des Gatten hatte bald den Anteil freiwilligen Selbstbetrugs, der in diesem Glauben lag, herausgespürt, und   er konnte nicht anders   sich daran erheitert. Weil war aus Widersprüchen zusammengesetzt. Er hatte von der Pflicht einen nicht weniger hohen Begriff als seine Frau und gleichzeitig doch ein unerbittliches Bedürfnis, zu zersetzen, zu kritisieren, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, was ihn dazu brachte, den sittlichen Imperativ seiner Frau zu zerfetzen, in Stücke zu reißen. Er merkte nicht, daß er den Boden, auf dem sie stand, untergrub. Er entmutigte sie grausam. Als er es fühlte, litt er mehr als sie darunter; aber das Übel war geschehen. Sie liebten einander darum auch ferner nicht weniger herzlich und fuhren in ihrer Arbeit und in ihrem Wohltun fort. Aber die kalte Würde der Frau wurde nicht freundlicher beurteilt als die Ironie des Mannes, und da sie beide zu stolz waren, um von dem erwiesenen Guten, oder dem Wunsche, es zu erweisen, Aufhebens zu machen, beurteilte man ihre Zurückhaltung als Gleichgültigkeit und ihre Abgeschlossenheit als Selbstsucht. Und je mehr sie fühlten, daß man diese Meinung von ihnen hege, um so mehr hüteten sie sich, sie zu bekämpfen. Im Gegensatz zu der plumpen Aufdringlichkeit so vieler ihrer Rassengenossen wurden sie das Opfer einer übertriebenen Zurückhaltung, hinter der sich sehr viel Stolz verschanzte.

Was die Parterrewohnung betrifft, die ein paar Stufen über einem kleinen Garten lag, so wurde sie von dem Oberst Chabran bewohnt, einem verabschiedeten Offizier der Kolonialartillerie; der kraftvolle, noch junge Mann hatte im Sudan und in Madagaskar glänzende Feldzüge mitgemacht; dann hatte er plötzlich alles zum Teufel geschickt, hatte sich hier festgesetzt, wollte nicht mehr von der Armee reden hören und verbrachte die Tage damit, seine Rabatten umzuwühlen, ohne jeden Erfolg auf der Flöte zu üben, gegen die Politik zu wettern und seine Tochter, die er über alles liebte, anzuschnauzen: sie war ein nicht sehr hübsches, aber liebenswürdiges Fräulein von dreißig Jahren; sie hatte sich für ihn geopfert, weil sie ihn nicht verlassen wollte. Christof sah sie oft, wenn sie sich aus dem Fenster lehnte; und wie es natürlich ist, achtete er mehr auf die Tochter als auf den Vater. Einen Teil des Nachmittags verbrachte sie in Gesellschaft ihres alten, brummigen Vaters im Garten, nähend, träumend, strickend   immer guter Laune. Man hörte ihre ruhige und klare Stimme, wie sie in lachendem Ton dem ewig knurrenden Obersten antwortete, dessen Schritt unaufhörlich über den Sand der Wege schlürfte; dann ging er ins Haus und sie blieb auf einer Gartenbank sitzen, nähte, ohne sich zu rühren, ohne zu sprechen, stundenlang, lächelte unbestimmt vor sich hin, während drinnen der müßige Offizier auf seiner zirpenden Flöte übte oder zur Abwechslung ein schweratmiges Harmonium ungeschickt quaken ließ, was Christof höchlichst belustigte oder ärgerte, je nachdem.

 

Alle diese Leute lebten in dem Haus mit dem verschlossenen Garten Seite an Seite, vor den Winden der Welt geschützt, selbst voneinander hermetisch abgeschlossen. Einzig und allein Christof mit seinem Bedürfnis, sich auszugeben, und seiner Lebensüberfülle umfaßte sie alle mit seiner weitgespannten, zugleich blinden und klarsehenden Sympathie, ohne daß sie es ahnten. Er verstand sie nicht. Er besaß keinerlei Mittel, sie verstehen zu lernen. Die seelenkundige Intelligenz Oliviers fehlte ihm. Aber er liebte sie. Unbewußt versetzte er sich an ihre Stelle. Durch geheimnisvolle Zuflüsse stieg die dunkle Erkenntnis dieser benachbarten und fernen Leben langsam zu ihm empor, er empfand die schmerzerfüllte Dumpfheit der Frau in Trauer, die standhafte Schweigsamkeit stolzer Gedanken, die in dem Priester, dem Juden, dem Ingenieur, dem Revolutionär lebten; er fühlte in sich die blasse und sanfte Flamme, genährt von Zärtlichkeit und Glauben, in der sich die Herzen der beiden Arnaud geräuschlos verzehrten; die naive Sehnsucht nach dem Licht, die den Mann aus dem Volke beseelte; die zurückgedrängte Empörung und die nutzlose Tatkraft, die der Offizier in sich erstickte; und die ergebungsvolle Ruhe des jungen Mädchens, das im Schatten des Flieders träumte. Aber Christof war der einzige, der in diese lautlose Musik der Seelen eindrang; sie vernahmen ihn nicht; jeder vertiefte sich in seine Trauer und in seine Träume.

Übrigens arbeiteten sie alle, die Hochgemuten ebenso wie die Entmutigten, der alte zweiflerische Gelehrte wie der pessimistische Ingenieur, der Priester wie der Anarchist. Und auf dem Dache sang der Maurer.

 

Rings um das Haus fand Christof bei den Besten dieselbe seelische Einsamkeit   selbst wenn sie sich zu Gruppen zusammenschlossen.

Olivier hatte ihn in Beziehung zu einer kleinen Zeitschrift gebracht, an der er schrieb. Sie nannte sich »Äsop« und hatte als Wahlspruch das Zitat aus Montaigne gewählt:

»Man bot Äsop mit zwei anderen Sklaven zum Verkauf an. Der Käufer erkundigte sich beim ersten, was er zu tun verstehe; der versprach goldene Berge, um sich zur Geltung zu bringen; der zweite redete ebenso hochtrabend von sich oder gar noch mehr. Als Äsop an die Reihe kam und man ihn ebenfalls fragte, was er zu tun verstehe, meinte er: Nichts, denn diese dort haben schon alles mit Beschlag belegt; sie können alles.«

Das bedeutete nichts weiter als stolze Abwehr gegen »Schamlosigkeit und die übertriebene Anmaßung derer, die, wie schon Montaigne es ausdrückte, aus dem Wissen einen Beruf machen«. Die angeblichen Skeptiker der Zeitschrift »Äsop« gehörten im Grunde zu denen, deren Überzeugung am festesten verankert war. Aber für die Augen des Publikums besaß solch eine Maske von Ironie und stolzen Nichtwissens natürlich wenig Anziehungskraft. Sie war dazu angetan, eine falsche Meinung hervorzurufen. Das Volk gewinnt man nur für sich, wenn man ihm Worte einer einfachen, klaren, starken und sicheren Lebenskraft bringt. Es will lieber eine stämmige Lüge als eine bleichsüchtige Wahrheit. Die Skepsis gefällt ihm nur, wenn sie ein gut Teil Naturalismus oder irgendeine christliche Abgötterei verdeckt. Der hochmütige Pyrrhonismus, in den sich der Äsop einhüllte, konnte nur zu einer kleinen Anzahl Menschen sprechen   » alme sdegnose«  , die seine verborgene Festigkeit erkannten. Für die Tat, für das Leben war diese Kraft verloren.

Das machte ihnen keine Sorgen. Je demokratischer Frankreich wurde, um so aristokratischer schien sein Denken, seine Kunst, seine Wissenschaft zu werden. Die Wissenschaft verschanzte sich hinter ihre Fachsprachen, blieb im tiefsten Innern ihres Heiligtums, hüllte sich in einen dreifachen Schleier, den nur die Eingeweihten zu lüften die Macht hatten, und war unerreichbarer als zu den Zeiten Buffons und der Enzyklopädisten. Die Kunst   wenigstens jene, die sich selbst achtete und das Schöne pflegte   war ebenso abgeschlossen; sie verachtete das Volk. Sogar unter den Schriftstellern, die weniger auf Stilreinheit als auf Handlung bedacht waren, unter denen, die die sittliche Gedankenwelt der ästhetischen vorzogen, herrschte oft ein sonderbarer, aristokratischer Geist. Sie schienen mehr darum bekümmert, die Reinheit ihrer inneren Flamme in sich zu bewahren, als sie anderen mitzuteilen. Man hätte meinen können, ihnen läge nichts daran, ihre Gedanken zum Sieg zu führen, sondern einzig sie zu bekennen.

Immerhin gab es einige darunter, die sich mit volkstümlicher Kunst befaßten. Unter den Aufrichtigeren gossen die einen in ihre Werke anarchistische, zerstörerische Ideen, kommende, ferne Wahrheiten, die vielleicht in einem Jahrhundert, vielleicht in zwanzig Jahrhunderten Gutes stiften konnten, aber die im Augenblick die Seele anfraßen, sie ausbrannten; andere schrieben bittere oder ironische, sehr traurige Stücke, ohne jede Illusion. Christof war, wenn er sie gelesen hatte, für zwei Lage aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Und das gebt ihr dem Volk?« fragte er voller Mitleid für die armen Leute, die ihre Trübsal ein paar Stunden lang vergessen wollten und denen man so düstere Vergnügungen bot. »Damit könnt ihr sie begraben.«

»Beruhige dich,« erwiderte Olivier lachend, »das Volk kommt gar nicht dazu.«

»Es tut verdammt recht daran. Ihr seid verrückt. Wollt ihr ihm denn allen Mut zum Leben nehmen?«

»Warum? Soll es nicht, gleich uns, lernen, die Traurigkeit aller Dinge zu sehen und dennoch seine Pflicht ohne Wanken zu tun?«

»Ohne Wanken?   Vielleicht, das scheint mir fraglich; sicherlich aber ohne Vergnügen. Und wenn man dem Menschen die Lust am Leben ertötet hat, kommt man nicht weit.«

»Was willst du daran ändern? Man hat nicht das Recht, die Wahrheit zu verfälschen.«

»Aber man hat es noch weniger, allen die ganze Wahrheit zu sagen.«

»Und das sagst du? Du, der unaufhörlich nach Wahrheit schreit; du, der sie mehr als alles in der Welt zu lieben vorgibt?«

»Ja, Wahrheit für mich und für alle, deren Rückgrat stark genug ist, sie zu ertragen. Den anderen gegenüber ist sie eine Grausamkeit und Dummheit. Ja, das sehe ich jetzt ein. In meiner Heimat wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen. Dort in Deutschland leiden sie nicht wie bei euch an der Wahrheitskrankheit: sie hängen zu sehr am Leben; vorsichtig sehen sie nur das, was sie sehen wollen. Ich liebe euch, gerade weil ihr nicht so seid. Ihr seid tapfer, ihr geht den geraden Weg. Aber ihr seid unmenschlich. Wenn ihr eine Wahrheit ausfindig gemacht habt, laßt ihr sie los, ohne euch darum zu sorgen, ob sie nicht gleich den Füchsen in der Bibel mit ihrem brennenden Schweif Feuer an die Welt legen wird. Daß ihr die Wahrheit eurem Glück vorzieht, achte ich in euch, aber dem Glück der anderen ... Davor macht halt! Ihr macht es euch zu leicht. Man soll die Wahrheit mehr als sich selber lieben, aber seinen Nächsten mehr als die Wahrheit.«

»Soll man ihn also belügen?«

Christof antwortete ihm mit Goethes Worten:

»Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zugute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.«

Aber dergleichen Skrupel bedrückten jene Menschen wenig. Sie fragten sich nicht, ob der Bogen, den ihre Hand hielt, »die Idee oder den Tod« abschösse oder beide zugleich. Sie waren zu vergeistigt. Es fehlte ihnen an Liebe. Wenn ein Franzose Ideen hat, will er sie den anderen aufzwingen. Hat er keine, so will er es trotzdem. Und wenn er sieht, daß er es nicht kann, verliert er das Interesse an den anderen, das Interesse am Handeln. Das war der Hauptgrund dafür, daß jene Elite sich wenig um Politik kümmerte, es sei denn, um zu greinen und zu jammern. Jeder verschloß sich in seiner Überzeugung oder in seinem Mangel an Überzeugung.

Man hatte wohl Vieles versucht, um diesen Individualismus zu bekämpfen und jene Menschen zu Gruppen zusammenzubringen; aber die meisten dieser Gruppen waren sofort zu literarischen Klatschgesellschaften ausgeartet oder zu lächerlichen Parteichen. Die Besten machten sich gegenseitig unmöglich. Ein paar ausgezeichnete Männer voller Kraft und Überzeugung waren unter ihnen, dafür geschaffen, die guten, aber schwachen Willenskräfte zu binden und zu leiten. Jeder aber hatte eine Herde und wollte nicht, daß sie sich mit denen der anderen vermenge. So bestand eine handvoll kleiner Zeitschriften, Vereinigungen, Gesellschaften, die alle sittlichen Tugenden außer einer besaßen, der Selbstverleugnung: denn keine wollte in den andern aufgehen, und so stritten sie sich denn um die Brosamen eines Publikums von nicht sehr zahlreichen und noch weniger bemittelten braven Leuten, lebten einige Zeit ausgehungert, blutlos dahin und fielen schließlich in sich zusammen, um nicht mehr aufzustehen; nicht etwa gefällt von den Schlägen des Feindes, sondern   was bei weitem jammervoller ist   von ihren eigenen Schlägen. Die verschiedenen Berufe: Schriftsteller, Dramatiker, Dichter, Prosaisten, Professoren, Lehrer, Journalisten, bildeten eine Unzahl kleiner Kasten, die sich untereinander wieder in noch kleinere Kasten teilten, von denen jede den anderen verschlossen war. Es gab keinerlei gegenseitige Durchdringung. Einstimmigkeit herrschte über nichts in Frankreich, außer in höchst seltenen Augenblicken, wo diese Einstimmigkeit einen epidemischen Charakter annahm und dann gewöhnlich in die Irre ging: denn sie war krankhaft. Ein verrückter Individualismus herrschte in allen Schichten des französischen Tatbereiches: in der wissenschaftlichen Arbeit ebenso wie im Handel, wo er die Kaufleute daran hinderte, sich zu vereinigen, sich zu Schutzverbänden zusammenzuschließen. Dieser Individualismus war nicht üppig und überströmend, sondern eigensinnig, vertrocknet. Allein bleiben, den anderen nichts schulden, sich nicht unter die anderen mischen, aus Furcht, die eigene Schwäche in ihrer Gesellschaft zu fühlen, aus Furcht, die Ruhe der eigenen stolzen Einsamkeit zu stören: das war der geheime Gedanke aller derer, die »abseitige« Zeitschriften, »abseitige« Theater, »abseitige« Gruppen gründeten. Zeitschriften, Theater, Gruppen hatten meistens keinen anderen Daseinszweck als den Wunsch, sich von den anderen fernzuhalten; sie lebten von der Unfähigkeit, sich mit den anderen in einer gemeinsamen Tat oder einem gemeinsamen Gedanken zu vereinen, von dem Mißtrauen gegen die anderen oder gar von der offenen Feindschaft der Parteien, welche Männer, die vor allem würdig waren, einander zu verstehen, gegeneinander aufhetzte.

Selbst wenn Köpfe, die einander achteten, wie Olivier und seine Kameraden bei der Zeitschrift »Äsop« an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiteten, war es, als stünden sie einander dennoch stets in Kampfbereitschaft gegenüber; sie besaßen in keiner Weise jene in Deutschland so allgemeine, nach außen wirkende Gutmütigkeit, die dort leicht überhand nimmt. In jener Gruppe junger Leute war namentlich einer, für den Christof sich interessierte, weil er in ihm eine außergewöhnliche Kraft ahnte: es war ein Schriftsteller von unbeugsamer Logik und unbeugsamem Willen, der sich für sittliche Ideen begeisterte, in seiner Art, ihnen dienstbar zu sein, höchst rücksichtslos war und stets bereit, ihnen die ganze Welt und sich selber zu opfern; er hatte, um sie zu verteidigen, eine Zeitschrift gegründet, die er fast ganz allein leitete; er hatte sich geschworen, Europa und Frankreich selber die Idee eines freien, heldenhaften und reinen Frankreichs aufzuzwingen; er glaubte fest daran, daß die Welt eines Tages einsehen würde, daß er eine der unerschrockensten Seiten in der Geschichte des französischen Gedankens schrieb;   und er täuschte sich nicht. Christof hätte ihn gern näher kennen gelernt und sich ihm angeschlossen. Aber dazu war keine Möglichkeit. Obgleich Olivier oft mit ihm zu tun hatte, sahen sie einander doch sehr wenig, und nur in geschäftlichen Angelegenheiten. Sie vertrauten einander nichts an; höchstens tauschten sie irgendwelche abstrakten Gedanken miteinander aus oder (denn, genauer gesagt: es war kein Austausch, denn jeder bewahrte seine Ideen für sich) monologisierten vielmehr gemeinsam und jeder nach seiner Seite hin. Indessen waren sie doch Kampfgenossen und kannten ein jeder den Wert des anderen.

Diese ihre Zurückhaltung hatte die verschiedenartigsten Ursachen, die sie selbst nur schwer zu erkennen vermochten. Zunächst ein Übermaß an Kritik, die die unverrückbaren Verschiedenheiten zwischen den Geistern allzu deutlich sieht, und ein Übermaß an verstandesmäßiger Bewertung, die solchen Verschiedenheiten zu große Bedeutung beilegt; einen Mangel an jener mächtigen und naiven Sympathie, der es, um zu leben, Bedürfnis ist, zu lieben und ihr Übermaß an Liebe auszugeben. Vielleicht auch die Bürde des Berufes, das allzu schwierige Leben, das Gedankenfieber, das, wenn der Abend kommt, nicht mehr die Kraft übrig läßt, freundschaftliche Aussprachen zu genießen. Sodann jenes schreckliche Gefühl, das ein Franzose sich einzugestehen fürchtet, das jedoch nur allzuoft im Grunde seiner selbst grollt: das Gefühl, man gehöre nicht derselben Rasse an, man entstamme verschiedenartigen, in verschiedenen Zeitaltern auf dem Boden Frankreichs ansässig gewordenen Rassen, die, wenn auch miteinander verbunden, doch wenig gemeinsames Denken haben und zum beiderseitigen Besten sich nicht allzusehr damit beschäftigen sollten. Die bedeutsamste Ursache aber ist die berauschende und gefährliche Leidenschaft für die Freiheit, der man, hat man nur einmal von ihr gekostet, alles zu opfern bereit ist. Jene freie Einsamkeit ist um so köstlicher, als man sie durch jahrelange Prüfungen erkaufen mußte. Die Auslese hat sich in sie hineingeflüchtet, um der Knechtschaft der Mittelmäßigen zu entrinnen. Und sie stemmt sich damit gegen die Tyrannei der religiösen oder politischen Blocks an, deren ungeheures Gewicht den Einzelnen in Frankreich zermalmt: gegen die Familie, die öffentliche Meinung, den Staat, die geheimen Gesellschaften, die Parteien, die Cliquen, die Schulen. Man stelle sich einen Gefangenen vor, der, um zu entfliehen, über zwanzig ihn einschließende Mauern springen muß. Wenn er über die letzte gelangt, ohne sich den Hals gebrochen zu haben, vor allem ohne entmutigt zu sein, so muß er sehr stark sein. Eine harte Schule für den freien Willen. Aber die hindurchgegangen sind, bewahren für ihr ganzes Leben den strengen Zug, den Hang zur Unabhängigkeit und die Unmöglichkeit, jemals mit anderen Seelen zu verschmelzen.

Neben jener Einsamkeit aus Stolz fand man jene aus Verzicht. Wie viele brave Leute leben in Frankreich, deren ganze Güte, deren ganzer Stolz, deren ganze Liebe nur ein Ziel hat, sich vom Leben zurückzuziehen! Tausend gute oder schlechte Gründe hindern sie am Handeln. Bei den einen ist es Unterwürfigkeit, Schüchternheit, die Macht der Gewohnheit; bei den anderen Menschenfurcht, die Scheu aufzufallen, sich dem Urteil der Menge auszusetzen, sich in Dinge zu mengen, die einen nichts angehen, hören zu müssen, wie selbstlosen Taten eigennützige Antriebe untergeschoben werden. Dieser wollte am politischen und sozialen Kampf nicht teilnehmen, jener wandte wohltätigen Werken den Rücken, weil man dabei zu viele Leute sah, die sich gewissenlos und vernunftlos mit dem Gleichen beschäftigen, weil man Angst hatte, daß man mit jenen Gauklern und Dummköpfen zusammengeworfen würde. Bei fast allen überwog der Ekel, die Abspannung, die Angst vor dem Handeln, vor dem Leiden, vor der Häßlichkeit, vor der Dummheit, vor der Gefahr, vor der Verantwortung, das schreckliche: »Wozu?«, das den guten Willen so vieler Franzosen von heute lähmt. Sie sind zu klug (und ihre Klugheit ist ohne starken Flügelschlag), sie sehen zu scharf alle Gründe dafür und dawider. Mangel an Kraft. Mangel an Leben. Wenn man sehr lebendig ist, fragt man sich nicht, wozu man lebt. Man lebt, um zu leben   weil es etwas Prächtiges ist, zu leben!

Schließlich kamen bei den Besten sympathische und minderwertige Eigenschaften zusammen. Eine gewisse Philosophie, eine Gedämpftheit des Begehrens, zärtliche Anhänglichkeit an die Familie, an den Boden, an die sittlichen Gewohnheiten, Behutsamkeit, Furcht sich aufzudrängen, die anderen zu stören, Schamgefühl, eine beständige Zurückhaltung. Alle diese liebenswürdigen und reizenden Züge könnten in gewissen Fällen sich sehr gut mit Heiterkeit, mit Mut, mit innerem Frohsinn vertragen; aber sie standen nicht außer Beziehung mit der Verdünnung des Blutes, der fortschreitenden Abnahme der französischen Lebensfähigkeit.

Der anmutige Garten unten, zu Füßen von Christofs und Oliviers Haus, im Grunde seiner vier Mauern, war das Sinnbild dieses kleinen Frankreich. Ein Fleckchen Grün, das von der Außenwelt abgeschlossen war. Nur manchmal trug der Wind von draußen, wenn er wirbelnd niederging, dem träumenden jungen Mädchen den Hauch der fernen Felder und der weiten Erde zu.

 

Jetzt, da Christof begann, die verborgenen Quellen Frankreichs zu entdecken, empörte es ihn, daß es sich von dem Gesindel niederzwingen ließ. Das Halbdunkel, in das sich diese schweigsame Auslese vergrub, schien ihm erstickend. Der Stoizismus ist etwas Schönes für die, die keine Zähne mehr haben. Er bedurfte freier Luft, eines großen Publikums, der Sonne des Ruhms, der Liebe von tausend Seelen, er mußte alle, die er liebte, umfassen können, seine Feinde zermalmen, kämpfen und siegen.

»Du kannst es,« sagte Olivier, »du bist stark; du bist ebenso durch deine Fehler   verzeih   wie durch deine guten Eigenschaften für den Sieg geboren. Du hast den Vorzug, einer Rasse, einem Volk zu entstammen, das nicht allzu aristokratisch ist. Das Handeln stößt dich nicht ab. Du wärst, wenn nötig, sogar fähig, ein Politiker zu sein.   Und dann besitzest du das unschätzbare Glück, Musik zu schaffen. Man versteht dich nicht, du kannst alles sagen. Wenn die Leute die Verachtung, die in deiner Musik liegt, kennen würden, deinen Glauben an das, was sie ableugnen, und diesen beständigen Hymnus zu Ehren dessen, was sie zu töten sich abmühen, sie würden dir nicht vergeben und du würdest so ins Joch gespannt werden, so verfolgt, so geärgert, daß du deine besten Kräfte damit verlörest, sie zu bekämpfen; wenn du mit ihnen fertig wärest, würde dir der Atem ausgegangen sein, dein Werk zu vollenden, dein Leben wäre zu Ende. Großen Männern, die den Sieg davontragen, kommt ein Mißverständnis zugute; man bewundert in ihnen das Gegenteil dessen, was sie sind.«

»Püh ...« meinte Christof, »ihr ahnt die Feigheit eurer Herren nicht. Ich glaubte dich zuerst allein, ich fand für deine Tatlosigkeit Entschuldigungen. In Wirklichkeit aber seid ihr ja ein ganzes Heer von Menschen, die dasselbe denken. Ihr seid tausendmal stärker als euere Unterdrücker, ihr seid tausendmal mehr wert; und ihr laßt euch von ihrer Unverschämtheit bezwingen! Ich begreife euch nicht. Ihr lebt in dem schönsten Lande, ihr seid mit der schärfsten Intelligenz begabt, mit dem menschlichsten Empfinden, und ihr wisset aus alledem nichts zu machen. Ihr laßt euch unterdrücken, beschimpfen, von einer handvoll Schelmen mit Füßen treten. Zum Teufel, seid doch ihr selber! Wartet nicht, bis der Himmel oder ein Napoleon euch hilft! Erhebt euch, eint euch ... Ans Werk! Alle miteinander! ... Fegt euer Haus rein!«

Olivier aber zuckte mit ironischem Gleichmut die Achseln und sagte:

»Sich mit ihnen balgen? ... Nein, dazu sind wir nicht gemacht, da haben wir Besseres zu tun. Gewalttätigkeit ist mir zuwider. Ich weiß nur allzu gut, was geschehen würde. Alle die alten versauerten Bankerotteure, die royalistischen jungen Bengel, die ekelhaften Apostel der Gewalttätigkeit und des Hasses würden sich meiner Tat bemächtigen und sie entehren. Möchtest du etwa, daß ich den alten Wahlspruch des Hasses wieder aufnehme: » Fuori i barbari!« oder: »Frankreich den Franzosen!«?«

»Warum nicht?« sagte Christof.

»Nein, das sind keine französischen Worte. Man bemüht sich vergeblich, sie bei uns unter der Flagge der Vaterlandsliebe zu verbreiten. Für die barbarischen Länder ist dergleichen gut. Das unsere ist nicht für den Haß gemacht. Unser Genius offenbart sich nicht, indem er die anderen verneint oder zerstört, sondern indem er sie in sich aufsaugt. Laßt nur den trüben Norden und den geschwätzigen Süden zu uns kommen.«

»  und den giftigen Orient?«

»und den giftigen Orient: wir werden ihn wie das übrige aufsaugen; wir haben schon manches andere verschluckt. Ich lache der siegfrohen Miene, die er aufsetzt, und der Verzagtheit mancher meiner Stammesbrüder. Er glaubt uns erobert zu haben, er schlägt auf unseren Boulevards sein Rad, in unseren Zeitungen, in unseren Zeitschriften, auf unseren Theaterbühnen, auf unseren politischen Bühnen   der Tölpel! Er ist der Besiegte. Er wird sich selber aus dem Wege räumen, nachdem er uns genährt hat. Gallien hat einen guten Magen; in zwanzig Jahrhunderten hat es schon mehr als eine Kultur verdaut. Wir sind gegen Gift gefeit. Das mögt ihr Deutsche fürchten. Rein müßt ihr sein oder ihr werdet aufhören zu sein. Bei uns aber handelt es sich nicht um Reinheit, sondern um Allumfassung. Ihr habt einen Kaiser, Großbritannien nennt sich ein Kaiserreich; in Wahrheit aber ist unser lateinischer Genius der kaiserliche. Wir sind die Bürger der Weltstadt. Urbis Orbis.«

»Alles das ist schön und gut,« meinte Christof, »solange die Nation gesund ist und in der Blüte ihrer Mannheit steht. Aber der Tag kommt, an dem ihre Spannkraft sinkt; dann läuft sie Gefahr, von dieser fremden Anschwemmung überspült zu werden. Unter uns   scheint dir nicht, daß dieser Tag gekommen ist?«

»Das hat man seit Jahrhunderten so oft gesagt. Und unsere Geschichte hat solche Befürchtungen immer widerlegt. Wir haben seit den Zeiten der Jungfrau von Orleans, da sich in dem verödeten Paris Scharen von Wölfen herumtrieben, noch ganz andere Prüfungen bestanden. Dies ganze Durcheinander der Gegenwart, die über alle Ufer tretende Unsittlichkeit, die Jagd nach Vergnügen, die Schlaffheit, sie alle erschrecken mich nicht. Geduld! Wer dauern will, muß überdauern. Ich weiß genau, daß später eine sittliche Gegenbewegung einsetzen wird   die übrigens nicht viel mehr wert sein und wahrscheinlich zu ähnlichen Dummheiten führen wird: die, die heute von der öffentlichen Verderbtheit leben, werden auch dann am lautesten schreien ... Aber was liegt daran! Alle diese Strömungen berühren nicht das wahre Volk Frankreichs. Die verweste Frucht steckt den Baum nicht an; sie fällt ab. Im übrigen gehören alle diese Leute ja so wenig zur Nation ... Was liegt uns daran, ob sie leben oder sterben? Soll ich mich aufregen, soll ich Bündnisse und Revolutionen gegen sie ins Feld führen? Was heute an uns frißt, ist nicht das Werk einer Regierung. Es ist der Aussatz des Luxus, es sind die Parasiten des geistigen und materiellen Reichtums. Sie werden vergehen.«

»Nachdem sie euch aufgefressen haben.«

»Einer solchen Rasse gegenüber verzweifeln, geziemt sich nicht. In ihr lebt so viel verborgene Tüchtigkeit, eine so wirksame Kraft von Licht und Idealismus, daß sie sich selbst denen mitteilt, die sie ausbeuten und verderben. Selbst die gierigen Politiker, die einzig ihr eigenes Interesse verfolgen, werden in ihren Bann gezogen. Die Mittelmäßigsten werden, wenn sie am Ruder sind, von der Größe ihrer Bestimmung ergriffen; sie erhebt sie über sich selbst; sie gibt aus einer Hand in die andere die Fackel weiter; jeder nimmt, kommt die Reihe an ihn, den heiligen Kampf gegen die Macht auf. Der Genius ihres Volkes reißt sie mit sich; ob sie wollen oder nicht, sie erfüllen das Gesetz Gottes, das sie verleugnen: Gesta Dei per Francos ... Teures, teures Land, niemals werde ich an dir zweifeln! Und selbst wenn deine Trübsale zum Tod führen sollten, so wäre es mir ein Grund mehr, bis zum Schluß den Stolz auf unsere Mission in der Welt zu bewahren. Ich will nicht, daß mein Frankreich sich furchtsam in einem Krankenzimmer gegen alle Luftzüge von draußen verschließt. Mir liegt nichts daran, ein sieches Dasein länger hinzudehnen. War man einmal groß, gleich uns, so ist es besser zu sterben, als aufzuhören, etwas zu bedeuten. Möge sich immerhin der Geist der ganzen Welt in den unseren hineinstürzen! Ich fürchte es nicht. Die Flut wird sich von selbst verziehen, nachdem sie meine Erde mit ihrem Schlamm gedüngt hat.«

»Mein armer Junge,« sagte Christof, »unterdessen aber ist es nicht heiter. Und wo bist du, wenn dein Frankreich aus dem Nil emportaucht? Wäre es da nicht besser zu kämpfen? Dabei würde dich schlimmstenfalls die Niederlage bedrohen, zu der du dich so dein ganzes Leben verdammst.«

»Es würde mich weit mehr als die Niederlage bedrohen,« sagte Olivier. »Ich liefe Gefahr, meine Seelenruhe zu verlieren; und daran liegt mir mehr als am Siege. Ich will nicht hassen. Ich will selbst meinen Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen. Inmitten aller Leidenschaften will ich mir die Klarheit meines Blickes bewahren, um alles verstehen und alles lieben zu können.«

Aber Christof, den diese vom Leben losgelöste Liebe zum Leben wenig verschieden von einer Ergebung in den Tod dünkte, fühlte gleich dem alten Empedokles einen Hymnus des Hasses und der Liebe, der Schwester des Hasses, in sich dröhnen, der fruchtbaren Liebe, die die Erde durchpflügt und besät. Er teilte Oliviers ruhigen Fatalismus nicht; er hegte weniger Vertrauen in die Dauer einer Rasse, die sich nicht zur Wehr setzte, und er hätte gern die gesunden Kräfte der Nation zu einer Massenerhebung aller anständigen Leute in ganz Frankreich aufgerufen.

 

Wie eine Minute der Liebe uns mehr von einem Wesen verrät als monatelange kühle Beobachtung, so hatte Christof nach acht Tagen vertrauten Umganges mit Olivier, ohne das Haus zu verlassen, mehr von Frankreich kennen gelernt als in einem Jahre planlosen Herumlaufens in Paris und aufmerksamen Herumstehens in intellektuellen und politischen Salons. Im Strudel dieses allgemeinen Durcheinanders, wo ihm der Boden unter den Füßen entglitt, schien ihm eine Seele gleich der seines Freundes wirklich wie die »Ile de France«, die Insel der Vernunft und der Heiterkeit mitten im Meer. Dieser innere Friede verwunderte ihn um so mehr, als er keinerlei geistigen Stützpunkt hatte und Olivier in gedrückten Verhältnissen lebte (er war arm, einsam und sein Vaterland im Rückgang) und mit seinem schwachen und kränklichen Körper seinen Nerven ausgeliefert war. Jene Heiterkeit schien nicht aus einer Willensanstrengung geboren (er war nicht willensstark), sie entstammte dem Innersten seines Wesens und seiner Rasse. Noch bei vielen anderen rings um Olivier bemerkte Christof den fernen Schein jener »Sophrosyne«   der »Meeresstille«; und er, der den gewitterschwülen und unruhigen Grund seiner Seele kannte, der wußte, daß alle Kräfte seines Willens gerade stark genug waren, um das Gleichgewicht seiner mächtigen Seele zu erhalten, bewunderte mehr als irgend ein anderer diese verschleierte Harmonie.

Das Schauspiel des verborgenen Frankreichs warf alle seine Begriffe vom französischen Charakter vollends über den Haufen. Statt eines heiteren, geselligen, sorglosen und blendenden Volkes sah er starrsinnige, gesammelte, von einander abgesonderte Menschen, die von einem scheinbaren Optimismus wie von einem leuchtenden Dunst umhüllt waren, aber in einem tiefen und heiteren Pessimismus badeten: von Wahnvorstellungen, von geistigen Leidenschaften besessene, unerschütterliche Seelen, die man eher zerstören als umwandeln konnte. Das alles fand man allerdings nur bei einer französischen Auslese; Christof fragte sich aber dennoch, wo sie wohl diese Standhaftigkeit und diese Überzeugungskraft geschöpft haben mochten. Olivier erwiderte ihm:

»In der Niederlage. Ihr, mein lieber Christof habt uns wieder zusammengeschmiedet. Ach, ohne Schmerzen ist das nicht geschehen. Ihr ahnt nicht, in welcher düsteren Atmosphäre wir aufgewachsen sind, in einem gedemütigten und zerrissenen Frankreich, das dem Tod eben ins Gesicht geschaut hatte und das noch immer die furchtbare Bedrohung der Übermacht auf sich empfand. Wir fühlten, daß unser Leben, unser Genius, unsere französische Zivilisation, die Größe von zehn Jahrhunderten   in der Hand eines gewalttätigen Eroberers lag, der sie nicht verstand, der sie im Grunde haßte und der von einem Tag zum anderen sie vollends und für immer zerbrechen konnte. Und doch galt es, für dieses Schicksal zu leben. Kannst du dir die kleinen Franzosen vorstellen, wie sie in Trauerhäusern im Schatten der Niederlage geboren wurden, ernährt mit jenen trübseligen Gedanken, erzogen für eine blutige, unvermeidliche und vielleicht nutzlose Rache: denn das erste, was ihnen, so klein sie auch immer waren, zum Bewußtsein gebracht wurde, war: es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt: die Übermacht zermalmt das Recht! Solche Offenbarungen drücken die Seele eines Kindes für immer zu Boden oder reißen sie zur Größe empor. Viele ergaben sich darein; sie sagten sich: »Wozu kämpfen, da es doch einmal so ist? Wozu handeln? Alles ist nichts. Denken wir nicht mehr daran; genießen wir das Leben.«   Jene aber, die der Versuchung widerstanden, sind im Feuer erprobt; keine Enttäuschung kann ihrem Glauben etwas anhaben: denn sie wußten vom ersten Tage an, daß ihr Weg nirgends mit dem Pfade des Glücks zusammenläuft und daß sie dennoch keine Wahl haben, sondern nur ihm folgen können: anderswo würden sie ersticken. Mit einem Schlag kommt man nicht zu solcher Festigkeit. Von fünfzehnjährigen Jungen kann man sie nicht erwarten. Manche Ängste, manche vergossene Tränen gehen ihr voran. Aber das ist gut so. Das muß so sein ...

» O Foi, vierge d'acier ...
Laboure de ta lance le cœur foulé des races! ...
«

Christof drückte Olivier schweigend die Hand.

»Lieber Christof,« sagte Olivier, »dein Deutschland hat uns viel Leid zugefügt.«

Und Christof entschuldigte sich fast, als wäre er schuld daran.

