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Erstes Buch
Der Jahrmarkt

Unordnung in scheinbarer Ordnung. Nachlässig gekleidete und gesprächige Eisenbahnbeamte. Reisende, die, wenn sie sich auch fügen, ewig gegen die Vorschriften protestieren.     Christof war in Frankreich.

Nachdem er die Neugierde der Zollrevisoren befriedigt hatte, stieg er in den Pariser Zug. Nacht deckte die regengetränkten Felder. Grelle Bahnlichter ließen die Traurigkeit der endlosen, in Dunkel gehüllten Ebene härter empfinden. Die immer zahlreicheren Züge, die man kreuzte, zerrissen die Luft mit ihren Pfiffen und rüttelten die eingeschlummerten Reisenden aus ihrer Betäubtheit. Man näherte sich Paris.

Schon eine Stunde vor der Ankunft war Christof zum Aussteigen fertig; er hatte sich den Hut tiefer ins Gesicht gedrückt; aus Furcht vor Dieben, von denen, wie man ihm gesagt hatte, Paris wimmelte, hatte er sich bis zum Hals hinauf zugeknöpft; zwanzigmal war er aufgestanden und hatte er sich wieder hingesetzt; zwanzigmal hatte er zum Ärger der Nachbarn seinen Koffer aus dem Netz auf die Bank und von der Bank wieder ins Netz gehoben, wobei er mit dem ihm eigenen Ungeschick jedesmal seine Mitreisenden anstieß.

Kurz vor der Einfahrt hielt der Zug plötzlich in vollständiger Nacht. Christof drückte das Gesicht an die Scheiben und suchte vergeblich irgend etwas zu sehen. Er sah sich unter seinen Reisegenossen um und spähte nach einem Blick, der ihm erlaubt hätte, eine Unterhaltung anzuknüpfen und zu fragen, wo man sei. Aber sie schliefen oder stellten sich mit zusammengezogenen und gelangweilten Mienen schlafend. Keiner rührte auch nur den kleinen Finger, um den Aufenthalt zu erklären. Christof war von solcher Teilnahmslosigkeit überrascht; diese abweisenden und verschlafenen Wesen ähnelten so wenig den Franzosen, wie er sie sich vorstellte. Er setzte sich schließlich entmutigt auf seinen Koffer, schwankte bei jedem Stoß des Zuges hin und her und schlummerte gerade in dem Augenblick ein, als er von dem Lärm geweckt wurde, mit dem man die Türen aufriß ... Paris ... Seine Nachbarn stiegen schon aus. Stoßend und gestoßen steuerte er dem Ausgang zu und drängte die Träger, die sich ihm für sein Gepäck anboten, zurück. Mißtrauisch, wie ein Bauer, meinte er, jeder wolle ihn bestehlen. Seinen kostbaren Koffer hatte er auf die Schulter geladen und ging seines Weges, ohne sich um das Anschreien der Menge zu kümmern, durch die er sich den Weg erzwang. Endlich befand er sich auf dem schlüpfrigen Pflaster von Paris.

Er war mit seiner Last, dem zu wählenden Nachtquartier und dem Wagengewühl, in das er geraten, allzusehr beschäftigt, um daran zu denken, irgend etwas anzusehen. Die Hauptsache war ihm, ein Zimmer zu finden. An Hotels fehlte es gerade nicht: von allen Seiten umstanden sie den Bahnhof; ihre Namen flammten in hellen Gasbuchstaben. Christof suchte nach dem, der am wenigsten glänzte: keiner erschien ihm bescheiden genug für seine Börse. Endlich entdeckte er in einer Seitenstraße einen schmutzigen Gasthof mit einer Garküche im Parterre. Er nannte sich » Hôtel de la Civilisation«. Ein dicker Mann in Hemdsärmeln rauchte an einem Tisch seine Pfeife; als er Christof hereinkommen sah, lief er herbei. Er verstand nichts von dessen Kauderwelsch, erkannte aber auf den ersten Blick den linkischen und kindlichen Deutschen, der nicht wollte, daß man ihm sein Gepäck abnehme, und der sich abmühte, ihm in einer unwahrscheinlichen Sprache eine Rede zu halten. Er führte ihn über eine schlecht duftende Treppe in ein luftloses Zimmer, das auf einen inneren Hof ging, wobei er nicht verabsäumte, ihm die Stille eines solchen Raumes zu loben, zu dem keinerlei Geräusch von außen dringen könne; und er verlangte ihm einen beträchtlichen Preis dafür ab. Christof, der schlecht verstand, der keine Ahnung von den Lebensbedingungen in Paris hatte, dessen Schulter von der Last wie zerschlagen war, ging auf alles ein. Kaum aber war er allein, wurde er den Schmutz rings umher betroffen gewahr; und um sich dem Jammer, den er in sich aufsteigen fühlte, nicht hingeben zu müssen, ging er eilig wieder aus, nachdem er den Kopf in das staubige Wasser getaucht hatte, das sich ganz fettig anfühlte. Er wollte mit aller Gewalt weder sehen noch fühlen, um nur dem Ekel zu entgehen. Er ging auf die Straße hinunter. Der Oktobernebel war dicht und durchdringend; er hatte jenen faden Geruch von Paris an sich, in dem sich die Ausdünstungen von Vorstadtfabriken und der dumpfe Atem der Stadt mischen. Man sah nicht zehn Schritte weit; der Schein der Gaslaternen zitterte wie eine verlöschende Kerze. Durch das Halbdunkel wogte in gegeneinanderströmenden Fluten ein Gewühl von Leuten. Wagen kreuzten sich, stießen aneinander, versperrten den Durchgang und warfen gleich einem Deich die Vorwärtsbewegung zurück. Die Pferde glitten auf dem gefrorenen Schmutz aus. Die Flüche der Kutscher, das Tuten und Klingeln der Trambahnen vollführten ein ohrenbetäubendes Getöse. Lärm, Gewimmel und Geruch griffen Christof an Kopf und Herz. Einen Augenblick blieb er stehen, wurde aber sogleich von den hinter ihm Gehenden gestoßen und von dem Strom mit fortgerissen. Er ging den Boulevard de Strasbourg hinunter, rannte dabei ungeschickt die Vorübergehenden an und sah nicht das Geringste. Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Die Cafés, an denen er bei jedem Schritt vorüberkam, schüchterten ihn ein und ekelten ihn durch die Menschenhaufen, mit denen sie vollgestopft waren, an. Er wandte sich an einen Schutzmann. Aber er fand seine Worte so langsam zusammen, daß der andere sich nicht einmal die Mühe gab, ihn bis zu Ende anzuhören, und ihm mitten im Satze achselzuckend den Rücken drehte. Mechanisch ging er weiter. Vor einem Laden hatten sich Leute angesammelt; mechanisch blieb er, wie sie, stehen.

Es war ein Photographien- und Postkartenladen. Die Ansichtskarten zeigten Mädchen im Hemd oder auch ohne Hemd; die illustrierten Zeitungen brachten obszöne Witze. Kinder und junge Frauen schauten sich das seelenruhig an. Ein mageres rothaariges Mädchen, das Christof, in seine Betrachtung vertieft, sah, machte ihm Anerbietungen. Er blickte sie verständnislos an. Mit einem dummen Lächeln nahm sie seinen Arm. Vor Zorn errötend schüttelte er ihre Umklammerung ab und ging davon. Tingeltangel reihten sich an Tingeltangel. Vor ihren Türen lockten Plakatbilder grotesker Mimen. Das Gewühl wurde immer dichter; Christof fiel die Unmenge von verbrecherischen Gesichtern auf, von verdächtigen Herumstreichern, gemeinen Bettlern, geschminkten, widerlich parfümierten Frauenzimmern. Er fühlte sich erstarren. Die Müdigkeit, die Schwäche, der fürchterliche, ihn mehr und mehr umklammernde Ekel verursachten ihm Schwindel. Er biß die Zähne zusammen und ging schneller. Je mehr er sich der Seine näherte, um so dichter wurde der Nebel. Das Wagengewühl wurde unentwirrbar. Ein Pferd glitt aus und stürzte auf die Seite. Der Kutscher schlug, um es wieder empor zu treiben, darauf ein; das unglückliche, von seinen Halsriemen gewürgte Tier mühte sich ab, fiel jämmerlich zurück und blieb reglos, wie tot liegen. Dieser gewöhnliche Anblick wurde für Christof der Tropfen, der die Seele überfließen macht. Die Zuckungen dieses elenden Geschöpfes inmitten gleichgültiger Blicke brachten ihm seine eigene Nichtigkeit unter all diesen Tausenden so angstvoll zum Bewußtsein   der Widerwille, den er vor dieser menschlichen Viehherde, vor dieser unsauberen Atmosphäre, vor dieser feindlichen Seelenwelt empfand und den er seit einer Stunde zu unterdrücken sich zwang, brach mit solcher Gewalt über ihn herein, daß ihm der Atem versagte. Er bekam einen Weinkrampf. Die Vorübergehenden schauten erstaunt auf den großen Burschen mit dem vor Schmerz verzerrten Gesicht. Mit langen Schritten ging er seinen Weg, wobei ihm die Tränen die Wangen herabrollten, ohne daß er sie zu trocknen suchte. Einen Augenblick blieb man wohl stehen, um ihm mit den Augen zu folgen; und wäre er fähig gewesen, in der Seele dieser ihm feindselig scheinenden Menge zu lesen, dann hätte er vielleicht bei einigen ein brüderliches Mitgefühl entdecken können, allerdings mit ein wenig Pariser Ironie für das Lächerliche jedes sich naiv zur Schau stellenden Schmerzes gemischt. Aber er sah nichts mehr, seine Tränen machten ihn blind.