»Nicht doch, sei nicht traurig,« meinte Olivier lächelnd, »das Gute, das es uns, ohne es zu wollen, zugefügt hat, ist größer als das Böse. Ihr habt unseren Idealismus neu entflammt, die Glut unserer Wissenschaft und unseres Glaubens neu belebt, ihr wurdet die Veranlassung, daß unser Frankreich mit Schulen übersät wurde, ihr habt die Schöpferkräfte eines Pasteur aufgestachelt, dessen Entdeckungen ganz allein genügten, unseren Kriegstribut von fünf Milliarden zu decken. Ihr waret es, die unsere Dichtkunst, unsere Malerei und Musik zu neuem Leben erweckten. Euch schulden wir das Wiederaufwachen unseres Rassegewissens. Man ist reichlich dafür entschädigt, daß man seinen Glauben mit so viel Selbstüberwindung dem Glück vorgezogen hat: auf diese Weise hat man sich inmitten der gleichgültigen Welt das Gefühl einer so großen sittlichen Kraft erobert, daß man schließlich an nichts mehr zweifelt, nicht einmal mehr am Siege. Siehst du, mein lieber Christof, so wenige wir unserer auch sind und so schwach wir scheinen   ein Wassertropfen inmitten des Ozeans der deutschen Kräfte, wir glauben, daß es der Wassertropfen ist, der den ganzen Ozean färben wird. Die mazedonische Phalanx wird in die massigen Heere der europäischen Plebs eindringen.«

Christof betrachtete den schmächtigen Olivier, dessen Blicke in Glaubensglut glänzten:

»Arme, schwächliche kleine Franzosen! Ihr seid stärker als wir!«

»O gute Niederlage,« wiederholte Olivier. »Gesegnet sei der Zusammenbruch! Wir werden ihn nicht verleugnen! Wir sind seine Kinder.«

 

Die Niederlage schmiedet die Auslese um; sie besorgt die Arbeit des Siebens; alles Reine und Starke stellt sie abseits, macht es noch reiner, noch stärker. Aber sie drängt die anderen schneller dem Untergang entgegen oder sie bricht ihre Schwungkraft. Dadurch trennt sie den großen Haufen des Volkes, der da schläft oder zugrunde geht, von der Auslese, die ihren Weg weiter fortsetzt. Die Auslese weiß es und leidet darunter; selbst in den Tapfersten lebt eine geheime Schwermut, das Gefühl ihrer Ohnmacht und ihrer Einsamkeit. Und das Schlimmste ist, daß sie durch die Trennung von ihrem Volkskörper auch untereinander getrennt sind. Jeder kämpft auf eigene Rechnung. Die Starken haben nur den einen Gedanken, sich selbst zu retten. »O, Mensch, hilf dir selbst.« Es kommt ihnen nicht in den Sinn, daß dieses mannhafte Wort bedeutet: »O, Menschen, helft euch untereinander.« Allen fehlt das Zutrauen, die aushaltende Kraft der Sympathie und der gemeinsame Tatendrang, der aus dem Sieg einer Rasse erwächst, aus dem Gefühl der Vollendung, des Höhepunktes der Schicksalsbahn.

Christof und Olivier hatten das an sich selbst erfahren. Sie waren in diesem Paris, das von Seelen wimmelte, die geschaffen waren, um sie zu verstehen, in diesem von unbekannten Freunden bevölkerten Hause ebenso einsam wie in einer asiatischen Wüste.

 

Ihre Lage war hart. Ihre Erwerbsmittel waren äußerst gering. Christof hatte nichts als die von Hecht in Auftrag gegebenen Abschreibe-Arbeiten und musikalischen Übertragungen. Olivier hatte unklugerweise dem höheren Lehramt entsagt, als er einmal eine Periode der Niedergeschlagenheit durchmachte, eine Nachwirkung vom Tode seiner Schwester, noch verschärft durch eine unglückliche Liebeserfahrung im Kreise der Frau Nathan. (Zu Christof hatte er niemals davon gesprochen, denn er hatte eine Scham, seine Leiden zu offenbaren; daß er selbst seinem Freunde gegenüber, dem er doch nichts zu verbergen trachtete, stets etwas Geheimes bewahrte, machte ihn besonders anziehend.) In jenem Zustande seelischer Erschöpftheit, in der er nach Stille hungerte, war ihm seine Lehraufgabe unerträglich geworden. Neigung hatte er niemals zu diesem Berufe gehabt, in dem man sich zur Schau stellen, laut seine Gedanken aussprechen muß und niemals allein sein darf, niemals allein ist. Das Gymnasiallehramt verlangt, soll es etwas Adliges behalten, ein apostolisches Talent, das Olivier nicht besaß; und das Hochschullehramt zwingt eine beständige Berührung mit dem Publikum auf, die für Seelen, die gleich der Oliviers der Einsamkeit ergeben sind, schmerzlich ist. Zwei oder drei mal hatte er vor der Öffentlichkeit sprechen müssen: das hatte ihm ein eigenartiges Gefühl von Demütigung verursacht. Schon diese Zur-Schau-Stellung auf einer Bühne war ihm widerwärtig. Er sah das Publikum, er fühlte es, gleichsam mit Fühlhörnern, er wußte, daß es sich in der Mehrzahl aus Müßiggängern zusammensetzte, die nur der Langenweile entgehen wollten; und die Rolle des offiziellen Vergnügungsdirektors war nicht nach seinem Geschmack. Vor allem aber empfand er, daß die Rede von der Höhe des Vortragspultes fast unweigerlich den Gedanken entstellt; nimmt man sich nicht in acht, so läuft man Gefahr, nach und nach gewissen Schauspielereien zu verfallen, in den Gebärden wie in der Aussprache, der Haltung, der Art seine Gedanken vorzuführen   ja selbst in der Denkweise. Der Vortrag ist eine Gattung, die zwischen zwei Klippen hin und her schwingt: der langweiligen Schauspielerei und der gesellschaftlichen Pedanterie. Solch lautgesprochener Monolog in Gegenwart von einigen hundert unbekannten und stummen Personen, solch Konfektionskleid, das jedem passen soll und niemandem paßt, ist für ein etwas scheues und stolzes Künstlerherz etwas unerträglich Falsches. So ließ denn Olivier, der mehr und mehr das Bedürfnis empfand, sich zu sammeln und nichts auszusprechen, was nicht der vollkommene Ausdruck seines Denkens sei, das Lehramt beiseite, in das einzutreten er so viele Mühe gehabt hatte; und da seine Schwester nicht mehr war, um ihn von seiner Neigung zu Träumereien zurückzuhalten, begann er zu schreiben. Er lebte in dem kindlichen Glauben, daß ein künstlerisches Talent, das er ja besaß, unfehlbar anerkannt werden müsse, wenn er auch nichts dazu täte.

Er merkte seinen Irrtum bald. Es war ihm nicht möglich, irgend etwas zu veröffentlichen. Er liebte seine Freiheit eifersüchtig, und alles, was diese bedrohte, flößte ihm Entsetzen ein, so daß er gleich einer erstickten Pflanze abseits lebte, eingeschoben zwischen die politischen Kirchen, deren einander feindliche Verbindungen sich in das Land und die Presse teilten. Ebenso stand er allen literarischen Kliquen fern und wurde von ihnen abgestoßen. Dort hatte er keinen Freund   konnte er keine haben. Die Härte, die Dürre, die Selbstsucht jener Intellektuellen-Seelen stieß ihn zurück (ausgenommen die sehr geringe Zahl derer, die von einem wahrhaften Talent fortgerissen oder von der Leidenschaft für eine wissenschaftliche Aufgabe verzehrt werden). Um einen Menschen, der seinem Herzen zugunsten seines Hirns die Nahrung entzogen hat, ist es ein trauriges Ding   vor allem wenn dieses Gehirn nur klein ist. Keinerlei Güte und ein Verstand, der wie ein Dolch in einer Scheide ist: man weiß niemals, ob er einem nicht eines Tages den Hals abschneiden wird. Beständig muß man gewappnet bleiben. Freundschaft ist nur mit gütigen Menschen möglich, die die schönen Dinge lieben, ohne ihren Vorteil dabei zu suchen   mit denen, die außerhalb der Kunst leben. Der Hauch der Kunst taugt den meisten Menschen nicht zum Atmen. Nur die ganz Großen können darin leben, ohne die Liebe einzubüßen, die die Quelle alles Lebens ist.

Olivier konnte nur auf sich selbst zählen; das war ein recht unsicherer Halt. Jeder nützliche Schritt war ihm peinlich. Er war nicht geneigt, sich im Interesse seiner Werke zu demütigen. Er errötete, wenn er sah, wie die jungen Autoren irgend einem bekannten Theaterdirektor kriechend und niedrig den Hof machten, der ihre Feigheit dazu mißbrauchte, sie so zu behandeln, wie er seine Dienstboten zu behandeln nicht gewagt hätte. Olivier würde das nicht gekonnt haben, hätte es auch sein Leben gegolten. Er begnügte sich, seine Manuskripte durch die Post einzusenden oder sie im Büro eines Theaters oder einer Zeitschrift niederzulegen; dort blieben sie monatelang, ohne daß man sie las. Der Zufall wollte es jedoch, daß er eines Tages einem seiner alten Schulkameraden begegnete, einem liebenswürdigen Faulpelz, der ihm einige bewundernde Dankbarkeit bewahrt hatte, weil Olivier ihm stets so gefällig und schnell die Schulaufgaben gemacht hatte; er verstand nichts von Literatur, aber er kannte die Literaten, was weit mehr wert war; und er ließ sich aus Snobismus, da er reich war und weltmännisch auftrat, sogar heimlich von ihnen ausbeuten. Er legte bei dem Sekretär einer großen Zeitschrift, an der er als Aktionär beteiligt war, ein Wort für Olivier ein. Sofort grub man die beerdigten Manuskripte aus und las sie. Und nach manchen Ausflüchten (denn schien auch die Arbeit einigen Wert zu haben, so hatte der Verfasser doch keinen, da er unbekannt war) entschloß man sich, sie anzunehmen. Als Olivier diese gute Nachricht empfing, glaubte er sich am Ende seiner Mühen; aber sie begannen erst. Es ist in Paris verhältnismäßig leicht, die Annahme einer Arbeit zu erwirken; aber es ist etwas ganz anderes, sie veröffentlicht zu sehen. Darauf muß man warten, monatelang, unter Umständen sein ganzes Leben, falls man nicht das Talent besitzt, den Leuten zu schmeicheln, oder sie bis zum Überdruß zu belästigen, sich von Zeit zu Zeit bei den Morgenempfängen jener kleinen Monarchen sehen zu lassen, ihnen ins Gedächtnis zurückzurufen, daß man vorhanden und entschlossen ist, sie so lange als nötig zu belästigen. Olivier verstand nur, bei sich zu Hause zu bleiben. Und er verzehrte sich in der Erwartung. Höchstens schrieb er Briefe, auf die man nicht antwortete. Er konnte aus Überreiztheit nicht mehr arbeiten. Das war unsinnig; aber so etwas läßt sich nicht mit Gründen widerlegen. Von einer Post zur anderen wartete er vor seinem Tisch, und sein Geist versank in unbestimmte Qualen; er ging nur aus, um einen hoffnungsvollen, schnell enttäuschten Blick in seinen Briefkasten unten beim Hausmeister zu werfen. Ohne etwas zu sehen, ging er spazieren und hatte dabei keinen anderen Gedanken, als wieder heimzukehren; worauf er das Gleiche durchmachte; und wenn die letzte Post vorüber war, wenn die Stille seines Zimmers nur noch durch die rücksichtslosen Schritte der übrigen Mieter über seinem Kopfe gestört wurde, war ihm, als müsse er in der allgemeinen Gleichgültigkeit ersticken. Ein Wort, ein einziges Wort! War es möglich, daß man ihm dieses Almosen verweigerte? Indessen ahnte der, der es ihm verweigerte, nichts von dem Leide, das er verursachte. Jeder sieht die Welt nach seinem Bilde. Die ein lebloses Herz haben, sehen das Weltall ausgetrocknet; und sie denken kaum an die Schauer von Erwartung, Hoffnung, Leiden, die junge Herzen schwellen; oder, falls sie daran denken, beurteilen sie sie kühl, mit der müden und schwerfälligen Ironie eines erloschenen und satten Körpers.

Schließlich erschien die Arbeit. Olivier hatte so sehr darauf gewartet, daß es ihm gar kein Vergnügen mehr machte: sie war ein Totes für ihn. Immerhin hoffte er, daß es für die anderen noch lebte. Es waren Blitzlichter von Poesie und Gedanken darin, die nicht unerkannt bleiben konnten. Doch die Arbeit ging in vollständigem Schweigen unter.   Später machte er noch einen oder zwei Versuche. Aber da er ohne jede Klique war, fand er überall dasselbe Stillschweigen oder Feindseligkeit. Er begriff das nicht. Er hatte gutgläubig gemeint, daß das natürliche Empfinden eines Jeden, einem neuen Werk gegenüber, Wohlwollen sein müsse, selbst wenn es nicht besonders gut wäre. Es bedeutet doch immer so unendlich viel Arbeit. Und man muß dem dankbar sein, der anderen ein wenig Schönheit, ein wenig Kraft, ein wenig Freude hat bringen wollen. Und nun begegnete ihm nichts als Gleichgültigkeit oder Verlästerung. Dabei wußte er, daß nicht er allein fühlte, was er geschrieben hatte, daß es noch andere brave Leute geben müsse, die dasselbe dachten. Aber er wußte nicht, daß jene braven Leute nicht lasen und an der literarischen Meinung keinerlei Anteil hatten, noch an sonst irgend etwas. Wenn sich vielleicht hier und dort zwei oder drei fanden, denen seine Zeilen unter die Augen kamen und die mit ihm fühlten, so würden sie ihm das niemals sagen; sie blieben in ihre Stille eingeschraubt, erstarrt. Ebenso wie sie nicht an den Wahlen teilnahmen, enthielten sie sich auch jeder Parteinahme in der Kunst; sie lasen die Bücher nicht, die sie schlecht fanden; sie gingen nicht in die Theater, die sie anwiderten; aber sie duldeten, daß ihre Feinde wählten, ihre Feinde gewählt wurden und daß ein greller Erfolg und eine lärmende Reklame Werken und Gedanken zuteil wurden, die in Frankreich nur eine schamlose Minderheit repräsentierten.

Da Olivier also auf seine Geistesverwandten nicht zählen konnte, weil sie ihn nicht lasen, sah er sich der feindlichen Sippschaft ausgeliefert: Literaten, die in der Mehrzahl seinem Denken mit scheelen Blicken gegenüberstanden, und Kritikern, die ihnen zu Diensten waren.

Diese ersten Erfahrungen schnitten ihm ins Herz. Er war für Kritik ebenso empfindlich wie der alte Bruckner, der so sehr unter der Böswilligkeit der Presse gelitten hatte, daß er kein Werk mehr auf die Bühne zu bringen wagte. Olivier wurde nicht einmal von seinen alten Kollegen, den Hochschulleuten, unterstützt, die dank ihrem Beruf ein gewisses Empfinden für die geistigen Überlieferungen ihres Landes bewahrten und ihn hätten verstehen können. Im allgemeinen aber waren diese ausgezeichneten Leute, die sich unter strenge Zucht beugten, von ihrer Aufgabe ganz in Anspruch genommen, von einem undankbaren Beruf oft etwas verbittert und verziehen es Olivier nicht, daß er andere Wege hatte einschlagen wollen als sie. Als brave Beamte neigten viele dazu, die Überlegenheit des Talentes nur dann anerkennen zu wollen, wenn sie sich mit der hierarchischen Überlegenheit deckte.

In solcher Lage waren drei Wege möglich: die Hemmnisse mit Gewalt brechen; sich in demütigende Kompromisse fügen; oder sich darein ergeben, nur für sich selbst zu schreiben. Olivier war zum ersten wie zum zweiten unfähig: so überließ er sich denn dem dritten. Mühselig gab er Nachhilfestunden, um leben zu können, und schrieb Arbeiten, die keinerlei Möglichkeit hatten, sich in freier Luft zu entfalten und immer bleichsüchtiger, chimärischer und unwirklicher wurden.

Christof platzte wie ein Gewitterregen in dieses dämmernde Leben hinein. Er war über die Gemeinheit der Leute und Oliviers Geduld außer sich:

»Hast du kein Blut?« sagte er. »Wie kannst du dieses Leben ertragen? Du weißt selbst, wie hoch du über dieser Herde stehst, und doch läßt du dich widerstandslos von ihr erdrücken.«

»Was willst du,« meinte Olivier, »ich kann mich nicht verteidigen. Mit Leuten, die ich verachte, zu kämpfen, widert mich an; ich weiß, sie können alle Waffen gegen mich brauchen und ich, ich kann es nicht. Es würde mich nicht allein abstoßen, mich ihrer schimpflichen Mittel zu bedienen, sondern ich hätte auch Angst, ihnen wehe zu tun. Als ich klein war, ließ ich mich ganz dumm von meinen Kameraden schlagen. Man hielt mich für feige; man glaubte, ich hätte vor den Schlägen Furcht. Aber ich hatte viel mehr Furcht davor, Schläge auszuteilen, als zu bekommen. Ich erinnere mich, daß eines Tages, als einer meiner Peiniger mich verfolgte, mir jemand sagte: »Mach doch mal ein Ende und gib ihm einen Tritt vor den Bauch ...« Das flößte mir Entsetzen ein. Lieber wollte ich geschlagen werden.«

»Du hast kein Blut im Leib,« wiederholte Christof. »Und dazu noch deine verdammten christlichen Ideen! ... Eure religiöse Erziehung in Frankreich beschränkt sich auf den Katechismus. Das Evangelium wird beschnitten, das neue Testament verwässert, entmarkt ... Eine menschheitsbeglückende Liebegottduselei, die immer die Träne im Auge zerdrückt ... Und die Revolution, Jean Jacques, Robespierre, 48 und die Juden obendrein! ... Nimm doch jeden Morgen ein gutes Stück blutigen Fleisches aus der alten Bibel.«

Olivier wehrte ab. Er empfand gegen das alte Testament eine angeborene Abneigung. Bis in seine Kindheit reichte dies Gefühl zurück, jene Zeit, als er heimlich in der provinzialen Bücherei die illustrierte Bibel durchblätterte, die man niemals las und die den Kindern sogar verboten war. Ein sehr überflüssiges Verbot. Olivier mochte das Buch nicht lange behalten. Er klappte es erregt und verstört schnell wieder zu; und es war für ihn eine Erleichterung, sich hinterher in die Ilias oder die Odyssee oder in Tausend und Eine Nacht zu versenken.

»Die Götter der Ilias sind schöne, kraftvolle, lasterhafte Menschen: ich verstehe sie,« sagte Olivier, »ich liebe sie oder ich liebe sie nicht; selbst wenn ich sie nicht liebe, liebe ich sie doch noch; ich bin in sie verliebt. Mehr als einmal habe ich mit Patroklos die schönen Füße des blutenden Achilles geküßt. Aber der Gott der Bibel ist ein alter, verrückter und monomaner Jude, ein wütender Narr, der seine Zeit damit verbringt, zu schimpfen, zu drohen, wie ein toller Wolf zu heulen und hinter seiner Wolke vor sich hin zu toben. Ich verstehe ihn nicht, ich liebe ihn nicht. Seine ewigen Verwünschungen zerhämmern mir das Hirn und sein Blutdurst ist mir greulich:

Die Last über Moab ...
Die Last über Damaskus ...
Die Last über Babel ...
Die Last über Ägypten ...
Die Last über die Wüste am Meer ...
Die Last über das Schautal ...

Er ist ein Narr, der sich einbildet, Richter, öffentlicher Ankläger und Henkersknecht in einem zu sein, und der in seinem Gefängnishof Todesurteile gegen Blumen und Kiesel ausspricht. Man steht erstarrt vor der Hartnäckigkeit des Hasses, der dieses Buch mit seinem Blutgeschrei erfüllt: ... »Geschrei gehet um in den Grenzen Moabs, sie heulen bis gen Eglaim, und heulen bei dem Born Elim ...«

Von Zeit zu Zeit ruht er sich, zwischen den Metzeleien, zermalmten kleinen Kindern, vergewaltigten und aufgeschlitzten Frauen, aus; und lacht dann wie ein Unteroffizier der Armee Josuas, der sich, nach der Plünderung einer Stadt, den Tafelfreuden ergibt:

»Und der Herr Zebaoth wird allen Völkern machen auf diesem Berge ein fett Mahl, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darinnen keine Hefe ist ...

Des Herrn Schwert ist voll Bluts und dick von Fett, vom Blut der Lämmer und Böcke, von der Nieren Fett aus den Widdern ...«

Das Schlimmste aber ist die Gemeinheit, mit der dieser Gott seinen Propheten ausschickt, um die Menschen blind zu machen, damit er nachher einen Grund habe, sie leiden zu lassen:

»Verstocke das Herz dieses Volks, und laß ihre Ohren hart sein, und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen, noch hören mit ihren Ohren, noch verstehen mit ihrem Herzen, und sich bekehren, und genesen.   Ich aber sprach: Herr, wie lange?   Er sprach: Bis daß die Städte wüste werden ohne Einwohner, und die Häuser ohne Leute, und das Feld ganz wüste liege ...«

Nein, in meinem Leben habe ich keinen so bösen Menschen gesehen ...

Ich bin nicht so dumm, die Macht der Sprache zu verkennen. Aber ich kann den Gedanken nicht von der Form trennen; und wenn ich manchmal diesen Judengott bewundere, so ist es in der Art, wie man einen Tiger bewundert oder einen ... (ich suche vergeblich nach dem Namen eines Shakespeareschen Monstrums, ich finde keinen: Shakespeare selbst hat es niemals fertig gebracht, einen solchen Helden des Hasses, des heiligen und tugendhaften Hasses, zur Welt zu bringen.) Ein derartiges Buch ist etwas Furchtbares. Jede Narrheit ist ansteckend. Und in dieser liegt eine um so größere Gefahr, als ihr mörderischer Stolz sich anmaßt, veredelnd wirken zu wollen. Ich zittere vor England, wenn ich daran denke, daß seit Jahrhunderten dies Buch seine Nahrung war. Es ist mir lieb, daß ich zwischen ihm und mir den Graben des Kanals weiß. Ich werde niemals ein Volk für ganz zivilisiert halten, solange es sich von der Bibel nährt.«

»In diesem Fall wirst du gut tun, auch Furcht vor mir zu haben,« sagte Christof, »denn ich berausche mich an ihr, sie ist das reine Mark der Löwen. Die widerstandskräftigen Herzen sind es, die sich von ihr nähren. Das Evangelium ist ohne das Gegengift des alten Testamentes ein flaues und ungesundes Gericht. Die Bibel ist das Knochengerüst der Völker, die leben wollen. Man muß kämpfen, man muß hassen.«

»Ich hasse den Haß,« sagte Olivier.

»Wenn du wenigstens das tätest,« meinte Christof.

»Du hast recht, ich habe selbst dazu nicht die Kraft. Was willst du, ich kann nicht umhin, die Beweggründe meiner Feinde zu verstehen. Ich wiederhole mir das Wort Chardins: Sanftmut, Sanftmut.«

»So ein Lammskerl!« rief Christof. »Aber wenn du dich auch noch so sehr sträubst, ich werde dich über den Graben springen lassen, ich werde dich mit Trommeln und Trompeten in die Schlacht führen.«

Und wirklich nahm er die Sache Oliviers in die Hand und stürzte sich für ihn in den Kampf. Der Anfang war nicht sehr glücklich. Beim ersten Wort regte er sich auf und schadete dadurch seinem Freund nur noch mehr, indem er ihn verteidigte. Nachher merkte er es und war verzweifelt über seine Ungeschicklichkeit.

Olivier blieb nicht im Rückstand. Er kämpfte für Christof. Er konnte den Kampf noch so sehr fürchten, er konnte noch so sehr durchsichtigen und ironischen Verstandes sein und übertreibende Worte und Taten verspotten: wenn es sich darum handelte, Christof zu verteidigen, übertrumpfte er an Heftigkeit alle anderen und Christof selber. Er verlor den Kopf. In der Liebe muß man unvernünftig sein können. Olivier ließ es daran nicht fehlen.   Immerhin war er gewandter als Christof. Er, der in eigener Sache so rücksichtslos und ungeschickt war, zeigte sich um des Erfolges seines Freundes willen der Politik und sogar der List fähig; um ihm Anhänger zu gewinnen, brachte er eine bewunderungswürdige Energie und Erfindungskraft auf; es gelang ihm, Musikkritiker und Mäzene für ihn zu interessieren, bei denen für sich selber zu bitten er errötet wäre.

Trotz allem wurde es ihnen unendlich schwer, ihr Los zu verbessern. Ihre gegenseitige Liebe ließ sie viele Dummheiten begehen. Christof stürzte sich in Schulden, um heimlich einen Gedichtband Oliviers herausgeben zu lassen, von dem kein einziges Exemplar verkauft wurde. Olivier bestimmte Christof, ein Konzert zu geben, zu dem fast niemand kam. Christof tröstete sich vor dem leeren Saal tapfer mit dem Wort Händels: »Ausgezeichnet, meine Musik wird um so besser klingen.« Aber diese Großsprecherei brachte ihnen das ausgegebene Geld nicht wieder, und als sie heimkehrten, lastete die Gleichgültigkeit der Leute auf ihrem Herzen.

 

Inmitten all dieser Schwierigkeiten war der einzige, der ihnen zu Hilfe kam, ein etwa vierzigjähriger Jude namens Thaddäus Mooch. Er handelte mit Kunstphotographieen; aber obgleich er sich für seinen Beruf interessierte und viel Geschmack und Geschicklichkeit auf ihn verwandte, nahm er doch an so vielem daneben Anteil, daß er seinen Handel vernachlässigte. Wenn er sich um ihn kümmerte, so geschah es, um technische Verbesserungen herauszufinden, sich für neue Vervielfältigungsverfahren ins Zeug zu legen, die, obwohl geistreich erdacht, selten einschlugen und viel Geld kosteten. Er las unendlich viel und hielt sich auf dem Laufenden über alle neuen Gedanken in Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Politik. Mit erstaunlicher Sicherheit witterte er unabhängige und originelle Kräfte; man hätte meinen können, er erfahre die Wirkung eines verborgenen Magnetismus. Zwischen Oliviers Freunden, die wie er einsam waren und jeder für sich arbeiteten, diente er als eine Art Mittler. Er ging von den einen zu den anderen; und so stellte sich zwischen ihnen, ohne daß es ihnen oder ihm bewußt wurde, ein beständiger Gedankenstrom her.

Als Olivier ihn mit Christof bekannt machen wollte, widersetzte sich Christof zuerst. Er war seiner Erfahrungen mit dem Stamm Israel überdrüssig. Olivier bestand lachend darauf und sagte, daß Christof die Juden nicht besser kenne als Frankreich. So gab Christof denn nach; als er jedoch Thaddäus Mooch das erste Mal sah, schnitt er ein Gesicht. Mooch war seiner Erscheinung nach mehr Jude als gut ist: ein Jude, so wie ihn die darstellen, die ihn nicht mögen: klein, kahl, schlecht gebaut, mit unförmiger Nase, kurzsichtigen Augen, die hinter großen Brillen hervorschielten, das Gesicht in einen schlecht gewachsenen, rauhen und schwarzen Bart vergraben, mit haarigen Händen, langen Armen, kurzen und krummen Beinen: ein kleiner syrischer Baal. Aber sein Ausdruck war von solcher Güte, daß Christof davon gerührt wurde. Vor allem war er schlicht und sagte keine unnützen Worte, keine übertriebenen Schmeicheleien; höchstens ein zartfühlendes Wort. Jedoch war er voller Eifer, sich nützlich zu machen, und bevor man ihn noch um etwas gebeten hatte, war ein Dienst schon geleistet. Er kam oft, allzu oft wieder. Und fast immer brachte er irgend eine gute Nachricht: eine Arbeit für einen der beiden Freunde, einen Auftrag zu einem Kunstaufsatz oder zu einem Unterrichtskursus für Olivier, Musikstunden für Christof. Niemals blieb er lange. Er setzte eine gewisse Eitelkeit darein, sich nicht aufzudrängen. Vielleicht durchschaute er Christofs Gereiztheit, dessen erste Bewegung, sobald er in der Tür das bärtige Gesicht des karthagischen Götzenbildes (er nannte ihn Moloch) erscheinen sah, stets voller Ungeduld war. Hatte Christof diese Regung überwunden, so fühlte er schon im nächsten Augenblick sein Herz von Dankbarkeit für Moochs vollkommene Güte erfüllt.

Güte ist bei Juden nicht selten: von allen Tugenden lassen sie diese am ehesten gelten, selbst wenn sie sie nicht ausüben. Aufrichtig gesagt bleibt sie bei der Mehrzahl negativ oder neutral: als Nachsicht, Gleichgültigkeit, als Widerstreben, Böses zu tun, als ironische Duldsamkeit: bei Mooch war sie leidenschaftlich tätig. Er war immer bereit, sich für irgend jemand oder irgend etwas aufzuopfern: für seine armen Glaubensgenossen, für die russischen Flüchtlinge, für die Unterdrückten aller Nationen, für unglückliche Künstler, für jede Art von Mißgeschick, für jede große Sache. Seine Börse war immer offen und, so geringe Fülle sie auch aufwies, fand er doch immer Mittel, einen Obolus herauszuziehen; war sie leer, so zog er ihn aus der Börse Anderer heraus; er zählte niemals seine Mühe noch seine Schritte, wenn es sich darum handelte, einen Dienst zu erweisen. Er tat es ganz einfach, mit übertriebener Einfachheit. Leider sagte er etwas allzu oft, daß er einfach und aufrichtig sei: aber das Sonderbare war, daß es sich wirklich so verhielt.

Christof, der zwischen seiner Gereiztheit und seiner Zuneigung für Mooch hin- und herschwankte, sagte ihm einmal unwillkürlich ein grausames Wort; er ergriff herzlich Moochs beide Hände und meinte:

»Welch ein Unglück! ... Welch ein Unglück, daß Sie Jude sind!«

Olivier gab es einen Ruck und er errötete, als handle es sich um ihn. Er war ganz unglücklich und suchte, die von seinem Freund geschlagene Wunde zu lindern. Mooch lächelte mit trauriger Ironie und antwortete ruhig:

»Es ist ein weit größeres Unglück, ein Mensch zu sein.«

Christof sah darin nur eine launige Antwort; aber der Pessimismus war tiefer, als er sich vorstellte; und Olivier mit seinem Feingefühl ahnte das. Unter dem Mooch, den man kannte, lebte ein anderer ganz anders gearteter und sogar in vielem durchaus entgegengesetzter Mensch. Der Charakter, den er zur Schau trug, war das Ergebnis eines langen Kampfes gegen seinen wahren Charakter. Der so einfach scheinende Mann war geistig höchst verzwickt: ließ er sich gehen, so fühlte er den unwiderstehlichen Drang, das Einfache zu verwickeln und seinen wahrsten Empfindungen einen Zug gekünstelter Ironie zu geben. Dieser Mensch, der bescheiden und manchmal sogar ein wenig zu demütig schien, hatte einen innerlichen Stolz, den er kannte und bekämpfte. Sein lächelnder Optimismus, seine unaufhörliche Geschäftigkeit, die stets dahinter her war, anderen nützlich zu sein, verhüllten einen tiefen Nihilismus, eine verzweifelte Entmutigung, die Angst davor hatte, sich selber zu sehen. Mooch bekundete einen großen Glauben an eine Unmenge von Dingen: an den Fortschritt der Menschheit, an die Zukunft des geläuterten Judentums und an die Bestimmung Frankreichs als des Vorkämpfers des neuen Geistes (er identifizierte diese drei Sachen gern).

Olivier ließ sich davon nicht täuschen und sagte zu Christof: »Im Grunde glaubt er an gar nichts.«

Trotz seinem gesunden Menschenverstand und seiner ironischen Ruhe war Mooch ein Neurastheniker, der die Leere in sich selbst nicht sehen wollte. Das Nichts überfiel ihn wie eine Krisis; manchmal erwachte er davon plötzlich mitten in der Nacht und stöhnte vor Entsetzen. Überall suchte er Beweggründe zum Handeln, an die er sich wie an Bojen im Wasser anklammern konnte.

Man bezahlt den Vorzug, einer allzu alten Rasse zu entstammen, teuer. Man trägt eine erdrückende Bürde an Vergangenheit, an Prüfung, an ermatteten Erfahrungen, an enttäuschtem Denken und enttäuschter Neigung mit sich herum   eine volle Kufe Jahrhunderte alten Weins, auf deren Grund ein bitterer Niederschlag von Ironie und Überdruß sich ablagert ... Der ungeheure semitische Überdruß, der in keiner Beziehung zu unserem arischen Überdruß steht, der uns zwar auch recht leiden läßt, der aber wenigstens bestimmte Ursachen hat und mit diesen verschwindet: denn meistens entsteht er aus dem Bedauern, daß wir nicht besitzen, was wir begehren. Aber bei manchen Juden ist es die Quelle der Freude und des Lebens selber, die durch ein tödliches Gift verseucht ist. Keinerlei Begehren, keinerlei Anteilnahme mehr, weder Ehrgeiz, noch Liebe, noch Lust. Ein einziges bleibt in diesen Entwurzelten des Orients bestehen, die durch den seit Jahrhunderten notwendigen Aufwand von Energie erschöpft sind und sich nach dem Gleichmut der Seele sehnen, ohne ihn jemals erlangen zu können; und auch dieses Einzige ist nicht unversehrt, sondern ins krankhaft Ästhetische hinaufgesteigert: das Denken, die endlose Analyse, die von vornherein die Möglichkeit jeden Genusses verhindert und den Mut zu jeder Tat lähmt. Die tatkräftigsten schreiben sich Rollen vor und spielen sie, mehr als daß sie aus eigenem Antrieb handelten. Eigenartig ist es, daß viele von ihnen, und nicht die Unbegabtesten und keineswegs immer die Leichtsinnigsten gerade aus dieser Teilnahmslosigkeit am wirklichen Leben die Berufung oder den uneingestandenen Wunsch schöpfen, Schauspieler zu werden, das Leben zu spielen   weil das die einzige Art für sie ist, es zu erleben!

Mooch war auf seine Weise auch Schauspieler. Er war geschäftig, um sich zu betäuben, aber er machte es nicht wie so Viele, die aus Eigennutz geschäftig sind, sondern er rührte sich um des Glückes der Anderen willen. Seine Hingabe an Christof war rührend und langweilig. Christof schnauzte ihn an und bedauerte es gleich darauf. Mooch trug es ihm nicht nach. Nichts schreckte ihn ab. Er fühlte nicht etwa für Christof eine besonders lebhafte Zuneigung. Er liebte mehr als die Menschen, für die er sich aufopferte, die Aufopferung selber. Die Menschen waren ihm ein Vorwand, Gutes zu tun, zu leben. Er war so eifrig, daß er Hecht schließlich dazu bestimmte, den David und einige andere Kompositionen Christofs zu veröffentlichen. Hecht achtete das Talent Christofs; aber er hatte keinerlei Eile, es bekannt zu machen. Erst als er sah, daß Mooch im Begriffe stand, die Herausgabe auf eigene Kosten bei einem anderen Verleger ins Werk zu setzen, nahm er aus Eitelkeit die Sache in die Hand.

Mooch kam auch auf den Gedanken, sich in einer schwierigen Lage, als Olivier krank lag und das Geld mangelte, an Felix Weil zu wenden, den reichen Archäologen, der in dem Hause der beiden Freunde wohnte. Mooch und Weil kannten sich, hielten aber zueinander wenig Zuneigung. Sie waren allzu verschieden; der geschäftige, mystische, revolutionäre Mooch mit seinen Volksmanieren, die er vielleicht noch besonders betonte, reizte die Ironie des friedfertigen und spöttischen Weil mit seinem vornehmen Wesen und seinem konservativen Geist. Wohl hatten beide im Grunde Gemeinsames: beiden mangelte gleichermaßen jede tiefere Teilnahme an Tun und Handeln; und wenn sie sich regten, so geschah es nicht aus Überzeugung, sondern aus hartnäckigem und mechanischem Lebensdrang. Das aber war gerade etwas, dessen keiner von ihnen sich gern bewußt wurde: sie zogen es vor, nur auf die Rollen, die sie spielten, zu achten, und diese Rollen hatten sehr wenige Berührungspunkte. So stieß denn Mooch auf einen kalten Empfang bei Weil; als er ihn für die künstlerischen Pläne Oliviers und Christofs erwärmen wollte, prallte er gegen spöttische Zweifelsucht. Die beständige Begeisterung Moochs für dieses oder jenes Hirngespinst erheiterte die jüdische Gesellschaft, in der er als ein gefährlicher Draufgänger galt. Doch er ließ sich auch diesmal, wie schon so oft, nicht entmutigen; und während er nicht nachließ und von der Freundschaft zwischen Olivier und Christof redete, erweckte er die Anteilnahme Weils. Er merkte es und sprach weiter. Er hatte dabei eine Herzenssaite berührt. Dieser gegen alles abgestumpfte Greis, der keine Freunde hatte, trieb mit der Freundschaft einen wahren Kultus; das große Gefühl seines Lebens war eine Freundschaft gewesen, die er auf dem Lebenswege verloren hatte: das war sein innerer Schatz; wenn er daran dachte, kam er sich besser vor. Er hatte im Namen seines Freundes Stiftungen gemacht. Er hatte seinem Gedächtnis Bücher gewidmet. Die Züge, die ihm Mooch von der Zärtlichkeit zwischen Christof und Olivier erzählte, rührten ihn. Seine eigene Lebensgeschichte hatte damit einige Ähnlichkeit. Der Freund, den er verloren hatte, war ihm eine Art älterer Bruder gewesen, ein Jugendgefährte, ein Führer, den er abgöttisch liebte. Er war einer jener jungen Juden gewesen, die von Intelligenz und großherzigem Eifer glühen, die unter ihrer harten Umgebung leiden, die sich die Aufgabe gestellt haben, ihre Rasse emporzuheben und durch ihre Rasse die ganze Welt, die sich selbst verzehren, die sich von allen Seiten zugleich entzünden und in ein paar Stunden wie eine Pechfackel verflammen. Das Feuer des Freundes hatte die Fühllosigkeit des kleinen Weil erwärmt. Er hatte ihn von der Erde emporgehoben. So lange der Freund lebte, war Weil in dem Glorienschein eines leuchtenden und standhaften Glaubens an seiner Seite geschritten   des Glaubens an die Wissenschaft, an die Macht des Geistes, an das künftige Glück, den jene messianische Seele rings um sich ausstrahlte. Nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte sich der schwache und ironische Weil von den Höhen jenes Idealismus in die Sandwüsten des Predigers Salomo fallen lassen, die jede jüdische Intelligenz in sich birgt und die stets bereit sind, sie aufzusaugen. Niemals aber hatte er die gemeinsam mit dem Freunde genossenen Stunden des Lichts vergessen; eifersüchtig bewahrte er sich ihre fast erloschene Helligkeit. Niemals hatte er mit irgend jemand von ihm gesprochen, selbst nicht mit seiner Frau, die er liebte: denn das war etwas Heiliges für ihn. Und dieser alte Mann, den man für prosaisch und herzensdürr hielt, wiederholte am Ende seines Lebens heimlich den bitteren und zärtlichen Gedanken eines Brahmanen des alten Indiens:

»Der vergiftete Baum der Welt zeugt zwei Früchte, die süßer sind als das Wasser des Lebensborns: die eine ist die Dichtkunst, und die andere die Freundschaft.«

Von nun an interessierte er sich für Christof und Olivier. Er ließ sich heimlich, da er ihren Stolz kannte, von Mooch den eben erschienenen Gedichtband Oliviers bringen; und ohne daß die beiden Freunde den geringsten Schritt taten, ja ohne daß sie selbst seine Pläne ahnten, brachte er es fertig, für die Arbeit einen Akademiepreis zu erlangen, der ihnen in ihrer Geldnot sehr zu statten kam.

Als Christof erfuhr, daß diese unerwartete Hilfe ihnen von einem Manne kam, den er geneigt war, unfreundlich zu beurteilen, bereute er, was er von ihm vielleicht gesagt oder gedacht hatte; er überwand seine Abneigung gegen Besuche und stattete ihm seinen Dank ab. Seine gute Absicht fand keine Vergeltung. Die Ironie des alten Weil wachte gegenüber der jungen Begeisterung Christofs von neuem auf, wenn er sich auch Mühe gab, sie ihm zu verbergen. So verstanden sie einander ziemlich schlecht.

An diesem selben Tage, als Christof halb dankbar, halb gereizt nach dem Besuche bei Weil wieder in seine Mansarde hinaufstieg, fand er dort, zugleich mit dem guten Mooch, der Olivier soeben einen neuen Dienst erwiesen hatte, einen Zeitschriftenaufsatz von Lucien Lévy-Coeur, der abfällig von seiner Musik sprach;   es war keine offene Kritik, sondern von jener unverschämten Bosheit, die durch einen ausgeklügelt spitzfindigen Spott sich den Spaß machte, ihn auf dieselbe Stufe mit Musikern dritten und vierten Ranges zu stellen, die er verabscheute.

»Merkst du,« sagte Christof zu Olivier nach Moochs Fortgang, »daß wir immer mit Juden zu tun haben, einzig und allein mit Juden? Das ist doch stark   sollten wir etwa selber Juden sein? Beruhige mich. Man könnte meinen, wir zögen sie an. Überall sind sie auf unserem Wege, ob als Feinde, oder Verbündete.«

»Das kommt, weil sie klüger als die anderen sind,« sagte Olivier. »Die Juden sind bei uns fast die einzigen, mit denen ein freier Mann etwas Neuartiges, etwas Lebendiges besprechen kann. Die anderen sitzen in der Vergangenheit, in toten Dingen fest. Unglücklicherweise besteht diese Vergangenheit für die Juden überhaupt nicht oder sie ist zum mindesten nicht die gleiche wie für uns. Mit ihnen können wir uns nur vom Heute unterhalten, mit unseren Stammesbrüdern nur vom Gestern. Schau dir nur die jüdische Tatkraft in allen Dingen an, im Handel, in der Industrie, im Lehrfach, in der Wissenschaft, in der Wohltätigkeit, in der Kunst.«

»Reden wir nicht von der Kunst,« fiel Christof ein.

»Ich sage nicht, daß es mir immer sympathisch ist, was sie machen: oft ist es sogar abscheulich. Zum mindesten aber leben sie und wissen die Lebendigen zu verstehen. Wir können die Juden aburteilen, verspotten, verfluchen. Wir können nicht ohne sie auskommen.«

»Man muß nicht übertreiben,« sagte Christof spöttisch. »Ich könnte sie entbehren.«

»Du könntest vielleicht ohne sie leben. Was aber nützte dir das, wenn dein Leben und deine Werke allen unbekannt blieben, wie es ohne die Juden wahrscheinlich der Fall wäre? Kommen uns etwa unsere Glaubensgenossen zu Hilfe? Der Katholizismus läßt die Besten seines Blutes verderben, ohne auch nur die Hand zu heben, um sie zu verteidigen. Alle, die im Grunde ihres Herzens fromm sind, alle, die ihr Leben dafür hergeben, Gott zu verteidigen, werden   sobald sie die Kühnheit haben, sich von den katholischen Vorschriften loszulösen und sich von der Autorität Roms freizumachen   der unwürdigen Horde, die sich katholisch nennt, nicht nur gleichgültig, sondern ein Dorn im Auge; sie erstickt sie in Stillschweigen; sie überläßt sie als Beute den gemeinsamen Feinden. Ein Freigeist, wie groß er auch sein mag   wenn er, dem Herzen nach ein Christ, es nicht auch dem Gesetze nach ist, was liegt den Katholiken daran, ob er alles Reinste und wahrhaft Göttliche des katholischen Glaubens verwirklicht? Er gehört nicht zur Herde, nicht zu der blinden und tauben Sekte, die keinen eigenen Gedanken hat. Man stößt ihn zurück, man freut sich, wenn er einsam leidet, wenn er vom Feinde zerrissen wird, und man hört zu, wie er die zu Hilfe ruft, die seine Brüder sind und für deren Glauben er stirbt. Im heutigen Katholizismus lebt eine mörderische Beharrungskraft. Viel eher würde er seinen Feinden verzeihen als denen, die ihn aufwecken und ihm das Leben wiedergeben wollen ... Was wären wir, mein armer Christof? Was würden wir Rassenkatholiken leisten, die wir nun einmal frei geschaffen sind, ohne eine handvoll freier Protestanten und Juden? Die Juden sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten und alles Bösen. Sie befördern aufs Geratewohl das Samenkorn des Gedankens. Hast du unter ihnen nicht deine schlimmsten Feinde und deine ersten Freunde gefunden?«

»Das ist wahr,« sagte Christof, »sie haben mich ermutigt, unterstützt, mir Worte gesagt, die den Kämpfenden beleben, weil sie ihm zeigen, daß er verstanden wird. Allerdings sind mir von jenen Freunden wenige treu geblieben; ihre Freundschaft ist nur ein Strohfeuer gewesen. Gleichviel! Solch vorübergehender Schein in der Nacht ist viel wert. Du hast recht: seien wir nicht undankbar.«

»Seien wir vor allem nicht unklug,« sagte Olivier; »verstümmeln wir unsere bereits kranke Kultur nicht noch dadurch, daß wir uns anmaßen, einige ihrer lebendigsten Zweige abzubrechen. Wenn das Unglück es wollte, daß man alle Juden aus Europa jagte, so würde dieses an Intelligenz und Tatkraft verarmt zurückbleiben und womöglich den völligen Untergang gewärtigen müssen. Ganz besonders bei uns, im augenblicklichen Zustand des französischen Lebensgefühles, wäre ihre Vertreibung für die Nation ein noch tödlicherer Blutverlust als die Vertreibung der Protestanten im 17. Jahrhundert. Allerdings nehmen sie in diesem Augenblick einen Platz ein, der in keinem Verhältnis zu ihrem wahren Wert steht. Sie nützen die politische und sittliche Anarchie von heute aus und tragen viel dazu bei, sie zu vergrößern, aus angeborener Neigung und weil sie sich dabei wohl fühlen. Die Besten, wie unser ausgezeichneter Mooch, identifizieren leider aufrichtigen Herzens die Geschicke Frankreichs mit ihren jüdischen Träumen, was uns oft mehr gefährlich als nützlich ist. Aber man kann ihnen nicht zürnen, weil sie Frankreich nach ihrem Bilde schaffen wollen: das beweist ihre Liebe zu ihm. Ist ihre Liebe gefährlich, so brauchen wir uns nur dagegen zu verteidigen und sie in der ihnen gebührenden Stellung zu halten, die bei uns die zweite ist. Nicht etwa weil ich ihre Rasse der unseren unterlegen glaube (alle diese Fragen nach der Überlegenheit der Rassen sind albern und widerwärtig)   aber man kann nicht zugeben, daß eine fremde Rasse, die mit der unseren noch nicht verschmolzen ist, sich anmaßt, besser zu wissen, was uns frommt, als wir selber. Sie fühlt sich in Frankreich wohl: das ist mir sehr recht. Aber sie trachte nicht danach, ein Judäa aus Frankreich zu machen. Eine kluge und starke Regierung, die die Juden an dem ihnen angemessenen Platz festhalten könnte, würde aus ihnen eines der nützlichsten Werkzeuge der französischen Größe machen; sie würde dabei ihnen wie auch gleichzeitig uns einen Dienst erweisen. Diese hypernervösen, aufgeregten und ungewissen Wesen bedürfen eines Gesetzes, das sie bindet, und eines festen, aber gerechten Herrn, der sie bändigt. Die Juden sind wie die Weiber: ausgezeichnet, wenn man sie im Zügel hält; aber beider Herrschaft ist abscheulich, und die sich ihr unterwerfen, geben ein lächerliches Schauspiel.«

 

Trotz ihrer gegenseitigen Liebe und dem aus ihr entspringenden Ahnungsvermögen war manches in Christof und Olivier, was ihnen aneinander unverständlich blieb und sogar abstieß. In der ersten Zeit ihrer Freundschaft, da sich jeder instinktiv Mühe gab, nur das von sich in die Erscheinung treten zu lassen, was dem Freunde am meisten glich, merkten sie nichts davon. Erst nach und nach stieg das Bild ihrer beiden Rassen wieder zur Oberfläche auf und zeichnete sich mit größerer Deutlichkeit ab: ihre Gegensätzlichkeiten klagten einander an. Es entstanden kleine Reibereien, die ihr warmes Gefühl nicht immer zu vermeiden vermochte.

Sie gerieten in Mißverständnisse. Oliviers Geist war eine Mischung aus Glauben, Freiheit, Leidenschaft, Ironie, Weltzweifel, deren Formel Christof nicht immer zu ergründen vermochte. Olivier wurde dafür bei Christof durch dessen Mangel an Seelenkenntnis verletzt; das adlige Gefühl seiner alten intellektuellen Rasse lächelte über das Ungeschick dieses kräftigen, aber schwerfälligen und unbiegsamen Geistes, der sich nicht zu analysieren vermochte und über andere und sich selbst getäuscht wurde. Christofs Gefühlsüberschwang, seine geräuschvollen Ergüsse, sein leichtgerührtes Herz reizten Olivier manchmal und schienen ihm sogar ein wenig lächerlich. Ganz zu schweigen von einem gewissen Kultus der Kraft, jener deutschen Überzeugtheit von der Vorzüglichkeit des Faustrechtes, das nicht anzuerkennen Olivier und sein Volk gute Gründe hatten.

Christof konnte dagegen Oliviers Ironie nicht leiden, die ihn bis zur Wut reizte. Er konnte seinen Hang zur Dialektik nicht ausstehen, seine beständige Analyse, eine gewisse geistige Unmoral, die bei einem von sittlicher Reinheit so durchdrungenen Mann wie Olivier um so überraschender war und ihre Quelle gerade in der Weite seines Verstandes hatte, in einem Verstande, der jeder Verneinung feindlich war   der sich an dem Schauspiel widerstreitender Gedanken freute. Olivier betrachtete die Dinge gewissermaßen vom historischen, panoramaartigen Standpunkte aus; er hatte ein solches Bedürfnis, alles zu verstehen, daß er gleichzeitig das Für und das Wider sah; und er verteidigte hintereinander, je nachdem was man ihm gegenüber verfocht, die entgegengesetzte Ansicht; schließlich verlor er sich in diesen Widersprüchen selber. Um so eher mußte er Christof irreführen. Indessen lag das bei ihm weder am Widerspruchsgeist noch an einer Neigung zu Paradoxen; es war ihm ein gebieterisches Bedürfnis der Gerechtigkeit und des gesunden Menschenverstandes; die Dummheit jeder Voreingenommenheit verletzte ihn; und er mußte dagegen auftreten. Die unumwundene Art, mit der Christof unmoralische Handlungen und Menschen verurteilte und dabei alles derber und brutaler sah, als es in Wirklichkeit war, stieß Olivier ab, der, wenn auch sittlich rein, doch nicht vom selben unbiegsamen Stahl war, sondern sich von äußeren Einflüssen verführen, färben, formen ließ. Er lehnte sich gegen Christofs Übertreibungen auf und übertrieb im entgegengesetzten Sinne. Täglich brachte ihn diese Verschrobenheit dazu, die Sache seiner Gegner gegen die seiner Freunde zu verteidigen. Christof wurde böse. Er warf Olivier seine Sophismen vor, seine Duldsamkeit gegen feindliche Menschen und Dinge. Olivier lächelte: er wußte genau, welchen Mangel an jeglichen Illusionen seine Duldsamkeit bedeckte. Er wußte sehr wohl, daß Christof an viel mehr Dinge glaubte als er selber und daß er sie leichter anerkannte. Christof aber schaute weder nach rechts noch nach links, er schritt gerade vor sich hin. Vor allem hatte er es auf die Pariser »Gutherzigkeit« abgesehen.

»Der Hauptgrund, aus dem sie den Lumpen verzeihen und auf den sie so stolz sind,« sagte er, »ist, daß die Lumpen dadurch, daß sie es sind, schon unglücklich genug oder daß sie ohne Verantwortung und krank seien ... Zunächst aber ist es gar nicht wahr, daß die unglücklich sind, die Böses tun. Das ist der Gedanke einer Bühnenmoral, eines albernen Melodramas, eines frömmelnden und dummen Optimismus, wie er sich bei Scribe und Capus breit macht (Scribe und Capus, diese euere Pariser Größen, die Künstler, deren euere genießerische, heuchlerische und kindische bürgerliche Gesellschaft wert ist, die zu feige ist, ihrer Häßlichkeit ins Gesicht zu schauen). Ein Lump kann sehr wohl ein glücklicher Mensch sein. Er hat sogar die größten Aussichten dazu. Und was die Unverantwortlichkeit betrifft, so ist das auch eine Dummheit. Habt doch den Mut, anzuerkennen, daß die Natur durch ihre Gleichgültigkeit Gut und Böse gegenüber eigentlich selbst böse ist und daher auch ein Mann sehr wohl ein Verbrecher und dabei durchaus gesund sein kann. Tugend ist nichts Natürliches; sie ist das Werk des Menschen. Er muß sie verteidigen. Die menschliche Gesellschaft ist von einer Handvoll Leuten aufgebaut, die stärker und größer als die anderen waren. Es ist ihre Pflicht, die Arbeit von Jahrhunderten furchtbarer Kämpfe nicht von einem hündischen Gesindel untergraben zu lassen.«

Solche Gedanken waren im Grunde von denen Oliviers nicht sehr verschieden; aber in einem heimlichen Gleichgewichtsinstinkt ließ er sich durch Kampfworte in eine Ästhetenstimmung versetzen.

»Rege dich doch nicht auf, mein Freund,« sagte er dann zu Christof. »Laß die Welt sich in ihren Lastern gefallen. Gleich den Freunden des Dekamerone laß uns in Frieden die würzige Luft der Gärten des Denkens atmen, während rings um den rosenumgürteten Zypressen- und Pinienhügel Florenz von der schwarzen Pest verwüstet wird.«

Tagelang vergnügte er sich, die Kunst, die Wissenschaft, das Denken auseinanderzunehmen, um das verborgene Räderwerk zu suchen. So gelangte er zu einem Pyrrhonismus, in dem aller Bestand nur eine geistige Vorstellung war, ein Luftgebilde, das nicht einmal gleich den geometrischen Figuren die Entschuldigung hatte, dem Geist notwendig zu sein. Christof machte dieses Auseinandernehmen der Maschine rasend:

»Sie ging gut; du läufst Gefahr sie zu zerbrechen. Und was hast du dann erreicht? Was willst du beweisen? Daß alles nichts ist? Bei Gott, das weiß ich auch. Aber das kommt daher, weil uns das Nichts von allen Seiten, nach denen man kämpft, überschwemmt. Nichts ist?   Ich aber, ich bin da. Man hat keinen Grund zum Handeln? Ich aber handle. Mögen, die den Tod lieben, sterben, wenn sie Lust haben! Ich lebe, ich will leben. Wenn mein Leben in einer Wagschale und das Denken in der anderen liegt ... dann, zum Teufel mit dem Denken!«

Er ließ sich von seiner Heftigkeit fortreißen und im Streite sagte er verletzende Worte. Kaum hatte er sie ausgesprochen, als er sie schon bedauerte. Er hätte sie zurückziehen mögen; aber das Übel war geschehen. Olivier war sehr empfindlich; es war leicht ihn zu verletzen; ein hartes Wort, vor allem von jemand, den er liebte, kränkte ihn tief. Aus Stolz erwiderte er nichts, zog sich in sich selbst zurück. Auch übersah er bei seinem Freunde nicht jene plötzlichen Blitze eines unbewußten Egoismus, die sich bei jedem großen Künstler finden. Er fühlte, daß in manchen Augenblicken sein Leben, an einer schönen Musik gemessen, für Christof nicht viel wert sei (Christof nahm sich kaum die Mühe, das zu verbergen). Er verstand ihn sehr wohl; er fand, daß Christof recht habe; aber es war traurig.

Und dann waren in Christofs Natur allerlei gärende, trübe Elemente, die Olivier unfaßbar blieben und ihn beunruhigten. Plötzlich konnte in Christof eine sonderbare und beängstigende Laune emporbrausen. An manchen Tagen wollte er nicht reden oder er hatte Anfälle teuflischer Bosheit und suchte zu verletzen. Oder er verschwand auch wohl: den ganzen Tag und einen Teil der Nacht sah man ihn nicht mehr. Einmal blieb er drei Tage hintereinander fort. Gott weiß, was er machte! Er wußte es selber nicht genau ... In Wahrheit war seine mächtige Natur, die in diesem engen Leben und dieser engen Behausung wie in einem Hühnerstall eingesperrt war, in manchen Augenblicken nahe daran, zu bersten. Die Ruhe des Freundes machte ihn rasend und dann hätte er ihm gern etwas Böses zugefügt   irgend jemand etwas Böses zugefügt! Dann mußte er davonlaufen und sich müde machen. In unbestimmtem Suchen irgend eines Abenteuers, das er manchmal auch fand, rannte er in den Straßen von Paris und in den Vororten umher; und ein Zusammenstoß wäre ihm nicht ungelegen gekommen, der ihm erlaubt hätte, die Überfülle an Kraft in einer Gefahr zu verausgaben ... Olivier mit seiner kargen Gesundheit und seiner körperlichen Schwäche hatte Mühe, dergleichen zu begreifen. Christof begriff es nicht viel besser: er erwachte aus seinen Verwirrungen wie aus einem erschöpfenden Traum   er war ein wenig beschämt, ein wenig beunruhigt über das, was er getan hatte und was er noch tun konnte. Nachdem aber einmal das Unwetter der Tollheit vorüber war, kam er sich vor wie ein großer, vom Gewitter gewaschener Himmel, rein von aller Beschmutzung, heiter und Meister seiner Seele. Zärtlicher als je kehrte er zu Olivier zurück und bereute, was er ihm Böses hatte zufügen können. Er begriff ihre kleinen Streitereien nicht mehr. Alles Unrecht lag nicht immer auf seiner Seite, aber er hielt sich darum für nicht weniger schuldig; er warf sich vor, daß er mit solcher Leidenschaft recht haben wollte: und er dachte, daß es doch besser wäre, sich mit seinem Freunde gemeinsam zu irren, als gegen ihn recht zu behalten.

Ihre Mißverständnisse waren vor allem peinvoll, wenn sie sich abends abspielten und die beiden Freunde die Nacht in ihrem Zerwürfnisse verbringen mußten, was ihnen beiden eine seelische Trübung bedeutete. Christof stand auf, um ein Wort zu schreiben, das er unter Oliviers Tür schob. Und am nächsten Morgen bat er ihn um Verzeihung. Oder er klopfte sogar noch nachts an seine Tür: er hätte nicht bis zum nächsten Morgen warten können, um sich zu demütigen. Olivier schlief gewöhnlich ebensowenig wie er. Er wußte sehr wohl, daß Christof ihn liebte und ihn nicht hatte beleidigen wollen; aber er hatte nötig, daß man es ihm sagte. Christof sagte es und alles war vorüber. Welch köstliche Stille ... Wie gut schliefen sie nun.

»Ach,« seufzte Olivier, »wie schwer ist es, sich zu verstehen.«

»Und ist es überhaupt nötig, sich immer zu verstehen?« sagte Christof; »ich verzichte darauf. Man braucht sich nur zu lieben.«

Alle jene kleinen Reibereien, die sie gleich darauf mit sorgenvoller Zärtlichkeit zu heilen erfinderisch sich mühten, machten sie einander fast noch teurer. In Augenblicken des Streites tauchte Antoinette vor Oliviers Augen auf. Die beiden Freunde erwiesen einander weibliche Aufmerksamkeiten. Christof ließ keinen Geburtstag Oliviers vorübergehen, ohne ihn durch ein dem Freund gewidmetes Werk zu feiern, durch ein paar Blumen, eine Torte, ein Geschenk, das Gott weiß wie gekauft war. (Denn an Geld fehlte es oft in ihrer Wirtschaft.) Olivier verdarb sich die Augen, indem er nachts heimlich die Partituren Christofs abschrieb.

Die Mißverständnisse zwischen Freunden sind niemals sehr tiefgreifend, solange kein Dritter auftaucht.   Aber das konnte nicht ausbleiben; allzu viele Leute mischen sich in dieser Welt in die Angelegenheiten Anderer, um Zerwürfnisse zu stiften.

 

Olivier kannte die Stevens, die Christof früher besucht hatte. Und auch er hatte Colettes Anziehungskraft empfunden. Wenn Christof ihm in dem kleinen Hofhalt der Freundin nicht begegnet war, so hatte das seinen Grund darin, daß Olivier damals, vom Tode seiner Schwester niedergedrückt, in tiefe Trauer vergraben gewesen war und überhaupt niemand gesehen hatte. Colette ihrerseits hatte keinerlei Anstrengungen gemacht, ihn zu treffen; sie hatte Olivier sehr gern, aber sie mochte keinen unglücklichen Menschen; sie behauptete, zu gefühlvoll zu sein, um den Anblick von Trauer ertragen zu können: so wartete sie denn, um sich seiner zu erinnern, bis seine Trauer vorüber war. Als sie erfuhr, daß er geheilt schien und keinerlei Ansteckungsgefahr mehr vorhanden war, wagte sie es, ihm ein Lebenszeichen zu geben. Olivier ließ sich nicht bitten. Er war gleichzeitig scheu und gesellschaftlich, war leicht zu verführen; und für Colette hatte er eine Schwäche. Als er Christof seine Absicht kundgab, wieder zu ihr zu gehen, begnügte sich Christof, der die Freiheit seines Freundes viel zu sehr achtete, als daß er ihm nur den geringsten Tadel ausgesprochen hätte, die Achseln zu zucken und mit spöttischer Miene zu sagen:

»Geh, mein Junge, wenn's dir Spaß macht.«

Aber er hütete sich wohl, ihm zu folgen; er wollte unweigerlich weder mit diesen Koketten, noch mit ihrer Welt mehr etwas zu tun haben. Er war nicht etwa ein Weiberfeind: weit davon entfernt. Er empfand für die tätigen jungen Frauen, die kleinen Arbeiterinnen, Angestellten, Beamtinnen, die man des Morgens verschlafen und immer ein wenig verspätet zu ihren Arbeitsstuben oder Bureaus hetzen sah, ein zärtliches Wohlwollen. Nur die schien ihm Frau in ihrer ganzen Bedeutung, die handelte, die sich anstrengte, etwas durch sich selbst zu sein, ihren Lebensunterhalt und ihre Unabhängigkeit zu erwerben; und nur dann erschien sie ihm im vollen Besitz ihrer Anmut, der munteren Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen, des Erwachtseins aller ihrer Sinne, in der Fülle ihres Lebens und ihres Willens. Die müßige und genießerische Frau verabscheute er: sie machte ihm den Eindruck eines satten Tieres, das verdaut und sich in ungesunden Träumen langweilt. Olivier liebte im Gegenteil das far niente der Frauen, ihren blumenartigen Reiz; er wollte, daß sie gleich den Blumen nur lebten, um schön zu sein und die Luft rings um sich zu durchduften. Er war künstlerischer, Christof menschlicher. Im Gegensatz zu Colette liebte Christof die Menschen um so stärker, je größeren Anteil sie an den Leiden der Welt hatten. Dann fühlte er sich ihnen durch brüderliches Mitleid verbunden.

Colette war vor allem begierig, Olivier wiederzusehen, seit sie von seiner Freundschaft mit Christof vernommen hatte, denn sie war neugierig, darüber Einzelheiten zu erfahren. Sie trug es Christof ein wenig nach, daß er sie anscheinend auf so geringschätzige Weise vergessen hatte; und wenn sie auch nicht gerade an Rache dachte   das lohnte nicht der Mühe, denn sich rächen macht Mühe  , wäre es ihr ganz gelegen gekommen, ihm einen kleinen Streich zu spielen. Katzen beißen, damit man sie bemerke. Schmeichelnd, wie sie es so gut verstand, brachte sie Olivier ohne Mühe zum Reden. Niemand war hellsichtiger als er, ließ sich weniger von den Leuten anführen, wenn er ihnen fern war; niemand zeigte mehr kindliches Zutrauen, wenn er sich zwei liebenswürdigen Augen gegenüberbefand. Colette bezeigte ihm eine so aufrichtige Anteilnahme an seiner Freundschaft mit Christof, daß er sich dazu verleiten ließ, ihr deren Geschichte zu erzählen und sogar über einige ihrer kleinen freundschaftlichen Streitereien zu reden, die ihm aus der Entfernung lustig erschienen und an denen er sich alles Unrecht zuschob. Er vertraute Colette auch die künstlerischen Pläne Christofs an und einige von Christofs (nicht immer schmeichelhaften) Urteilen über Frankreich und die Franzosen, alles Dinge, die an sich keine große Bedeutung hatten, die aber Colette sich beeilte, weiterzutragen und sie dabei nach ihrer Art zurechtzumachen, ebenso sehr, damit der Bericht fesselnder werde, als aus einer verborgenen Bosheit gegen Christof. Und da der erste, dem sie diese Vertraulichkeiten zutrug, natürlich ihr unzertrennlicher Lucien Lévy-Coeur war, der keinerlei Grund hatte, darüber zu schweigen, verbreiteten sie sich überall und wurden unterwegs immer schöner; sie bekamen einen für Olivier, aus dem man ein Opfer machte, etwas beleidigenden Anstrich von ironischem Mitleid. Man sollte meinen, die Geschichte wäre für niemand von allzu großem Interesse gewesen, da die beiden Helden äußerst wenig bekannt waren; aber ein Pariser interessiert sich vor allem für das, was ihn nichts angeht. So geschah es denn, daß eines Tages Christof selber diese Geheimnisse aus Frau Roussins Munde vernahm. Er traf sie in einem Konzert, wo sie ihn fragte, ob es wahr sei, daß er sich mit dem armen Olivier Jeannin überworfen habe. Und sie erkundigte sich nach seinen Arbeiten, wobei sie auf Dinge anspielte, von denen er glaubte, sie seien nur ihm selbst und Olivier bekannt; und als er sie fragte, von wem sie diese Einzelheiten wüßte, erzählte sie ihm: von Lucien Lévy-Coeur, der sie von Olivier selber habe.

Christof wurde durch diesen Schlag niedergeschmettert. Bei seiner kritiklosen Heftigkeit kam ihm nicht der Gedanke, das Unwahrscheinliche dieser Nachricht zu erörtern; er sah nur eins: seine Olivier anvertrauten Geheimnisse waren verraten, an Lucien Lévy-Coeur verraten. Er vermochte nicht im Konzert zu bleiben; gleich darauf verließ er den Saal. Rings um ihn war Leere, Nacht. Auf der Straße ließ er sich beinahe überfahren. Immer wieder sagte er sich: »Mein Freund hat mich verraten!«

Olivier war bei Colette. Christof schloß seine Zimmertür ab, damit Olivier nicht wie gewöhnlich noch einen Augenblick bei der Heimkehr mit ihm plaudern könne. Er hörte ihn in der Tat wenig später nach Hause kommen, versuchen die Tür zu öffnen und ihm durch das Schlüsselloch »Gute Nacht« zuzuflüstern. Er rührte sich nicht. Er saß im Dunklen auf seinem Bett, hatte den Kopf zwischen den Händen vergraben und wiederholte sich immer wieder: »Mein Freund hat mich verraten!« Und so blieb er einen Teil der Nacht sitzen. Jetzt erst fühlte er, wie sehr er Olivier liebte; denn er zürnte ihm nicht um seines Verrates willen; er litt nur. Der, den man liebt, hat alles Recht auf seiner Seite, selbst das, uns nicht mehr zu lieben. Man kann ihm deswegen nicht böse sein, man kann sich nur selbst zürnen, daß man der Liebe so wenig wert ist, da er uns ja verläßt. Und das ist eine tödliche Pein, die den Lebenswillen bricht.

Als er am nächsten Morgen Olivier sah, sagte er ihm nichts; es war ihm so widerwärtig, ihm Vorwürfe zu machen   Vorwürfe darüber, daß er sein Vertrauen mißbraucht, seine Geheimnisse dem Feind zum Fraß hingeworfen habe  , daß er überhaupt kein Wort reden konnte. Aber sein Gesicht redete für ihn; es war feindselig und eisig. Olivier wurde davon betroffen; er begriff nichts. Schüchtern versuchte er herauszubekommen, was Christof gegen ihn habe. Christof wendete sich ohne Antwort brutal ab. Olivier, nun seinerseits verletzt, schwieg und schluckte seinen Kummer schweigend hinunter. Den ganzen Tag über sahen sie sich nicht mehr. Hätte Olivier ihm auch tausendmal mehr Leid zugefügt, so würde Christof doch nichts getan haben, um sich zu rächen, kaum um sich zu verteidigen. Olivier war ihm heilig. Die Empörung aber, die in ihm tobte, mußte sich gegen irgend jemand entladen, und da es nicht Olivier sein konnte, wurde es Lucien Lévy-Coeur. Mit seiner gewohnten Ungerechtigkeit und Leidenschaft schob er ihm sogleich die Verantwortung für Oliviers vermeintliches Vergehen zu; und seine Eifersucht litt unerträglich unter dem Gedanken, daß ein Mensch dieser Art ihm die Zuneigung seines Freundes hatte nehmen können, wie er ihn schon aus Colette Stevens Freundschaft verdrängt hatte. Um ihn vollends außer sich zu bringen, kam ihm am selben Tage ein Aufsatz Lucien Lévy-Coeurs über eine Fidelio-Aufführung unter die Augen. Er sprach von Beethoven in spöttelndem Ton und machte sich über seine Heldin, die eines Tugendpreises würdig sei, in witziger Weise lustig. Christof empfand besser als irgend einer die Lächerlichkeiten des Stückes und sogar gewisse Mißgriffe in der Musik. Er hatte selbst nicht immer übertriebene Achtung für anerkannte Meister gezeigt. Aber er hatte nicht den Ehrgeiz, immer mit sich selber einig und »logisch« im französischen Sinn zu bleiben. Er gehörte zu den Leuten, die wohl die Fehler derer, die sie lieben, aufdecken wollen, anderen es aber nicht erlauben. Übrigens war es etwas ganz Verschiedenes, ob man einen großen Künstler, wenn auch noch so scharf, in Christofs Art, aus leidenschaftlicher Liebe zur Kunst kritisierte oder sogar,   man könnte sagen, aus unerbittlicher Liebe zu seinem Ruhm, weil man Mittelmäßigkeit nicht an ihm ertragen konnte,   oder aber ob man in seinen Kritiken nur der Niedrigkeit des Publikums schmeichelte und die Galerie zum Lachen brachte, wie es Lucien Lévy-Coeur tat, indem er auf Kosten eines großen Mannes seinen Geist leuchten ließ. Überdies hatte es auch für Christof, so frei er in seinen Urteilen sein mochte, stets eine bestimmte Musik gegeben, die er schweigend abseits gestellt, in Sicherheit gebracht hatte und an die man nicht rühren durfte: das war die Musik, die mehr und besser als Musik war, die ganz reine Seele war, eine große wohltuende Seele, aus der man Trost, Kraft und Hoffnung schöpfte. Beethovens Musik gehörte dazu. Mit anzusehen, wie ein Lümmel sie beleidigte, brachte ihn außer sich. Hier handelte es sich nicht mehr um Kunst, sondern um Ehre; Liebe, Heldentum, leidenschaftliche Tugend, nach Hingebung dürstende Güte, alles was dem Leben seinen Wert gibt, stand mit auf dem Spiel. Es ging um Gott selber! Darüber ist kein Wort zu verlieren. Man kann ebensowenig zugeben, daß man daran rühre, als man die Frau, die man anbetet und liebt, beleidigen hören kann: dann heißt es eben hassen und töten ... Und nun gar, wenn der Beleidiger von allen Menschen der war, den Christof am tiefsten verachtete ...

Der Zufall wollte, daß sich noch am selben Abend die beiden Männer gegenüberstanden.

Um nicht mit Olivier allein zu bleiben, war Christof, seiner Gewohnheit entgegen, zu einer Abendgesellschaft bei den Roussins gegangen. Man bat ihn, vorzuspielen. Er tat es widerwillig. Immerhin war er nach einem Augenblick in das Stück, das er spielte, ganz vertieft, als er die Augen erhebend, einige Schritte von sich entfernt, in einer Gruppe den ironischen Augen Lucien Lévy-Coeurs begegnete, die ihn beobachteten. Mitten im Takt brach er mit einem Ruck ab, stand auf und drehte dem Klavier den Rücken. Ein verlegenes Schweigen trat sofort ein. Die überraschte Frau Roussin kam mit gezwungenem Lächeln auf Christof zu; und da sie nicht ganz sicher war, ob das Stück nicht beendet wäre, fragte sie ihn vorsichtig:

»Spielen Sie nicht weiter, Herr Krafft?«

»Ich bin zu Ende,« antwortete er trocken.

Kaum hatte er das gesagt, als er seine Unhöflichkeit fühlte; das machte ihn aber nicht vorsichtiger, sondern reizte ihn nur um so mehr. Ohne die spöttische Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft zu beachten, setzte er sich in einen Winkel des Salons, von dem aus er den Bewegungen Lucien Lévy-Coeurs folgen konnte. Sein Nachbar, ein alter General mit rosigem, verschlafenem Gesicht und blaßblauen Augen von kindlichem Ausdruck fühlte sich verpflichtet, ihm einige Freundlichkeiten über die Originalität des Stückes zu sagen. Christof verbeugte sich gelangweilt und knurrte unartikulierte Laute. Der andere sprach außerordentlich höflich und mit einem nichtssagenden und sanften Lächeln weiter; er hätte sich von Christof gern erklären lassen, wie man aus dem Gedächtnis so viele Seiten Musik spielen könne. Christof rückte ungeduldig hin und her und fragte sich, ob er den Biedermann nicht mit einem Stoß vom Sofa herunterschmeißen solle. Er wollte hören, was Lucien Lévy-Coeur sagte: er spähte nach einem Vorwand, ihn anzugreifen. Seit ein paar Minuten fühlte er, daß er eine Tollheit begehen werde: nichts in der Welt hätte ihn davon abbringen können.   Lucien Lévy-Coeur deutete gerade mit seiner Falsettstimme einem Damenkreis die Absichten großer Künstler und ihre innersten Gedanken. Während einer Stille vernahm Christof, wie dieser Mensch in schmutzigen Zweideutigkeiten von der Freundschaft Wagners mit König Ludwig redete.

»Hören Sie auf!« schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch neben sich.