Er stand auf einem Platz bei einem großen Springbrunnen. Er badete seine Hände und tauchte sein Gesicht ins Becken. Ein kleiner Zeitungshändler sah seinem Tun neugierig zu und machte spöttische, doch nicht boshafte Bemerkungen; und er hob Christof den Hut, den er hatte fallen lassen, auf. Die Eiseskälte des Wassers belebte Christof wieder. Er raffte sich zusammen. Er kehrte um und vermied dabei, sich umzuschauen; ans Essen dachte er nicht einmal mehr: mit irgend jemand, wer immer es wäre, zu reden, wäre ihm unmöglich gewesen; ein Nichts hätte genügt, um die Tränenquelle wieder zu öffnen. Er war erschöpft. Er verlor die Richtung, irrte aufs Geratewohl vorwärts und sah sich in dem Augenblick, wo er sich endgültig verlaufen glaubte, vor seinem Gasthof:   er hatte sogar den Namen der Straße vergessen, in der er wohnte.

Er kehrte in seine abscheuliche Behausung zurück. Ohne etwas gegessen zu haben, mit brennenden Augen, Seele und Leib wie zerschlagen, sank er in einer Zimmerecke auf einen Sessel; unfähig sich zu rühren, blieb er dort zwei Stunden liegen. Endlich raffte er sich aus dieser Apathie auf und legte sich zu Bett. Er verfiel in eine fieberige Betäubung, aus der er alle Augenblicke aufwachte, mit der Vorstellung, stundenlang geschlafen zu haben. Das Zimmer war stickig, er glühte vom Kopf bis zu den Füßen, hatte einen gräßlichen Durst und wurde von dummen Traumbildern heimgesucht, die sich auch dann noch an ihn klammerten, wenn er die Augen offen hatte; stechende Ängste drangen gleich Messerstichen in ihn ein. Mitten in der Nacht wachte er auf, von so überwältigender Verzweiflung gepackt, daß er beinahe aufgeheult hätte; er stopfte sich die Decken in den Mund, damit man ihn nicht höre; er fühlte sich verrückt werden. Er setzte sich in seinem Bett auf und machte Licht. Er war in Schweiß gebadet. Er stand auf, öffnete seinen Koffer, um ein Taschentuch zu holen. Da faßte seine Hand an eine alte Bibel, die seine Mutter zwischen seiner Wäsche verborgen hatte. Christof hatte niemals viel in diesem Buch gelesen; aber es in diesem Augenblick zu finden, war ihm eine unaussprechliche Wohltat. Diese Bibel hatte Großvater und Großvaters Vater gehört. Die Familienoberhäupter hatten am Schluß auf eine leere Seite ihren Namen und bedeutende Lebensdaten eingetragen: Geburten, Heiraten, Todesfälle. Der Großvater hatte in seiner dicken Schrift mit Bleistift die Daten bezeichnet, an denen er jedes Kapitel wieder und wieder gelesen hatte; voller vergilbter Papierschnitzel war das Buch, auf denen der Alte seine naiven Nachdenklichkeiten niedergeschrieben hatte. Diese Bibel hatte auf einem Brettchen über seinem Bett gestanden; während seiner vielen schlaflosen Stunden hatte er sie oft herabgenommen und sich eher mit ihr unterredet als sie gelesen. Sie hatte ihm bis zu seiner Todesstunde Gesellschaft geleistet, wie sie schon seinem Vater Gesellschaft geleistet hatte. Ein Jahrhundert von Trauer und Freuden der Familie erstand aus diesem Buch. Mit ihm fühlte sich Christof weniger allein.

Er schlug seine düstersten Seiten auf.

 

Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und sind seine Tage nicht wie eines Tagelöhners?

Wenn ich mich legte, sprach ich: wann werde ich aufstehen, und der Abend ward mir lang, ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.

Wenn ich gedachte, mein Bette soll mich trösten, mein Lager soll mir meinen Jammer erleichtern, so erschrecktest du mich mit Träumen und machtest mir Grauen durch Gesichte.

Warum tust du dich nicht von mir und lässest mich nicht, bis ich nur meinen Speichel schlinge?   Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit, o du Menschenhüter?

Es ist eins, darum sage ich: er bringt um beide, den Frommen und den Gottlosen.

Wenn Gott mich tötet, lasse ich nicht ab, auf ihn zu hoffen.  

Gemeine Seelen können die Wohltat nicht begreifen, die für einen Unglücklichen in solcher grenzenloser Traurigkeit liegt. Jede Größe ist gut und höchster Schmerz grenzt an Befreiung. Was niederschlägt, zu Boden drückt, was die Seele unheilbar zerstört, ist das Mittelmaß des Schmerzes und der Freude, das selbstsüchtige und armselige Leid, das nicht die Kraft hat, sich von dem verlorenen Vergnügen zu lösen, und um eines neuen Vergnügens willen heimlich zu jeder Erniedrigung bereit ist. Der herbe Hauch, der aus dem alten Buch stieg, entfachte in Christof neues Leben: der Wind vom Sinai, von der weiten Einsamkeit und dem mächtigen Meer fegte die Miasmen fort. Christofs Fieber sank; ruhiger legte er sich wieder nieder und schlief in einem Zug bis zum Morgen durch. Als er die Augen öffnete, war der Tag gekommen; noch deutlicher sah er nun die Abscheulichkeit seines Zimmers; er sah sein Elend und seine Verlassenheit; aber er schaute ihnen ins Gesicht. Die Verzagtheit war vorüber; nur eine männliche Schwermut blieb ihm zurück, er wiederholte sich Hiobs Wort:

Wenn Gott mich tötet, lasse ich nicht ab, auf ihn zu hoffen ... Er erhob sich und begann voller Ruhe den Kampf.

 

Er beschloß, noch am selben Morgen die ersten Schritte zu tun. Zwei Menschen nur kannte er in Paris, zwei junge Leute aus seiner Gegend: seinen alten Freund Otto Diener, der mit einem Onkel, einem Tuchhändler im Quartier du Mail, assoziiert war, und einen kleinen Mainzer Juden, Sylvain Kohn, der in einem großen Verlagshaus angestellt sein mußte, von dem er aber die Adresse nicht wußte. Mit Diener war er, als er 14 oder 15 Jahre alt war, sehr intim gewesen. Er hatte für ihn eine jener Kinderfreundschaften gehegt, die der Liebe vorangehen und die eigentlich schon Liebe sind. Auch Diener hatte ihn lieb gehabt; der dicke Junge, der, schüchtern und steif, von der wilden Zügellosigkeit Christofs hingerissen worden war, hatte sich in lächerlicher Weise Mühe gegeben, ihn nachzuahmen, was Christof ärgerte und ihm gleichzeitig schmeichelte. Damals hatten sie weltumstürzende Pläne geschmiedet. Dann war Diener um seiner kaufmännischen Ausbildung willen auf Reisen gegangen und sie hatten sich nicht mehr wiedergesehen; doch Christof hatte manchmal durch Landsleute, mit denen Diener in regelmäßiger Verbindung geblieben war, etwas von ihm gehört.

Sylvain Kohns Beziehungen zu Christof waren ganz anderer Art gewesen. Sie hatten sich als ganz kleine Buben in der Schule gekannt, wo der kleine Gauner dem Christof manchen Streich gespielt hatte, der ihn, wenn er die Schlingen merkte, in die er gefallen war, gehörig durchprügelte. Kohn verteidigte sich nicht; er ließ sich dafür verhauen, ließ sich in den Dreck stoßen und heulte dazu; aber gleich darauf begann er mit unermüdlicher Bosheit von neuem   bis er eines Tages Angst bekam, weil Christof ihm ernsthaft gedroht hatte, ihn zu töten.

Christof ging frühzeitig aus. Unterwegs frühstückte er in einem Café. Er zwang sich trotz seinem Selbstgefühl dazu, nicht eine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, Französisch zu sprechen. Da er nun einmal in Paris leben sollte, vielleicht Jahre hindurch, mußte er sich so schnell wie möglich den neuen Lebensbedingungen anpassen und seinen inneren Widerstand überwinden. Er zwang sich also, auf die spöttische Miene des Kellners, der sein Kauderwelsch anhörte, nicht zu achten, obgleich er grausam darunter litt; und ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, baute er schwerfällig seine unförmigen Sätze, die er hartnäckig so lange wiederholte, bis man ihn verstanden hatte.

Er machte sich auf die Suche nach Diener. Wie gewöhnlich, wenn er eine Idee im Kopf hatte, sah er nichts weiter rings umher. Paris machte ihm bei diesem ersten Spaziergang nur den Eindruck einer alten, schlecht gehaltenen Stadt. Christof war an die Städte des neuen deutschen Kaiserreiches gewöhnt, die gleichzeitig sehr alt und doch sehr jung sind und in denen man den Stolz auf eine neue Macht emporwachsen fühlt. So war er von allem, was er sah, unangenehm überrascht: von den aufgerissenen Straßen, den kotigen Fahrdämmen, dem Gedränge der Leute, dem Durcheinander der Wagen   Fahrzeuge aller Art und jeder Form: ehrwürdige Pferdeomnibusse, Dampfbahnen, elektrische Bahnen und sonstige Systeme   den Gerüsten auf den Fußsteigen, den Karussellen mit Holzpferden (oder vielmehr Ungeheuern, Drachen) auf den Plätzen, die mit Standbildern im Gehrock überfüllt waren: kurz, er fand ein wahres Lausnest von mittelalterlicher Stadt, die zwar die Wohltaten des allgemeinen Stimmrechts empfangen hat, von ihrer alten Bettelart aber nicht loskommen kann. Der Nebel vom Abend vorher hatte sich in einen empfindlichen feinen Regen verwandelt. In vielen Läden brannte Gas, obgleich es nach zehn Uhr war.