Man wandte sich bestürzt um. Lucien Lévy-Coeur begegnete Christofs Blick, erbleichte leicht und sagte:

»Sprechen Sie zu mir?«

»Zu dir, du Hund!« rief Christof und sprang mit einem Satz auf. »Mußt du alles, was es in der Welt Großes gibt, besudeln?« fuhr er wütend fort. »Hinaus, Possenreißer, oder ich werfe dich aus dem Fenster.«

Er ging auf ihn los. Die Damen stoben mit kleinen Schreien auseinander. Es gab einige Verwirrung. Christof wurde sofort umringt. Lucien Lévy-Coeur hatte sich halb erhoben; dann hatte er die nachlässige Haltung in seinem Lehnstuhl wieder eingenommen. Er rief einen vorübergehenden Diener leise heran, überreichte ihm eine Karte und fuhr dann in der Unterhaltung fort, als sei nichts geschehen. Aber seine Lider zitterten nervös und seine blinzelnden Augen warfen beobachtende Seitenblicke auf die Leute. Roussin hatte sich vor Christof aufgepflanzt, hielt ihn bei den Aufschlägen des Frackes und drängte ihn zur Tür. Christof, der wütend und beschämt den Kopf gesenkt trug, hatte vor den Augen das breite weiße Oberhemd, an dem er die Brillantknöpfe zählte, und fühlte auf seinem Gesicht den Atem des dicken Mannes.

»Ja, aber mein Lieber, hören Sie mal,« sagte Roussin, »was fällt Ihnen ein? Was soll das bedeuten? Zum Donnerwetter, nehmen Sie sich zusammen! Wissen Sie, wo Sie sind? Ja, sind Sie denn verrückt?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich je Ihr Haus wieder betrete,« sagte Christof, indem er sich aus den Händen Roussins befreite, und schritt zur Tür.

Man machte ihm vorsichtig Platz. In der Garderobe bot ihm ein Bedienter ein Tablett. Darauf lag die Karte von Lucien Lévy-Coeur. Er nahm sie, ohne zu begreifen, und las sie ganz laut; dann plötzlich suchte er wutschnaubend in seinen Taschen; mit einem halben Dutzend verschiedener Sachen zog er drei oder vier zerknitterte und beschmutzte Karten heraus.

»Da! Da!« rief er, indem er sie heftig auf das Tablett warf. Dann verließ er das Haus.

 

Olivier wußte von nichts. Christof hatte als Zeugen die ersten besten genommen, die ihm nicht ganz fremd waren, den Musikkritiker Théophile Goujart und einen Deutschen Doktor Barth, Privatdozent an einer Schweizer Universität, den er eines Abends im Restaurant getroffen hatte und mit dem er bekannt geworden war, obgleich er wenig Zuneigung für ihn fühlte: aber sie konnten miteinander von der Heimat reden. Nach Übereinkunft mit den Zeugen Lucien Lévy-Coeurs entschied man sich für Pistolen. Christof verstand sich auf keinerlei Waffe und Goujart meinte, daß er nicht schlecht daran täte, mit ihm zu einem Schießstand zu kommen, um wenigstens ein paar Stunden zu nehmen. Christof aber weigerte sich. Und in Erwartung des nächsten Tages setzte er sich wieder an seine Arbeit.

Sein Sinn war zerstreut. Wie in einem schweren Traum drängte sich ihm summend immer wieder ein Gedanke auf, der ihm nicht ganz klar zum Bewußtsein kam ... »Sehr unangenehm, ja, sehr unangenehm ... Was doch gleich? ... Ach so, dieses Duell morgen ... Spielerei! Man trifft einander niemals ... Immerhin wäre es möglich ... Nun, und dann? ... Dann, ja gerade dann ... Ein Fingerdruck dieses Kerls, der mich haßt, kann mein Leben vernichten ... Ach was ... Ja, morgen, in zwei Tagen kann ich in dieser ekelhaften Erde von Paris liegen ... Bah, hier oder anderswo ... Zum Donnerwetter; bin ich vielleicht feige?   Nein, aber es wäre gemein, durch eine Albernheit diese ganze Welt von Gedanken, die ich in mir wachsen fühle, zu verlieren ... Zum Teufel mit diesen heutigen Kampfarten, von denen man behauptet, die Aussichten der Gegner ständen gleich. Eine schöne Gleichstellung, die dem Leben eines Lumpen ebensoviel Wert beimißt als dem meinen! Wenn man uns nur mit unseren Fäusten und Stöcken bewaffnet gegenüberstellte! Das wäre ein Spaß ... Aber diese frostige Schießerei! ... Und natürlich kann er schießen   und ich habe niemals eine Pistole in der Hand gehabt ... Sie haben recht, ich muß es lernen ... Er will mich töten? Nein, ich werde ihn töten.«

Er ging hinunter. Ein paar Schritte von seinem Hause entfernt befand sich ein Schießstand. Christof verlangte eine Waffe und ließ sich erklären, wie man sie halten müsse. Beim ersten Schuß hätte er beinahe den Verwalter getötet; er versuchte es nochmals; zweimal, dreimal; es ging nicht besser; er wurde ungeduldig: und es wurde noch schlimmer. Ein paar junge Leute standen um ihn her, schauten zu und lachten. Er gab nicht acht darauf. Er blieb mit seiner deutschen Zähigkeit so hartnäckig dabei, verhielt sich den Spöttern gegenüber so gleichgültig und zeigte sich so entschlossen, sein Ziel zu erreichen, daß, wie das immer geschieht, seine ungeschickte Ausdauer bald die Teilnahme erregte; einer der Zuschauer gab ihm Ratschläge. Und er, für gewöhnlich so heftig, hörte alles mit der Fügsamkeit eines Kindes an. Er kämpfte gegen seine Nerven an, die seine Hand zittern ließen; die Brauen zusammengezogen, riß er sich zusammen; der Schweiß rann ihm die Wangen hinab; er redete kein Wort; von Zeit zu Zeit aber gab ihm der Zorn einen Ruck; und von neuem begann er zu schießen. Zwei Stunden blieb er dabei. Nach zwei Stunden traf er ins Schwarze. Es gibt nichts Fesselnderes als solch einen Willen, der einen linkischen und aufrührerischen Körper bezwingt. Christof flößte Hochachtung ein. Von denen, die anfangs gespottet hatten, waren einige davongegangen; die anderen waren nach und nach still geworden und hatten sich nicht entschließen können, das Schauspiel zu verlassen. Als Christof davonging, grüßten sie ihn freundschaftlich.

Bei der Heimkehr traf Christof den guten Mooch an, der ihn besorgt erwartete. Mooch hatte von dem Streit erfahren und war herbeigelaufen; er wollte die Ursache wissen. Trotz Christofs Verschwiegenheit, der Olivier nicht anklagen mochte, erriet er sie schließlich. Da er kaltblütig war und beide Freunde kannte, stand es für ihn außer Frage, daß Olivier an dem kleinen Verrat, den Christof ihm unterschob, unschuldig sei. Er ging der Sache nach und entdeckte mühelos, daß alles Übel von dem Geschwätz Colettes und Lévy-Coeurs herrührte. Eilig kehrte er zurück, um Christof den Beweis dafür zu erbringen; er stellte sich vor, daß er so das Duell verhindern könnte. Aber das gerade Gegenteil war der Fall: Christof wurde gegen Lévy-Coeur nur um so mehr aufgebracht, als er erfuhr, daß er durch Schuld dieses Menschen an dem Freunde hatte zweifeln können. Um Mooch los zu werden, der ihn beschwor, sich nicht zu schlagen, versprach er alles, was Mooch wollte. Aber sein Entschluß war gefaßt. Jetzt war er ganz fröhlich: er würde sich um Oliviers willen schlagen. Nicht um seiner selbst willen!

 

Während der Wagen durch den Waldweg fuhr, wurde Christofs Aufmerksamkeit plötzlich durch eine Bemerkung eines der Zeugen wachgerüttelt. Er versuchte in ihren Gedanken zu lesen und merkte, wie gleichgültig er ihnen war. Professor Barth berechnete, um welche Zeit die Geschichte wohl zu Ende sein würde und ob er rechtzeitig in die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek kommen könnte, um eine begonnene Arbeit am selben Tag noch zu beenden. Von den drei Zeugen war er der, der aus germanischer Eitelkeit am Ausgang des Kampfes noch am meisten Anteil nahm. Goujart kümmerte sich weder um Christof noch um den anderen Deutschen. Er unterhielt sich über heikle physiologische Fragen mit dem Dr. Jullien, einem jungen Toulouser Arzt, der früher Christofs Flurnachbar gewesen war und zuweilen seine Spirituslampe, seinen Regenschirm, seine Kaffeetassen geborgt hatte, um sie regelmäßig zerbrochen wiederzubringen. Als Entschädigung gab er Christof unentgeltliche Ratschläge, versuchte Arzeneien an ihm und freute sich an seiner Naivität. Er trug die stolze Ruhe eines kastilischen Hidalgo zur Schau, unter ihr aber schlummerte eine beständige Spottsucht. Er war über dieses Abenteuer, das ihm schnurrig vorkam, höchst erfreut und rechnete im voraus mit Christofs Unbeholfenheit. Diese Spazierfahrt durch die Wälder auf Kosten des biederen Krafft schien ihm recht vergnüglich.   Das war im Gedankengang des Trios überhaupt das Klarste: sie betrachteten die Sache vor allem als eine Vergnügungspartie, die sie nichts kostete. Keiner legte dem Duell die geringste Bedeutung bei. Im übrigen waren sie mit der gleichen Ruhe auf alle möglichen Vorkommnisse gefaßt.

Sie waren vor den anderen am Platz. Eine kleine Herberge mitten im Gehölz. Es war ein ziemlich unreinlicher Vergnügungsort, an dem die Pariser ihre Ehre reinwuschen, wenn der Schmutz allzu sichtbar geworden war. Die Hecken waren von lauter Monatsrosen überblüht. Im Schatten von bronzeblättrigen Eichen waren kleine Tische aufgestellt. An einem saßen drei Radler, eine geschminkte Frau in Hosen und schwarzen Socken und zwei Männer in Flanellhemden, die, von der Hitze verblödet, ab und zu ein Knurren hervorstießen, als hätten sie das Reden verlernt.

Die Ankunft des Wagens verursachte im Gasthof ein kleines Durcheinander. Goujart kannte das Haus und die Leute seit langem und erklärte, daß er für alles sorgen werde. Barth zog Christof in eine Laube und bestellte Bier. Die Luft war hier köstlich lau und von Bienengesumm erfüllt. Christof vergaß, warum er gekommen war. Barth leerte seine Flasche und sagte nach einem Stillschweigen: »Jetzt weiß ich, was ich tun werde.« Er trank und fuhr fort: »Ich gehe nachher nach Versailles, Zeit genug werde ich noch haben.«   Man hörte, wie Goujart mit der Wirtin heftig um den Preis für den Kampfplatz feilschte. Jullien war nicht müßig geblieben: als er an den Radlern vorbeikam, hatte er Bemerkungen lauten Entzückens über die nackten Beine der Frau gemacht, worauf eine Sturmflut unflätiger Schimpfworte losbrach, denen Jullien nichts schuldig blieb. Barth sagte halblaut: »Die Franzosen sind gemein. Bruder, ich trinke auf deinen Sieg.«

Er stieß mit Christof an. Dieser träumte. Bruchstücke von Musik glitten, samt dem harmonischen Gesumm der Insekten, durch seinen Kopf. Er wurde schläfrig.

Der Sand der Allee knirschte unter den Rädern eines anderen Wagens. Christof erblickte das bleiche, wie immer lächelnde Gesicht Lucien Lévy-Cœurs und sein Zorn erwachte von neuem. Er stand auf und Barth folgte ihm. Lucien Lévy-Cœur, den Hals in eine hohe Krawatte gepreßt, war mit äußerster Sorgfalt angezogen und stach dadurch stark von dem nachlässigen Anzug seines Gegners ab. Nach ihm stieg Graf Bloch aus, ein durch seine Geliebten, seine Sammlung alter Monstranzen und seine ultraroyalistischen Ansichten bekannter Sportsmann,   dann Léon Mouey, ein anderer Modeheld, der durch die Literatur zum Deputierten und durch politischen Ehrgeiz zum Literaten geworden war, jung, kahl, glattrasiert, mit einem abgezehrten und galligen Gesicht, langer Nase, runden Augen, einem Vogelschädel   schließlich Dr. Emmanuel, der Typus eines verfeinerten, wohlwollenden und gleichgültigen Semiten, Mitglied der medizinischen Akademie, Direktor eines Hospitals, der durch seine gelehrten Bücher und seinen medizinischen Skeptizismus berühmt war; dieser brachte ihn dazu, die Jammerklagen seiner Kranken mit ironischem Mitleid anzuhören, ohne irgend etwas zu ihrer Heilung zu versuchen.

Sie grüßten höflich. Christof erwiderte kaum, bemerkte aber mit Verdruß den Übereifer seiner Zeugen und die übertriebene Zuvorkommenheit, die sie den Zeugen Lucien Lévy-Cœurs erwiesen. Jullien kannte Emmanuel und Gonjart kannte Mouey; sie näherten sich ihnen lächelnd und unterwürfig. Mouey empfing sie mit kalter Höflichkeit und Emmanuel mit seiner spöttischen Ungezwungenheit. Der Graf Bloch blieb dagegen neben Lucien Lévy-Cœur, musterte mit schnellem Blick den Bestand an Gehröcken und feiner Wäsche im anderen Lager und tauschte mit seinem Klienten abgerissene witzelnde Bemerkungen, wobei sie   beide ruhig und korrekt   kaum den Mund öffneten.

Lucien Lévy-Cœur erwartete in voller Gemütsruhe das Zeichen des Grafen Bloch, der den Kampf leitete. Er betrachtete die Angelegenheit als eine einfache Formalität. Obgleich er ein ausgezeichneter Schütze war und die Ungewandtheit seines Gegners vollkommen kannte, hätte er sich dennoch wohl gehütet, seinen Vorteil auszunutzen und zu versuchen, Christof zu treffen, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eingetreten wäre, daß die Zeugen nicht über die Harmlosigkeit des Kampfes gewacht hätten: denn er wußte, daß es keine größere Dummheit gab, als einen Feind zu einem Opfer zu machen, während man ihn doch weit sicherer ohne Aufsehen vernichten konnte. Christof aber hatte seine Jacke abgeworfen, das Hemd an dem massiven Hals geöffnet und über den kräftigen Handgelenken aufgekrempelt, und so wartete er mit gesenkter Stirn, die Augen starr auf Lucien Lévy-Cœur geheftet, mit Anspannung aller seiner Kräfte; unversöhnliche Mordlust stand deutlich in jedem Zug seines Gesichtes geschrieben, und der Graf Bloch, der ihn aufmerksam beobachtete, dachte bei sich, es sei doch gut, daß die Zivilisation so weit als möglich die Gefahren des Zweikampfes beseitigt habe.

Nach dem natürlich ergebnislosen Kugelwechsel eilten die Zeugen, die Gegner zu beglückwünschen. Der Ehre war Genüge getan.   Nicht aber Christof. Er blieb, die Pistole in der Hand, auf dem Platz stehen und konnte nicht glauben, daß alles schon zu Ende sei. Ihm wäre es recht gewesen, wenn man, wie er es am vorigen Tage auf dem Schießstande getan hatte, so lange geschossen hätte, bis man ins Schwarze traf. Als er hörte, daß ihm Goujart vorschlug, dem Gegner die Hand zu reichen, der ihm mit seinem ewigen Lächeln ritterlich entgegen kam, packte ihn die Entrüstung über das ganze Komödienspiel. Er warf seine Waffe wütend zur Erde, stieß Goujart zurück und stürzte sich auf Lucien Lévy-Cœur. Mit höchster Mühe hielt man ihn davon zurück, den Kampf mit den Fäusten fortzusetzen.

Die Zeugen legten sich ins Mittel, während Lucien Lévy-Cœur sich entfernte. Christof machte sich aus ihrer Gruppe los und ging, ohne auf ihr Gelächter und ihre Ermahnungen zu hören, mit großen Schritten davon, zum Walde hin, wobei er laut sprach und wütend gestikulierte. Er merkte nicht einmal, daß er seine Jacke und seinen Hut auf dem Kampfplatze hatte liegen lassen. Er schlug sich ins Waldinnere und hörte noch, wie die Zeugen ihn lachend riefen, bis sie dessen überdrüssig wurden und sich nicht mehr um ihn kümmerten. Ein Rollen von sich entfernenden Wagen belehrte ihn bald, daß sie davongefahren waren. So blieb er inmitten der schweigenden Bäume allein. Seine Wut war vorbei. Er warf sich zur Erde und wälzte sich im Grase.

Wenig später langte Mooch im Gasthof an. Seit dem frühen Morgen stellte er Christof nach. Man sagte ihm, daß sein Freund im Walde sei. Er machte sich auf die Suche nach ihm. Er durchstöberte alle Dickichte, er rief nach allen Seiten und kehrte ohne Erfolg um, als er ihn plötzlich singen hörte; er folgte der Stimme und fand ihn schließlich an einer kleinen Lichtung, wo er sich, alle Viere von sich gestreckt, wie ein junger Hund wälzte. Als ihn Christof erblickte, rief er ihn fröhlich heran, nannte ihn seinen »alten Moloch« und erzählte ihm, er habe seinen Gegner wie ein Sieb durchlöchert; er zwang ihn mit ihm Bockspringen zu spielen und selbst zu springen; und, er versetzte ihm beim Springen gewaltige Klapse. Dem gutmütigen Mooch machte das, trotz seiner Ungeschicklichkeit, fast ebenso viel Spaß als Christof.   Untergefaßt kehrten sie zum Gasthof zurück und nahmen auf dem nahen Bahnhof den Zug nach Paris.

Olivier ahnte nicht, was geschehen war. Er war überrascht von Christofs Zärtlichkeit: er begriff nichts von allen diesen Gefühlsumschwüngen. Erst am nächsten Morgen erfuhr er durch die Zeitungen, daß Christof sich geschlagen habe. Der Gedanke an die Gefahr, die Christof bestanden hatte, machte ihn fast krank. Er wollte den Grund des Duells wissen. Christof weigerte sich, zu reden. Als er schließlich gar nicht in Frieden gelassen wurde, sagte er lachend: »Für dich.«

Mehr konnte Olivier nicht aus ihm herausbringen. Mooch erzählte die Tatsachen. Olivier war starr, brach endgültig mit Colette und flehte Christof an, ihm seine Unvorsicht zu verzeihen. Der unverbesserliche Christof sagte ihm ein altes französisches Sprichwort her, das er heimtückisch nach seiner Art zurechtgemacht hatte, um den guten Mooch zu ärgern, der sich am Glück der beiden Freunde freute:

»Das wird dir das Mißtrauen beibringen, Kleiner ...

De fille oiseuse et languarde
De juif patelin papelard,
D'ami fardé,
D'ennemi familier,
Et de vin éventé,
Libera nos, Domine!«

 

Die Freundschaft war wieder hergestellt. Die Gefahr, die an ihr vorbeigestrichen war, machte sie nur um so teurer. Die leichten Mißverständnisse waren verschwunden; gerade die Verschiedenheiten zwischen den beiden Freunden waren jetzt ein Reiz mehr. Christof umfaßte in seiner Seele die Seelen der beiden Vaterländer, harmonisch verschmolzen. Er fühlte sein Herz reich und voll, und diese glückliche Überfülle verwandelte sich wie gewöhnlich bei ihm in einen Strom von Musik.

Olivier stand staunend davor. Sein Übermaß an Kritik hatte ihn beinahe glauben lassen, daß die Musik, die er über alles liebte, ihr letztes Wort gesprochen habe. Er war von der krankhaften Idee besessen, daß auf einen bestimmten Höhepunkt des Fortschritts unweigerlich der Niedergang folgen müsse; und er zitterte davor, daß die schöne Kunst, die ihm das Leben lieb machte, mit einem Schlage aufhöre, versiege, vom Boden aufgetrunken. Christof machte solche Verzagtheit Spaß. Aus Widerspruchsgeist behauptete er, daß vor ihm überhaupt noch nichts getan, daß alles neu zu schaffen sei. Olivier erwähnte als Beispiel die französische Musik, die auf einem Punkte der Vervollkommnung und vollendeten Kultur angekommen schien, über den hinaus nichts mehr denkbar war. Christof zuckte die Achseln: »Die französische Musik? ... Es gibt ja noch gar keine: und doch könntet ihr in dieser Welt so viel Schönes leisten; ihr müßt wirklich wenig musikalisch sein, daß euch noch niemals etwas davon eingefallen ist. Ach, wenn ich Franzose wäre ...«

Und er zählte ihm alles auf, was ein Franzose schreiben könnte ...

»Ihr versteift euch auf Musikgattungen, die nicht für euch gemacht sind, und ihr tut nichts, was für euch paßt. Ihr seid das Volk der Eleganz, der weltlichen Dichtung, der Schönheit in Gebärden, Schritten, Haltung, in der Mode, den Kostümen, und ihr schreibt keine Ballette mehr, ihr, die ihr eine unnachahmliche Kunst des dichterischen Tanzes schaffen könntet ...   Ihr seid das Volk des Lachens und des Lustspiels und ihr schreibt keine komischen Opern mehr oder ihr überlaßt diese Gattung den Unter-Musikern, den Kleinkrämern der Musik. Ach, wäre ich nur Franzose, ich würde Rabelais in Musik setzen, ich würde schnurrige Heldengedichte komponieren ...   Ihr seid ein Volk von Romanschriftstellern und ihr schreibt keine Romane in Musik: (denn zu diesen rechne ich nicht die Feuilletons von Gustave Charpentier). Ihr nutzt euere Gaben psychologischer Analyse, euere Durchdringung von Charakteren nicht aus. Ach, wenn ich Franzose wäre, ich komponierte euch Porträts in Musik (Willst du, daß ich dir die Kleine zeichne, die da unten im Garten unter dem Flieder sitzt?) ... Ich schriebe euch Stendhal für Streichquartett ...   Ihr seid die größte Demokratie in Europa und ihr habt keine Volkstheater, keine Volksmusik. Ach, wenn ich Franzose wäre, ich würde eure Revolution komponieren, den 14. Juli, den 10. August, Valmy, die Föderation   ich würde das Volk in Musik setzen; nicht in der verfälschten Art der Wagnerschen Deklamation. Ich will Symphonien, Chöre, Tänze. Keine Reden! Ich habe sie satt. In einem musikalischen Drama soll man nicht immer reden. Ruhe, ihr Worte! In breiten Strichen malen, großzügige Symphonien mit Chören, unendliche Musiklandschaften, homerische und biblische Heldengedichte, das Feuer, die Erde und das Wasser und den leuchtenden Himmel, das Fieber, das die Herzen schwellt, die inneren Triebe, die Schicksale einer Rasse, den Triumph des Rhythmus, des Kaisers der Welt, der Tausende von Menschen sich dienstbar macht und Heere in den Tod jagt ... Überall Musik, in allem Musik! Wäret ihr musikalisch, so hättet ihr Musik für jedes euerer öffentlichen Feste   für euere öffentlichen Feiern, für euere Arbeitergenossenschaften, für euere Studentenvereine, für euere Familienfeste ... Vor allem aber würdet ihr, wenn ihr musikalisch wäret, reine Musik machen, Musik, die nichts sagen will, Musik, die zu nichts taugt, zu nichts, als um sich daran zu erwärmen, sie einzuatmen, davon zu leben. Schafft die Sonne   » Sat prata« (Wie sagst du das lateinisch?) ... Es hat bei euch zu viel geregnet. Ich erkälte mich in euerer Musik. Man kann nichts sehen: zündet euere Laternen wieder an ... Ihr beschwert euch heute über die italienischen »Schweinereien«, die euere Theater überschwemmen, euer Publikum erobern, euch vor die Tür eueres eigenen Hauses setzen? Es ist euer Fehler. Das Publikum ist eurer Dämmerkunst überdrüssig, euerer harmonischen Neurasthenien, eurer kontrapunktlichen Schulmeisterei. Es geht dem Leben nach, mag dieses auch noch so derb sein. Warum zieht ihr euch vom Leben zurück? Euer Debussy ist schädlich, ein so großer Künstler er auch sein mag. Er ist an euerer Stumpfheit mitschuldig. Euch täte es not, daß man euch tüchtig aus dem Schlafe rüttelte.«

»  Also Strauß?«

»Ebenso wenig. Das würde euch vollends herunterbringen. Man muß den Magen meiner Landsleute haben, um diese Trinkgelage zu vertragen. Und die vertragen sie nicht einmal ... Die Salome von Strauß! ... Ein Meisterwerk ... Ich möchte es nicht geschrieben haben. Ich denke daran, in welch respektvollem Ton rührender Liebe mir mein armer alter Großvater und mein Onkel Gottfried von der schönen Kunst der Töne redeten ... Über diese göttlichen Kräfte verfügen und davon einen solchen Gebrauch machen ... Ein brandstiftender Meteor!   Eine zur jüdischen Prostituierten gewordene Isolde. Die schmerzvolle und bestialische Wollust. Die Raserei des Mordes, der Vergewaltigung, der Blutschande, der entfesselten Triebe, die auf dem Grunde der deutschen Dekadenz grollen ... Und auf eurer Seite der Krampf eines schwermütigen und wollüstigen Selbstmordes, der in eurer französischen Dekadenz röchelt ... Hier das Raubtier   und dort die Beute. Wo ist der Mensch? ... Euer Debussy ist der Genius des guten Geschmacks, Strauß der Genius des schlechten. Jener ist recht flau, aber dieser recht unerquicklich. Der eine ein silbernes und stagnierendes Wassergerinnsel, das sich im Schilf verliert und dem ein Fiebergeruch entsteigt. Der andere ein mächtiger und schlammiger Strom ... Ach, welch dumpfen Gestank von niederem Italianismus, von Neo-Meyerbeerismus, von Gefühlsabfällen führt dieser Sturzfall mit sich ... Ein gräßliches Meisterwerk! ... Salome, Tochter Isoldes ... Und wessen Mutter wird nun Salome ihrerseits werden?«

»Ja,« sagte Olivier, »ich möchte fünfzig Jahre weiter sein. Dieses Hinrasen am Abgrund entlang muß ja einmal ein Ende nehmen, auf die eine oder andere Art: entweder muß das Pferd stillstehen oder stürzen. Dann werden wir aufatmen. Gottseidank wird die Erde nicht aufhören zu blühen, noch der Himmel zu leuchten, ob nun mit oder ohne Musik. Was sollen wir mit einer so menschenfernen Kunst? ... Der Okzident verbrennt ... Bald ... Bald ... Ich erblicke schon andere Lichtscheine, die weit hinten am Orient emportauchen.«

»Laß mich mit deinem Orient zufrieden!« sagte Christof. »Der Okzident hat nicht sein letztes Wort gesprochen. Glaubst du etwa, daß ich abdanke, ich? Ich habe noch Jahrhunderte vor mir. Es lebe das Leben! Es lebe die Freude! Es lebe der Mut, der uns in den Kampf mit unserem Schicksal jagt! Es lebe die Liebe, die uns das Herz schwellt! Es lebe die Leidenschaft, die unseren Glauben befeuert   die Freundschaft, die süßer als die Liebe ist! Es lebe der Tag! Es lebe die Nacht! Preis der Sonne! Laus Deo, dem Gott der Freude, dem Gott des Traumes und der Tat, dem Gott, der die Musik erschuf! Hosianna! ...«

Darauf setzte er sich an seinen Tisch und schrieb alles, was ihm durch den Kopf ging, nieder, ohne weiter an das zu denken, was er eben gesagt hatte.

 

Christof war zu jener Zeit in einem Zustand vollkommenen Gleichgewichtes aller Kräfte seines Lebens. Er belastete sich nicht mit ästhetischen Streitfragen über den Wert dieser oder jener musikalischen Form, noch mit ausgeklügelten Versuchen, etwas Neues zu schaffen; er brauchte sich nicht einmal Mühe zu geben, um zur Komposition geeignete Vorwürfe zu finden. Alles war ihm recht. Der Strom von Musik ergoß sich, ohne daß Christof wußte, welches Gefühl er ausdrückte. Er war glücklich, das war alles. Glücklich, sich ausgeben zu können, glücklich, sich ausgegeben zu haben, glücklich, in sich den Puls des Weltenlebens schlagen zu fühlen.

Diese Freude, diese Fülle des Seins teilte sich seiner Umgebung mit.

Das Haus mit dem verschlossenen Garten war allzu klein für ihn. Er hatte wohl den Ausblick auf den Park des benachbarten Klosters mit der Einsamkeit seiner weiten Alleen und seiner Jahrhunderte alten Bäume; aber das war allzu schön, als daß es hätte dauern können. Man war im Begriff, Christofs Fenster gegenüber ein sechsstöckiges Haus zu bauen, das die Aussicht abschnitt und die Blockade rings um ihn vollständig machte. Obendrein hatte er das Vergnügen, alle Tage vom Morgen bis zum Abend Flaschenzüge knirschen, Steine kratzen, Bretter nageln zu hören. Unter den Arbeitern hatte er seinen Freund, den Dachdecker, wiedergefunden, mit dem er einst auf dem Dache Bekanntschaft gemacht hatte. Sie winkten sich von weitem zu. Ja, als er ihn eines Tages auf der Straße traf, hatte er ihn sogar in eine Kneipe mitgenommen, und sie hatten zum großen Erstaunen Oliviers, der ein wenig Anstoß daran nahm, ein Glas Wein miteinander getrunken. Das drollige Geschwätz des Mannes und seine unverwüstliche gute Laune machten Christof Spaß. Aber er verfluchte darum nicht weniger ihn und seine Horde geschäftiger und dummer Kerle, die vor seinem Hause eine Barrikade auftürmten und ihm Luft und Licht stahlen. Olivier klagte nicht sehr darüber; er gewöhnte sich leicht an einen ummauerten Horizont: ihm ging es wie dem Ofen von Descartes, aus dem der zusammengepreßte Gedanke zum freien Himmel aufdampfte. Christof aber brauchte mehr Luft. Da er nun aber in solch einen engen Raum gesperrt lebte, entschädigte er sich, indem er sich mit den ihn umgebenden Seelen abgab. Er nahm sie in sich auf. Er setzte sie in Musik. Olivier sagte ihm, daß er wie ein Verliebter aussehe.

»Wenn ich es wäre,« erwiderte Christof, »würde ich nichts mehr sehen, ich würde nichts mehr lieben, an nichts mehr außer meiner Liebe würde ich Anteil nehmen.«

»Was geht also mit dir vor?«

»Mir ist wohl, ich habe Hunger.«

»Glücklicher Christof,« seufzte Olivier; »du solltest uns wohl ein wenig von deinem Appetit abgeben.«

Die Gesundheit ist ansteckend   wie die Krankheit. Der erste, dem die Wohltat dieser Kraft zugute kam, war natürlich Olivier. Kraft mangelte ihm am meisten. Er zog sich von der Welt zurück, weil ihn das Gewöhnliche anwiderte. Mit seinem großen Verstande und seinen außergewöhnlichen künstlerischen Anlagen war er doch zu zart, um ein großer Künstler zu werden. Große Künstler sind keine Lebensverächter; jedem gesunden Wesen heißt das oberste Gesetz: leben, um so gebieterischer wenn man ein Genie ist; denn man lebt dann intensiver. Olivier floh das Leben; er ließ sich in einer Welt dahintreiben, die voll körperloser, fleischloser, erdichteter Gebilde war, die zur Wirklichkeit in keinerlei Beziehung standen. Er gehörte zu jener literarischen Auslese, die die Schönheit außerhalb des Zeitalters suchen mußte, in den Epochen, die nicht mehr sind, oder in jenen, die niemals waren. Als ob der Trank des Lebens heute nicht ebenso berauschend, als ob seine Ernte nicht ebenso üppig wäre wie früher. Müden Seelen aber widersteht die enge Berührung mit dem Leben; sie können es nur ertragen, wenn es sich ihnen hinter dem Schleier der Sinnbilder naht, den die Vergangenheit webt, oder im Echo, das die toten Worte derer, die einst die Lebendigen waren, umgewandelt zurückwirft.   Christofs Freundschaft entriß Olivier nach und nach dieser Vorhölle der Kunst. Die Sonne drang in die Schlupfwinkel seiner Seele ein, in denen er dahindämmerte.

Auch der Ingenieur Elsberger erlag der Ansteckung von Christofs Optimismus. Das zeigte sich allerdings nicht in einer Änderung seiner Lebensgewohnheiten; die waren allzu tief eingewurzelt. Und man durfte nicht darauf zählen, daß er in seinem Sinn jemals so unternehmungslustig werden würde, daß er Frankreich verließe, um sein Glück anderswo zu versuchen. Damit hätte man zu viel verlangt. Aber er überwand seine Teilnahmslosigkeit; er gewann wieder Geschmack an Untersuchungen, am Lesen, an wissenschaftlichen Arbeiten, die er seit langem beiseite gelassen hatte. Wenn man ihm gesagt hätte, Christof habe an diesem neuerwachten Interesse irgend welchen Anteil, so wäre er sehr verwundert gewesen und Christof selber nicht minder.

Unter Allen im Hause war Christof am schnellsten mit dem kleinen Haushalt des zweiten Stockwerks in Beziehungen gekommen. Mehr als einmal hatte er beim Vorübergehen an der Tür den Tönen des Klaviers gelauscht, auf dem die junge Frau Arnaud, wenn sie allein war, mit Geschmack spielte. Daraufhin hatte er ihnen Karten zu seinem Konzert geschickt. Sie hatten überschwenglich gedankt. Seitdem ging er ab und zu abends zu ihnen. Niemals war es ihm gelungen, die junge Frau wieder spielen zu hören. Sie war zu schüchtern, um irgend jemandem vorzuspielen. Selbst wenn sie allein war, gebrauchte sie jetzt, da sie wußte, daß man sie auf der Treppe hören konnte, den Dämpfer. Christof aber musizierte vor ihnen und sie plauderten lange darüber. Die Arnauds redeten dann mit einer Glut und einer Jugendlichkeit des Herzens, die ihn entzückte. Er hätte nicht geglaubt, daß Franzosen die Musik wirklich so lieben könnten.

»Das kommt daher,« sagte Olivier, »weil du bisher nur die Musiker kennen gelernt hast.«

»Ich weiß wohl,« erwiderte Christof, »daß die Musiker die Musik am wenigsten lieben; aber du wirst mir nicht weismachen, daß Leute eueren Schlages in Frankreich Legion seien.«

»Ein paar Tausend mindestens.«

»Dann ist es also eine Epidemie, eine ganz neue Mode?«

»Das hat nichts mit Mode zu tun,« sagte Arnaud. » Der da höret einen holden Akkord von Instrumenten oder die Wonne der menschlichen Stimme und freuet sich nicht daran, noch wird gerühret, und erbebete nicht vom Kopf bis zu Füßen in einer süßen Entzückung und fühlet sich nicht aus seinem irdischen Wesen gehoben, der weiset, daß er eine krumme, lasterhafte und verderbte Seele hat und daß man sich vor ihm hüten muß gleich wie vor dem, so unter einem bösen Stern geboren ist ... «

»Ich kenne das,« sagte Christof, »es ist von meinem Freunde Shakespeare.«

»Nein,« sagte Arnaud sanft, »es ist von einem Franzosen, der vor ihm lebte, von unserem Ronsard. Sie sehen, wenn es in Frankreich Mode ist, Musik zu lieben, so stammt diese Mode nicht von gestern.«

Daß man in Frankreich die Musik liebte, fand Christof noch weniger erstaunlich, als die Tatsache, daß man in Frankreich ungefähr dieselbe wie in Deutschland liebte. In den Kreisen der Künstler und der Pariser Snobs, die er zuerst kennen gelernt hatte, gehörte es zum guten Ton, die deutschen Meister als Ausländer von Rang zu behandeln, die zu bewundern man sich nicht sträubte, die man aber doch in einiger Entfernung hielt: man machte sich gern über die Schwerfälligkeit eines Gluck, über das Barbarentum eines Wagner lustig; man spielte die französische Feinheit dagegen aus. Und Christof hatte schließlich wirklich daran gezweifelt, ob ein Franzose die deutschen Werke verstehen könne, besonders wenn er sie in der Art hörte, wie man sie in Frankreich aufführte. Noch ganz kürzlich war er entrüstet aus einer Aufführung von Gluck heimgekehrt. Die gewitzten Pariser waren darauf verfallen, den furchtbaren Alten zu schminken; sie putzten ihn heraus, sie behängten ihn mit Bändern, verstopften seine Rhythmen mit Watte und staffierten seine Musik mit impressionistisch gemalten Dekorationen aus, mit reizenden, perversen und lasziven kleinen Tänzerinnen ... Armer Gluck! Was blieb von seiner Herzensberedtheit, seiner Herzenserhabenheit übrig, von seiner Seelenreinheit, seinem unverhüllten Schmerz? War ein Franzose nicht fähig, das alles zu empfinden?   Nun aber sah Christof die tiefe und innige Liebe seiner neuen Freunde gerade für das Innerste der germanischen Seele, das aus den alten deutschen Liedern, aus den deutschen Klassikern sprach. Und er fragte sie, ob es denn wahr sei, daß diese Deutschen ihnen Fremde schienen und daß ein Franzose eigentlich nur die Künstler seiner eigenen Rasse ganz lieben könne.

»Aber durchaus nicht,« wehrten sie ab. »Unsere Kritiker nehmen sich nur heraus, in unserem Namen zu sprechen. Da sie stets die Mode mitmachen, behaupten sie, wir folgten auch. Aber wir kümmern uns ebenso wenig um sie, als sie sich um uns kümmert. Eine spaßige Gesellschaft, die uns darüber belehren will, was französisch ist und was nicht. Uns Franzosen des alten Frankreich ... Sie reden uns ein, Frankreich wäre in Rameau oder in Racine und nirgends anders. Als ob wir nicht wüßten (Tausende unter uns, in der Provinz, in Paris), wie viele Male Beethoven, Mozart und Gluck sich an unseren Herd setzten, am Lager unserer Lieben mit uns wachten, unsere Kümmernisse teilten, unsere Hoffnungen belebten, Glieder unserer Familie wurden. Wagte man nur zu sagen, was man denkt, so würde man weit eher irgend solchen französischen Künstler, der von unseren Pariser Kritikern ausposaunt wird, einen Fremden nennen.«

»Die wahren Grenzen der Kunst,« sagte Olivier, »sind weniger Rassen- als Klassenunterschiede. Ich weiß nicht, ob es eine französische und eine deutsche Kunst gibt, aber es gibt eine Kunst der Reichen und eine Kunst derer, die nicht reich sind. Gluck ist ein großer Bourgeois, er gehört zu unserer Gesellschaftsklasse. Dagegen ist es mancher französische Künstler, den ich nicht nennen will, nicht: wenn er auch aus der bürgerlichen Gesellschaft stammt, so schämt er sich unser doch. Er verleugnet uns; und wir, wir verleugnen ihn auch.«

Olivier redete wahr. Je mehr Christof die Franzosen kennen lernte, um so mehr fielen ihm die Ähnlichkeiten zwischen den anständigen Leuten in Frankreich und in Deutschland auf. Die Arnauds erinnerten ihn an seinen alten lieben Schulz mit seiner so reinen, so uneigennützigen Liebe zur Kunst, seinem Selbstvergessen, seiner Aufopferung für alles Schöne. Und er liebte sie im Andenken an ihn.

 

Zur selben Zeit, als er die Unsinnigkeit seelischer Grenzen zwischen guten Menschen aus verschiedenen Rassen entdeckte, fühlte Christof auch die ganze Unsinnigkeit der Grenzen zwischen den verschiedenen Denkarten guter Menschen der gleichen Rasse. Durch ihn, doch ohne daß er es angestrebt hatte, waren zwei Menschen, die sich so fern zu stehen schienen wie nur möglich, der Abbé Corneille und Herr Watelet, miteinander bekannt geworden.

Christof lieh von beiden Bücher und verlieh mit einer Unverfrorenheit, die Olivier entsetzte, die des einen an den anderen. Der Abbé fand nichts Böses dabei; er besaß für Seelen ein Ahnungsvermögen, und ohne daß er sich den Anschein gab, spürte er heraus, was in der seines jungen Nachbarn an Großherzigkeit und (diesem selber unbewußt) sogar an Frömmigkeit lebte. Ein Band von Kropotkin, der Herrn Watelet entliehen war und den sie alle drei aus verschiedenen Gründen liebten, gab den Anlaß zu einer Annäherung. Der Zufall wollte es, daß sie eines Tages bei Christof zusammentrafen. Christof fürchtete zuerst irgend ein unfreundliches Wort zwischen seinen Gästen. Sie erwiesen sich aber im Gegenteil die vollkommenste Höflichkeit. Sie plauderten von harmlosen Dingen: von ihren Reisen, von ihrer Erfahrung. Und sie entdeckten ein jeder an dem anderen, daß sie voller Milde waren, erfüllt von evangelischem Geiste und trotz so vielen Gründen zur Verzweiflung voller phantastischer Hoffnungen. Sie wurden von Sympathie zueinander erfaßt, in die sich einige Ironie mischte. Eine sehr zurückhaltende Sympathie. Niemals berührten sie untereinander das Innerste ihrer Glaubensüberzeugungen. Sie sahen einander selten und suchten einander nicht; begegneten sie sich aber, so fanden sie Freude daran.

Wenn von beiden einer geistig gebundener als der andere war, so war es jedenfalls nicht der Abbé. Christof hätte das nicht erwartet. Erst nach und nach übersah er die Größe jener frohen und freien Gedankenwelt, jenes mächtigen und heiteren, fieberfreien Mystizismus, der alle Gedanken des Priesters, alle Handlungen seines täglichen Lebens, seine ganze Weltanschauung durchdrang, die ihn in Christus leben ließ, wie, seinem Glauben nach, Christus in Gott gelebt hatte.

Er verneinte nichts, keine Triebkraft des Lebens. Alle Schriften, ob alt oder modern, ob heilig oder profan, von Moses bis Berthelot, waren für ihn Gewißheiten, waren göttlich, der Ausdruck Gottes. Die heilige Schrift war nur das reichste Buch unter ihnen, wie die Kirche die oberste Schar der auserwählten, in Gott geeinten Brüder war; aber weder die eine noch die andere verschlossen ihren Geist in eine starre Wahrheit. Das Christentum war der lebendige Christus. Die Weltgeschichte war nur die Geschichte der beständigen Ausdehnung der Gottesidee. Der Einsturz des jüdischen Tempels, der Untergang der heidnischen Welt, das Mißlingen der Kreuzzüge, die Ohrfeige Bonifazius' VIII., Galilei, der die Erde in den schwindelnden Raum zurückwarf, die winzig Kleinen, die über die Großen triumphieren, das Ende des Königtums und das der Konkordate, alles dies verwirrte für kurze Zeit die Gewissen. Die einen klammerten sich verzweifelt an das Untergehende, die anderen ergriffen aufs Geratewohl eine Planke und ließen sich mit fortreißen. Der Abbé Corneille fragte sich nur: »Wo sind die Menschen? Wo ist die Wurzel ihres Lebens?« Denn er glaubte: Wo Leben ist, da ist Gott. Darum fühlte er auch Zuneigung für Christof.

Christof seinerseits machte es Freude, die schöne Musik, die in einer großen, frommen Seele liegt, wieder zu vernehmen. Sie erweckte ein fernes und tiefes Echo in ihm. Durch dieses Gefühl beständiger Gegenwirkung, die bei kraftvollen Naturen ein Lebenstrieb ist, ja der Selbsterhaltungstrieb selber, der Ruderschlag, der das bedrohte Gleichgewicht wiederherstellt und der Barke einen neuen Schwung verleiht, war in Christofs Herzen seit zwei Jahren, gerade durch das Übermaß an Zweifel und den Widerwillen gegen den Pariser Sinnenkultus, Gott allmählich wieder auferstanden. Er glaubte nicht etwa an ihn, er verleugnete ihn. Aber er war von ihm erfüllt. Der Abbé Corneille sagte lächelnd, daß er, wie der gute Riese, sein Schutzheiliger, Gott trage, ohne es zu wissen.

»Woher kommt es dann, daß ich ihn nicht sehe?« fragte Christof.

»Sie sind wie tausend andere: Sie sehen ihn alle Tage, ohne zu ahnen, daß er es ist. Gott offenbart sich allen, wenn auch in verschiedener Gestalt   den einen in ihrem täglichen Leben, wie Sankt Petrus in Galiläa, den anderen, z. B. Ihrem Freunde Watelet, so wie dem heiligen Thomas in Wunden und Elend, die sie heilen wollen   Ihnen in der Erhabenheit Ihres Ideals: › Noli me tangere ...‹ Eines Tages werden Sie ihn erkennen.«

»Niemals werde ich abdanken,« sagte Christof. »Frei bin ich; frei bleibe ich.«

»Mit Gott werden Sie es nur um so mehr sein,« erwiderte ruhig der Priester.

Christof aber wehrte sich, daß man einen Christen wider Willen aus ihm mache. Er verteidigte sich mit kindlichem Eifer, als ob es irgend welche Bedeutung hätte, wenn man seiner Denkart diese oder jene Etikette anheftete. Der Abbé Corneille hörte ihm mit der kaum fühlbaren Ironie eines überlegenen Priesters und sehr viel Güte zu. Er besaß eine unerschütterliche Geduld, die in der Gewohnheit seines Glaubens begründet war. Was die heutige Kirche an Prüfungen verhängen kann, hatte er durchgemacht; war dadurch auch eine tiefe Schwermut über ihn gekommen und war er sogar durch schmerzvolle seelische Krisen getrieben worden, so hatten sie ihn doch im Grunde nicht erschüttert. Gewiß, es war grausam, sich von seinen Vorgesetzten unterdrückt zu sehen, zu sehen, wie jeder seiner Schritte von den Bischöfen erspäht wurde, wie er von den Freidenkern belauert war, die, was er dachte, auszunutzen, ihn gegen seinen Glauben auszuspielen trachteten; es war grausam, sich gleichermaßen von seinen Glaubensgenossen wie von den Feinden seiner Religion verkannt und gehetzt zu sehen. Unmöglich, standhaft zu kämpfen: denn man hat sich zu unterwerfen. Unmöglich, sich von Herzen zu unterwerfen: denn man wußte, daß die Autorität sich irrt. Angst vor dem Schweigen. Angst vor dem Reden, denn man wird falsch ausgelegt. Und dazu die anderen Seelen, für die man verantwortlich ist, alle jene, die einen Rat, eine Hilfe erwarten und die man leiden sieht ... Der Abbé litt für sie und für sich, aber er gab sich darein. Er wußte, wie wenig die Tage der Prüfung in der langen Geschichte der Kirche bedeuten.   Jedoch indem er sich so in sich, in seinen stummen Verzicht zurückzog, erschöpfte er sich langsam; er verfiel in eine Schüchternheit, eine Redescheu, die ihm den geringsten Schritt mehr und mehr erschwerten und ihn nach und nach in ein dumpfes Schweigen hüllten, in das er sich mit Betrübnis immer tiefer versinken fühlte, doch ohne dagegen anzukämpfen. Die Begegnung mit Christof half ihm sehr. Die jugendliche Glut, die herzliche und kindliche Anteilnahme, die sein Nachbar ihm erwies, seine manchmal eindringlichen Fragen taten ihm wohl. Christof zwang ihn, in die Gemeinschaft der Lebendigen zurückzukehren.

Aubert, der Mechaniker, traf ihn einmal bei Christof. Es gab ihm einen Ruck, als er den Priester sah. Es wurde ihm wahrhaft schwer, seinen Widerwillen zu verbergen. Selbst als er sein erstes Gefühl überwunden hatte, blieb ihm noch immer ein Unbehagen zurück, eine sonderbare Befangenheit, weil er sich diesem Mann im Priesterkleide gegenüber fand, der für ihn ein undeutbares Wesen war. Immerhin gewannen seine Geselligkeitstriebe und das Vergnügen, mit wohlerzogenen Leuten zu reden, die Oberhand über seinen Antiklerikalismus. Er war von dem leutseligen Ton, der zwischen dem Abbé Corneille und Watelet herrschte, überrascht; er war nicht weniger überrascht, einen Priester zu sehen, der Demokrat, und einen Revolutionär, der Aristokrat war. Das warf alle seine überkommenen Ideen um. Er dachte vergeblich darüber nach, in welchen sozialen Kategorien er die beiden unterbringen könne, denn er mußte die Leute, um sie verstehen zu können, irgendwo unterbringen. Aber es war nicht leicht, eine Abteilung zu finden, in die man die friedfertige Freiheitlichkeit dieses Priesters einreihen konnte, der Anatole France und Renan gelesen hatte und ruhig, mit Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit über sie sprach. In der Wissenschaft hatte sich der Abbé Corneille zum Gesetz gemacht, sich lieber von denen führen zu lassen, die Bescheid wußten, als von denen, die zu befehlen hatten. Er achtete die Autorität; aber sie stand für ihn nicht auf derselben Stufe wie die Wissenschaft. Fleisch, Geist, Barmherzigkeit: das waren die drei Folgen, die drei Stufen der göttlichen Leiter, der Jakobsleiter.   Natürlich war der biedere Aubert weit davon entfernt, einen solchen Geisteszustand zu verstehen oder auch nur zu ahnen. Der Abbé Corneille sagte leise zu Christof, Aubert erinnere ihn an französische Bauern, die er eines Tages gesehen hatte. Eine junge Engländerin fragte sie nach dem Wege. Sie redete englisch mit ihnen. Ernsthaft hörten sie zu, ohne zu verstehen. Dann sprachen sie französisch. Sie verstand sie nicht. Da sahen sie sich untereinander voller Mitleid an, schüttelten die Köpfe und meinten, indem sie ihre Arbeit wieder aufnahmen: »Das ist wirklich traurig ... Ein so schönes Mädchen! ...« Als hielten sie sie für stumm, taub oder idiotisch ...

In der ersten Zeit, als sich Aubert noch von des Priesters und Watelets Gelehrsamkeit und vornehmem Wesen eingeschüchtert fühlte, schwieg er und sog nur ihre Gespräche in sich ein. Nach und nach mischte er sich dann hinein, wobei er dem kindlichen Vergnügen, sich reden zu hören, nachgab. Er verbreitete sich über seine großherzige und höchst unbestimmte Ideologie. Die beiden anderen hörten ihm höflich mit einem leisen inneren Lächeln zu. Der entzückte Aubert ließ es nicht dabei bewenden; er mißbrauchte bald die unerschöpfliche Geduld des Abbé Corneille. Er las ihm seine Geistesfrüchte vor. Der Priester hörte weiter mit Ergebung zu; und es langweilte ihn nicht einmal allzusehr: denn er hörte weniger die Worte als den Menschen. Und überdies, wie er Christof sagte, der ihn bedauerte:

»Pah ... Ich höre noch ganz andere Sachen an!«

Aubert war Watelet und dem Abbé Corneille dankbar; und ohne daß ihnen viel daran lag, gegenseitig ihre Gedanken zu verstehen, ja nicht einmal sie kennen zu lernen, liebten sie einander schließlich, wußten sie auch kaum, warum. Sie waren selbst ganz erstaunt, daß sie einander so nahe standen. Niemals hätten sie das gedacht.   Christof verband sie.

Er hatte in den drei Kindern, den zwei kleinen Elsbergers und Watelets Adoptivmädelchen, unschuldige Verbündete. Er war ihr Freund geworden; sie liebten ihn über alles. Die Vereinsamung, in der sie lebten, tat ihm leid. Indem er jeder einzelnen immer und immer wieder von ihrer kleinen unbekannten Nachbarin redete, hatte er ihnen den unwiderstehlichen Wunsch eingeflößt, einander zu sehen. Sie machten sich durch die Fenster gegenseitig Zeichen; sie tauschten auf der Treppe flüchtige Worte; unterstützt von Christof, baten sie so lange, bis sie die Erlaubnis erhielten, sich manchmal im Luxembourg zu treffen. Christof war über den Erfolg seiner List so glücklich, daß er sie dort besuchte, als sie das erste Mal beisammen waren. Er traf sie an, linkisch, verlegen, denn sie wußten nicht, was sie mit einem so neuen Glück anfangen sollten. In einem Augenblick hatte er sie miteinander vertraut gemacht; er erfand Spiele, Wettläufe, eine Jagd; er nahm mit einer Leidenschaft daran teil, als wäre er zehn Jahre alt. Die Spaziergänger warfen im Vorübergehen einen belustigten und spöttischen Blick auf den großen Burschen, der mit Geschrei daherrannte und, von drei kleinen Mädchen verfolgt, um die Bäume herumraste. Da aber die immer noch mißtrauischen Eltern sich wenig geneigt zeigten, die Ausflüge nach dem Luxembourg oft erneuern zu lassen (denn sie konnten sie nicht aus nächster Nähe überwachen), fand Christof Mittel und Wege, den Kindern eine Einladung vom Major Chabran, der im Parterre wohnte, zu verschaffen, die ihnen erlaubte, im Garten ihres eigenen Hauses zu spielen.

Der Zufall hatte ihn in Beziehung zum Major gebracht:   der Zufall versteht immer die zu finden, die sich seiner zu bedienen wissen.   Der Arbeitstisch Christofs stand nahe am Fenster. Eines Tages wehte der Wind ein paar Seiten Noten in den Garten hinunter. Christof rannte barhaupt, nachlässig angezogen, wie er war, hinab, um sie zu holen, und gab sich nicht einmal die Mühe, sich vorher abzubürsten. Er meinte, er würde nur mit einem Dienstboten zu tun haben. Das junge Mädchen öffnete ihm selber. Ein wenig verwirrt erklärte er ihr die Veranlassung seines Besuches. Sie lächelte und ließ ihn eintreten. Sie gingen in den Garten. Nachdem er seine Papiere gesammelt hatte, wollte er schleunigst davon; sie begleitete ihn zurück, als sie mit dem Offizier zusammenstießen. Der Major warf einen erstaunten Blick auf den seltsamen Gast. Das junge Mädchen stellte ihn lachend vor:

»Ach, Sie sind es, der Musiker?« sagte der Offizier. »Sehr erfreut. Wir sind Kollegen.«

Er drückte ihm die Hand. Sie plauderten im Tone freundschaftlicher Ironie von den Konzerten, die sie sich gegenseitig gaben, Christof auf seinem Klavier, der Major auf seiner Flöte. Christof wollte fort; der andere aber ließ ihn nicht los; er hatte sich in lange Auseinandersetzungen über Musik gestürzt. Plötzlich brach er ab und sagte:

»Kommen Sie meine Canons ansehen.«

Christof folgte ihm, wobei er sich frug, welches Interesse der Major wohl an seiner Meinung von der französischen Artillerie nehmen mochte. Doch dieser zeigte ihm triumphierend seine musikalischen » Canons«, eine Art von Kunststücken; Kompositionen, die man von hinten nach vorn lesen konnte oder die man vierhändig spielte, indem der eine die vordere, der andere die hintere Seite des Blattes las. Schon als Kriegsschüler hatte der Major an der Musik viel Gefallen gefunden. Was er aber vor allem an ihr liebte, war das Problem; sie schien ihm (was sie in der Tat zu einem Teil ist) eine großartige Übung der Erfindungsgabe und so versuchte er, sich musikalische Konstruktionsrätsel zu stellen und zu lösen, von denen die einen immer ungeheuerlicher und unnützer als die anderen waren. Natürlich hatte er während seiner militärischen Laufbahn nicht viel Zeit gehabt, seinem Hang nachzugehen; seitdem er aber den Abschied genommen hatte, gab er sich ihm leidenschaftlich hin; er verausgabte darin die ganze Tatkraft und den ganzen Scharfsinn, die er früher darauf verwendet hatte, die Rotten der Negerkönige quer durch die Wüsten Afrikas zu verfolgen oder ihren Fallen zu entgehen. Christof machten diese Scharaden Spaß und er stellte seinerseits eine noch verwickeltere auf. Der Offizier war begeistert; sie wetteiferten an Gewandtheit miteinander: von beiden Seiten regnete es nur so von musikalischen Rätseln. Nachdem sie vergnügt miteinander gespielt hatten, stieg Christof wieder in seine Wohnung hinauf. Aber schon am nächsten Morgen bekam er von seinem Hausgenossen ein neues Rätsel zugeschickt, eine wahre Nußknackeraufgabe, an der der Major die halbe Nacht gearbeitet hatte; er antwortete darauf; und der Kampf ging weiter, bis Christof, den die Geschichte schließlich zu Tode langweilte, sich eines Tages für geschlagen erklärte: das machte den Offizier ganz glücklich. Er sah diesen Erfolg als eine Rache an Deutschland an. Er lud Christof zum Essen ein. Der Freimut Christofs, der die Kompositionen des Majors abscheulich fand und sich laut entsetzte, als Chabran auf seinem Harmonium ein Andante von Haydn herunterzumetzeln begann, eroberte ihn vollends. Von dieser Zeit an pflegten sie ziemlich häufig Unterhaltungen miteinander, aber nicht mehr über Musik. Christof konnte den Hirngespinsten seines Nachbarn über diesen Gegenstand nur mittelmäßiges Interesse abgewinnen; so brachte er denn das Gespräch mit Vorliebe auf militärischen Boden; der Major wünschte sich nichts Besseres. Die Musik war für den unglücklichen Mann eine erzwungene Zerstreuung; im Grunde langweilte er sich.

Er ließ sich dazu bewegen, von seinen afrikanischen Feldzügen zu erzählen. Gigantische Abenteuer, die denen eines Pizarro und Cortez würdig waren. Vor dem verdutzten Christof lebte jene wunderbare und barbarische Heldengeschichte wieder auf, von der er nichts wußte und von der die meisten Franzosen selber nichts wußten und in der sich während zwanzig Jahren das Heldentum, die scharfsinnige Kühnheit, die übermenschliche Tatkraft einer Handvoll französischer Eroberer verausgabte, die, im Inneren des schwarzen Kontinents verschlagen, von schwarzen Armeen umgeben, der elementarsten Bewegungsmöglichkeiten beraubt, beständig gegen eine verängstigte öffentliche Meinung und Regierung ankämpften und Frankreich gegen seinen eigenen Willen ein Reich eroberten, das größer als Frankreich selbst war. Ein Hauch von kraftvoller Freude und von Blut stieg aus diesem Kampfe empor; und vor Christofs Augen tauchten aus ihm die Gestalten von modernen Condottieri, von heroischen Abenteurern auf, die man im heutigen Frankreich nicht erwartete und die das heutige Frankreich anzuerkennen errötet, über die es schamvoll einen Schleier wirft. Die Stimme des Majors klang keck und munter, wenn er diese Erinnerungen heraufbeschwor, und er erzählte mit jovialer Launigkeit von jenen langen Raubzügen, jenen blitzschnellen Angriffen, jenen Menschenjagden, in denen er bald Jäger, bald Wild war und bei denen keine Gnade geübt wurde, während er mitten in seine Berichte streng wissenschaftliche Beschreibungen einstreute, genaue und kalte Fachausdrücke.   Christof hörte ihm zu, schaute ihn an und hatte Mitleid mit dem schönen Menschentier, das zur Tatlosigkeit verdammt und dazu gezwungen war, sich in lächerlichen Spielen aufzureiben. Er fragte sich, wie dieser Soldat sich in solches Schicksal habe ergeben können. Er fragte ihn sogar selbst danach. Der Major schien zuerst wenig geneigt, einem Fremden gegenüber sich über seinen Groll auszulassen, aber die Franzosen haben ein schnelles Mundwerk; vor allem wenn es sich darum handelt, einander anzuklagen.

»Was soll ich denn in ihrer jetzigen Armee anstellen? Die Marineleute treiben Literatur, die Infanteristen treiben Soziologie. Sie machen alles, nur keinen Krieg. Sie bereiten ihn nicht einmal vor, sie bereiten sich darauf vor, ihn nicht zu führen; sie treiben Kriegsphilosophie ... Kriegsphilosophie   ein Spiel für geschlagene Esel, die über die Schläge nachsinnen, die sie eines Tages bekommen werden ... Schwätzen, philosophisches Geplapper   nein, das paßt mir nicht. Da gehe ich lieber heim und fabriziere meine Kanons!«

Von den schlimmsten seiner Kümmernisse redete er aus Schamgefühl nicht: der Aufforderung zur Angeberei und dem dadurch unter die Offiziere geworfenen Mißtrauen, von der Demütigung, die unverschämten Befehle irgendwelcher ahnungslosen und bösartigen Politiker ausführen zu müssen, von dem Schmerz des Heeres, zu niedrigen Polizeidiensten mißbraucht zu werden, zur Aufnahme von Kircheninventaren, zur Niederdrückung von Arbeiterstreiken, zu Dienstleistungen im privaten Interesse und für die Rachsucht der gerade herrschenden Partei   jener radikalen und antiklerikalen Spießbürger, die dem übrigen Land gegenüberstanden. Ganz zu schweigen von dem Abscheu dieses alten Afrikaners vor dem neuen Kolonialheer, das sich in der Mehrzahl aus den schlimmsten Elementen der Nation zusammensetzte, damit der Eigennutz und die Feigheit der anderen geschont werde, die sich weigerten, an der Ehre und an den Gefahren teilzunehmen, die die Verteidigung des »größeren Frankreichs« sichern   des Frankreichs jenseits der Meere.

Christof stand es nicht zu, sich in jene französischen Streitigkeiten einzumischen. Das ging ihn nichts an; aber er fühlte mit dem alten Offizier. Was er auch immer vom Kriege dachte, er fand doch, daß eine Armee dazu geschaffen sei, Soldaten hervorzubringen, wie ein Apfelbaum Äpfel, und daß es eine sonderbare Verirrung sei, Politiker, Ästheten und Soziologen hineinzupflanzen. Jedenfalls begriff er nicht, wie dieser kernige Mann seinen Platz den anderen überlassen konnte. Seine Feinde nicht bekämpfen, heißt sein eigener schlimmster Feind werden. In allen Franzosen von einigem Wert lebt ein Geist der Entsagung, ein eigenartiger Verzicht.   Tiefer noch und rührender fand ihn Christof bei der Tochter des Offiziers.

Sie hieß Céline. Sie hatte feine Haare, die wie bei einer Chinesin nach rückwärts gezogen und sorgfältig gekämmt waren und die hohe und runde Stirn nebst dem etwas spitzen Ohr frei ließen, magere Wangen, ein anmutiges Kinn, die Vornehmheit eines Landedelfräuleins, schöne, schwarze, kluge, zutrauliche, sehr sanfte Augen, die Augen von Kurzsichtigen, eine etwas starke Nase, einen kleinen Leberfleck im Winkel der Oberlippe, ein stilles Lächeln, bei dem die stärkere Unterlippe sich mit einer liebenswürdigen kleinen Grimasse vorschob. Sie war gutherzig, tatkräftig, gescheit, aber sehr wenig wißbegierig. Sie las wenig, kannte keines der neuen Bücher, ging nie ins Theater, reiste niemals (das langweilte den Vater, der früher allzuviel herumgereist war), nahm an keiner gesellschaftlichen Wohltätigkeitsaktion teil (ihr Vater verurteilte sie alle), sie versuchte nicht zu studieren (der Vater machte sich über die gelehrten Frauen lustig), sie rührte sich kaum aus ihrem Garten fort, der zwischen den vier großen Mauern wie in einem riesigen Brunnen lag. Und doch langweilte sie sich nicht sehr. Sie beschäftigte sich, wie sie konnte, und schickte sich mit guter Laune in ihr Leben. Sie verbreitete um sich und den kleinen Rahmen, den sich jede Frau unbewußt schafft, wo immer sie sich befindet, eine Atmosphäre, die an Chardin gemahnte: jene laue Stille, jene Ruhe von Gestalten, die in ihrer ganzen, etwas schwerfälligen Haltung die Achtsamkeit für ihre gewohnte Tätigkeit ausdrücken.

Die Poesie des täglichen Einerleis, des gewohnten Lebens, der vorgesehenen Gedanken und Gebärden, vorgesehen für dieselbe Stunde und dieselbe Art und Weise und die man darum doch nicht weniger, sondern mit eindringlicher und stiller Sanftmut liebt; jenes heitere Mittelmaß schöner bürgerlicher Seelen: Anständigkeit, Gewissenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit, Ruhe, ruhiges Arbeiten, ruhiges Vergnügen, und dies alles dennoch poetisch. Eine gesunde Vornehmheit, eine seelische und körperliche Reinlichkeit: sie riecht nach gutem Brot, nach Lavendel, nach Rechtlichkeit und nach Güte. Ein Friede von Dingen und Menschen, der Friede alter Häuser und lächelnder Seelen ...

Christof erweckte mit der eigenen herzlichen Zutraulichkeit auch ihr Zutrauen, und so war er mit ihr sehr gut Freund geworden; sie redeten ziemlich frei miteinander; er stellte ihr schließlich sogar Fragen und sie beantwortete sie zu ihrer eigenen Verwunderung. Sie sagte ihm Dinge, die sie niemand anderem, selbst nicht ihren Vertrautesten, gesagt hätte.

»Das kommt daher,« sagte Christof zu ihr, »weil Sie mich nicht fürchten. Es ist keine Gefahr, daß wir uns lieben: dazu sind wir zu gute Freunde.«

»Wie nett Sie sind!« antwortete sie lachend.

Ihrer gesunden Natur widerstrebte, ebenso wie der Christofs, die verliebte Freundschaft, jene Gefühlsform, die schlüpfrigen Seelen so teuer ist, die in allen ihren Gefühlen die Schleichwege lieben. Sie verkehrten wie gute Kameraden miteinander. Er fragte sie eines Tages, was sie an manchen Nachmittagen tue, wenn er sie stundenlang reglos im Garten auf der Bank sitzen sehe, während sie ihre Arbeit unberührt auf den Knien hielte. Sie errötete und widersprach, daß es nicht Stunden wären, sondern höchstens manchmal ein paar Minuten, ein gutes Viertelstündchen »um in ihrer Geschichte fortzufahren«.

»Welcher Geschichte?«

Der Geschichte, die sie sich selber erzählte.

»Sie erzählen sich Geschichten? Oh, erzählen Sie sie mir auch.«

Sie sagte, er sei allzu neugierig. Sie vertraute ihm nur an, daß es Geschichten wären, die nicht von ihr handelten.

Er wunderte sich:

»Wenn man sich schon Geschichten erzählt, so scheint es mir doch natürlich, sich seine eigene Geschichte, ausgeschmückt, zu erzählen, sich in ein glücklicheres Leben hineinzuträumen.«

»Das könnte ich nicht,« sagte sie. »Wenn ich das täte, würde ich ganz verzweifelt werden.«

Sie errötete von neuem, weil sie ein wenig von ihrer verborgenen Seele verraten hatte, und fuhr fort:

»Und dann, bin ich im Garten und kommt ein Windstoß bis zu mir, dann bin ich ganz glücklich. Der Garten scheint mir lebendig. Und ist der Wind stürmisch, kommt er von weit her, dann sagt er mir so vieles.«

Christof entdeckte trotz ihrer Zurückhaltung den Untergrund von Schwermut unter ihrer guten Laune und ihrer Tatkraft, die zu nichts führte und über die sie sich selbst nicht täuschte. Warum trachtete sie nicht danach, aus diesem Zustande herauszukommen, sich frei zu machen? Sie war für ein tätiges und nützliches Leben wie geschaffen. Aber sie berief sich auf die Liebe ihres Vaters, der es nicht ertragen würde, daß sie sich von ihm trennte. Vergeblich erklärte Christof, daß ein so kraftvoller und schneidiger Offizier ihrer nicht bedürfe, daß ein Mann seines Schlages allein bleiben könne, daß er nicht das Recht habe, ihr Opfer anzunehmen. Sie verteidigte ihren Vater; mit einer frommen Lüge behauptete sie, daß er sie ja nicht zum Bleiben zwinge, daß sie vielmehr sich nicht dazu entschließen könne, ihn zu verlassen.   Und bis zu einem gewissen Grade sprach sie aufrichtig. Es schien für sie, für ihren Vater, für alle in ihrer Umgebung selbstverständlich, daß die Dinge so sein mußten und nicht anders sein konnten. Sie hatte einen verheirateten Bruder, der es ganz natürlich fand, daß sie sich statt seiner für den Vater aufopferte. Er selbst ging ganz in seinen Kindern auf. Er liebte sie eifersüchtig; er ließ ihnen keinerlei Selbstbestimmung. Diese Liebe lastete auf seinem Leben und vor allem auf dem seiner Frau als eine freiwillige Kette, die alle ihre Bewegungen lähmte; es war, als ob man im Augenblick, da man Kinder hatte, sein eigenes Leben abschließen und für immer auf seine Entwicklung verzichten müsse. Der tatkräftige, kluge, noch junge Mann zählte die Arbeitsjahre, die er noch vor sich hatte, ehe er den Abschied nehmen konnte.   Christof fühlte, wie diese ausgezeichneten Leute von der Atmosphäre der Familienliebe bedrückt wurden, die in Frankreich so tief verwurzelt ist, aber erstickend, erschöpfend wirkt. Sie ist um so beklemmender, als die französischen Familien auf ein Mindestmaß beschränkt sind: Vater, Mutter, ein oder zwei Kinder, kaum hier und da ein Onkel und eine Tante. Eine fröstelnde, ängstliche, in sich selbst zusammengekauerte Liebe, die einem Geizigen gleicht, der seine Finger um seine Handvoll Gold preßt.

Ein zufälliger Umstand, der Christof noch mehr zu dem jungen Mädchen hinzog, zeigte ihm diese Gebundenheit französischer Liebe, diese Angst vor dem Leben, die Angst, sich hinzugeben, das zu ergreifen, was einem mit gutem Recht zukommt.

Der Ingenieur Elsberger hatte einen um zehn Jahre jüngeren Bruder, der wie er Ingenieur war. Er war ein braver Bursche, mit einigen künstlerischen Bedürfnissen, wie es viele in den guten bürgerlichen Familien gibt; sie möchten sich wohl gern mit Kunst beschäftigen, aber sie wollen ihrer bürgerlichen Stellung nicht schaden. Eigentlich ist das kein sehr schwieriges Problem; und die meisten Künstler von heute haben es ohne besonderen Wagemut gelöst. Man muß nur wollen; dieses armseligen Kraftaufwandes aber sind nicht alle fähig. Sie sind nicht ganz sicher, ob sie das, was sie möchten, wirklich wollen; und je gesicherter ihre bürgerliche Lage wird, um so leichter sinken sie in ihr geräuschlos und ohne Widerstand unter. An sich wäre daran nichts zu tadeln, wenn sie statt schlechter Künstler gute Bürger abgäben. Aber ihre Enttäuschung läßt nur allzuoft eine geheime Unzufriedenheit zurück, ein » qualis artifex pereo«, das sich einen »philosophischen« Mantel umhängt und ihnen das Leben verbittert, bis die abnützenden Kräfte der Zeit und neue Sorgen die Spur jener alten Bitterkeit verlöscht haben. So war es mit André Elsberger. Er wäre gern literarisch tätig gewesen; aber sein Bruder, der von sehr eigensinniger Denkart war, hatte gewollt, daß er gleich ihm sich der wissenschaftlichen Laufbahn widme. André war intelligent und für die Wissenschaften wie für die Literatur gleichermaßen recht begabt. Er war seines Künstlertums nicht sehr sicher; ganz sicher aber war er, ein Bourgeois zu sein; so hatte er sich denn vorläufig   man weiß, was dieses Wort bedeutet   dem Willen seines Bruders gefügt; er trat mit einer mäßigen Note in die Hauptgewerbeschule ein, verließ sie unter ähnlichen Bedingungen und ging seither gewissenhaft, doch ohne eine tiefere Anteilnahme seinem Ingenieurberuf nach. Natürlich waren ihm auf diese Weise seine geringen künstlerischen Anlagen verloren gegangen; und so sprach er nur noch mit Ironie von ihnen.

»Und dann,« meinte er (Christof erkannte in dieser Schlußfolgerung Oliviers pessimistische Art wieder)   »das Leben ist es nicht wert, daß man sich um einer verpfuschten Laufbahn willen quäle. Ein schlechter Dichter mehr oder weniger ...«

Die beiden Brüder liebten sich; sie waren seelisch vom selben Schlag; aber sie kamen nicht gut miteinander aus. Alle beide waren Dreyfusianer gewesen. Aber André, vom Syndikalismus angezogen, war Antimilitarist, und Elias Patriot. Es kam manchmal vor, daß André Christof besuchte, ohne zu seinem Bruder zu gehen; und Christof wunderte sich darüber: denn es bestand keine große Zuneigung zwischen ihm und André. Dieser redete immer nur, um sich über irgend etwas zu beschweren   was recht ermüdend war; und wenn Christof redete, hörte André nicht zu. So suchte ihm denn Christof nicht zu verbergen, daß ihm seine Besuche lästig seien; der andere kümmerte sich darum aber durchaus nicht, er schien es nicht zu bemerken. Endlich fand Christof des Rätsels Lösung, als er eines Tages sah, daß sein Besucher, aus dem Fenster lehnend, sich weit mehr darum kümmerte, was unten im Garten geschah, als was er zu ihm redete. Er ließ darüber eine Bemerkung fallen und André gab ohne Umstände zu, daß er Fräulein Chabran kenne und daß sie wirklich in den Besuchen, die er Christof mache, eine kleine Rolle spiele. Seine Zunge löste sich und er gestand, daß er dem Mädchen schon lange freundschaftlich zugetan sei und vielleicht noch etwas mehr für sie empfinde. Die Familie Elsberger stand mit der des Majors von alters her in Beziehungen. Nachdem sie sich aber einmal sehr nahe gestanden hatten, waren sie durch die Politik, durch Ereignisse der jüngsten Zeit getrennt worden, und besuchten nun einander nicht mehr. Christof verhehlte nicht, daß er das idiotisch finde. Konnte man nicht verschiedenartig denken, und sich dennoch weiter achten? André bejahte das und beteuerte seine geistige Freiheit; aber er schloß aus seiner Duldsamkeit zwei oder drei Fragen aus, über die man, seiner Meinung nach, nicht anders als er denken dürfe; und er führte den berühmten Dreyfus-Fall an. Daraufhin schwatzte er darüber die üblichen Gemeinplätze. Christof kannte sie bereits: er versuchte nicht darüber zu streiten; aber er fragte, ob diese Angelegenheit nicht eines Tages beendet sein würde oder ob ihr Fluch bis in alle Ewigkeit noch die Kindeskinder der Enkel treffen solle. André begann zu lachen, und ohne Christof zu antworten, stimmte er ein gerührtes Loblied auf Céline Chabran an, wobei er den Eigennutz des Vaters anklagte, der es ganz natürlich fand, daß sie sich für ihn aufopfere.