Nachdem Christof in dem Straßenlabyrinth, das die Place des Victoires umgibt, herumgeirrt war, gelangte er zu dem gesuchten Geschäftshaus in der Rue de la Banque. Beim Eintreten meinte er im Hintergrund des langen und dunklen Ladens Diener zu sehen, der inmitten von Angestellten damit beschäftigt war, Ballen zu ordnen. Aber Christof war etwas kurzsichtig und verließ sich nicht auf seine Augen, obgleich sie ihn selten täuschten. Als Christof dem ihn empfangenden Kommis seinen Namen nannte, entstand unter den Leuten im Hintergrund eine gewisse Verwirrung, und nach kurzem Getuschel löste sich ein junger Mann aus der Gruppe und sagte auf deutsch:

»Herr Diener ist ausgegangen.«

»Ausgegangen? Für lange Zeit?«

»Ich glaube. Er ging eben erst fort.«

Christof dachte einen Augenblick nach, dann sagte er:

»Schön, ich werde warten.«

Der überraschte Angestellte beeilte sich hinzuzufügen:

»Das heißt, er kommt vielleicht nicht vor zwei oder drei Stunden zurück.«

»O, das macht nichts,« antwortete Christof voller Seelenruhe. »Ich habe in Paris nichts zu tun. Ich kann, wenn es sein muß, den ganzen Tag warten.«

Der junge Mann sah ihn verblüfft an und meinte, er spaße. Christof aber dachte schon nicht mehr an ihn. Er hatte sich, den Rücken der Straße zugewandt, gleichmütig in eine Ecke gesetzt; und er schien gewillt, sich dort festzunisten.

Der Kommis kehrte in den Hintergrund zurück und flüsterte mit seinen Kollegen; in komischer Fassungslosigkeit suchten sie nach einem Mittel, sich des zudringlichen Menschen zu entledigen.

Nach einigen Minuten der Ungewißheit öffnete sich die Tür des Bureaus von neuem. Herr Diener erschien. Er hatte ein breites rotes Gesicht, über dessen Wange und Kinn sich ein violetter Schmiß hinzog, einen blonden Schnurrbart, geschniegelte, auf der Seite gescheitelte Haare, einen goldenen Kneifer, goldene Knöpfe in seinem Oberhemd und an den dicken Fingern Ringe. Hut und Regenschirm hielt er in der Hand. Mit ungezwungenem Gesicht kam er auf Christof zu. Christof, der auf seinem Stuhl vor sich hinträumte, sprang erstaunt empor. Er ergriff Dieners Hände und schrie mit geräuschvoller Vertraulichkeit auf ihn ein, worüber die Angestellten insgeheim lachten und Diener errötete.

Der majestätische Figurant hatte seine guten Gründe, die früheren Beziehungen zu Christof nicht mehr aufzunehmen, und er hatte sich vorgenommen, ihn durch sein imponierendes Wesen vom ersten Augenblick an in gebührendem Abstand zu halten. Kaum aber begegnete er wieder Christofs Blick, als er sich ihm gegenüber von neuem wie ein kleiner Junge fühlte; er war wütend und beschämt darüber. Hastig stotterte er:

»Bitte in mein Arbeitszimmer ... Wir können da besser reden.«

Christof erkannte darin Dieners gewohnte Vorsicht. In dem Arbeitszimmer aber, dessen Tür er vorsichtig abschloß, beeilte sich Diener nicht, dem Freunde einen Stuhl anzubieten. Er blieb stehen und erklärte mit plumper Ungeschicklichkeit:

»Sehr erfreut ... wollte gerade ausgehen ... man meinte, ich sei schon ausgegangen ... aber ich muß gleich fort ... ich habe nur eine Minute ... eine dringende Verabredung.«

Christof begriff, daß der Angestellte ihn eben belogen hatte und daß die Lüge mit Diener verabredet worden war, um ihn vor die Tür zu setzen. Das Blut stieg ihm zu Kopf; aber er hielt an sich und sagte trocken:

»Das hat keine Eile.«

Das gab Diener einen Ruck. Solche Ungeniertheit empörte ihn.

»Was heißt das! Das eilt nicht!« sagte er. »Ein Geschäft ...«

Christof sah ihm ins Gesicht:

»Nein.«

Der große Bursche schlug die Augen nieder. Er haßte Christof dafür, daß er selbst sich ihm gegenüber so feige fühlte. Voller Ärger stotterte er etwas. Christof unterbrach ihn.

»Vor allem,« sagte er: »Weißt du ...?«

(Dies Duzen verletzte Diener, der sich vom ersten Augenblick an vergeblich bemüht hatte, zwischen Christof und sich die Schranke des »Sie« zu errichten.)

»… Du weißt, warum ich hier bin?«

»Ja, ich weiß,« sagte Diener.

(Er war durch seine Korrespondenten von Christofs Krakehl und der gegen ihn eingeleiteten Verfolgung unterrichtet worden.)

»Dann weißt du also,« fuhr Christof fort, »daß ich nicht zum Vergnügen hier bin. Ich habe fliehen müssen. Ich habe nichts. Ich muß leben.«

Diener war auf einen Pump gefaßt. Er nahm ihn mit einem Gemisch von Befriedigung und Verlegenheit entgegen   (denn er erlaubte ihm, sich Christof wieder überlegen zu fühlen, aber er wagte dennoch nicht, ihn diese Überlegenheit so, wie er gewollt hätte, empfinden zu lassen).

»Ach,« meinte er voller Wichtigkeit, »das ist sehr ärgerlich, höchst ärgerlich. Das Leben ist hier schwierig. Alles ist teuer. Wir haben riesige Unkosten. Und alle diese Angestellten ...«

Christof unterbrach ihn verachtungsvoll: »Ich bitte dich nicht um Geld.«

Diener kam aus der Fassung. Christof fuhr fort: »Dein Geschäft geht gut? Du hast eine anständige Kundschaft?«

»Ja, ja, nicht allzu schlecht, Gott sei Dank ...« sagte Diener vorsichtig. (Er war mißtrauisch.) Christof warf ihm einen wütenden Blick zu und fuhr fort:

»Du kennst viele Leute in der deutschen Kolonie?«

»Ja.«

»Nun also, sprich von mir. Sie werden musikalisch sein. Sie haben Kinder. Ich werde Stunden geben.«

Diener zeigte ein verlegenes Gesicht.

»Was gibt's noch?« meinte Christof. »Zweifelst du etwa, daß ich für einen solchen Beruf genug kann?«

Er bat um einen Dienst, aber es war so, als ob er es sei, der ihn leistete. Diener, der für Christof höchstens etwas um des Vergnügens willen getan hätte, ihn als seinen Schuldner zu wissen, war fest entschlossen, nicht den kleinen Finger für ihn zu rühren. »Du kannst tausendmal mehr als man dazu braucht ... nur ...«

»Nun also?«

»Nun ja, es ist schwierig, sehr schwierig, siehst du, deiner Lage wegen.«

»Meiner Lage wegen?«

»Ja ... nämlich, die gewisse Geschichte ... wenn man etwas davon erführe ... es wäre ... sehr peinlich für mich. Das kann mich in sehr schlechtes Licht bringen.«

Er hielt inne, denn er sah, wie sich Christofs Gesicht vor Zorn verzerrte; und er beeilte sich, hinzuzufügen:

»Es ist nicht meinetwegen ... ich habe keine Furcht ... ach! wäre ich allein ... aber mein Onkel ... Du weißt, das Haus gehört ihm, ohne ihn kann ich überhaupt nichts tun ...«

Christofs Gesicht und die Explosion, die sich darauf vorbereitete, erschreckten ihn mehr und mehr und er sagte hastig: (er war im Grunde nicht schlecht: Geiz und Eitelkeit kämpften in ihm; er hätte Christof ganz gern verpflichtet, aber billig): »Willst du fünfzig Franken?«

Christof wurde purpurrot. Er trat so drohend an Diener heran, daß sich dieser schleunigst bis an die Tür zurückzog, sie öffnete und im Begriff stand, um Hilfe zu rufen. Christof aber begnügte sich damit, sein verzerrtes Gesicht an ihn heranzubringen:

»Schwein,« sagte er mit hallender Stimme.

Er stieß ihn aus dem Wege und schritt zwischen die Angestellten hindurch, hinaus. Auf der Schwelle spie er voller Ekel aus.

 

Mit großen Schritten lief er durch die Straßen. Er war trunken vor Zorn. Der Regen ernüchterte ihn. Wo ging er hin? Er wußte es nicht. Er kannte niemand. Vor einer Buchhandlung blieb er gedankenlos stehen und schaute ohne recht zu sehen auf die ausgestellten Bücher. Auf einem Umschlag fiel ihm der Name eines Verlegers auf. Er fragte sich, warum. Nach einem Augenblick erinnerte er sich, daß es der Name des Geschäftes sein müsse, in dem Sylvain Kohn angestellt war. Er notierte sich die Adresse ... Was lag ihm daran? Sicher würde er nicht hingehen ... Warum sollte er eigentlich nicht hingehen? ... Wenn dieser Schuft von Diener, der sein Freund gewesen war, ihn so empfing   was konnte er dann von einem Taugenichts erwarten, den er ohne viel Federlesens behandelt hatte und der ihn hassen mußte? Unnütze Demütigungen! Sein Blut empörte sich dagegen.   Aber ein Untergrund von Pessimismus, der ihm vielleicht aus seiner christlichen Erziehung geblieben war, drängte ihn dazu, die Gemeinheit der Leute bis aufs letzte auszukosten.