»Warum heiraten Sie sie nicht,« sagte Christof, »wenn Sie sie lieben und sie Ihre Liebe erwidert?«

André jammerte darüber, daß Céline kirchlich gesinnt sei. Christof fragte, was das ausmachen könne. Der andere erwiderte, daß es bedeute: in die Kirche laufen, alle kirchlichen Vorschriften erfüllen, sich mit einem Gott und seinen Bonzen zusammentun.

»Und was können Sie dagegen haben?«

»Ich habe etwas dagegen, weil ich nicht will, daß meine Frau einem anderen gehört als mir.«

»Wie denn! ... Sie sind sogar auf die Gedanken Ihrer Frau eifersüchtig? Ja, dann sind Sie ja noch eigennütziger als der Major!«

»Sie können leicht reden: würden Sie etwa eine Frau nehmen, die keine Musik mag?«

»Das ist mir schon passiert.«

»Wie kann man miteinander leben, wenn man nicht dasselbe denkt?«

»Kümmern Sie sich doch nicht um Ihre Gedanken. Ach, mein armer Freund, wie wenig bedeuten die Gedanken, wenn man liebt. Geht es mich etwas an, ob die Frau, die ich liebe, die Musik ebenso liebt wie ich? Sie ist für mich die Musik. Wenn man, so wie Sie, das Glück hat, ein liebes Mädchen zu finden, das man liebt und das einen wieder liebt, so möge dieses Mädchen doch glauben, was es will. Und glauben auch Sie, was Sie wollen. Schließlich sind alle eure Gedanken gleich viel wert. Und es gibt nur eine Wahrheit in der Welt, es gibt nur einen lieben Gott: das heißt: einander lieben.«

»Sie reden als Dichter. Sie sehen nicht das wirkliche Leben. Ich kenne zu viele Ehen, die unter solcher geistigen Uneinigkeit zu leiden hatten.«

»Dann liebten sich die Betreffenden nicht genug. Man muß wissen, was man will.«

»Mit dem Willen allein ist es im Leben nicht getan. Wenn ich Fräulein Chabran heiraten wollte, so könnte ich es doch nicht.«

»Ich möchte wissen, warum.«

André sprach von seinen Skrupeln: seine äußere Lage war nicht sicher; er hatte kein Vermögen, eine schwache Gesundheit. Er fragte sich, ob er das Recht habe, unter solchen Bedingungen zu heiraten. Es wäre doch eine große Verantwortlichkeit. Gefährdete er nicht das Glück jener, die er liebte, und das seine dazu   von den künftigen Kindern ganz zu schweigen? ... Besser wäre, zu warten   oder zu verzichten.

Christof zuckte die Achseln:

»Das nennen Sie lieben! Wenn sie liebt, wird sie glücklich sein, alles für den Geliebten tun zu dürfen. Und was die Kinder betrifft, so seid ihr Franzosen lächerlich. Ihr möchtet am liebsten nur dann welche ins Leben setzen, wenn ihr von vornherein sicher seid, kleine fette Rentner aus ihnen machen zu können, die nichts zu erleiden, nichts zu fürchten haben ... Zum Teufel, das geht euch nichts an; ihr habt ihnen nur das Leben zu geben, die Liebe zum Leben und den Mut, es zu verteidigen. Im übrigen ... laßt sie leben, laßt sie sterben ... Das ist das Schicksal aller Menschen. Soll man denn lieber auf das Leben verzichten als die Wagnisse des Lebens erproben?«

Das kräftige Vertrauen, das Christof entströmte, durchdrang André, überzeugte ihn aber nicht. Er sagte:

»Ja, vielleicht haben Sie recht.«

Aber dabei ließ er es bewenden. Gleich den anderen schien er mit der Unfähigkeit geschlagen, kräftig zu wollen und zu handeln.

 

Christof hatte den Kampf gegen jene Trägheit, die er bei der Mehrzahl seiner französischen Freunde fand, aufgenommen. Sonderbarerweise war sie an eine arbeitsame, ja oft fieberhafte Geschäftigkeit gebunden. Fast alle, die er in den verschiedenen bürgerlichen Kreisen, die er besuchte, sah, waren Mißvergnügte. Fast alle hegten denselben Widerwillen gegen die Meister des Tages und ihre verderbte Denkart. Fast alle lebten in dem traurigen und stolzen Bewußtsein, daß die Seele ihrer Rasse verraten sei. Und doch lag in all dem kein persönlicher Groll, keine Bitterkeit besiegter Menschen und Klassen, die von der Macht und vom tatkräftigen Leben ausgeschlossen sind, es hatte nichts mit allen jenen abgesetzten Beamten zu tun, den unverbrauchten Kräften, dem alten Adel, der, auf seine Güter zurückgezogen, sich dort wie ein verwundeter Löwe verbarg, um zu sterben. Ein Gefühl sittlicher Auflehnung lag darin; ein dumpfes, tiefes, allgemeines Gefühl. Man fand es überall in verschiedener Stärke, im Heer, in der Beamtenschaft, auf der Universität, in den Büros, in jedem Triebwerk der Regierungsmaschine. Und doch handelten sie nicht. Sie waren von vornherein entmutigt; sie sagten immer wieder: Es läßt sich nichts machen; oder: Denken wir nicht mehr darüber nach ... Ängstlich wandten sie ihre Gedanken, ihre Gespräche von den traurigen Dingen fort; und sie suchten Zuflucht im häuslichen Leben.

Wenn sie sich wenigstens nur vom politischen Handeln zurückgezogen hätten ... Aber allen diesen anständigen Leuten war nicht einmal daran gelegen, im Kreise ihrer täglichen Arbeit tatkräftig einzugreifen. Sie ertrugen es, mit Elenden zusammengeworfen zu werden, die sie verachteten, und deren Berührung sie beschmutzte, gegen die zu kämpfen sie sich aber wohl hüteten, da sie es im voraus für aussichtslos hielten. Warum z. B. ertrugen jene Künstler und vor allem jene Musiker, die Christof aus der Nähe kennen gelernt hatte, ohne Widerspruch die Unverschämtheit irgend welcher Presseschwätzer, die ihnen Gesetze vorschreiben wollten? Es waren erzdumme Tröpfe darunter, deren Unwissenheit in omni re scibili sprichwörtlich war und die trotzdem mit gebietender Macht in omni re scibili ausgestattet waren. Sie gaben sich nicht einmal die Mühe, ihre Aufsätze und ihre Bücher selbst zu schreiben; sie hatten Sekretäre, arme Hungerleider, die für Brot und Weiber ihre Seele verkauft haben würden, wenn sie eine gehabt hätten. Für niemand in Paris war das ein Geheimnis. Und doch blieben sie auf ihren Thronen sitzen und behandelten die Künstler von oben herab. Christof schrie vor Wut, wenn er manche ihrer Berichte las.

»Sie haben also kein Herz im Leibe!« sagte er. »O, diese Feiglinge!«

»Über wen regst du dich denn auf?« fragte ihn Olivier; »wieder über ein paar Taugenichtse vom Jahrmarktsplatz?«

»Nein, über die anständigen Leute. Die Lumpen treiben ihr Handwerk: sie lügen, sie plündern, sie stehlen, sie morden. Aber die anderen   die sie gewähren lassen, obgleich sie sie verachten   die verachte ich tausendmal mehr. Wenn ihre Kollegen von der Presse, wenn die anständigen und gebildeten Kritiker, wenn die Künstler, auf deren Rücken diese Hanswurste ihre Späße treiben, sie nicht schweigend gewähren ließen, aus Schüchternheit, aus Angst sich bloszustellen oder aus einer schändlichen Berechnung der gegenseitigen freundlichen Schonung, kraft einer Art von geheimem Vertrag, mit dem Feinde abgeschlossen, um gegen seine Schläge gesichert zu sein   wenn sie nicht dulden würden, daß jene sich mit ihrer Gönnerschaft und Freundschaft aufputzten, dann würde diese unverschämte Herrschaft der Lächerlichkeit anheimfallen. In allen Dingen dieselbe Schwäche. Ich habe zwanzig Biedermänner in meiner Gegenwart von irgend einem Individuum sagen hören: Das ist ein Halunke. Aber nicht einer war unter ihnen, der diesem Individuum nicht mit einem »Lieber Kollege« die Hand gedrückt hätte. »Es sind zu viele,« sagen sie.   Ja, zu viele Jammerlappen. Zu viele anständige Feiglinge.«

»Und, was sollen wir denn tun?«

»Schafft selber Ordnung! Worauf wartet ihr? Daß sich der Himmel mit euren Angelegenheiten befasse? Da, sieh mal, gerade jetzt. Seit drei Tagen schneit es. Der Schnee häuft sich in eueren Straßen; er macht aus euerem Paris eine Schlammkloake. Was tut ihr dagegen? Ihr schimpft auf euere Verwaltung, die euch im Dreck läßt. Aber ihr selbst, tut ihr irgend etwas, um dem abzuhelfen? Gott behüte! Ihr legt die Hände in den Schoß. Niemand faßt sich ein Herz und reinigt auch nur das Pflaster vor seinem Hause. Niemand tut seine Pflicht, weder der Staat, noch die Privatleute; beide meinen, sie seien einander nichts schuldig, wenn sie sich gegenseitig die Schuld geben. Ihr seid durch eure jahrhundertealte monarchische Erziehung so daran gewöhnt, nichts aus euch selber heraus zu tun, daß es immer so aussieht, als hieltet Ihr Maulaffen feil und wartetet indessen auf ein Wunder. Das einzige mögliche Wunder würde geschehen, wenn ihr euch zum Handeln entschlösset. Schau, mein kleiner Olivier, Verstand und gute Eigenschaften habt ihr im Überfluß; das Blut aber fehlt euch. Dir zu allererst. Weder der Geist noch das Herz ist bei euch krank. Das Leben ist es. Ihr schwindet hin.«

»Was soll man dabei tun? Man muß abwarten, bis das Leben wiederkehrt.«

»Man muß wollen, daß es wiederkehre. Man muß geheilt werden wollen. Man muß wollen! Und dazu ist es vor allem nötig, daß ihr wieder reine Luft bei euch einlaßt. Will man nicht aus seinem Hause heraus, dann sorge man wenigstens dafür, daß das Haus gesund sei. Ihr habt es durch die Miasmen des Jahrmarkts verpesten lassen. Eure Kunst und euer Denken sind zu zwei Dritteln verfälscht. Und eure Entmutigung ist so tief, daß euch nicht einmal in den Sinn kommt, euch wenigstens dagegen zu empören, kaum daß ihr euch darüber wundert. Manche   das ist ein ganz lächerlicher Anblick  , manche von diesen biederen, eingeschüchterten Leuten reden sich schließlich sogar ein, daß sie selber Unrecht und die Schaumschläger Recht haben. Sind mir nicht solche armen jungen Kerle begegnet   sogar in deiner Zeitschrift » Äsop«, in der ihr euch etwas darauf zugute tut, auf nichts hereinzufallen  , die sich einreden, sie liebten eine Kunst und Ideen, die sie im Grunde nicht lieben? Aus Nachgiebigkeit berauschen sie sich, ohne daß es ihnen Spaß macht; und sie langweilen sich zu Tode in dieser Lüge.«

 

Christof fuhr unter diesen Schwankenden und Niedergeschlagenen einher, gleich dem Wind, der die verschlafenen Bäume rüttelt. Er suchte nicht, ihnen seine Denkart aufzupfropfen; er hauchte ihnen die Kraft ein, selbständig zu denken. Er sagte:

»Ihr seid zu bescheiden. Euer großer Feind ist die Nervenschwäche, der Zweifel. Man kann, man muß duldsam und menschlich sein. Aber man darf nicht an dem, was man für gut und wahr hält, zweifeln. Was man denkt, muß man glauben. Und was man glaubt, muß man behaupten. Welcher Art unsere Kräfte auch sein mögen, wir dürfen niemals abdanken. Der Kleinste in dieser Welt hat eine Pflicht, ebenso wie der Größte. Und   was er sich nicht klar genug macht   er hat auch eine Macht. Glaubt nicht, daß euere Auflehnung nicht zähle ... Ein starkes Selbstbewußtsein, das sich zu bejahen wagt, ist eine Macht. Ihr habt mehr als einmal in den letzten Jahren mit angesehen, wie der Staat und die öffentliche Meinung gezwungen waren, mit dem Urteil eines braven Mannes zu rechnen, der keine anderen Waffen besaß als seine sittliche Stärke, die er mit mutiger und hartnäckiger Beharrlichkeit vor aller Welt bezeugte ...

Und wenn ihr euch fragt, wozu man sich so anstrengen solle, wozu man kämpfen solle   wozu?   nun. so wißt: weil Frankreich stirbt, weil Europa stirbt, weil unsere Zivilisation, das in Jahrhunderten langer Anstrengung von unserer Menschheit bewundernswert aufgebaute Werk, in sich selbst zusammenfallen wird, wenn wir nicht kämpfen. Das ist kein eitles Gerede. Das Vaterland ist in Gefahr, unser europäisches Vaterland, und mehr als jedes andere eures, euer kleines Vaterland: Frankreich. Euere Stumpfheit tötet es, euer Schweigen tötet es. Es stirbt in jeder eurer Energien, die stirbt in jedem eurer Gedanken, der Verzicht leistet, in jeder eurer unfruchtbaren guten Gesinnungen, in jedem Tropfen eures Blutes, der unnütz versickert ... Auf! Es gilt zu leben! Oder, wenn ihr sterben müßt, so habt ihr aufrecht zu sterben.«

 

Das Schwerste aber war noch nicht, sie zum Handeln zu bewegen, sondern sie zu bewegen, gemeinsam zu handeln. In dieser Richtung war nichts mit ihnen anzufangen. Die einen schmollten mit den anderen. Die Besten waren die Widerspenstigsten. Christof hatte ein Beispiel in seinem eigenen Hause: Herr Félix Weil, der Ingenieur Elsberger und der Major Chabran lebten in höflichen und stummfeindlichen Beziehungen miteinander. Und doch war es Christof trotz seiner kurzen Bekanntschaft mit ihnen leicht erkenntlich, daß sie unter der Etikette verschiedener Parteien und Rassen im Grunde alle das Gleiche wollten.

Besonders Herr Weil und der Major hätten vielerlei Gründe gehabt, einander zu verstehen. Weil, der niemals aus seinen Büchern herauskam und einzig ein geistiges Leben führte, war aus einer jener Gegensätzlichkeiten, wie man sie unter den Männern des Gedankens häufig findet, für militärische Dinge begeistert. » Nous sommes tous de lopins,« sagte der Halbjude Montaigne, indem er auf alle Menschen anwandte, was auf gewisse geistige Rassen zutrifft, wie auf die, zu der Herr Weil gehörte. Dieser alte Verstandesmensch trieb einen Napoleonkultus. Er umgab sich mit Berichten und Andenken, aus denen der großartige Traum der kaiserlichen Heldengeschichte wiederauflebte. Gleich vielen Franzosen seiner Dämmerepoche blendeten ihn die fernen Strahlen dieser Siegessonne. Er schuf die alten Feldzüge neu, er lieferte Schlachten, er erörterte die kriegerischen Operationen; er gehörte zu jenen Zimmerstrategen, von denen es in Akademien und Universitäten wimmelt und die Austerlitz erklären und an Waterloo die Fehler nachweisen. Er verspottete als erster diese »Napoleonitis«; seine Ironie kam dabei auf ihre Kosten; aber er berauschte sich darum nicht weniger an jenen schönen Geschichten, wie ein Kind, das spielt. Manche Episoden trieben ihm die Tränen in die Augen: wenn er diese Schwäche merkte, wand er sich vor Lachen und nannte sich ein altes Schaf. In Wahrheit machte ihn weniger die Vaterlandsliebe zum Napoleonschwärmer als eine romantische Begeisterung und platonische Liebe zur Tat. Jedoch war er ein ausgezeichneter Patriot und hing mehr an Frankreich als viele stammesechte Franzosen. Die französischen Antisemiten begehen ebenso eine Schlechtigkeit wie eine Dummheit, wenn sie durch ihre beleidigenden Verdächtigungen die französischen Gefühle der in Frankreich angesessenen Juden entmutigen. Abgesehen davon, daß jede Familie nach zwei oder drei Generationen dem Boden, auf dem sie sich festgesetzt hat, notwendigerweise verwurzelt und das Blut der Erde ihr eigenes Blut geworden ist, haben die Juden ganz besondere Gründe, das Volk zu lieben, das im Abendland die vorgeschrittensten Ideen geistiger und sittlicher Freiheit repräsentiert. Sie lieben es um so mehr, als sie seit hundert Jahren dazu beigetragen haben, daß es so wurde, und als jene Freiheit zum Teil ihr Werk ist. Wie also sollten sie es nicht gegen die Gefahren jeder freiheitswidrigen Reaktion verteidigen? Es hieße jener Reaktion freie Bahn schaffen, wenn man versuchen wollte   wie es eine Handvoll verbrecherischer Politiker und eine Herde dummer Biedermänner möchten   die Bande zu zerreißen, die jene Adoptivfranzosen an Frankreich fesseln.

Der Major Chabran gehörte zu jenen alten, schlecht beratenen Franzosen, die ihre Zeitungen verrückt machen, indem sie ihnen jeden in Frankreich Eingewanderten als einen heimlichen Feind vorstellen; dadurch fühlen sich diese Leute verpflichtet, trotz ihrem von Natur aus wohlwollenden und menschlichen Geiste, zu verdächtigen, zu hassen, sich wie eine Schnecke in ihr eigenes Haus zu verkriechen und die hohe Bestimmung ihrer Rasse, die der Zusammenfluß der Rassen ist, zu verleugnen. So hielt er sich denn auch verpflichtet, den Mieter im ersten Stockwerk zu übersehen, obgleich es sehr einfach gewesen wäre, ihn kennen zu lernen. Herr Weil hätte seinerseits Vergnügen daran gefunden, mit dem Offizier zu plaudern; aber er kannte seinen Nationalismus und verachtete ihn ein wenig.

Christof hatte viel weniger Veranlassung als der Major, sich mit Herrn Weil zu beschäftigen. Aber er konnte es nicht vertragen, wenn man von irgend jemand ungerechterweise schlecht redete. So brach er denn für Weil eine Lanze, wenn man ihn in seiner Gegenwart angriff.

Eines Tages, als der Major wie gewöhnlich gegen die allgemeinen Zustände loswetterte, sagte Christof zu ihm:

»Das ist eure Schuld. Ihr zieht euch alle zurück. Wenn die Dinge in Frankreich nicht nach eurer Phantasie gehen, nehmt ihr mit einem Krach den Abschied. Man könnte meinen, es wäre für euch Ehrensache, euch als Besiegte zu erklären. Niemals hat man jemanden die eigene Sache mit so viel Eifer aufgeben sehen. Schauen Sie, Major, Sie haben ja den Krieg mitgemacht, ist das eine Art, sich zu schlagen?«

»Es ist nicht die Rede davon, sich zu schlagen,« antwortete der Major. »Man schlägt sich ja nicht mit Frankreich. In Kämpfen wie diesen heißt es reden, streiten, wählen, die unangenehme Berührung mit einer Menge von Schuften ertragen: das paßt mir nicht.«

»Sie sind recht zimperlich. In Afrika haben Sie doch noch ganz anderes gesehen.«

»Mein Ehrenwort, das war mir weniger widerlich und dann konnte man ihnen immer eins aufs Maul geben. Übrigens, um sich zu schlagen, braucht man Soldaten. Da unten hatte ich meine Schützen. Hier bin ich ganz allein.«

»Dabei fehlt es doch nicht an braven Leuten.«

»Wo sind sie?«

»Rings um Sie her.«

»Ja, und was tun sie?«

»Sie machen es wie Sie, sie tun nichts, sie sehen, daß man nichts ausrichten kann.«

»Nennen Sie mir einen einzigen.«

»Drei, wenn Sie wollen, und in Ihrem eigenen Hause.«

Christof nannte ihm Herrn Weil (der Major schrie auf) und die Elsbergers (er sprang in die Höhe):

»Dieser Jude?   Diese Dreyfusianer?«

»Dreyfusianer?« sagte Christof. »Nun, was macht das?«

»Die haben Frankreich zugrunde gerichtet.«

»Sie lieben es ebenso wie Sie.«

»Dann sind es Narren, schädliche Narren.«

»Kann man seinen Gegnern nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen?«

»Ich verständige mich durchaus mit anständigen Gegnern, die mit gleichen Waffen kämpfen. Der Beweis ist, daß ich mich mit Ihnen unterhalte, Herr Deutscher. Die Deutschen achte ich, wenn ich auch wünsche, ihnen eines Tages die Tracht Prügel, die sie uns verabfolgt haben, mit Wucherzinsen heimzuzahlen. Aber mit den anderen, den inneren Feinden ist es nicht dasselbe: sie gebrauchen unehrliche Waffen, Sophismen, ungesunde Phantastereien, vergiftete Humanitätsduselei ...«

»Ja, Sie befinden sich in der Geistesverfassung mittelalterlicher Ritter, die zum ersten Mal Kanonen gegenüberstehen. Was wollen Sie da machen; der Krieg ist heute ein anderer.«

»Meinetwegen; dann seien wir aber offen und geben zu, daß es Krieg ist.«

»Angenommen, daß ein gemeinsamer Feind die Zivilisation Europas bedrohte, würden Sie sich dann nicht mit den Deutschen verbünden?«

»Wir haben es in China getan.«

»Schauen Sie doch um sich. Ist nicht Ihr Land, sind nicht alle unsere europäischen Länder augenblicklich im heldenmütigen Idealismus ihrer Rassen bedroht? Sind sie nicht alle mehr oder weniger den Abenteurern aller Kasten zur Beute gefallen? Müßten Sie nicht gegen diesen gemeinsamen Feind Hand in Hand mit denen unter Ihren Gegnern ankämpfen, die Wert und sittliche Kraft haben? Wie kann ein Mann wie Sie so wenig mit der Wirklichkeit rechnen? Da stehen Leute, die gegen Sie ein Ideal verteidigen, das von dem Ihren verschieden ist. Ein Ideal ist eine Macht, das können Sie nicht leugnen; in dem kürzlich ausgefochtenen Kampfe war es das Ideal Ihrer Gegner, das Sie geschlagen hat. Nun, warum, statt sich im Kampf dagegen aufzureiben, bedienen Sie sich nicht seiner, um es zusammen mit dem Ihren, beide Seite an Seite, gegen die Feinde jedes Ideals, gegen die Ausbeuter des Vaterlandes, der Gedankenwelt, gegen die Verderber der europäischen Zivilisation ins Feld zu führen?«

»Und für wen? Darüber muß man sich erst verständigen. Um unseren Gegnern zum Siege zu verhelfen?«

»Als Sie in Afrika waren, haben Sie sich nicht darum gekümmert, ob Sie sich für den König oder die Republik schlügen. Ich bilde mir ein, daß viele unter Ihnen kaum an die Republik gedacht haben.«

»Auf die haben sie gepfiffen.«

»Schön ... Und Frankreich kam es dennoch zugute. Ihr habt für Frankreich erobert und auch für Euch, um der Ehre, um der Lust willen. Nun, warum macht ihr es hier nicht ebenso? Erweitert den Kampf. Zankt euch nicht wegen politischer und religiöser Nichtigkeiten. Das ist alberner Kleinkram. Ob eure Rasse die älteste Tochter der Kirche oder die der Vernunft ist, darauf kommt wenig an. Aber leben soll sie! Alles ist gut, was das Leben steigert. Es gibt nur einen Feind, das ist die genießerische Selbstsucht, die die Quellen des Lebens besudelt und verstopft. Steigert die Kraft, steigert das Licht, steigert die fruchtbare Liebe, die Freude am Opfer, die Tat. Und überlaßt niemals anderen die Sorge, für euch zu handeln. Handelt, handelt, vereint euch! ... Vorwärts!«

Und er begann lachend auf dem Klavier die ersten Takte des Marsches in B-moll aus der Symphonie mit Chören zu pauken.

»Wissen Sie, was,« meinte er, sich unterbrechend, »wenn ich einer eurer Musiker wäre, Charpentier oder Bruneau (der Teufel hole sie!), dann würde ich Ihnen » Aux armes, citoyens! l'Internationale ... Vive Henri IV! Dieu protège la France!«, kurz, alle Kräuter der Johannisnacht in eine chorale Symphonie zusammenbringen (sehen Sie, in der Art wie das da ...)   ich würde Ihnen eine Fischbrühe zusammenbrauen, die Ihnen die Zunge verbrennen sollte. Es würde etwas verteufelt Schlechtes werden (jedenfalls nichts Schlechteres, als was die da machen);   aber ich versichere Ihnen, daß es Ihnen gut einheizen würde und daß Sie wohl oder übel marschieren müßten!«

Er lachte aus vollem Herzen.

Der Major lachte mit.

»Sie sind ein prächtiger Bursche, Herr Krafft. Schade, daß Sie nicht zu uns gehören.«

»Aber ich gehöre zu Ihnen. Überall tobt derselbe Kampf; schließen wir uns zusammen.«

Der Major gab ihm recht; aber dabei blieb es. Dann fing Christof eigensinnig wieder von Weil und den Elsbergers zu reden an. Und der Offizier, nicht weniger eigensinnig, führte von neuem seine ewigen Gründe gegen die Juden und die Dreyfusianer an, ohne daß irgend ein Wort Christofs den geringsten Eindruck auf ihn gemacht zu haben schien.

Christof war darüber betrübt. Olivier sagte zu ihm:

»Gräme dich nicht. Ein einzelner Mann kann nicht mit einem Schlage den ganzen Geisteszustand einer ganzen Gesellschaft ändern. Das wäre zu schön. Aber du tust schon viel, ohne daß du es ahnst.«

»Was tue ich denn?« sagte Christof.

»Du bist Christof.«

»Welchen Vorteil haben die anderen davon?«

»Einen sehr großen; sei nur, was du bist, mein lieber Christof; um uns sorge dich nicht.«

Christof aber wollte sich damit nicht begnügen. Er stritt mit dem Major Chabran weiter und manchmal recht heftig. Céline machte das Spaß. Sie hörte den Gesprächen der beiden zu und arbeitete dabei schweigend. Sie mischte sich nicht in die Auseinandersetzungen; aber sie schien fröhlicher; ihr Blick bekam einen ganz neuen Glanz: es war, als fühle sie mehr Raum, mehr Luft zum Atmen um sich her. Sie begann zu lesen; sie ging ein wenig häufiger aus; sie nahm an mehr Dingen Anteil. Und eines Tages, als Christof gegen ihren Vater zu Gunsten der Elsbergers stritt, sah der Major sie lächeln; er fragte sie, was sie dachte; sie antwortete ruhig:

»Ich denke, daß Herr Krafft recht hat.«

»Das ist doch ein wenig stark ... Nun, ob recht oder unrecht, wie wir sind, so sind wir; wir haben nicht nötig, mit diesen Leuten zusammen zu kommen. Nicht wahr, Töchterchen?«

»Aber doch, Papa,« erwiderte sie, »es würde mir Freude machen.«

Der Major schwieg und tat, als habe er nicht gehört. Er selbst war Christofs Einfluß zugänglicher, als er es zeigen mochte. Trotz der Enge seines Urteils und trotz seiner Heftigkeit besaß er doch einen sehr geraden Sinn und seelische Großzügigkeit. Er liebte Christof, er liebte dessen Freimut und dessen sittliche Gesundheit; es schmerzte ihn oft sehr, daß Christof ein Deutscher war. Wenn er in seinen Auseinandersetzungen mit ihm auch noch so heftig wurde: er suchte diese Auseinandersetzungen; und Christofs Beweisgründe blieben nicht ohne Wirkung. Er hätte sich wohl gehütet, das je anzuerkennen. Eines Tages aber fand ihn Christof, wie er aufmerksam in einem Buch las, das er zu zeigen sich weigerte. Als Céline Christof hinausbegleitete und allein mit ihm war, sagte sie:

»Wissen Sie, was er las?   Ein Buch von Herrn Weil.«

Christof war ganz glücklich.

»Und was sagt er darüber?«

»Er sagt: ›Dieser Kerl!‹   Aber er kann nicht davon loskommen.«

Christof spielte dem Major gegenüber in keiner Weise auf dieses Ereignis an. Schließlich fragte dieser:

»Wie kommt es, daß Sie mich nicht mehr mit Ihrem Juden anöden?«

»Weil es nicht mehr nötig ist,« sagte Christof.

»Wieso?« fragte der Major herausfordernd.

Christof antwortete nicht und ging lachend davon.

 

Olivier hatte recht. Man wirkt nicht mit Worten auf die anderen. Mit seinem Wesen tut man es. Es gibt Leute, die durch ihre Blicke, ihre Gebärden, die schweigende Berührung ihrer heiter-ernsten Seele rings um sich eine Atmosphäre von Frieden verbreiten. Christof strahlte Leben aus. Leise, leise, wie Frühlingswärme drang es durch die alten Mauern und die verschlossenen Fenster des verschlafenen Hauses; es erweckte Herzen zu neuem Leben, die der Schmerz, die Schwäche, die Vereinsamung seit Jahren zerfressen, ausgetrocknet, wie tot zurückgelassen hatten. Macht der Seelen über die Seelen! Die sie erfahren und die sie ausüben, wissen gleichermaßen nichts davon. Und dennoch ist das Leben der Welt aus Ebbe und Flut gemacht, die von jener geheimen Anziehungskraft regiert werden.

Zwei Stockwerke unter der Wohnung von Christof und Olivier lebte, wie wir gesehen haben, eine fünfunddreißigjährige Frau Germain, die, seit zwei Jahren Witwe, vor einem Jahr ihre kleine ungefähr achtjährige Tochter verloren hatte. Sie lebte mit ihrer Schwiegermutter zusammen. Sie sahen niemand. Unter allen Hausmietern hatte sie die geringsten Beziehungen zu Christof gehabt. Sie waren einander kaum begegnet und niemals hatten sie das Wort aneinander gerichtet.

Sie war eine große, magere, ziemlich gutgewachsene Frau mit schönen braunen undurchsichtigen, etwas ausdruckslosen Augen, in denen sich für Augenblicke eine trübe und harte Flamme entzündete, einem wachsgelben Gesicht, platten Wangen und einem zusammengeschrumpften Mund. Die alte Frau Germain war bigott und verbrachte ihre Tage in der Kirche. Die junge Frau verschloß sich eifersüchtig in ihrer Trauer. Sie nahm an nichts und niemand Anteil. Sie umgab sich mit Reliquien und Bildern ihres kleinen Mädchens und starrte diese so unablässig an, daß sie schließlich das Kind selbst nicht mehr sah: die Photographien, die toten Bilder töteten das lebendige Bild in ihr. Sie sah es nicht mehr; aber sie ließ nicht ab, sie wollte einzig und allein an das Kind denken; dadurch kam es schließlich dazu, daß sie nicht einmal mehr ihre Gedanken auf das Kind sammeln konnte: sie hatte das Werk des Todes vollendet. Nun stand sie da, erstarrt, versteinerten Herzens, tränenlos, mit versiegtem Leben. Die Religion war ihr keine Hilfe. Sie erfüllte deren Vorschriften, aber ohne Liebe und folglich ohne lebendigen Glauben; sie gab Geld für Messen aus, nahm aber keinerlei tätigen Anteil an guten Werken; ihre ganze Frömmigkeit ruhte auf dem einzigen Gedanken: das Kind wiedersehen. Was ging sie alles übrige an? Gott? Was hatte sie mit Gott zu schaffen? Das Kind wiedersehen, es wiedersehen ... Und sie war weit davon entfernt, dessen gewiß zu sein. Sie wollte es glauben, wollte es hartnäckig, verzweifelt; und doch konnte sie es nicht.

Andere Kinder zu sehen, war ihr unerträglich; sie dachte:

»Warum sind die nicht gestorben?«

Im selben Stadtviertel lebte ein kleines Mädchen, das in der Gestalt, im Gang dem ihren glich. Wenn sie es mit seinen kleinen Zöpfen von hinten sah, begann sie zu zittern. Sie ging ihm nach; und wenn es sich umwandte und sie sah, daß es nicht ihr Kind war, hätte sie es erwürgen mögen. Sie beschwerte sich, daß die kleinen Elsbergers, obwohl sie ruhig waren und schon durch ihre Erziehung sehr zurückgehalten wurden, Lärm machten; und sowie die armen Kinder in ihrem Zimmer umhertrappelten, schickte sie ihr Dienstmädchen hinauf und ließ um Ruhe bitten. Christof, der ihr einmal begegnete, als er mit den kleinen Mädchen heimkehrte, wurde von dem harten Blick betroffen, den sie auf die Kinder warf.

An einem Sommerabend, als diese lebendige Tote, die sich in das Nichts hineinbannte, an ihrem Fenster in der Dunkelheit saß, hörte sie Christof spielen. Er hatte die Gewohnheit, zu dieser Stunde am Klavier zu träumen. Die Musik ärgerte sie, denn sie drang störend in die Leere, in die sie sich verkrochen hatte. Voller Zorn schloß sie das Fenster. Die Musik verfolgte sie bis ins Zimmer. Frau Germain empfand gegen sie eine Art Haß. Sie hätte Christof am liebsten das Spielen verboten; aber dazu hatte sie kein Recht. Jeden Tag zur selben Stunde wartete sie jetzt mit ärgerlicher Ungeduld, daß das Klavierspiel begänne; und wenn es nicht gleich einsetzte, dann wurde ihre Gereiztheit nur größer. Wider Willen mußte sie die Musik bis zu Ende anhören; und wenn sie aufhörte, wurde es ihr schwer, die gewohnte Empfindungslosigkeit wiederzufinden.   Und eines Abends, als sie in einem Winkel ihres Zimmers kauerte und durch die geschlossenen Fensterläden die ferne Musik, die lichte Musik zu ihr drang, fühlte sie sich erschauern und die Quelle der Tränen begann von neuem zu rinnen. Sie öffnete das Fenster und hörte von nun an weinend zu. Die Musik war wie ein Regen, der Tropfen auf Tropfen ihr vertrocknetes Herz durchdrang und es zu neuem Leben erweckte. Sie sah von neuem den Himmel, die Sterne, die Sommernacht; und wie einen noch fernen Schimmer fühlte sie in sich neue Anteilnahme am Leben aufdämmern, eine unbestimmte und schmerzliche Zuneigung für die anderen. Und nachts erschien ihr zum erstenmal seit Monaten wieder das Bild ihres kleinen Mädchens im Traum.   Denn der sicherste Weg, unseren Toten nahe zu kommen, das Mittel, sie wiederzusehen, ist nicht, wie sie zu sterben, sondern zu leben. Sie leben von unserem Leben und sterben durch unseren Tod.

Sie versuchte nicht Christof zu treffen. Eher vermied sie es. Aber sie hörte ihn auf der Treppe mit den kleinen Mädchen vorbeigehen und sie hielt sich hinter der Tür verborgen, um das kindliche Geplapper zu belauschen, das ihr das Herz bewegte.

Eines Tages, als sie ausging, hörte sie die trippelnden Schrittchen, die etwas lauter als sonst die Treppe hinuntergingen, und dann eine der Kinderstimmen, die zu der kleinen Schwester sagte:

»Mach nicht so viel Lärm, Lucette, du weißt, Christof hat gesagt, wegen der Dame, die Kummer hat.«

Und die andere dämpfte sogleich ihre Schritte und sprach leise. Da konnte Frau Germain nicht mehr ansichhalten. Sie öffnete die Tür, umfing die Kinder und küßte sie leidenschaftlich. Die hatten Furcht; eines der Mädelchen begann zu schreien. Sie ließ sie los und ging wieder hinein.

Wenn sie sie seitdem traf, versuchte sie, ihnen zuzulächeln, wurde es auch nur ein krampfhaftes Lächeln   denn sie hatte es verlernt, zu lächeln  ; sie richtete ein paar rasche und herzliche Worte an sie, auf die die eingeschüchterten Kinder nur mit befangenem Flüstern antworteten. Sie hatten auch jetzt noch Angst vor der Dame   mehr noch als früher; und wenn sie vor ihrer Tür vorbeikamen, so rannten sie jetzt, aus Furcht, daß sie sie erwischen könnte. Sie dagegen versteckte sich, damit sie die Kinder sehen könnte. Sie hätte sich geschämt, wenn man sie, mit ihnen plaudernd, getroffen hätte. Sie schämte sich vor sich selber; ihr war, als stehle sie ihrer kleinen Toten ein wenig von der Liebe, auf die jene ganz allein Anspruch hatte. Sie warf sich auf die Knie und bat sie um Verzeihung. Jetzt aber, da der Trieb zu leben und zu lieben wieder erwacht war, konnte sie nichts gegen ihn ausrichten; er war der Stärkere.

Eines Abends, als Christof heimkehrte, fiel ihm eine ungewohnte Verwirrung im Hause auf. Ein Lieferant, dem er begegnete, teilte ihm mit, daß der Mieter im dritten Stockwerk, Herr Watelet, ganz plötzlich an einer Brustbräune gestorben sei. Christof war voller Mitleid, weniger im Gedanken an seinen unglücklichen Nachbarn als an das Kind, das nun verlassen war. Man kannte keinerlei Verwandte von Watelet und aller Wahrscheinlichkeit nach ließ er es fast ohne alle Mittel zurück. Christof sprang in großen Sätzen hinauf und trat in die Wohnung im dritten Stock ein, deren Tür offen stand. Er fand den Abbé Corneille neben dem Toten und dabei das kleine Mädchen in Tränen, und nach seinem Papa rufend; die Hausmeisterin versuchte ungeschickt, es zu trösten. Christof nahm das Kind auf den Arm und redete ihm zärtlich zu. Die Kleine klammerte sich verzweifelt an ihn; er konnte nicht daran denken, sie so zu verlassen; er wollte sie aus der Wohnung forttragen; aber sie sträubte sich. So blieb er denn bei ihr. Er setzte sich ans Fenster in das Dämmerlicht und wiegte sie weiter in seinem Arm, wobei er ihr sanft zusprach. Das Kind beruhigte sich nach und nach; mitten in seinem Schluchzen entschlummerte es. Christof legte es auf sein Bett und versuchte ungeschickt, es zu entkleiden, die Schnürsenkel der Schuhchen zu lösen. Die Nacht war hereingebrochen. Die Wohnungstür war offen geblieben. Ein Schatten glitt mit einem Rascheln herein. Beim letzten farblosen Schimmer des Tages erkannte Christof die fiebrigen Augen der Frau in Trauer. Er war betroffen. Aufrecht auf der Zimmerschwelle sagte sie mit zusammengeschnürter Kehle: »Ich komme ... Wollen Sie ... Wollen Sie sie mir geben?«

Christof ergriff ihre Hand. Frau Germain weinte, dann setzte sie sich am Kopfende des Bettes nieder. Nach einem Augenblick sagte sie:

»Lassen Sie mich bei ihr wachen.«

Christof stieg mit dem Abbé zu seinem Stockwerk hinauf. Der Priester entschuldigte sich ein wenig verlegen, daß er gekommen war. Er hoffe, sagte er voller Bescheidenheit, daß der Tote es ihm nicht vorwerfen würde: er wäre nicht als Priester, sondern als Freund dort gewesen. Christof war zu bewegt, um zu reden, und verließ ihn mit einem herzlichen Händedruck.

Am nächsten Morgen, als Christof wiederkam, fand er das Kind am Halse Frau Germains, wo es sich mit jenem kindlichen Vertrauen barg, das jene kleinen Wesen sofort denen ausliefert, die ihnen zu gefallen wissen. Sie war bereit, ihrer neuen Freundin zu folgen. Ach, sie hatte ihren Adoptivvater schnell genug vergessen. Sie bezeigte ihrer neuen Mama die gleiche Anhänglichkeit. Das war nicht sehr beruhigend. Merkte es der Liebesegoismus Frau Germains? Vielleicht. Aber was lag daran? Man muß lieben. Darin liegt das Glück ...

Ein paar Wochen nach dem Begräbnis nahm Frau Germain das Kind mit aufs Land, weit von Paris fort. Christof und Olivier waren bei der Abfahrt zugegen. Die junge Frau hatte einen Ausdruck von Frieden und geheimer Freude, den sie nicht an ihr kannten. Sie wurde der beiden nicht gewahr. Im Augenblick der Abfahrt bemerkte sie jedoch Christof, reichte ihm die Hand und sagte:

»Sie haben mich gerettet.«

»Was meint wohl die verrückte Person?« fragte Christof erstaunt, während sie nach Frau Germains Abfahrt die Treppe wieder hinaufstiegen.

Wenige Tage später bekam er durch die Post eine Photographie, die ein kleines, ihm unbekanntes Mädchen darstellte, das auf einem Schemelchen saß, seine Händchen artig auf dem Schoß gefaltet hielt und mit klaren und schwermütigen Augen ihn anschaute. Darüber stand geschrieben:

»Meine kleine Tote dankt Ihnen.«

 

So wehte an allen diesen Leuten ein Hauch neuen Lebens vorüber. Da oben, in der Mansarde des fünften Stockwerks, brannte ein Herdfeuer von weiter und machtvoller Menschlichkeit, dessen Wärme langsam das Haus durchdrang.

Aber Christof merkte es nicht. Ihm ging es zu langsam.

»Ach,« seufzte er, »wenn man doch alle diese braven Leute jedes Glaubens, jeder Klasse, die sich nicht kennen wollen, einander verbrüdern könnte. Hat man denn keinerlei Möglichkeit dazu?«

»Was willst du?« sagte Olivier, »dazu ist eine gegenseitige Duldung und eine Kraft der Zuneigung nötig, die nur aus innerer Freude geboren werden können   aus der Freude eines gesunden, normalen, harmonischen Lebens   aus der Freude an der nützlichen Verwendung der eigenen Tatkraft, aus dem Gefühl, daß die Anstrengungen, die man machte, nicht vergeblich waren, daß man irgend etwas Großem dient. Dazu wäre nötig, daß eine Nation sich wohl befindet, daß das Vaterland in einer Epoche der Größe steht oder, was noch mehr wert ist, auf dem Wege zur Größe ist. Und es müßte außerdem   beides gehört zusammen   eine Gewalt geben, die alle Triebkräfte der Nation in Bewegung zu setzen verstünde, eine kluge und starke Gewalt, die über den Parteien steht. Nun kann es aber keine andere Gewalt oberhalb der Parteien geben als eine, die ihre Kraft aus sich selber zieht und nicht aus dem großen Haufen, eine, die nicht versucht, sich auf die anarchische Majorität zu stützen, wie es heute der Fall ist, wo sie sich den Mittelmäßigen zu Füßen legt, sondern die sich allen durch die geleisteten Dienste aufzwingt: ein siegreicher General, eine Wohlfahrts-Diktatur, eine Oberherrschaft der Intelligenz ... Was weiß ich?   Das hängt nicht von uns ab. Die Gelegenheit muß sich bieten, und es müssen Männer da sein, die sie zu erfassen wissen; Glück und Genie gehören dazu. Warten wir ab und hoffen wir! Die Kräfte sind vorhanden: Kräfte des Glaubens, der Wissenschaft, der Arbeit, des alten und des neuen Frankreichs, des größeren Frankreichs ... Was für ein Wachstum würden wir erleben, wenn das Wort gefallen wäre, das Zauberwort, das alle diese Kräfte vereint entfesseln würde! Freilich, dieses Wort können wir nicht sprechen, weder du noch ich. Wer wird es aussprechen? Der Sieg? Der Ruhm? ... Geduld. Die Hauptsache ist, daß alles Starke in der Rasse sich sammelt, sich nicht selber zerstört, nicht vor der Zeit den Mut verliert. Glück und Genie werden nur den Völkern zuteil, die sie durch Jahrhunderte standhafter Geduld, durch Arbeit und Glauben zu verdienen wußten.«

»Wer weiß,« sagte Christof, »manchmal kommen sie schneller als man glaubt   in einem Augenblick, in dem man sie am wenigsten erwartet. Ihr tafelt schon allzu lange an den Tischen der Jahrhunderte. Bereitet euch. Gürtet eure Lenden. Behaltet stets die Riemen an eueren Füßen und den Stab in eurer Hand ... Denn ihr wißt nicht, ob der Herr nicht heute nacht an eurer Tür vorüberschreitet.«

 

Er schritt in dieser Nacht ganz dicht vorüber. Der Saum seines Schattens streifte die Schwelle des Hauses.

Infolge scheinbar unbedeutender Ereignisse hatten sich die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland plötzlich zugespitzt und binnen zwei oder drei Tagen war man aus dem gewöhnlichen Verhältnis nichtssagender Höflichkeit und guter Nachbarschaft zu dem herausfordernden Ton übergegangen, der dem Krieg vorangeht. Das konnte nur die überraschen, die in der Einbildung leben, daß die Vernunft die Welt regiere. Deren aber gab es viele in Frankreich; und so waren viele ganz verdutzt, als sie die deutsche Presse plötzlich und fast ohne Ausnahme den Ton heftiger Feindschaft gegen Frankreich anschlagen sahen. Gewisse Zeitungen, die sich in beiden Ländern das Monopol des Patriotismus anmaßen, im Namen der Nation sprechen und dem Staat, manchmal in heimlicher Verschwörung mit ihm, die zu befolgende Politik vorschreiben, stellten Frankreich beleidigende Ultimata. Ein Konflikt hatte sich zwischen Deutschland und England erhoben, und Deutschland gewährte Frankreich nicht einmal das Recht, darin Partei zu ergreifen. Seine Zeitungen forderten Frankreich auf, sich für Deutschland zu erklären, und drohten, es andernfalls die ersten Kriegskosten zahlen zu lassen; sie maßten sich an, sein Bündnis zu erpressen, indem sie ihm Furcht einzujagen suchten, und behandelten es im voraus als geschlagenen und gefügigen Vasallen. Daran erkannte man wieder einmal den Größenwahn des deutschen siegestrunkenen Imperialismus und die völlige Unfähigkeit seiner Staatsmänner, andere Rassen zu begreifen, an die sie denselben allgemeinen Maßstab legten, der für sie Gesetz war: das Recht des Stärkeren. Die Wirkung solcher gewalttätigen Zumutung auf eine alte, auf Jahrhunderte des Ruhmes und einer den Deutschen niemals zuteil gewordenen europäischen Vorherrschaft zurückblickende Nation war natürlich das genaue Gegenteil von dem, was man in Deutschland erwartet hatte. Der eingeschlummerte Stolz Frankreichs bäumte sich auf. Es erbebte vom Scheitel bis zur Zehe; und die Gleichgültigsten schrien auf vor Zorn.

Die Masse der deutschen Nation hatte nicht den geringsten Anteil an diesen Herausforderungen, die ihr selber mißfielen: die Biedermänner in jedem Land wollen nichts anderes als in Frieden leben; und die in Deutschland sind besonders friedfertig, wohlwollend, geneigt, sich mit allen gut zu stellen, und weit eher bereit, die anderen zu bewundern und nachzuahmen, als sie zu bekämpfen. Aber man fragt die Biedermänner nicht um ihren Rat, und diese sind nicht kühn genug, ihn zu geben. Solche, die nicht die männliche Gewohnheit öffentlichen Handelns haben, sind unweigerlich dazu verdammt, das Spielzeug der Öffentlichkeit zu sein. Sie sind das prächtige und dumme Echo, das das Zankgeschrei der Presse und die Kampfrufe der Führer zurückwirft und daraus die Marseillaise und die Wacht am Rhein macht.

Für Christof und Olivier war es ein furchtbarer Schlag. Sie waren dermaßen daran gewöhnt, einander zu lieben, daß sie nicht mehr einsahen, warum ihre Länder nicht dasselbe taten. Die Gründe dieser beharrlichen und plötzlich wieder erweckten Feindschaft entgingen ihnen beiden und vor allem Christof, der als Deutscher keinerlei Grund hatte, einem Volk zu grollen, das durch sein Volk besiegt worden war. Wenn er auch selber von dem unerträglichen Hochmut einiger seiner Landsleute verletzt war und in gewisser Weise die Empörung der Franzosen gegen dieses Strafgebot teilte, das sehr an den Braunschweiger und an 1792 erinnerte, so begriff er doch nicht, warum sich Frankreich schließlich nicht dazu verstand, Deutschlands Verbündeter zu werden. Die beiden Länder schienen ihm so viele tiefe Gründe zur Vereinigung zu haben, so viele gemeinsame Gedanken und so große Aufgaben, die es gemeinsam zu erfüllen galt, daß es ihn ärgerte, wenn er sah, wie sie sich in unfruchtbaren Groll verbissen. Wie alle Deutschen sah er Frankreich als den Hauptschuldigen in dem Mißverständnis an: denn gab er auch zu, daß es peinlich sei, als letzte Erinnerung eine Niederlage zu haben, so sah er darin doch nur eine Frage der Eitelkeit, die vor den höheren Interessen der Zivilisation und Frankreichs selber weichen mußte. Er hatte sich niemals die Mühe genommen, über die Elsaß-Lothringische Frage nachzudenken. In der Schule hatte er gelernt, die Einverleibung dieser Länder als eine Tat der Gerechtigkeit anzusehen, die nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft ein deutsches Gebiet dem deutschen Vaterlande wieder zugeführt hatte. So fiel er denn aus allen Wolken, als er merkte, daß sein Freund sie als ein Verbrechen ansah. Er hatte über diese Dinge noch gar nicht mit ihm gesprochen; so sehr war er davon überzeugt, daß sie in ihren Ansichten übereinstimmten. Und jetzt erlebte er es, daß Olivier, dessen Aufrichtigkeit und geistige Freiheit er kannte, ihm ohne Leidenschaft, ohne Zorn, aber mit tiefer Traurigkeit sagte, daß ein großes Volk wohl darauf verzichten könne, ein solches Verbrechen zu rächen, es aber nicht gutheißen könne, ohne sich zu entehren.

Es fiel ihnen sehr schwer, einander zu verstehen. Die historischen Gründe, die Olivier anführte, um das Recht Frankreichs auf Elsaß als auf ein lateinisches Gebiet zu beweisen, machten auf Christof keinen Eindruck; es bestanden ebenso starke Gründe, die das Gegenteil bewiesen: die Geschichte liefert der Politik alle Gründe, deren sie für einen beliebigen Fall bedarf. Weit mehr wurde Christof durch die menschliche und nicht rein französische Seite der Frage getroffen. Ob die Elsässer Deutsche waren oder nicht   darum handelte es sich nicht. Sie wollten es nicht sein; und das allein zählte. Wer hat das Recht zu sagen: »Dieses Volk ist mein: denn es ist mein Bruder?« Wenn der Bruder es leugnet, und hätte er tausendmal unrecht, so fiele doch alle Schuld auf den, der es nicht verstanden hat, die Liebe des anderen zu erwecken, und der also auch kein Recht hat, sich anzumaßen, den anderen an sein Schicksal zu binden. Nach vierzig Jahren von Gewalttätigkeiten, von brutalen oder verhüllten Bedrückungen und sogar nach allen von der genauen und umsichtigen deutschen Verwaltung geleisteten Diensten, die nicht zu leugnen waren, beharrten die Elsässer dabei, keine Deutsche sein zu wollen; und wenn ihr mürber Wille schließlich nachgab, so konnte doch nichts die Leiden von Generationen auslöschen, die dazu gedrängt worden waren, die heimatliche Erde zu verlassen, oder die sie, was noch schmerzlicher war, nicht hatten verlassen können und sich gezwungen sahen, ein ihnen verhaßtes Joch zu tragen, den Diebstahl ihres Landes und die Knechtung ihres Volkes mit anzusehen.

Christof gestand naiv, daß er die Frage von diesem Standpunkt aus noch niemals betrachtet hatte. Und er konnte nicht umhin, sich darüber zu beruhigen. Ein anständiger Deutscher beweist in einer Auseinandersetzung eine Ehrlichkeit, die die leidenschaftliche Eigenliebe eines Lateiners, so aufrichtig dieser sein mag, nicht immer aufbringt. Christof fiel es nicht ein, sich auf das Beispiel ähnlicher Verbrechen zu berufen, die zu allen Zeiten der Geschichte von allen Nationen begangen worden waren. Er besaß zu viel Stolz, um solche demütigende Entschuldigungen zu suchen. Er wußte, daß solche Verbrechen um so abscheulicher sind, je weiter die Menschheit fortschreitet, weil sie in desto schärferem Licht stehen. Aber er wußte auch, daß Frankreich, wenn es seinerseits siegreich wäre, im Siege nicht maßvoller sein würde, als es Deutschland gewesen war, und daß sich der Kette von Verbrechen nur ein neuer Ring einfügen würde. So würde der tragische Streit in alle Ewigkeit fortbestehen und das Beste der europäischen Zivilisation drohte dabei verloren zu gehen.

So beängstigend die Frage für Christof auch war, für Olivier war sie es noch mehr. Nicht genug der Traurigkeit eines brudermörderischen Kampfes zwischen den beiden Nationen, die mehr als alle anderen dazu geschaffen waren, sich zu verbünden. In Frankreich selber schickte ein Teil der Nation sich an, gegen den andern zu kämpfen. Seit Jahren verbreiteten sich die antimilitaristischen und Friedenslehren und wurden gleichzeitig von den edelsten und den niedrigsten Bestandteilen der Nation unterstützt. Der Staat hatte sie mit dem entnervten Dilettantismus, den er allen Angelegenheiten gegenüber bewies, die nicht unmittelbar im Interesse der Politiker lagen, lange Zeit gewähren lassen; und er bedachte nicht, daß es weniger gefährlich wäre, die gefährlichste Lehre offen zu unterstützen, als sie in die Adern der Nation eindringen zu lassen, wo sie den Krieg unmöglich machte, indessen man ihn vorbereitete. Jene Lehre sprach zu den freien Geistern, die von der Gründung eines brüderlichen Europa träumten und zum Aufbau einer gerechteren und menschlicheren Welt ihre Kräfte vereinten. Und sie sprach auch zum feigen Eigennutz des Gesindels, das seine Haut für niemand und für nichts in der Welt zu Markte tragen wollte.   Dergleichen Gedanken hatten Olivier und viele seiner Freunde beeinflußt. Ein oder zwei Mal hatte Christof in seinem Hause Unterredungen mit angehört, die ihn verblüfft hatten. Der gute Mooch, der voller menschenfreundlicher Illusionen steckte, sagte mit glänzenden Augen und großer Sanftmut, daß man den Krieg verhindern müsse und daß das beste Mittel dazu wäre, die Soldaten aufzuhetzen, sich zu empören und nötigenfalls sogar auf ihre Vorgesetzten zu schießen: er verbürge sich für das Gelingen. Der Ingenieur Elias Elsberger antwortete ihm mit kalter Heftigkeit, daß, falls der Krieg ausbräche, er und seine Freunde nicht zur Grenze ziehen würden, bevor sie mit ihren inneren Feinden abgerechnet hätten. André Elsberger nahm Moochs Partei. An einem anderen Tage überraschte Christof die beiden Brüder bei einem furchtbaren Auftritt. Sie drohten, einander erschießen zu lassen. Trotz dem scherzhaften Ton, mit dem diese mörderischen Worte gewechselt wurden, hatte man das Empfinden, daß sie beide nichts sagten, was sie auszuführen nicht entschlossen wären. Christof stand voll Erstaunen vor diesem absurden Volk, das immer bereit war, sich selber für Ideen zu morden ... Narren ... Narren der Logik. Das sind die Rechten. Jeder sieht nur die eigene Idee und will, ohne einen Schritt vom Wege abzuweichen, bis ans Ende gehen. Und es führt zu gar nichts: denn sie vernichten sich nur alle untereinander. Die Menschheitsfreunde bekriegen die Patrioten, die Patrioten bekriegen die Menschheitsfreunde. Unterdessen kommt der Feind und zermalmt gleichzeitig das Vaterland und die Menschheit.

»Ja aber,« fragte Christof André Elsberger, »habt ihr euch denn mit den Proletariern der anderen Völker verständigt?«

»Einer muß doch anfangen. Dieser eine müssen wir sein. Wir waren immer die ersten. Uns ziemt es, das Zeichen zu geben.«

»Und wenn die anderen nicht darauf eingehen?«

»Sie werden darauf eingehen.«

»Habt ihr Verträge, einen vorgezeichneten Plan?«

»Was brauchen wir Verträge? Unsere Kraft ist allen diplomatischen Verhandlungen überlegen.«

»Es handelt sich hier nicht um Ideologie, sondern um Strategie. Wenn ihr den Krieg töten wollt, lernt vom Kriege seine Methoden. Stellt euren Schlachtplan in beiden Ländern auf. Kommt überein, daß an einem bestimmten Datum euere vereinten Truppen in Frankreich und Deutschland diese oder jene Tat ausführen werden. Wie aber soll etwas Gutes entstehen, wenn ihr euch auf den Zufall verlaßt? Auf der einen Seite der Zufall, auf der anderen ungeheure, organisierte Kräfte   das Ergebnis ist gewiß: ihr werdet zermalmt werden.«

André Elsberger hörte nicht. Er zuckte die Achseln und begnügte sich mit unbestimmten Drohungen: eine Handvoll Sand am rechten Platz, sagte er, sei ausreichend, die ganze Maschine zu zerbrechen.

Aber es ist etwas anderes, müßig und theoretisch zu streiten oder seine Gedanken in die Tat umsetzen zu müssen, vor allem wenn es gilt, sofort Partei zu ergreifen ... Furchtbare Stunde, in der die große Woge durch die Tiefe menschlicher Herzen braust. Man glaubt sich frei, Herr seines Denkens. Und man wird wider Willen fortgerissen. Ein dunkler Wille streitet gegen den eigenen Willen. Und da entdeckt man: was wirklich besteht, das bist nicht du, das ist jene unbekannte Kraft, deren Gesetze den ganzen menschlichen Ozean regieren. Die gefestigten Intelligenzen fühlten, wie ihre Überzeugung, deren sie sich so sicher geglaubt hatten, sich beim Hauch der Wirklichkeit auflöste, schwankte, zitterte vor einem Entschluß und entschlossen sich oft zu ihrer eigenen großen Überraschung in einem ganz anderen Sinn, als sie vorher gemeint hatten. Manche unter den glühendsten Bekämpfern des Krieges fühlten mit unerwarteter Leidenschaft in sich einen kräftigen Nationalstolz und die Leidenschaft für das Vaterland aufwachen. Christof sah Sozialisten und sogar revolutionäre Syndikalisten, die zwischen diesen einander feindlichen Leidenschaften und Pflichten hin und her gezerrt wurden. In den ersten Stunden des Konfliktes, in denen er noch nicht an den Ernst der Angelegenheit glaubte, sagte er zu André Elsberger mit seiner deutschen Ungeschicklichkeit, daß jetzt der Augenblick gekommen wäre, Andrés Theorieen anzuwenden, wenn dieser nicht wolle, daß Deutschland Frankreich einstecke. Der andere fuhr auf und erwiderte voll Zorn:

»Versucht es nur ... Kerls, die ihr es nicht einmal fertig bringt, eurem Kaiser das Maul zu stopfen und das Joch abzuschütteln, obgleich ihr eure allerheiligste und sozialistische Partei habt mit ihren 400 000 Anhängern und ihren 3 Millionen Wählern. Wir wollen es schon fertig bringen! Steckt uns nur ein! Wir werden euch einstecken.«

Je mehr sich die Erwartung steigerte, um so mehr glomm das Fieber in allen. Für André war es eine Marter. Eine Überzeugung als wahr erkennen und sie nicht verteidigen können ... Und sich dann noch von jener seelischen Epidemie angesteckt fühlen, die in den Völkern den mächtigen Wahnsinn der Kollektivgedanken verbreitet, den Odem des Krieges! Er wirkte in allen den Leuten, die um Christof waren und in Christof selber. Sie redeten nicht mehr miteinander. Sie hielten sich fern voneinander. Aber es war unmöglich, lange in diesem Zustand der Ungewißheit zu bleiben. Der Sturmwind der Tat warf wohl oder übel die Unentschlossenen in die eine oder die andere Partei. Und eines Tages, als man sich am Vorabend des Ultimatums glaubte, als in beiden Ländern alle Triebfedern der Tat gespannt, zum Morde bereit waren, merkte Christof, daß alle ihre Wahl getroffen hatten, außerhalb des Hauses, wie innerhalb. Alle feindlichen Parteien schlossen sich aus innerstem Antrieb um die verhaßte oder verachtete Regierung zusammen, die Frankreich repräsentierte. Nicht allein die Biedermänner; die Ästheten, die Meister der entarteten Kunst, schoben in ihre schmutzigen Novellen Bekenntnisse eines patriotischen Glaubens ein. Die Juden redeten davon, den geheiligten Boden der Ahnen zu verteidigen. Wenn man nur das Wort Fahne aussprach, traten Hamilton Tränen in die Augen. Und alle waren aufrichtig, alle von der Ansteckung erfaßt. André Elsberger und seine syndikalistischen Freunde ebenso wie die anderen   mehr noch als die anderen: vom Zwang der Dinge überwältigt, zu einer Parteinahme genötigt, die sie verabscheuten, entschlossen sie sich zu ihr mit einer düsteren Wut, einer pessimistischen Erbitterung, die aus ihnen rasende Werkzeuge der Tat machte. Der Arbeiter Aubert, der zwischen seinem angelernten Menschheitsglauben und seinem instinktiven Patriotismus hin und her gezerrt wurde, verlor darüber beinahe den Kopf. Nach mehreren schlaflosen Nächten hatte er schließlich eine Formel gefunden, die alles einrichtete   nämlich, daß Frankreich das Synonym für Menschheit sei. Seither sprach er nicht mehr mit Christof, dem fast alle im Hause ihre Tür verschlossen hatten. Selbst die vortrefflichen Arnauds luden ihn nicht mehr ein. Sie trieben weiter Musik, umgaben sich mit Kunst; sie suchten zu vergessen, was alle gemeinsam beschäftigte. Aber sie dachten fortwährend daran. Einzeln drückte ein jeder von ihnen Christof herzlich die Hand, wenn er ihm begegnete. Aber man tat es hastig und heimlich. Und wenn Christof sie am selben Tag zusammen sah, gingen sie verlegen grüßend, ohne stehen zu bleiben, an ihm vorüber. Dagegen näherten sich Menschen einander unvermittelt, die seit Jahren nicht mehr miteinander geredet hatten. Eines Abends winkte Olivier Christof ans Fenster und zeigte ihm wortlos im Garten unten die Elsbergers, die mit dem Major Chabran sprachen.

Christof fiel es nicht ein, über eine solche Revolution in den Geistern in Verwunderung zu geraten. Er war mit sich selbst genug beschäftigt. Ein Aufruhr bereitete sich in ihm vor, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Olivier, der mehr Grund zur Aufregung gehabt hätte, war ruhiger als er. Von allen, die Christof sah, war er der einzige, der vor der Ansteckung bewahrt geblieben schien. So bedrückt er auch durch die Erwartung des nahen Krieges und durch die Furcht vor den inneren Streitigkeiten war, die er trotz allem voraussah, kannte er die Größe der beiden feindlichen Überzeugungen, die früher oder später in Kampf miteinander geraten mußten. Er wußte auch, daß es Frankreichs Rolle ist, das Versuchsfeld für den menschlichen Fortschritt zu sein, und daß alle neuen Ideen, um zu blühen, mit Frankreichs Blut getränkt sein müssen. Persönlich verwehrte er es sich, in dem Durcheinander Partei zu ergreifen. In diesem Gegeneinanderwüten der Zivilisation hätte er gern Antigones Wahlspruch gesprochen: »Nicht für den Haß, für die Liebe bin ich geschaffen.« Für die Liebe und für die Weisheit, die eine andere Form der Liebe ist. Sein Empfinden für Christof hätte genügt, ihn über seine Pflicht aufzuklären. Zu jener Stunde, da Millionen Wesen sich zum Haß bereiteten, fühlte er, daß Pflicht und Glück zweier Seelen, wie der seinen und Christofs, darin bestand, einander zu lieben und im allgemeinen Wirbel die eigene Vernunft unversehrt zu bewahren. Er dachte an Goethe, der sich 1813 geweigert hatte, an der Bewegung des haßerfüllten Freiheitsdranges teilzunehmen, der Deutschland damals gegen Frankreich warf.

Auch Christof fühlte dies alles; und doch war er nicht ruhig. Er, der gewissermaßen aus Deutschland desertiert war, der nach Deutschland nicht zurückkehren konnte, er, der mit der europäischen Denkart der großen Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts genährt war, die seinem alten Freund Schulz so teuer gewesen waren, und der den Geist des neuen militaristischen und merkantilen Deutschlands verabscheute, er fühlte, wie sich ein Unwetter von Leidenschaften in ihm erhob. Und er wußte nicht, nach welcher Seite es ihn reißen würde. Er sagte davon nichts zu Olivier; aber er verbrachte seine Tage in Angst, auf der Lauer nach Nachrichten. Heimlich suchte er seine Sachen zusammen, packte seinen Koffer. Er überlegte nicht. Er konnte nicht anders. Olivier beobachtete ihn besorgt, ahnte den Kampf, der in seinem Freunde tobte; und er wagte nicht, ihn zu befragen. Sie empfanden das Bedürfnis, sich einander noch mehr als gewöhnlich zu nähern, sie liebten einander mehr als jemals; aber sie fürchteten sich davor, miteinander zu reden; sie zitterten davor, ineinander eine Verschiedenartigkeit des Denkens zu entdecken, die sie von neuem getrennt hätte, so wie es vor kurzem durch ein Mißverständnis geschehen war. Oft begegneten sich ihre Augen mit einem Ausdruck besorgter Zärtlichkeit, als wären sie am Vorabend einer Trennung für immer. Und sie schwiegen bedrückt.

Während dieser traurigen Tage ließen indessen die Arbeiter auf dem Dache des im Bau begriffenen Hauses an der anderen Hofseite unter strömendem Regen die letzten Hammerschläge niedersausen; und Christofs Freund, der schwatzlustige Dachdecker, schrie ihm lachend von weitem zu: »Immerhin, mein Haus ist fertig!«

 

Glücklicherweise ging das Gewitter ebenso schnell vorüber wie es gekommen war. Die offiziellen Nachrichten verkündeten wie ein Barometer die Wiederkehr des schönen Wetters. Die bissigen Pressehunde wurden wieder in ihren Stall gesperrt. In wenigen Stunden entspannten sich die Seelen. Es war an einem Sommerabend. Christof brachte atemlos Olivier die gute Nachricht. Überglücklich, fühlte er seine Brust befreit. Olivier betrachtete ihn lächelnd, ein wenig traurig. Und er wagte nicht, ihm eine Frage zu stellen, die er auf dem Herzen hatte; er sagte:

»Nun, hast du gesehen, wie alle jene Leute, die einander nicht verstanden, sich geeint haben?«

»Ich habs gesehen,« sagte Christof guter Laune; »ihr seid Schelme ... Ihr schreit einander an. Im Grunde aber seid ihr einig.«

»Man könnte meinen,« sagte Olivier, »daß du darüber glücklich bist.«

»Warum nicht? Weil diese Einigkeit auf meine Kosten geht? ... Bah ... Ich bin stark genug! ... Und dann, es tut so gut, zu fühlen, wie euch der Sturzfall mit fortreißt, wie die Dämonen in eueren Herzen erwachen ...«

»Mir flößen sie Entsetzen ein,« sagte Olivier; »ich ziehe die ewige Einsamkeit vor, wenn die Einigkeit meines Volkes um diesen Preis zustande kommt.«

Sie schwiegen; und weder der eine noch der andere wagte, das zu berühren, was sie bewegte. Schließlich machte Olivier eine Anstrengung und fragte mit zugeschnürter Kehle:

»Sage mir offen, Christof, du wolltest fort?«

Christof antwortete:

»Ja.«

Olivier hatte die Antwort im voraus gewußt; und doch war sie seinem Herzen ein Schlag. Er sagte:

»Wie, Christof, du hättest es fertig gebracht?«

Christof strich mit der Hand über die Stirn und sagte:

»Sprechen wir nicht mehr davon, ich will nicht mehr daran denken.«

Olivier wiederholte schmerzvoll:

»Du hättest gegen uns gefochten?«

»Ich weiß nicht, ich habe mich nicht gefragt.«

»In deinem Herzen aber hattest du gewählt?«

Christof sagte:

»Ja.«

»Gegen mich?«

»Niemals gegen dich. Du bist mein. Wo ich bin, bist auch du.«

»Aber gegen mein Land?«

»Für mein Land.«

»Das ist etwas Furchtbares,« sagte Olivier; »ich liebe mein Land, wie du das deine liebst; ich liebe mein teueres Frankreich; aber kann ich um seinetwillen meine Seele töten, mein Gewissen verraten? Das hieße, mein Vaterland selber verraten. Wie könnte ich ohne Haß hassen? Oder ohne Lüge eine Komödie des Hasses spielen? Der moderne Staat hat ein abscheuliches Verbrechen begangen   ein Verbrechen, das ihn zerschmettern wird  , als er sich anmaßte, an sein erzenes Gesetz die freie Kirche der Geister zu schmieden, deren Lebenssaft Verstehen und Lieben ist. Möge Cäsar Cäsar sein, aber er behaupte nicht, er sei Gott. Möge er unser Geld, unser Leben nehmen: er hat kein Recht auf unsere Seelen; er wird sie nicht mit Blut besudeln. Wir sind in diese Welt gesetzt, um das Licht in ihr zu verbreiten, nicht um es auszulöschen. Jeder hat seine Pflicht ... Will Cäsar den Krieg, so möge Cäsar die Heere schaffen, um ihn zu führen, Heere, wie einstmals, als der Krieg Beruf war. Ich bin nicht so töricht, meine Zeit damit zu verlieren, vergeblich gegen die Gewalt zu jammern. Aber ich gehöre nicht zum Heere der Gewalt. Ich gehöre zum Heere des Geistes; darin stelle ich mit Tausenden von Brüdern Frankreich dar. Möge Cäsar die Erde erobern, wenn er will ... Wir werden die Wahrheit erobern.«

»Um zu erobern,« sagte Christof, »muß man siegen, muß man leben. Die Wahrheit ist kein hartes Dogma, das vom Gehirn ausgeschieden wird, wie Stalaktiten von den Wandungen einer Grotte. Wahrheit ist Leben. Nicht in eurem Kopf dürft ihr sie suchen; sondern im Herzen der anderen. Vereint euch mit ihnen. Denkt alles, was ihr mögt, aber nehmt jeden Tag ein Bad der Menschlichkeit. Man muß im Leben der anderen leben und sein Schicksal tragen und lieben.«

»Unser Schicksal ist, zu sein, was wir sind. Es hängt nicht von uns ab, gewisse Dinge zu denken oder nicht zu denken, selbst wenn sie gefährlich sind. Wir sind auf einer Stufe der Zivilisation angelangt, auf der wir nicht mehr umkehren können.«

»Ja, ihr seid an den äußersten Rand der Hochfläche der Zivilisation gelangt, zu der gefährlichen Stelle, die ein Volk nicht erreichen kann, ohne vom unwiderstehlichen Drange erfaßt zu werden, sich hinunter zu stürzen. Religion und Triebe sind in euch geschwächt. Ihr seid nur noch Verstand, nur noch Argumentiermaschine ... Achtung! Der Tod kommt!«

»Er kommt über alle Völker: das ist nur eine Frage von Jahrhunderten.«

»Willst du die Jahrhunderte verachten? Das ganze Leben ist eine Frage von Tagen und Stunden. Nur solche Narren der Abstraktion wie ihr wollen sich ins Absolute setzen, anstatt den vorübereilenden Augenblick zu erfassen.«

»Was willst du? Die Flamme verbrennt den Docht. Man kann nicht sein und gleichzeitig gewesen sein, mein armer Christof.«

»Man muß sein.«

»Es ist groß, etwas Großes gewesen zu sein.«

»Das ist nur dann groß, wenn es noch gewürdigt werden kann von Menschen, die leben und groß sind.«

»Gehörtest du nicht dennoch lieber zu den Griechen, die heute tot sind, als zu vielen der Völker, die heute vegetieren?«

»Ich bin lieber der lebendige Christof.«

Olivier brach die Auseinandersetzungen ab. Zwar hätte er noch Vieles zu erwidern gehabt. Aber es lag ihm nichts daran. Während der ganzen Erörterung dachte er nur an Christof. Seufzend sagte er:

»Du hast mich weniger lieb, als ich dich.«

Christof faßte zärtlich seine Hand:

»Lieber Olivier,« sagte er; »ich habe dich lieber als mein Leben. Aber verzeih mir, ich liebe dich nicht mehr als das Leben, als die Sonne unserer Rassen. Mir schaudert vor der Nacht, in die euer falscher Fortschritt mich zieht. Alle euere Worte des Verzichts verdecken dasselbe buddhistische Nirwana. Nur die Tat ist lebendig, selbst wenn sie tötet. Wir haben in dieser Welt nur die Wahl zwischen der Flamme, die verzehrt, und der Nacht. Trotz der schwermütigen Süßigkeit der Träume, die der Dämmerung vorangehen, will ich diesen Frieden nicht, der ein Vorläufer des Todes ist. Mir graust vor der Stille unendlicher Räume. Werft neue Holzstöße ins Feuer! Noch mehr! Noch mehr! Und mich dazu, wenn es sein muß. Ich will nicht, daß das Feuer verlösche. Wenn es verlischt, ist es um uns geschehen, ist es um alles Bestehende geschehen.«

»Ich erkenne deine Stimme,« sagte Olivier. »Sie kommt aus den Tiefen einer barbarischen Vergangenheit.«

Er nahm von einem Fach ein Buch indischer Dichter und las die erhabene Rede des Gottes Krischna:

»Stehe auf und kämpfe mit einem entschlossenen Herzen. Gleichgültig gegen Lust und Schmerz, gegen Gewinn und Verlust, gegen Sieg und Niederlage, kämpfe mit allen deinen Kräften.«

Christof riß ihm das Buch aus der Hand und las:

»Nichts in der Welt zwingt mich zur Tat: nichts besteht, das nicht mein ist; und dennoch fliehe ich die Tat nicht. Wenn ich nicht unablässig handelte, nicht den Menschen ein Beispiel damit gäbe, dem sie folgen müssen   alle Menschen würden zugrunde gehen. Unterließe ich auch nur einen Augenblick zu handeln, so würde ich die Welt ins Chaos versenken und ich wäre der Mörder des Lebens.«

»Des Lebens,« wiederholte Olivier. »Was ist das Leben?«

»Eine Tragödie,« ... rief Christof. »Hurra ...«

 

Die Woge verebbte. Alle beeilten sich, wie in einer heimlichen Angst, zu vergessen. Keiner schien sich mehr des Vorgefallenen zu erinnern. Und doch merkte man, sie dachten noch daran; man merkte es an der Freude, mit der sie das Leben wieder aufnahmen, das gute tägliche Leben, dessen ganzen Wert man nur fühlt, wenn es bedroht ist. Wie nach jeder Gefahr ließ man sichs jetzt doppelt wohl sein.