»Ich habe kein Recht, mich zu zieren. Erst heißt es, alles versuchen, bevor man krepiert.«

Eine Stimme in ihm fügte hinzu:

»Und ich werde nicht krepieren.«

Er versicherte sich von neuem der Adresse und ging zu Kohn, fest entschlossen, ihm bei der ersten Unverschämtheit ins Gesicht zu schlagen.

Das Verlagshaus befand sich in der Nähe der Madeleine. Christof stieg zu einem Empfangszimmer im ersten Stock empor und fragte nach Sylvain Kohn. Ein Angestellter in Livree antwortete ihm, »er kenne ihn nicht«. Der erstaunte Christof meinte, er habe schlecht ausgesprochen und wiederholte seine Frage; aber der Angestellte beteuerte, nachdem er aufmerksam zugehört hatte, daß niemand dieses Namens dem Hause angehöre. Ganz außer Fassung gebracht, entschuldigte sich Christof und wollte schon wieder fortgehen, als sich im Hintergrund eines Korridors eine Tür öffnete; er sah Kohn selber, der eine Dame begleitete. Unter dem Eindruck der Beleidigung, die er eben bei Diener erlitten hatte, war er im Augenblick zu glauben geneigt, daß ihn alle Welt zum Narren hielte. Sein erster Gedanke war also, Kohn habe ihn kommen sehen und dem Diener Befehl gegeben, zu sagen, er sei nicht da. Eine solche Schamlosigkeit benahm ihm den Atem. Empört wollte er hinausgehen, als er seinen Namen rufen hörte. Kohn hatte ihn mit seinen scharfen Augen von weitem erkannt; mit lächelndem Mund, mit ausgestreckten Händen und allen Anzeichen überströmender Freude eilte er auf ihn zu.

Sylvain Kohn war klein, untersetzt, nach amerikanischer Weise glatt rasiert; er hatte eine zu rote Haut, zu schwarze Haare, ein breites massiges Gesicht, verfettete Züge, kleine zusammengekniffene, spähende Augen, einen etwas schiefen Mund, ein plumpes verschlagenes Lächeln. Die Eleganz, mit der er angezogen war, suchte die Fehler seines Wuchses, seine hohen Schultern und seine breiten Hüften zu verbergen. Das war das einzige, was seine Eitelkeit bedrückte; er hätte herzlich gern ein paar Fußtritte hingenommen, wenn er dafür zwei oder drei Spannen größer geworden wäre und eine dünnere Taille bekommen hätte; im übrigen war er von sich höchst befriedigt; er glaubte sich unwiderstehlich. Das Tollste ist, daß er es war. Dieser kleine deutsche Jude, dieser Klotz, hatte sich zum Chronisten und Schiedsrichter der Pariser eleganten Welt gemacht. Er schrieb mit kompliziertem Raffinement nichtssagende Modeberichte. Er war der ritterliche Verfechter des guten französischen Stils, der französischen Eleganz, der französischen Galanterie, des französischen Geistes   Régence, talon rouge, Lauzun. Man machte sich über ihn lustig; aber das hinderte durchaus nicht, daß er Erfolg hatte. Die, welche meinen, Lächerlichkeit töte in Paris, kennen Paris nicht. Es gibt Leute, die an ihrer Lächerlichkeit nicht nur nicht sterben, sondern von ihr leben; in Paris gelangt man durch Lächerlichkeit zu allem, selbst zum Ruhm, selbst zur Gunst der Frauen. Sylvain Kohn konnte die Liebeserklärungen, die ihm seine Frankfurter Geschraubtheiten jeden Tag einbrachten, gar nicht mehr zählen. Er hatte eine harte Aussprache und redete mit Kopfstimme.

»Na, das ist eine Überraschung!« rief er fröhlich und schüttelte Christofs Hand mit seinen dicken kurzfingrigen Händen, die in eine allzu enge Haut gestopft schienen; er wollte Christof gar nicht mehr loslassen. Man hätte meinen können, er finde seinen besten Freund wieder. Er erkundigte sich nach allem, was Christof betraf, und dieser fragte sich, ob er sich über ihn lustig mache. Aber Kohn machte sich nicht lustig. Oder wenigstens nicht mehr, als gewöhnlich. Kohn trug nichts nach: dazu war er zu intelligent. Daß Christof ihn schlecht behandelt hatte, hatte er längst vergessen; und wenn er sich auch daran erinnert hatte, würde ihn das kaum bekümmert haben. Er war beglückt, vor einem alten Kameraden in der ganzen Wichtigkeit seiner neuen Stellung und seiner eleganten Pariser Manieren auftreten zu können. Er log nicht, wenn er seine Überraschung ausdrückte: Ein Besuch Christofs war das Letzte, an das er gedacht hätte; und war er auch erfahren genug, um im voraus zu wissen, daß ein bestimmter Zweck damit verbunden sei, so war er doch durchaus geneigt, dem entgegenzukommen, nur weil darin eine Anerkennung seiner Macht lag.

»Und Sie kommen aus der Heimat? Wie geht's der Mama?« fragte er mit einer Vertraulichkeit, die Christof in jedem andern Augenblick verletzt hätte, die ihm aber jetzt in dieser fremden Stadt wohltat.

»Aber wie kommt es,« fragte Christof immer noch ein wenig mißtrauisch, »daß man mir eben geantwortet hat, Herr Kohn sei nicht da?«

»Herr Kohn ist auch nicht da,« sagte Sylvain Kohn lachend. »Ich nenne mich nicht mehr Kohn, ich nenne mich Hamilton.«

Er unterbrach sich.

»Verzeihung,« sagte er.

Er ging auf eine vorübergehende Dame zu, um ihr die Hand zu schütteln, und schnitt ihr ein paar lächelnde Grimassen. Dann kam er wieder und erklärte, daß das eine Schriftstellerin wäre, die durch ihre glühend sinnlichen Romane berühmt sei. Die moderne Sappho trug ein violettes Ordensbändchen auf ihrer Bluse, hatte üppige Formen und brennendblonde Haare über einem vergnügten und geschminkten Gesicht; mit männlicher Stimme und hochburgundischer Aussprache machte sie hochtrabende Bemerkungen.

Kohn fuhr fort, Christof auszufragen. Er erkundigte sich nach allen Leuten der Vaterstadt, fragte, was aus diesem und jenem geworden sei, und setzte seinen Stolz darein, sich aller zu erinnern. Christof hatte seine Antipathie vergessen. Er antwortete mit dankbarer Vertraulichkeit, indem er eine Unmenge Einzelheiten auskramte, die Kohn absolut gleichgültig waren. Kohn unterbrach ihn von neuem.

»Verzeihung,« sagte er noch einmal.

Und er ging, eine neue Besucherin zu begrüßen.

»Ja, was ist denn das?« fragte Christof; »schreiben denn in Frankreich nur die Frauen?«

Kohn begann zu lachen und sagte geckenhaft:

»Frankreich ist eine Frau, mein Lieber; wenn Sie Erfolg haben wollen, so nützen Sie das aus.« Christof achtete nicht auf die Erklärung und fuhr in seinen Erzählungen fort. Um ein Ende zu machen, fragte Kohn:

»Wie, zum Teufel, sind Sie hergekommen?«

»Da haben wir's,« dachte Christof: Kohn wußte nichts. Darum war er so liebenswürdig. Wenn er es erfährt, wird es ganz anders werden. Er hielt es für seine Ehrenpflicht, alles, was ihn am meisten bloßstellen konnte, zu erzählen: seinen Streit mit den Soldaten, die gegen ihn eingeleitete Verfolgung, seine Flucht aus dem Lande.

Kohn bog sich vor Lachen:

»Bravo, bravo,« schrie er; »was für eine famose Geschichte!«

Er schüttelte ihm begeistert die Hand. Über jede lange Nase, die man der Autorität drehte, war er entzückt; und diese machte ihm um so mehr Spaß, als er die Helden der Geschichte kannte: er fühlte die ganze Komik der Angelegenheit.

»Hören Sie,« fuhr er fort. »Es ist zwölf Uhr vorbei. Machen Sie mir das Vergnügen und frühstücken Sie mit mir.«

Christof nahm voller Dankbarkeit an, er dachte: Er ist wirklich ein anständiger Mensch. Ich habe mich geirrt.

Sie gingen zusammen fort. Auf dem Wege brachte Christof aufs Geratewohl sein Ansinnen vor:

»Sie sehen jetzt, in welcher Lage ich mich befinde. Ich bin hierher gekommen, um Arbeit zu suchen, um Musikstunden zu geben und dabei abzuwarten, ob ich mich bekannt machen kann. Können Sie mich empfehlen?«

»Was für eine Frage!« meinte Kohn. »An wen Sie wollen! Ich kenne hier alle Welt und stehe Ihnen ganz zur Verfügung.«

Er war glücklich, zeigen zu können, wie gut er angeschrieben war.