Christof hatte sich mit Feuereifer in sein Schaffen zurückgestürzt. Er riß Olivier mit sich. Sie hatten sich aus Widerspruch gegen die düsteren Gedanken daran gemacht, gemeinsam ein Rabelaissches Heldengedicht zu entwerfen. Es war von jenem breiten Materialismus gefärbt, der auf Zeiten seelischen Druckes folgt. Den sagenhaften Helden   Gargantua, Bruder Hans, Panurge   hatte Olivier unter Christofs Anregung eine neue Gestalt zugesellt, einen Bauern, Jacques Patience, einen harmlosen, gewitzten, verschmitzten, ergebenen Menschen, der das Spielzeug der anderen ist, geschlagen, geplündert wird und alles geschehen   seine Frau küssen, seine Felder verwüsten   läßt, nicht müde wird, die Ordnung in seinem Hause wiederherzustellen und seinen Boden zu bebauen   gezwungen wird, den anderen in den Krieg zu folgen, wo ihm alles aufgeladen wird, wo er alle Schläge bekommt und er es gehen läßt, wies geht   er wartet ab, belustigt sich an den Plünderungen seiner Herren und den empfangenen Schlägen und sagt sich: »Sie werden nicht ewig dauern«; er sieht den endlichen Fall voraus, späht mit einem Seitenblick danach aus und lacht schon im voraus mit seinem großen schweigsamen Munde. Eines schönen Tages ertrinken Gargantua und Bruder Hans in der Tat auf einem Kreuzzuge. Patience betrauert sie ehrlich, tröstet sich fröhlich, rettet den ertrinkenden Panurge und sagt: »Ich weiß wohl, daß du mir noch Streiche spielen wirst; du führst mich nicht hinters Licht; aber ich kann dich nicht entbehren: du tust meinem Zwerchfell wohl; du bringst mich zum Lachen.«

Zu dieser Dichtung komponierte Christof große symphonische Bilder mit Soli und Chören, heroisch-komische Schlachten, ausgelassene Kirmessen, Gesangsschnurren, Madrigale à la Jannequin von ungeheuerer kindlicher Lustigkeit, einen Seesturm, die versunkene Stadt und ihre Glocken und zum Schluß eine pastorale Symphonie, erfüllt von der Luft der Felder, von ernster Heiterkeit der Flöten und Hoboen und der Volkslieder des alten klarherzigen Frankreichs!   Die beiden Freunde arbeiteten in einem beständigen Hochgefühl. Der schwächliche Olivier mit seinen blassen Wangen nahm gleichsam ein Bad in Christofs Gesundheit. Wirbelwinde fegten durch ihre Mansarde. Eine Trunkenheit ohne Gleichen ... Mit dem Herzen seines Freundes schaffen ... Die Umarmung zweier Liebenden ist nicht wonnevoller und glühender als diese Paarung befreundeter Seelen. Sie waren schließlich so ganz ineinander verschmolzen, daß manchmal dieselben Gedankenblitze sie gleichzeitig überfielen. Oder Christof schrieb auch wohl die Musik eines Auftritts, zu dem Olivier gleich darauf die Worte fand. Er riß ihn in seinem mächtigen Kielwasser mit sich fort. Sein Geist bedeckte und befruchtete ihn.

Dem Schaffensglück gesellte sich die Freude am Sieg. Hecht hatte sich soeben entschlossen, den »David« zu veröffentlichen, und die gut eingeführte Partitur fand im Auslande sofort Widerhall. Ein großer Kapellmeister und Wagnerianer, ein Freund Hechts, der in England ansässig war, begeisterte sich für das Werk; er hatte es in mehreren seiner Konzerte aufgeführt und zwar mit einem Erfolg, der samt der Begeisterung des Kapellmeisters nach Deutschland zurückstrahlte, wo man den »David« ebenfalls spielte. Der Kapellmeister hatte sich mit Christof in Verbindung gesetzt. Er hatte ihn um andere Arbeiten gebeten, er hatte ihm seine Dienste angeboten, er machte hartnäckig für ihn Propaganda. Man grub in Deutschland die »Iphigenie« wieder aus, die früher ausgepfiffen worden war. Man verkündete mit lautem Geschrei das Genie. Manche Lebensumstände Christofs trugen durch ihren romantischen Charakter noch dazu bei, die Aufmerksamkeit zu reizen. Die Frankfurter Zeitung veröffentlichte als erste einen weithin schallenden Artikel. Andere folgten. Darauf fiel es einigen in Frankreich ein, daß ein großer Musiker unter ihnen lebe. Einer der Konzertdirigenten in Paris bat Christof um sein Rabelaissches Heldengedicht, bevor es noch beendet war; und Goujart, der die künftige Berühmtheit witterte, begann in geheimnisvollen Wendungen von einem Genie unter seinen Freunden zu reden, das er entdeckt habe. Er feierte in einem Aufsatz den wundervollen »David«, wobei es ihm nicht mehr ins Gedächtnis kam, daß er ihm in einem vorjährigen Artikel zwei feindselige Zeilen gewidmet hatte. Und auch rings um ihn schien sich keiner mehr dessen zu erinnern oder sich über den Umschwung zu verwundern. Wie manche in Paris haben Wagner und Franck verhöhnt, die sie heute feiern und sich ihrer bedienen, um neue Künstler niederzuschmettern, die sie morgen feiern werden!

Christof war auf diesen Erfolg nicht gefaßt. Er wußte, daß er eines Tages siegen würde; aber er dachte nicht, daß dieser Tag so nahe wäre; und er mißtraute einem allzu schnellen Sieg. Er zuckte die Achseln und sagte, man möge ihn in Ruhe lassen. Er hätte verstanden, wenn der »David« im vergangenen Jahre, als er ihn geschrieben hatte, mit Beifall aufgenommen worden wäre; jetzt aber lag er schon weit hinter ihm, er war selbst schon ein paar Sprossen höher geklommen. Am liebsten hätte er zu den Leuten, die ihm von seinem alten Werke sprachen, gesagt:

»Laßt mich mit diesem Dreck zufrieden! Er widert mich an. Und ihr dazu.«

Und er vertiefte sich in seine neue Arbeit, ärgerlich, daß man ihn darin gestört hatte. Immerhin fühlte er eine geheime Befriedigung. Die ersten Strahlen des Ruhmes sind recht wohltuend. Es ist gut, es ist gesund, zu siegen. Es ist, als öffne sich das Fenster und die ersten Frühlingslüfte drängen ins Haus.   Christof konnte seine alten Werke, vor allem die »Iphigenie«, noch so sehr verachten   es war ihm nichts desto weniger eine Genugtuung, wenn er sah, wie dieses elende Erzeugnis, das ihm einst so viel Schimpf eingetragen hatte, jetzt von den deutschen Kritikern gepriesen und von den Theatern verlangt wurde, wie es ein aus Dresden kommender Brief zeigte, in dem man ihm sagte, daß man das Stück mit Vergnügen für die nächste Spielzeit erwerben würde.

 

Am gleichen Tage, an dem Christof diese Nachricht empfing, die ihm nach Jahren des Elends endlich ruhigere Horizonte und in der Ferne den Sieg wies, erreichte ihn ein anderer Brief aus Deutschland.

Es war Nachmittag. Christof war im Begriff, sich zu waschen, wobei er aus einem Zimmer ins andere fröhlich mit Olivier plauderte, als die Hausmeisterin einen Brief unter die Tür gleiten ließ. Die Handschrift seiner Mutter. Gerade hatte er an sie schreiben wollen; er freute sich darauf, ihr seinen Erfolg mitzuteilen, der ihr so viel Vergnügen bereiten würde. Er öffnete den Brief. Er enthielt nur einige Zeilen. Wie zitterig war die Handschrift ...

»Mein lieber Junge, es geht mir nicht sehr gut. Wenn es dir möglich wäre, möchte ich dich wohl gern noch einmal sehen. Ich küsse dich

Mama.«

Christof stöhnte auf. Olivier, der im Nebenzimmer arbeitete, lief erschreckt herbei. Christof war unfähig zu sprechen und zeigte auf den Brief. Er stöhnte weiter und hörte nicht zu, was Olivier sagte, der mit einem Blick gelesen hatte und ihn zu beruhigen suchte. Er lief zum Bett, auf das er seine Jacke geworfen hatte, zog sich hastig an und ging, ohne seinen Kragen festzuknöpfen (seine Finger zitterten zu sehr) fort. Olivier holte ihn auf der Treppe ein: was hatte er vor? Mit dem nächsten Zuge davonfahren? Vor dem Abend gab es keinen. Es war doch besser, hier als auf dem Bahnhof zu warten. Hatte er auch nur das nötige Geld? Sie durchwühlten ihre Taschen und fanden, als sie ihren ganzen Besitz zusammenlegten, nur einige dreißig Franken. Es war September. Hecht, die Arnauds, alle Freunde waren von Paris abwesend. Niemand, an den man sich wenden konnte. Christof, der außer sich war, redete davon, einen Teil des Weges zu Fuß zurückzulegen. Olivier bat ihn, eine Stunde zu warten, und versprach ihm, die nötige Summe aufzutreiben. Christof ließ ihn machen; er war unfähig, irgend einen Gedanken zu fassen. Olivier lief zum Versatzamt: es war das erste Mal, daß er dorthin ging; hätte es sich um ihn selbst gehandelt, dann hätte er lieber Mangel gelitten, als eines jener Dinge zu versetzen, von denen jedes ein liebes Andenken für ihn bedeutete; aber es handelte sich um Christof und es war keine Zeit zu verlieren. Er gab seine Uhr hin, auf die man ihm eine weit geringere Summe vorstreckte als er gedacht hatte. Er mußte wieder nach Hause, ein paar seiner Bücher nehmen und zu einem Althändler tragen; das war schmerzlich; in diesem Augenblick dachte er kaum daran. Christofs Kummer nahm alle seine Gedanken in Anspruch. Er kehrte heim und fand Christof am gleichen Platz, an dem er ihn verlassen hatte, vor seinem Tisch, in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit sitzen. Die von Olivier zusammengebrachte Summe war zusammen mit den 30 Franken, die sie besaßen, mehr als genug. Christof war zu niedergeschlagen, um darüber nachzudenken oder zu fragen, wie sein Freund sich das Geld verschafft, noch sich zu erkundigen ob er genug zurückbehalten habe, um während seiner Abwesenheit davon leben zu können. Olivier dachte ebenso wenig daran; er hatte alles, was er besaß, Christof übergeben. Er mußte sich um Christof bis zur Abfahrt wie um ein Kind kümmern. Er brachte ihn zum Bahnhof und verließ ihn erst in dem Augenblick, als sich der Zug in Bewegung setzte. Christof saß da, starrte mit weitoffenen Augen in die Nacht, in die er hineingetragen wurde, und dachte:

»Werde ich rechtzeitig kommen?«

Er wußte wohl, wenn seine Mutter ihm schrieb, er solle kommen, so konnte sie sicherlich nicht länger warten. Und sein Fieber gab dem schütternden Laufe des Schnellzuges die Sporen. Er machte sich bittere Vorwürfe, Luise verlassen zu haben, und fühlte gleichzeitig, wie eitel alle Vorwürfe waren: er konnte den Lauf der Dinge nicht ändern. Indessen beruhigte das eintönige Wiegen der Räder und der Federn des Wagens ihn nach und nach, meisterte seinen Geist, wie ein mächtiger Rhythmus die empörten Wogen einer Musik eindeicht. Er überblickte seine ganze Vergangenheit von den dunstigen Träumen der fernen Kindheit an: Liebe, Hoffnungen, Enttäuschungen, Trauer und darüber jene jauchzende Kraft, jene Trunkenheit des Leidens, des Genusses, des Schaffens, jene große Freude, das leuchtende Leben mit seinen mächtigen Schatten zu umfangen, jene große Freude, die die Seele seiner Seele, der Atem des verborgenen Gottes in ihm war. Jetzt aus der Entfernung erhellte sich ihm alles. Der Aufruhr seiner Wünsche, die Qualen seiner Gedanken, seine Fehler, seine Irrtümer, seine hartnäckigen Kämpfe, sie erschienen ihm wie die Strudel und Wirbel, die der große Lebensstrom mit sich seinem ewigen Ziel zuträgt. Der tiefe Sinn dieser Jahre der Prüfungen enthüllte sich ihm. Jede Prüfung war eine Schranke gewesen, die der schwellende Fluß zum Krachen brachte, ein Durchgang aus einem engen Tal in ein anderes, das weiter war und das er bald ganz und gar ausfüllte; jedes Mal wurde die Aussicht weiter, die Luft freier. Zwischen den Hügeln Frankreichs und der deutschen Ebene hatte sich der Strom nicht ohne Kampf den Durchgang gebrochen; er war über die Felder getreten, hatte den Fuß der Hügel benagt, hatte die Wasser aus beiden Ländern gesammelt und in sich aufgenommen. So floß er zwischen ihnen hindurch, nicht um sie zu trennen, sondern um sie zu vereinigen. Sie vermählten sich in ihm. Und Christof wurde sich zum erstenmal seines Geschickes bewußt, wie eine Ader, die durch die feindlichen Völker hindurch geht, alle Lebenskräfte des einen wie des anderen Ufers mit sich zu treiben.   Eine seltsame Heiterkeit, eine unvermittelte Ruhe und Klarheit erschienen ihm, wie es zuweilen geschieht, in der düstersten Stunde ... Dann zerteilte sich die Vision; und das schmerzensreiche und zärtliche Gesicht der alten Mama tauchte allein wieder auf.

Der Morgen dämmerte kaum, als er in der kleinen deutschen Stadt anlangte. Er mußte sich in acht nehmen, damit er von niemand erkannt würde; denn noch immer stand er unter einem Haftbefehl. Aber am Bahnhof beachtete ihn keiner. Die Stadt schlief; die Häuser waren geschlossen und die Straßen verödet. Es war die graue Stunde, in der die Lichter der Nacht verlöschen und die des Tages noch nicht gekommen sind, die Stunde des süßesten Schlafes, in der die Träume von der Blässe der Morgensonne erhellt sind. Eine junge Dienstmagd öffnete die Verschläge eines Ladens und sang dazu ein altes Volkslied. Es war Christof, als müsse er vor Bewegung ersticken. »Oh Vaterland, geliebtes! ...« Er hätte die Erde küssen mögen. Dem schlichten Gesang lauschend, in dem sich sein Herz auflöste, fühlte er, wie unglücklich er, so fern dieser Erde, gewesen war und wie sehr er sie liebte ... Er hielt im Gehen seinen Atem an. Als er sein Haus sah, mußte er stehen bleiben und seine Hand auf den Mund pressen, um nicht aufzuschreien. Wie würde er sie wiederfinden, die dort war, die er verlassen hatte? ... Er schöpfte Atem und rannte fast bis zur Tür. Sie stand offen. Er stieß sie auf. Niemand ... Die alte Holztreppe krachte unter seinen Schritten. Er stieg in das obere Stockwerk. Das Haus schien leer. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter war geschlossen.

Christof legte mit klopfendem Herzen die Hand auf den Griff. Und er fand nicht die Kraft zu öffnen ...

 

Luise war allein. Sie lag im Bett und fühlte, daß es mit ihr zu Ende ginge. Von ihren beiden anderen Söhnen hatte sich der eine, der Kaufmann Rudolf, in Hamburg niedergelassen, der andere, Ernst, war nach Amerika gegangen und man wußte nicht, was aus ihm geworden war. Niemand bekümmerte sich um sie, außer einer Nachbarin, die zweimal täglich kam und nachsah, ob Luise etwas benötigte, einige Augenblicke blieb und wieder an ihre Geschäfte ging; sie war nicht allzu pünktlich und ließ oft auf sich warten. Luise fand es ganz natürlich, daß man sie vergaß, wie sie es ganz natürlich fand, daß sie krank war. Sie war von engelhafter Geduld, denn sie war an Leiden gewöhnt. Sie war herzkrank und hatte Erstickungsanfälle, während derer sie meinte, sterben zu müssen: mit weit aufgerissenen Augen, die Hände in ihre Decken gekrampft, lag sie und der Schweiß rann ihr über das Gesicht. Sie klagte nicht. Sie wußte, es müsse so sein. Sie war bereit; sie hatte schon die Sakramente empfangen. Sie hatte nur eine Sorge: daß Gott sie vielleicht nicht wert befände, in sein Paradies einzugehen. Alles übrige nahm sie voll Geduld hin.

Im dunklen Winkel ihres Stübchens rings um das Kopfkissen hatte sie sich an der Mauer des Alkovens ein Heiligtum ihrer Erinnerungen geschaffen. Dort hatte sie die Bilder ihrer Lieben beisammen: die ihrer drei Kleinen, das ihres Mannes, für dessen Andenken sie stets ihre Liebe der ersten Zeit bewahrt hatte, das des alten Großvaters und das ihres Bruders Gottfried: sie bewahrte allen, die zu ihr, und sei es nur ein wenig, gut gewesen waren, eine rührende Anhänglichkeit. Auf ihrem Bettuch, ganz nahe ihrem Gesicht, hatte sie die letzte Photographie, die Christof ihr gesandt hatte, angesteckt; und seine letzten Briefe lagen unter ihrem Kopfkissen. Sie liebte Ordnung und peinliche Sauberkeit; und sie litt darunter, daß nicht alles in ihrem Zimmer vollständig aufgeräumt war. Sie nahm an den leisen Geräuschen von draußen Anteil, die für sie die verschiedenen Augenblicke des Tages bezeichneten. Seit wie langer Zeit hörte sie sie nun schon! Ihr ganzes verflossenes Leben in diesem engen Raum ... Sie dachte an ihren lieben Christof. Wie unsäglich wünschte sie, daß er in diesem Augenblick da wäre, neben ihr. Und dennoch hatte sie sich schon darein ergeben, daß er nicht bei ihr war. Sie war gewiß, ihn dort oben wiederzusehen. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und sie sah ihn jetzt schon. Hindämmernd verbrachte sie die Tage inmitten der Vergangenheit ...

Sie sah sich wieder in dem alten Hause am Rhein ... Ein Festtag ... Ein wundervoller Sommertag ... Das Fenster stand offen: auf dem weißen Wege glänzte die Sonne. Man hörte die Vögel singen. Melchior und der Großvater saßen vor der Haustür, rauchten, unterhielten sich und lachten sehr laut. Luise sah sie nicht; aber sie freute sich, daß ihr Mann an diesem Tag zu Hause war und daß der Großvater so guter Laune. Sie stand im unteren Zimmer und bereitete das Essen: ein ausgezeichnetes Mahl; sie hütete es wie ihren Augapfel; es gab eine Überraschung: eine Kastanientorte. Sie freute sich im voraus auf die Freudenschreie des Kleinen ... Der Kleine, wo war er doch?   Da oben; sie hörte ihn, er übte Klavier. Sie verstand nichts von dem, was er spielte, aber es bedeutete für sie ein Glück, die leisen vertrauten Töne zu vernehmen, zu wissen, daß er da war, ganz artig dasaß ... Welch schöner Tag ... Die lustigen Schellen eines Wagens klangen auf dem Wege vorüber ... Ach, mein Gott, der Braten! Hoffentlich war er nicht verbrannt, indessen sie aus dem Fenster schaute! Sie zitterte davor, daß der Großvater, den sie so liebte und der sie einschüchterte, nicht zufrieden wäre, daß er ihr Vorwürfe machen könnte ... Gottseidank war nichts geschehen. So, alles war bereit und der Tisch stand gedeckt. Sie rief Melchior und den Großvater. Sie antworteten voller Eifer. Und der Kleine? ... Er spielte nicht mehr. Seit einem Augenblick war das Klavier verstummt, ohne daß sie es gemerkt hatte ...   »Christof! ...« Was tat er? Man hörte keinerlei Geräusch. Immer vergaß er, zum Essen herunter zu kommen: der Vater würde ihn wieder schelten. Hastig stieg sie die Treppe hinauf ...   »Christof! ...« Er schwieg; sie öffnete die Tür des Zimmers, in dem er arbeitete. Niemand ... Das Zimmer war leer; das Klavier war geschlossen ... Luise wurde von Angst gepackt. Was war mit ihm geschehen? ... Das Fenster stand offen. Mein Gott. Wenn er hinausgefallen wäre! Luise war in Aufruhr. Sie beugte sich hinaus um zu sehen ...   »Christof! ...« Er ist nirgends. Sie läuft durch alle Zimmer. Der Großvater ruft ihr von unten zu: »Komm doch, sorge dich nicht, er wird schon wiederkommen!« Sie will nicht hinabgehen; sie weiß, er ist da: er versteckt sich zum Spaß, er will sie quälen. Ach, der schlimme Kleine! ... Ja, jetzt weiß sie es ganz gewiß, die Diele hat gekracht; er steht hinter der Tür; sie will die Tür öffnen, aber der Schlüssel ist nicht da. Der Schlüssel! Hastig sucht sie in einer Schublade unter einer Menge anderer Schlüssel. Der, der dort ... nein, das ist er nicht ... Ach, da hat sie ihn endlich! ... Keine Möglichkeit, ihn ins Schlüsselloch zu bekommen. Luises Hand zittert. Sie beeilt sich; sie muß sich beeilen. Warum? Sie weiß es nicht; aber sie weiß, sie muß es: wenn sie sich nicht beeilt, wird sie keine Zeit mehr haben. Sie vernimmt Christofs Atem hinter der Tür ... Ach, dieser Schlüssel ... Endlich ... Die Tür öffnet sich. Ein Freudenschrei. Er ist es. Er wirft sich an ihren Hals ... Ach, der schlimme, der gute, der liebe Kleine ...

Sie hat die Augen geöffnet. Da steht er vor ihr ...

Seit einem Augenblick schaute er sie an, wie sie da so verändert lag, das Gesicht gleichzeitig abgemagert und aufgedunsen, ein Bild stummen Leidens, das durch ihr ergebenes Lächeln noch herzzerreißender wurde; und diese Stille, diese Einsamkeit rings umher ... Er fühlte sein Herz wie durchbohrt ... Sie sah ihn, sie war nicht erstaunt. Sie lächelte ein unbeschreibliches Lächeln. Sie vermochte ihm weder die Arme entgegenzustrecken, noch ein einziges Wort zu sagen. Er warf sich an ihren Hals, er küßte sie, sie küßte ihn. Große Tränen rannen ihre Wangen hinab. Ganz leise sagte sie:

»Warte ...«

Er sah, daß sie einen Erstickungsanfall hatte ...

Beide regten sich nicht. Sie liebkoste seinen Kopf mit ihren Händen und ihre Tränen rannen weiter. Er küßte ihre Hände und schluchzte, das Gesicht in den Decken vergraben.

Als ihre Beängstigung vorüber war, versuchte sie zu reden. Aber es gelang ihr nicht mehr, Worte zu finden; sie verwirrte sich und er verstand sie nur mit Mühe. Was machte das? Sie liebten sich, sie sahen sich, sie hielten sich, das war die Hauptsache:   er fragte voller Entrüstung, warum man sie allein ließ. Sie entschuldigte die Aufwärterin:

»Sie konnte nicht immer da sein: sie hatte ihre Arbeit ...« Mit schwacher, abgerissener Stimme, der es nicht immer gelang, alle Silben auszusprechen, gab sie ihm hastig einige Anweisungen wegen ihres Grabes. Sie betraute Christof mit ihren zärtlichen Grüßen an ihre beiden anderen Söhne, die sie vergessen hatten. Sie fand auch ein Wort für Olivier, dessen herzliche Liebe zu Christof sie kannte. Sie bat Christof, ihm zu sagen, daß sie ihm ihren Segen schicke ... (Sie verbesserte sich schnell, schüchtern, wählte eine bescheidenere Form:   »ihre ergebenen herzlichen Grüße«).

Sie rang von neuem nach Atem. Er stützte sie, damit sie in ihrem Bett sitzen könnte. Der Schweiß rann über ihr Gesicht. Sie zwang sich zu lächeln. Sie sagte sich, nun bleibe ihr in der Welt nichts mehr zu wünschen. Jetzt, da ihre Hand in der Hand ihres Sohnes ruhte.

Und plötzlich fühlte Christof, wie diese Hand sich in der seinen krampfte. Luise öffnete den Mund. Sie schaute ihren Sohn mit unendlicher Zärtlichkeit an;   und sie verschied.

 

Am Abend desselben Tages kam Olivier an. Er hatte den Gedanken nicht ertragen können, Christof in diesen tragischen Stunden allein zu lassen, mit deren Bitternis er nur allzu vertraut war. Er fürchtete auch die Gefahren, denen sich sein Freund aussetzte, indem er nach Deutschland zurückgekehrt war. Er wollte bei ihm sein, um ihn behüten zu können. Aber er hatte kein Geld, ihm nachzureisen. Als er vom Bahnhof zurückkehrte, zu dem er Christof begleitet hatte, entschloß er sich zum Verkauf einiger Schmucksachen, die ihm von seiner Familie geblieben waren; und da das Versatzamt zu der Stunde geschlossen war und er mit dem ersten Zug abreisen wollte, war er im Begriff, einen Althändler des Stadtviertels aufzusuchen, als er auf der Treppe Mooch begegnete. Als der von seinen Absichten Kenntnis bekam, bezeigte er aufrichtigen Kummer, daß Olivier sich nicht an ihn gewandt habe; er wollte in keinem Fall zugeben, daß Olivier zu dem Kaufmann ginge, und zwang ihn, die nötige Summe von ihm anzunehmen. Er war untröstlich, daß Olivier seine Uhr versetzt und seine Bücher verkauft hatte, um Christofs Reise zu bezahlen, während er doch so glücklich gewesen wäre, ihnen diesen Dienst erweisen zu können. In seinem Eifer, ihnen behilflich zu sein, schlug er Olivier sogar vor, ihn zu Christof zu begleiten. Olivier hatte die größte Mühe, ihn davon abzuhalten.

Oliviers Ankunft war für Christof eine wahre Wohltat. Er hatte den Tag in trostloser Stimmung verbracht, allein mit seiner entschlafenen Mutter. Die Aufwartefrau war gekommen, hatte sich um einiges gekümmert, war dann fortgegangen und nicht wiedergekehrt. Die Stunden rannen in düsterer Stille dahin. Christof rührte sich nicht mehr als die Tote; er ließ sie nicht aus den Augen; er weinte nicht, er dachte nicht, er war selbst ein Toter.   Das Wunder der Freundschaft, das Olivier vollbrachte, schenkte ihm die Tränen und das Leben zurück.

»Getrost! Es ist der Schmerzen wert, dies Leben.
So lang ...
… mit uns ein treues Auge weint.«

Sie hielten sich lange umschlungen. Dann setzten sie sich neben Luise nieder und sprachen mit leiser Stimme. Die Nacht war gekommen. Christof stützte sich mit den Armen auf das Bettende und erzählte aufs Geratewohl Kindheitserinnerungen, in denen das Bild der Mama immer wiederkehrte. Einige Minuten schwieg er, und dann fing er wieder an. Bis ein Augenblick kam, da er, von Müdigkeit überwältigt, das Gesicht in den Händen verborgen, völlig schwieg. Als Olivier an ihn herantrat und ihn anschaute, sah er, daß Christof eingeschlafen war. Da wachte er allein. Und dann übermannte, während seine Stirn am Kopfende des Bettes lehnte, auch ihn der Schlaf ... Luise lächelte sanft; und sie schien glücklich, ihre beiden Kinder zu bewachen.

Als der Morgen dämmerte, wurden sie von Schlägen an der Tür aufgeweckt. Christof öffnete. Es war ein Nachbar, ein Tischler; er kam, Christof zu warnen: seine Rückkehr sei angezeigt worden und er müsse abreisen, wenn er nicht festgenommen werden wolle. Christof weigerte sich zu fliehen; er wollte seine Mutter nicht verlassen, bevor er sie an den Ort begleitet hätte, wo sie jetzt für immer bleiben sollte. Olivier aber flehte ihn an, den Zug zu nehmen; er versprach ihm, sie treu an seiner Statt zu bewachen; er zwang ihn, das Haus zu verlassen; und um sicher zu sein, daß Christof sich nicht wieder anders entschließe, begleitete er ihn zum Bahnhof. Christof weigerte sich abzureisen, bevor er nicht wenigstens den großen Fluß wiedergesehen habe, an dem seine Kindheit sich abgespielt hatte und dessen dröhnendes Echo seine Seele wie eine Meermuschel für immer bewahrte. Trotz der Gefahr, die damit verbunden war, wenn er sich in der Stadt zeigte, bestand er auf seinem Willen und sie mußten durch die Straßen. Sie gingen den Abhang des Rheins entlang, der in machtvollem Frieden zwischen seinen flachen Ufern dahineilte, seinem geheimnisvollen Tod in den nordischen Dünen zu. Eine mächtige Eisenbrücke senkte inmitten des Nebels ihre beiden Bogen in das graue Wasser, gleich den Räderhälften eines riesigen Wagens. In der Ferne verloren sich die schaukelnden Barken im Nebel und die schlängelnden Flußwindungen zwischen den Feldern ... Christof versenkte sich in diesen Traum. Olivier riß ihn heraus, nahm seinen Arm und führte ihn zum Bahnhof zurück. Christof ließ es geschehen. Er war wie ein Nachtwandler. Olivier drängte ihn in den Zug, der im Begriff war, abzufahren, und sie machten aus, daß sie sich am nächsten Morgen an der französischen Grenzstation treffen wollten, damit Christof nicht allein nach Paris zurückkehren müsse.

Der Zug ging ab und Olivier kehrte in das Haus zurück, wo er beim Eintritt zwei Schutzleute traf, die die Heimkehr Christofs abwarteten. Sie nahmen Olivier statt seiner fest. Olivier beeilte sich nicht, ein Mißverständnis aufzuklären, das die Flucht Christofs begünstigte. Übrigens zeigte die Polizei keinerlei Enttäuschung über ihren Irrtum; sie bezeigte einen ziemlich lauen Eifer beim Fahnden nach dem Flüchtigen. Und es schien Olivier sogar, als ob sie im Grunde nicht böse darüber sei, daß Christof fort war.

Olivier blieb bis zum nächsten Morgen, um der Beerdigung Luisens beizuwohnen. Christofs Bruder, Rudolf, der Kaufmann, folgte als gewichtige Persönlichkeit sehr wohlerzogen dem Sarg und reiste gleich darauf wieder ab, ohne auch nur das Wort an Olivier gerichtet, ihn nach Christof gefragt oder ihm dafür gedankt zu haben, was er für ihre Mutter getan hatte. Olivier verbrachte noch ein paar Stunden in der Stadt, in der er niemand unter den Lebenden kannte, aber so mancher vertrauter Schatten für ihn lebte: der kleine Christof und die ihm Liebe erwiesen oder Leides getan hatten   und die liebe Antoinette ... Was blieb von allen diesen Wesen, die hier gelebt hatten? Von der Familie der Krafft, die jetzt hier erloschen war? Die Liebe zu ihnen, die in der Seele eines Fremden lebte.

 

Am Nachmittag fanden sich Olivier und Christof an ihrem Treffpunkt, der Grenzstation, wieder zusammen. Ein Dorf inmitten bewaldeter Hügel. Anstatt dort den folgenden Pariser Zug zu erwarten, entschlossen sie sich, einen Teil des Weges bis zur nächsten Stadt zu Fuß zu machen. Sie fühlten das Bedürfnis, allein zu sein. Sie machten sich auf den Weg durch schweigende Wälder, aus deren Tiefe die dumpfen Schläge der Axt klangen. Sie gelangten zu einer Lichtung auf dem Gipfel eines Hügels. Unter ihnen in einem engen Tälchen, noch auf deutschem Gebiet, das rote Dach eines Forsthauses, eine kleine Wiese, gleich einem grünen See zwischen Wäldern. Rings umher der Ozean dunkelblauer, dunstumhüllter Wälder. Nebel strichen durch die Tannenzweige. Ein durchsichtiger Schleier verschmolz die Linien, dämpfte die Farben. Alles war reglos. Kein Laut von Schritten, kein Klang von Stimmen. Ein paar Regentropfen klangen auf dem Kupfer der Buchen, die der Herbst gereift hatte. Zwischen Steinen plätscherte das Wasser eines kleinen Quells. Christof und Olivier standen still und rührten sich nicht mehr. Jeder sann seinen Toten nach. Olivier dachte:

»Antoinette, wo bist du?«

Und Christof:

»Was soll mir der Erfolg jetzt, da sie nicht mehr ist?«

Jeder aber vernahm die tröstende Stimme seiner Toten:

»Geliebter, weine nicht um uns. Denke nicht an uns. Denke an ihn ...«

Sie schauten einander an und keiner fühlte mehr sein Leid, sondern das seines Freundes. Sie faßten sich bei der Hand. Eine ruhevolle Schwermut umhüllte sie beide. Leise, ohne einen Lufthauch teilte sich der Dunstschleier; der blaue Himmel blühte wieder auf. Ergreifende Holdseligkeit der Erde nach dem Regen ... Sie ist uns so nah, so zärtlich ... Sie nimmt uns in ihre Arme, an ihren Busen, und sagt mit einem warmen schönen Lächeln:

»Ruhe aus. Alles ist gut ...«

Die Spannung in Christofs Herzen löste sich. Er war wie ein kleines Kind. Seit zwei Tagen lebte er ganz und gar in der Erinnerung an die liebe Mama, in der Atmosphäre ihrer Seele; er durchlebte das schlichte Leben, die einförmigen, einsamen Tage, die sie in der Stille des kinderlosen Hauses verbracht hatte, in Gedanken an die Kinder, die von ihr gegangen waren, die arme, alte, gebrechliche und tapfere Frau mit ihrem ruhigen Glauben, ihrer sanften Gutlaunigkeit, ihrer lächelnden Ergebenheit, ihrer Selbstlosigkeit ... Und Christof gedachte all der anderen schlichten Seelen, die er gekannt hatte. Wie nahe fühlte er sich ihnen in diesem Augenblick! Am Ausgang jener Jahre erschöpfender Kämpfe in dem fiebernden Paris, in dem Gedanken und Menschen sich wütend umklammern, am Nachmorgen jener unseligen Stunde, in der der Sturmwind mörderischer Raserei gewütet und die wahnbefangenen Völker gegeneinander gejagt hatte, überkam es Christof wie eine Müdigkeit vor dieser fieberhaften und unfruchtbaren Welt, vor diesen Schlachten der Eigensucht und der Ideen, vor diesen Auslesen der Menschheit, diesen Ehrgeizigen, diesen Denkern, diesen Künstlern, die sich für die Vernunft der Welt halten und doch nur ihr böser Traum sind. Und seine ganze Liebe strömte jenen tausend schlichten Seelen jeder Rasse entgegen, die als reine Flammen der Güte, des Glaubens und der Aufopferung in der Stille verglühen   als das Herz der Welt.

»Ja, ich erkenne euch wieder; endlich finde ich euch wieder,« dachte er. »Ihr seid meines Blutes, ihr seid mein. Gleich dem verlorenen Sohn habe ich euch verlassen, um den Schatten nachzujagen, die über den Weg ziehen. Ich kehre zu euch zurück, nehmt mich auf. Wir sind ein einziges Wesen, ihr Lebenden und Toten; wo immer ich bin, ihr seid bei mir. Jetzt trage ich dich in mir, o Mutter, die mich getragen hat. Ihr alle: Gottfried, Schulz, Sabine, Antoinette; ihr alle seid bei mir. Ihr seid mein Reichtum, meine Freude. Wir machen den Weg gemeinsam. Ich verlasse euch nicht mehr. Ich werde euere Stimme sein. Mit unseren vereinten Kräften werden wir das Ziel erreichen.«

Ein Sonnenstrahl glitt zwischen die feuchten Zweige der Bäume, von denen langsam die Tropfen fielen. Von der kleinen Wiese unten stiegen Kinderstimmen empor; ein altes deutsches Lied, das drei kleine Mädchen treuherzig und rührend sangen und dazu eine Runde ums Haus tanzten; und von fern trug der Wind des Ostens wie Rosenduft die Stimmen der Glocken Frankreichs herbei.

»Oh Friede, göttliche Eintracht, heitere Musik der befreiten Seele, in der Schmerz und Freude, Leben und Tod, die feindlichen Rassen, die brüderlichen, verschmelzen. Ich liebe dich, ich begehre dich, ich werde dich besitzen ...«

Der Schleier der Nacht sank nieder. Christof erwachte aus seinem Traum und sah neben sich das treue Gesicht des Freundes. Er lächelte ihm zu und küßte ihn. Dann machten sie sich schweigend wieder auf den Weg durch den Wald; und Christof bahnte Olivier den Weg.

Taciti, soli e senza compagnia,
n' andavan l'un dinnanzi, e l'altro dopo
come i frati minor vanno per via ...

 


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