Christof erging sich in Dankesbezeugungen. Er fühlte sein Herz um eine große Last erleichtert. Bei Tisch schlang er mit dem Appetit eines Menschen, der sich seit zwei Tagen nicht satt gegessen hat, alles in sich hinein. Er hatte sich eine Serviette um den Hals gebunden und aß mit dem Messer. Kohn Hamilton war über seine Gefräßigkeit und seine bäuerischen Manieren im höchsten Grade entsetzt. Nicht weniger verletzte ihn die geringe Aufmerksamkeit, die sein Tischgenosse für seine Ruhmredigkeiten übrig hatte. Er wollte ihn durch die Schilderung seiner vornehmen Beziehungen und seines Glücks bei Frauen verblüffen; aber das war vergebene Mühe: Christof hörte nicht zu und unterbrach ihn ohne Umstände. Seine Zunge löste sich und er wurde vertraulich. Sein Herz war von Dankbarkeit geschwellt und er beichtete naiv seine Zukunftspläne, was Kohn zu Tode langweilte. Vor allem geriet Kohn dadurch außer sich, daß Christof immer wieder über den Tisch hin seine Hand faßte und voller Rührung drückte. Und es setzte seinem Ärger die Krone auf, als Christof schließlich nach deutscher Sitte mit sentimentalen Worten auf die fernen Lieben und auf den Vater Rhein anstoßen wollte. Kohn sah entsetzt den Augenblick voraus, wo der andere zu singen beginnen würde. Die Nachbarn schauten ironisch zu ihnen herüber. Kohn schob dringende Angelegenheiten vor und stand auf. Christof hängte sich an ihn; er wollte wissen, wann er seine Empfehlung haben könne, wann er sich bei jemand vorstellen, wann er seine Stunden beginnen dürfe.

»Ich werde mich darum kümmern. Heute. Noch diesen Abend,« versprach Kohn. »Ich werde gleich davon sprechen. Sie können ganz ruhig sein.«

Christof ließ nicht nach:

»Wann kann ich Genaueres erfahren?«

»Morgen, ... morgen ... oder übermorgen.«

»Sehr schön. Ich werde morgen wiederkommen.«

»Nein, nein,« beeilte sich Kohn zu sagen, »ich werde Ihnen Nachricht geben. Machen Sie sich keine Umstände.«

»O, das macht mir keine Umstände. Im Gegenteil! Ich habe unterdessen nichts anderes in Paris zu tun.«

»Teufel!« dachte Kohn ... »Nein,« fuhr er laut fort, »ich will Ihnen lieber schreiben. Sie würden mich in diesen Tagen nicht treffen. Geben Sie mir Ihre Adresse.«

Christof diktierte sie ihm.

»Ausgezeichnet, ich schreibe Ihnen morgen.«

»Morgen?«

»Morgen, Sie können darauf zählen.«

Er machte sich aus Christofs Handgeschüttel los und ging schleunigst davon.

»Uff!« dachte er, »ist das ein langweiliger Quälgeist!«

Heimgekehrt, gab er dem Bureaudiener die Weisung, daß er nicht zu Hause wäre, wenn »der Deutsche« wiederkäme.   Zehn Minuten später hatte er ihn vergessen.

Christof kehrte in sein Hundeloch zurück. Er war ganz gerührt. Der gute Junge! Der gute Junge! dachte er, wie ungerecht war ich gegen ihn und er ist mir nicht einmal böse. Sein Gewissen drückte ihn; er war nahe daran, an Kohn zu schreiben, wie leid es ihm täte, ihn früher so schlecht beurteilt zu haben, und ihn wegen des Unrechts, das er ihm zugefügt hatte, um Verzeihung zu bitten. Die Tränen traten ihm in die Augen, wenn er daran dachte. Aber es fiel ihm weniger leicht, einen Brief als eine Partitur zu schreiben; und nachdem er zehnmal über die Tinte und die Feder des Hotels geflucht hatte, die in der Tat niederträchtig schlecht waren, nachdem er vier oder fünf Blätter beschmiert, durchgestrichen und zerrissen hatte, wurde er ungeduldig und schickte alles zum Teufel.

Der übrige Tag wurde ihm lang; aber Christof war von seiner schlechten Nacht und seinen Wegen am Morgen so ermüdet, daß er schließlich auf einem Sessel einschlummerte. Er erwachte gegen Abend aus seiner Betäubung, nur um sich zu Bett zu legen; und er schlief zwölf Stunden ohne Unterbrechung.

 

Am nächsten Morgen begann er von acht Uhr an auf die versprochene Antwort zu warten. Er zweifelte nicht an Kohns Pünktlichkeit. Er rührte sich nicht vom Hause fort, weil er meinte, Kohn würde vielleicht, bevor er in das Bureau ging, an seinem Hotel vorbeikommen. Um sich auch gegen Mittag nicht zu entfernen, ließ er sich sein Frühstück aus der Wirtschaft unten heraufbringen. Dann wartete er von neuem, denn er war sicher, daß ihn Kohn, wenn er aus dem Restaurant käme, besuchen würde. Er wanderte in seinem Zimmer hin und her, setzte sich nieder, begann wieder zu wandern, öffnete, wenn er Schritte auf der Treppe hörte, die Tür. Er empfand keinerlei Wunsch, in Paris spazieren zu gehen, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Er legte sich aufs Bett. Sein Denken kehrte beständig zu seiner alten Mutter zurück, die gleichfalls in diesem Augenblick an ihn dachte   als einzige seiner gedachte. Unendliche Zärtlichkeit erfüllte ihn für sie und es bedrückte ihn, sie verlassen zu haben. Aber er schrieb ihr nicht. Er wollte abwarten, bis er ihr von einer gesicherten Lebenslage berichten konnte, die er gefunden habe. Trotz der tiefen Liebe zueinander wäre doch keines von ihnen auf den Gedanken gekommen, einander zu schreiben, nur um sich zu sagen, daß sie sich lieb hätten: Ein Brief war für sie nur dazu da, Tatsächliches mitzuteilen.   Auf seinem Bett ausgestreckt, die Hände unter dem Kopf verschränkt, träumte er vor sich hin. Obgleich das Zimmer der Straße fern lag, erfüllte das Gemurmel von Paris die Stille. Das Haus zitterte.   Die Nacht kam von neuem, ohne daß ein Brief kam.

Ein anderer Tag begann, gleich dem vorhergehenden. Am dritten Tag beschloß Christof, den diese freiwillige Gefangenschaft in Wut zu bringen begann, auszugehen. Aber Paris verursachte ihm seit dem ersten Abend einen instinktiven Widerwillen. Er hatte keine Lust, irgendetwas anzuschauen, keinerlei Wißbegierde; er war allzusehr mit seinem Leben beschäftigt, als daß es ihm Spaß gemacht hätte, das der anderen mit anzusehen; und die Erinnerungen an die Vergangenheit, die Monumente in einer Stadt, hatten ihn stets gleichgültig gelassen. Kaum auf der Straße, langweilte er sich denn auch schon so, daß er, obgleich ursprünglich fest entschlossen, vor Ablauf von acht Tagen zu Kohn nicht zurückzukehren, geradenwegs zu ihm ging. Der Diener, der den Befehl erhalten hatte, sagte, daß Herr Hamilton in Geschäften verreist sei. Das war ein Schlag für Christof. Stammelnd fragte er, wann Herr Hamilton zurückkehren werde. Der Angestellte antwortete ihm aufs Geratewohl: in etwa zehn Tagen. Betreten kehrte Christof nach Hause zurück und vergrub sich in den folgenden Tagen in seinem Zimmer. Es war ihm unmöglich, sich wieder an eine Arbeit zu machen. Mit Schrecken bemerkte er, daß seine kleinen Ersparnisse   das bißchen Geld, das seine Mutter ihm, sorgfältig in das Taschentuch geknüpft, auf dem Grund seines Koffers geschickt hatte   sich schnell verringerten. Er aß wenig. Nur abends ging er in den Gasthof hinunter, wo er bei den Kunden schnell unter dem Namen »der Preuß« oder »Herr Sauerkraut« bekannt geworden war.   Er schrieb mit peinlichster Anstrengung zwei oder drei französische Briefe an Musiker, deren Namen ihm so ungefähr bekannt waren. Einer von ihnen war seit zehn Jahren tot. Er fragte sie, ob sie ihn gütigst empfangen wollten. Die Orthographie war grotesk und der Stil mit den langen Perioden und herkömmlichen Phrasen verschnörkelt, die man im Deutschen gewohnt ist. Er adressierte die Epistel » Au Palais de l'Académie de France.«   Der einzige, der sie las, machte sich mit seinen Freunden darüber lustig.

Nach einer Woche ging Christof von neuem in den Verlag. Diesmal war ihm der Zufall günstig. Auf der Schwelle stieß er mit Sylvain Kohn zusammen, der eben fortging. Kohn schnitt ein Gesicht, als er sich ertappt sah; aber Christof war so glücklich, daß er nichts davon merkte. Er hatte, seiner aufreizenden Gewohnheit nach, Kohns Hände gepackt und fragte ihn voller Freude:

»Sie waren auf Reisen? Sind Sie gut gereist?«

Kohn fügte sich in das Unvermeidliche, doch seine Stirn entrunzelte sich nicht.

Christof fuhr fort:

»Ich war schon einmal hier, Sie wissen doch? Man hat es Ihnen doch ausgerichtet? ... Nun, was gibt's Neues? Sie haben von mir gesprochen? Was hat man Ihnen geantwortet?«

Kohn zog sich mehr und mehr in sich zusammen.

Christof war über seine Steifheit erstaunt. Das war nicht mehr derselbe Mensch.

»Ich habe von Ihnen gesprochen,« sagte Kohn, »aber ich weiß noch nichts; viel Zeit habe ich nicht gehabt. Ich war sehr in Anspruch genommen, seit wir uns sahen. Geschäfte bis über die Ohren. Ich weiß nicht, wie ich mit allem fertig werden soll. Man wird ganz kaput. Ich werde schließlich noch krank werden.«

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Christof in besorgter Anteilnahme.

Kohn streifte ihn mit einem spitzbübischen Blick und antwortete: »Gar nicht wohl; ich weiß nicht, was ich seit ein paar Tagen habe. Ich fühle mich sehr schlecht.«

»Aber mein Gott,« rief Christof, indem er seinen Arm nahm, »pflegen Sie sich doch vor allem. Sie müssen sich ausruhen. Wie ärgerlich, daß ich Ihnen auch noch diese Mühe auflade. Sie hätten es mir sagen sollen. Was fühlen Sie denn genau?«

Er nahm die schlechten Ausreden des anderen so ernst, daß Kohn, von dieser komischen Herzlichkeit entwaffnet, eine stille Heiterkeit überkam, die er nach Möglichkeit zu verbergen trachtete. Die Ironie ist den Juden ein so köstlicher Genuß (und eine ganze Anzahl von Christen in Paris sind in diesem Punkte Juden), daß sie ganz besonders nachsichtig gegen alle Störer und selbst Feinde sind, die ihnen Gelegenheit geben, diese Ironie auf ihre Kosten zu betätigen. Übrigens konnte Kohn auch nicht umhin, sich durch das Interesse, das Christof an seiner Person nahm, gerührt zu fühlen. Er war geneigt, ihm einen Dienst zu erweisen.

»Mir kommt ein Gedanke,« sagte er. »Würden Sie, solange Sie noch keine Stunden haben, musikalische Verlagsarbeiten übernehmen?«

Christof sagte voller Eifer zu.

»Ich habe, was Sie brauchen. Ich bin mit dem Chef eines der größten musikalischen Verlagshäuser, Daniel Hecht, gut bekannt. Ich werde Sie vorstellen: Sie werden sehen, was es zu tun gibt. Ich selbst, wissen Sie, verstehe nichts davon. Hecht aber ist ein echter Musiker. Sie werden sich ohne Schwierigkeit verständigen.«

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Kohn war nicht ungehalten, Christof auf diese Weise los zu werden, während er ihn noch obendrein verpflichtete.

 

Am nächsten Morgen holte Christof Herrn Kohn im Geschäft ab. Er hatte auf seinen Rat hin ein paar Kompositionen mitgebracht, um sie Hecht zu zeigen. Sie fanden ihn in seiner Musikalienhandlung bei der Oper. Hecht ließ sich durch ihr Kommen nicht stören. Kohns Händedruck beantwortete er kühl mit zwei Fingern und den feierlichen Gruß Christofs gar nicht. Auf Kohns Bitte ging er mit ihnen in ein Nebenzimmer. Stühle bot er ihnen nicht an. Er lehnte sich an den ungeheizten Kamin und starrte die Wand an.

Daniel Hecht war ein Mann von etwa vierzig Jahren, groß, kalt, sorgfältig angezogen; ein Typus von ausgeprägt phönizischem Charakter; er sah intelligent und unangenehm aus: ein verbissenes Gesicht, schwarzes Haar, ein langer viereckiger assyrischer Königsbart. Er schaute einem fast niemals gerade ins Gesicht und hatte eine eisige brutale Art zu sprechen, die, selbst wenn er nur guten Tag sagte, wie eine Beleidigung traf. Diese Unverschämtheit war mehr scheinbar als tatsächlich. Sicherlich entsprach sie einem geringschätzigen Zug seines Wesens; aber sie wurde noch mehr durch das Automatische und Geschraubte seines Gebarens verschuldet. Juden dieser Art sind nicht selten; und die öffentliche Meinung will ihnen nicht wohl: sie hält diese unerbittliche Steifheit für Anmaßung, während sie doch oft nur der Ausdruck einer unheilbaren Ungeschicklichkeit von Leib und Seele ist.

Sylvain Kohn stellte mit selbstgefälligem Geschwätz und übertriebenen Lobeserhebungen seinen Schützling vor. Christof, durch diesen Empfang aus der Fassung gebracht, Hut und Manuskripte in der Hand, trat von einem Fuß auf den andern. Nachdem Kohn fertig war, wandte Hecht, der bis dahin von Christofs Anwesenheit keine Notiz genommen hatte, hochmütig diesem den Kopf zu und sagte, ohne ihn anzuschauen:

»Krafft ... Christof Krafft ... habe niemals den Namen gehört.«

Für Christof war dieses Wort wie ein Faustschlag gegen die Brust; die Röte stieg ihm ins Gesicht. Er antwortete voller Zorn:

»Sie werden ihn später hören.«

Hecht verzog keine Miene und fuhr unerschütterlich, als ob Christof Luft sei, fort:

»Krafft ... kenne ich nicht.«

Er gehörte zu den Leuten, für die es schon eine sehr schlechte Note bedeutete, wenn sie jemand nicht kannten.

Deutsch fuhr er fort:

»Und Sie sind aus dem Rheinland? ... Es ist erstaunlich, wieviele Leute sich dort mit Musik befassen. Ich glaube, es gibt kaum einen, der nicht behauptet, Musiker zu sein.«

Er wollte scherzen und keine Unverschämtheit sagen; Christof aber nahm es anders auf. Er hätte widersprochen, wenn Kohn ihm nicht zuvorgekommen wäre.

»Bitte, entschuldigen Sie,« sagte er zu Hecht, »Sie werden mir gerechterweise zugeben, daß ich mich nicht damit befasse.«

»Das macht Ihnen Ehre,« antwortete Hecht.

»Wenn man, um Ihnen zu gefallen, nicht Musiker sein darf,« sagte Christof trocken, »so tut es mir leid, Ihnen nicht dienen zu können.«

Hecht fuhr mit derselben Gleichgültigkeit, den Kopf noch immer zur Seite gewandt, fort:

»Sie haben schon komponiert? Was haben Sie gemacht? Lieder natürlich?«

»Lieder, zwei Symphonien, symphonische Dichtungen, Quartette, Klavierstücke, Bühnenmusik,« sagte Christof wütend.

»Man schreibt in Deutschland viel,« meinte Hecht mit herablassender Höflichkeit.

Er war dem Neuankömmling gegenüber um so mißtrauischer, als dieser so viele Werke geschrieben hatte und er, Daniel Hecht, sie nicht kannte.

»Nun,« sagte er, »ich könnte Sie vielleicht beschäftigen, da Sie mir von meinem Freund Hamilton empfohlen worden sind. Wir geben hier in diesem Augenblick eine Sammlung, eine Jugendbibliothek heraus, in der wir leichte Klavierstücke publizieren. Könnten Sie den Carneval von Schumann vereinfachen und ihn sechs- und achthändig arrangieren?«

Christof fuhr auf:

»Und das bieten Sie mir an, mir, mir?«

Dieses naive »mir« machte Kohn großen Spaß; Hecht aber setzte eine beleidigte Miene auf.

»Ich sehe gar nicht ein, was Sie daran erstaunen kann? Das ist durchaus keine leichte Arbeit. Wenn sie Ihnen zu einfach scheint, um so besser. Das Weitere werden wir sehen: Sie sagen mir, daß Sie ein guter Musiker seien. Ich muß Ihnen glauben, aber schließlich kenne ich Sie nicht.«

Für sich dachte er:

Wenn man all diesen Burschen glauben wollte, so wären sie fähig, Johannes Brahms selber über den Löffel zu barbieren. Ohne zu erwidern, setzte Christof den Hut auf (denn er hatte sich vorgenommen, seine Wutanfälle zu unterdrücken) und wandte sich zur Tür. Kohn hielt ihn lachend zurück:

»Warten Sie, warten Sie doch,« sagte er, und indem er sich zu Hecht wandte:

»Er hat gerade ein paar seiner Stücke mitgebracht, damit Sie sich eine Idee davon machen können.«

»Ach,« sagte Hecht gelangweilt. »Na gut, sehen wir's an.«

Christof streckte ihm, ohne ein Wort zu sagen, die Manuskripte entgegen. Hecht warf nachlässig einen Blick darauf.

»Was ist das? Ein Klavierstück ... (er las) Ein Tag ... ach? ewig Programmusik ...«

Trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit las er mit großem Interesse. Er war ein ausgezeichneter Musiker, beherrschte seinen Beruf, über den er allerdings nicht hinaussah; von den ersten Takten an fühlte er genau, mit wem er es zu tun hatte. Er schwieg und blätterte mit hochmütiger Miene in dem Werk: er war von dem Talent, das sich ihm offenbarte, verblüfft. Aber sein angeborener Trotz und seine durch Christofs Art verletzte Eitelkeit verboten ihm, irgendetwas merken zu lassen. Schweigend las er bis zu Ende, wobei er sich keine Note entgehen ließ.

»Ja,« sagte er schließlich in gönnerhaftem Ton, »ganz gut geschrieben.«

Eine harte Kritik hätte Christof weniger verletzt.

»Ich habe nicht nötig, daß man mir das sagt,« schrie er außer sich.

»Immerhin bilde ich mir ein,« sagte Hecht, »daß Sie mir das Stück zeigen, damit ich sage, was ich darüber denke.«

»Durchaus nicht.«

»Dann weiß ich nicht,« meinte Hecht geärgert, »was Sie eigentlich von mir wollen.«

»Ich bitte Sie um Arbeit, um nichts anderes.«

»Etwas anderes, als wovon ich Ihnen bereits sprach, kann ich Ihnen im Augenblick nicht anbieten. Auch dessen bin ich noch nicht sicher. Ich sagte, es könnte sich vielleicht machen.«

»Und Sie haben keine andere Möglichkeit, einen Musiker wie mich zu beschäftigen?«

»Einen Musiker wie Sie?« sagte Hecht mit verletzender Ironie. »Mindestens ebenso gute Musiker wie Sie haben diese Tätigkeit nicht unter ihrer Würde gefunden. Manche, die ich nennen könnte und die jetzt in Paris wohlbekannt sind, waren mir deswegen dankbar.«

»Dann sind sie eben jämmerliche Kerle,« brach Christof los. »Sie irren sich, wenn Sie meinen, mit einem von der Sorte zu tun zu haben. Meinen Sie, mir mit Ihrer Art, einem nicht gerade ins Gesicht zu schauen und so obenhin zu sprechen, zu imponieren? Sie waren nicht einmal so gnädig, meinen Gruß zu erwidern, als ich hereinkam ... Ja, wer sind Sie denn eigentlich, daß sie glauben, so mit mir umgehen zu können? Sind Sie überhaupt ein Musiker? Haben Sie jemals etwas komponiert? ... Und Sie unterstehen sich, mich lehren zu wollen, wie man komponiert, mich, dem Komponieren das Leben bedeutet! ... Und nachdem Sie meine Musik gelesen haben, wissen Sie mir nichts Besseres anzubieten, als große Musiker zu verstümmeln und aus ihren Werken Pfuschereien zu machen, damit die kleinen Mädchen danach tanzen können! Wenden Sie sich an Ihre Pariser, wenn die erbärmlich genug sind, sich von Ihnen schulmeistern zu lassen! Ich meinerseits ziehe es vor, zu krepieren!«

Es war unmöglich den Sturzfall aufzuhalten.

Hecht sagte eisig: »Wie Sie wollen!«

Christof ging hinaus und ließ die Türen krachen. Hecht zuckte die Achseln und sagte zu dem lachenden Sylvain Kohn:

»Er wird wiederkommen, ganz wie die andern.«

Im Grunde imponierte ihm Christof. Er war intelligent genug, um den Wert, nicht nur der Werke, sondern der Menschen einzuschätzen. Unter der beleidigenden Wut Christofs hatte er eine Kraft gespürt, deren Seltenheit   ganz besonders in der Künstlerwelt   er kannte. Aber sein Selbstgefühl versteifte sich: um keinen Preis hätte er sich dazu bewegen lassen, sein Unrecht einzugestehen. Er fühlte das aufrichtige Bedürfnis, Christof Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber er war dazu unfähig, solange Christof sich nicht vor ihm demütigte. Er wartete darauf, daß Christof zu ihm zurückkehre: sein trauriger Skeptizismus und seine Menschenerfahrung hatten ihn gelehrt, daß das Elend jeden Willen unwiderstehlich bricht.

 

Christof ging heim. Sein Zorn hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Er fühlte sich verloren. Die schwache Stütze, auf die er gezählt hatte, war niedergebrochen. Er zweifelte nicht daran, daß er sich einen Todfeind gemacht hatte, und zwar nicht allein in Hecht, sondern auch in Kohn, der ihn vorgestellt hatte. In einer feindlichen Stadt war er nun vollständiger Einsamkeit ausgeliefert. Außer Diener und Kohn kannte er niemand. Seine Freundin Corinne, die schöne Schauspielerin, an die er sich in Deutschland angeschlossen hatte, war nicht in Paris; sie bereiste wieder das Ausland, und zwar Amerika, und diesmal für eigene Rechnung: denn sie war berühmt geworden; in den Zeitungen erschollen lärmende Echos ihrer Reise. Es blieb als Bekannte noch die kleine französische Lehrerin, die um seinetwillen, ohne sein Zutun, aus ihrer Stellung entlassen worden war und deren Andenken ihn lange Zeit wie ein Vorwurf verfolgt hatte; wie oft hatte er sich vorgenommen, sie aufzusuchen, wenn er einmal in Paris sein würde. Doch jetzt, da er in Paris war, merkte er, daß er nur eines vergessen hatte: ihren Namen. Unmöglich, sich ihn ins Gedächtnis zurückzurufen. Er erinnerte sich nur an den Vornamen: Antoinette. Welches Mittel hätte er übrigens gehabt, selbst wenn ihm der Name wieder eingefallen wäre, eine arme kleine Lehrerin in diesem menschlichen Ameisenhaufen wiederzufinden!

Er mußte sich so schnell wie möglich etwas verschaffen, wovon er leben konnte. Von seiner Barschaft waren noch fünf Franken übrig. Trotz seines Widerwillens überwand er sich daher, seinen Wirt, den dicken Gasthausbesitzer, zu fragen, ob dieser in dem Stadtviertel nicht Leute kenne, denen er, Christof, Klavierstunden geben könne. Ein Mieter, der nur einmal täglich aß und Deutsch sprach, flößte dem Mann von vornherein mäßige Achtung ein; als er jetzt erfuhr, daß er nur Musiker sei, verlor er den letzten Respekt. Er war ein Franzose vom alten Schlag, für den die Musik ein Beruf für Nichtstuer ist. Er spottete:

»Klavier! ... kann darüber nichts sagen. Sie klimpern Klavier? Mein Kompliment ... Allerdings komisch, so einen Beruf aus Neigung zu betreiben. Mir macht jede Musik den Eindruck, als ob es regnete ... Übrigens könnten Sie mir ja etwas beibringen. Was meint ihr dazu, ihr da?« rief er, indem er sich nach den trinkenden Arbeitern umwandte.

Sie lachten geräuschvoll.

»Ein hübscher Beruf,« meinte der eine. »Schmutzig wird man nicht dabei. Und außerdem gefällts den Damen.«

Christof verstand nur schlecht Französisch und Neckereien noch schlechter; er suchte nach Worten; er wußte nicht, ob er böse werden sollte. Die Frau des Wirts hatte Mitleid mit ihm:

»Na, na, Philipp, rede keinen Unsinn,« sagte sie zu ihrem Mann. »Es ist immerhin möglich,« fuhr sie, zu Christof gewandt, fort, »daß sich jemand findet, wie Sie ihn suchen.«

»Wer denn?« fragte der Mann.

»Die kleine Grasset. Du weißt, man hat ihr ein Klavier gekauft.«

»Ach, diese Zieraffen! Das stimmt.«

Man teilte Christof mit, daß es sich um die Tochter des Fleischers handle: ihre Eltern wollten eine Dame aus ihr machen; sie würden vielleicht zugeben, daß sie Stunden nähme, wenn auch nur, damit die Leute darüber redeten. Die Frau des Hotelwirts versprach, sich darum zu kümmern.

Am nächsten Morgen sagte sie zu Christof, daß die Fleischerin ihn sehen wolle. Er ging zu ihr. Er fand sie in ihrem Laden, inmitten von Tierkadavern. Sie war eine stattliche Frau von blühender Farbe und süßlichem Lächeln, und setzte eine würdige Miene auf, als sie erfuhr, in welcher Angelegenheit er käme. Sofort ging sie auf die Geldfrage los und beeilte sich, auseinanderzusetzen, daß sie nicht viel ausgeben wolle, da das Klavier ja etwas Angenehmes, aber nichts Notwendiges sei: sie bot ihm fünfzig Centimes für die Stunde. Keinesfalls wollte sie mehr als vier Franken wöchentlich zugestehen. Darauf fragte sie Christof mißtrauisch, ob er denn wenigstens etwas von Musik verstände. Als er ihr sagte, daß er nicht nur etwas davon verstände, sondern sogar komponierte, schien sie beruhigt und wurde liebenswürdiger: ihrer Eitelkeit war geschmeichelt; sie nahm sich vor, in der ganzen Nachbarschaft die Neuigkeit zu verbreiten, daß ihre Tochter bei einem Komponisten Stunden nehme.

Als Christof sich am nächsten Morgen vor dem Klavier sitzen fand   einem entsetzlichen Instrument, das als Gelegenheitskauf erworben worden war und einen Ton wie eine Gitarre hatte   neben der Fleischerstochter, deren kurze dicke Finger über die Tasten taumelten, die unfähig war, einen Ton vom andern zu unterscheiden, die sich vor Langerweile wand, die ihm von den ersten Augenblicken an ins Gesicht gähnte   als er die Oberaufsicht der Mutter und ihre Unterhaltung, ihre Ideen über Musik und musikalische Erziehung erdulden mußte   fühlte er sich elend, so elend gedemütigt, daß er nicht einmal mehr die Kraft zur Empörung fand. Er kehrte von dort stets im Zustand tiefster Niedergeschlagenheit heim; an manchen Abenden konnte er nicht essen. Wie tief würde er noch sinken, wenn es mit ihm nach wenigen Wochen schon bis dahin gekommen war? Was hatte es ihm genützt, sich gegen Hechts Anerbieten aufzulehnen? Was er jetzt angenommen hatte, war noch erniedrigender.

Eines Abends übermannten ihn in seinem Zimmer die Tränen; er warf sich verzweifelt vor seinem Bett auf die Knie, er betete ... Zu wem betete er? Zu wem konnte er beten? Er glaubte nicht an Gott, glaubte, daß es keinen Gott gebe ... Aber er mußte beten, mußte zu sich beten. Nur die Minderwertigen beten niemals. Sie kennen nicht die Notwendigkeit starker Seelen, sich von Zeit zu Zeit in ihr Allerheiligstes zurückzuziehen. Den Demütigungen des Tages entronnen, fühlte Christof in der tönenden Stille seines Herzens die Gegenwart seines ewigen Wesens, seines Gottes. Die Wellen des elenden Lebens bewegten sich unter ihm, ohne bis zu ihm heranzureichen: welche Gemeinsamkeit bestand zwischen diesem Leben und ihm? Alle die Schmerzen, die ingrimmig zerstören wollen, hatten sich an seinem Felsen gebrochen. Christof hörte das Pochen seiner Adern wie eine innere Brandung und eine Stimme, die wieder und wieder sprach:

»Ewiger ... Ich bin ... Ich bin ...«

Er kannte sie wohl: soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte er diese Stimme allzeit gehört. Es kam vor, daß er sie vergaß; oft verlor er für Monate das Bewußtsein von ihrem mächtigen und eintönigen Rhythmus; doch er wußte, daß sie da war, daß sie, gleich dem Dröhnen des Ozeans in der Nacht, niemals aufhörte. Auch jetzt schöpfte er wie jedesmal, wenn er in diese Musik niedertauchte, neue Ruhe und Lebenskraft aus ihr. Voll inneren Friedens stand er wieder auf. Nein, in dem harten Leben, das er führte, war wenigstens nichts, dessen er sich zu schämen brauchte; er konnte sein Brot essen, ohne zu erröten; jene, die es ihn um diesen Preis erkaufen ließen, hatten zu erröten. Geduld! Geduld! Die Zeit würde kommen ... Aber am nächsten Morgen fehlte ihm die Geduld von neuem; und trotz allen seinen Anstrengungen brach eines Tages während der Stunde in ihm die Wut gegen die dumme Gans los, die zum Überfluß noch unverschämt wurde, sich über seine Aussprache lustig machte und mit spitzbübischer Bosheit das Gegenteil von dem tat, was Christof sagte. Auf Christofs Zornrufe antwortete ein Geschrei des Dämchens, das erschreckt und empört war, weil ein Mann, den sie bezahlte, wagte, es an Respekt gegen sie fehlen zu lassen. Sie schrie, daß er sie geschlagen habe (Christof hatte sie ziemlich fest am Arm geschüttelt).   Die Mutter stürzte wie eine Furie herbei und überhäufte ihre Tochter mit Küssen und Christof mit Schimpfworten. Hierauf erschien noch der Fleischer und erklärte, er gebe nicht zu, daß ein lumpiger Preuße sich unterstehe, seine Tochter anzurühren. Christof, bleich vor Zorn, voller Scham, unentschlossen, ob er den Mann, die Frau und die Tochter erwürgen solle, machte sich unter der Flut von Schimpfworten davon. Seine Wirtsleute sahen ihn verstört heimkehren und brachten ihn ohne große Mühe zum Erzählen der Geschichte; den Nachbarn gegenüber hatten sie ihre Schadenfreude daran. Am Abend aber erzählte man sich im ganzen Stadtviertel, daß der Deutsche ein brutaler Kerl sei, der die Kinder schlüge.

 

Christof versuchte es noch einmal bei den Musikalienhändlern; es führte zu nichts. Er fand die Franzosen wenig entgegenkommend und ihre undisziplinierte Geschäftigkeit verblüffte ihn. Er empfing den Eindruck einer anarchischen Gesellschaft, die von einer brummigen und despotischen Bürokratie beherrscht wurde.

Eines Abends, als er, entmutigt von der Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen, über die Boulevards irrte, sah er Sylvain Kohn, der ihm entgegenkam. Da er überzeugt war, daß sie miteinander entzweit wären, blickte er weg und versuchte, unbemerkt vorüberzukommen.

Kohn aber rief ihn an:

»Ja, wo stecken Sie denn seit jenem famosen Tag?« fragte er lachend. »Ich wollte zu Ihnen kommen; aber ich habe Ihre Adresse verlegt ... Bei Gott, mein Lieber, ich hätte Ihnen das nicht zugetraut. Sie haben sich heroisch aufgeführt.«

Christof schaute ihn überrascht und ein wenig beschämt an:

»Sind Sie mir nicht böse?«

»Ihnen böse sein? Welche Idee!«

Weit davon entfernt, ihm böse zu sein, hatte er sich vielmehr an der Art und Weise ergötzt, in der Christof Hecht abgeführt hatte: er hatte dabei einen prächtigen Augenblick erlebt. Ob Hecht oder Christof recht hatte, war ihm höchst gleichgültig; er beurteilte die Leute nur nach dem Grad des Vergnügens, das sie ihm verschaffen konnten; und er hatte in Christof eine Quelle höchster Komik entdeckt, von der er sich viel versprach.

»Sie hätten zu mir kommen sollen,« fuhr er fort. »Ich erwartete Sie. Was haben Sie heute abend vor? Sie essen mit mir. Ich lasse Sie nicht aus. Wir werden unter uns sein: nur ein paar Künstler, die alle vierzehn Tage einmal zusammenkommen. Sie müssen den Kreis unbedingt kennen lernen. Kommen Sie doch. Ich stelle Sie vor.«

Christof entschuldigte sich vergeblich mit seinem Anzug. Sylvain Kohn nahm ihn mit.

Sie traten in ein Boulevard-Restaurant und gingen in den ersten Stock hinauf. Christof fand sich inmitten einiger dreißig junger Leute zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren, die lebhaft miteinander diskutierten. Kohn stellte ihn als soeben den deutschen Gefängnissen entwischt vor. Sie beachteten ihn in keiner Weise und unterbrachen nicht einmal ihre leidenschaftliche Unterhaltung, in die sich Kohn, kaum daß er da war, sofort hineinstürzte.

Christof, durch diese Gesellschaft Auserwählter eingeschüchtert, schwieg und war ganz Ohr. Da er nur mit Mühe dem Schwall französischer Worte folgen konnte, gelang es ihm nicht zu verstehen, welche großen künstlerischen Interessen abgehandelt wurden. Wie sehr er auch lauschte, er unterschied nichts als Worte wie »Trust«, »Wucherankauf«, »Fallen der Preise«, »Höhe der Einnahmen«, vermischt mit solchen wie »Würde der Kunst«, »Rechte des Schriftstellers«. Endlich merkte er, daß es sich um geschäftliche Unternehmungen handelte. Eine Anzahl Autoren gehörten, wie es schien, zu einer Finanzgesellschaft und entrüsteten sich über Versuche, die gemacht wurden, um eine Konkurrenzgesellschaft zu gründen, die der ihren das Ausbeutungsmonopol streitig machen wollte. Die Abtrünnigkeit einiger ihrer Verbündeten, die es für vorteilhaft gehalten hatten, mit Sack und Pack in das Konkurrenzhaus überzugehen, brachte sie zu wildester Empörung. Sie redeten von nichts Geringerem als vom Halsabschneiden. »… Entartung ... Verrat ... Entehrung ... Verkaufte ...« Andere hielten sich nicht an die Lebenden: Sie hatten es mit den Toten zu tun, deren kostenloser Nachdruck den Markt versperrte. Die Werke Mussets waren anscheinend eben Gemeingut geworden und wurden viel zu viel gekauft. Daher verlangte man einen energischen Schutz des Staates, der die Meisterwerke der Vergangenheit mit hohen Steuern belegen sollte, um ihrem Vertrieb zu niedrigen Preisen entgegenzuarbeiten, den man heftig als die Maßnahme eines unlauteren Wettbewerbs mit der Künstlerware der Gegenwart bezeichnete. Die einen wie die anderen unterbrachen sich, um mit anzuhören, wie hoch die Einnahme war, die das und das Stück am vorhergehenden Abend erzielt hatte. Alle waren außer sich über das Glück eines in beiden Welten berühmten Veteranen der dramatischen Kunst, den sie verachteten, aber noch mehr beneideten.   Von den Einnahmen der Autoren ging man zu denen der Kritiker über. Man unterhielt sich darüber, was einer ihrer bekannten Kollegen angeblich (zweifellos der reinste Klatsch!) für jede Premiere eines Boulevards-Theaters bezog, damit er Gutes darüber schriebe. Er war ein ehrlicher Mann: Nachdem der Handel einmal abgeschlossen war, hielt er ihn redlich ein; seine besondere Kunst jedoch war   (nach dem, was sie behaupteten)   das Lob des Stückes derartig zu halten, daß es so schnell wie möglich abfallen mußte; auf diese Weise bekam er oft Premièren. Man lachte über die Geschichte, wunderte sich aber durchaus nicht.

Zwischendurch redeten sie große Worte; sie sprachen von »Dichtung«, von »Kunst um der Kunst willen.« In diesem Pfenniggeklimper klang das wie »Kunst um des Geldes willen«; diese neuestens in die französische Literatur eingeführten Pferdehändlermanieren empörten Christof. Da er von Geldgeschäften nichts verstand, hatte er, als sie aufhörten von Literatur oder doch wenigstens von Literaten zu sprechen, darauf verzichtet, der Unterhaltung zu folgen. Als er den Namen Victor Hugos vernahm, spitzte er von neuem das Ohr.

Man wollte wissen, ob Victor Hugo von seiner Frau betrogen worden sei. Lang und breit stritten sie über die Liebschaft zwischen Sainte-Beuve und Frau Hugo. Hierauf sprachen sie über die Liebhaber von George Sand und über die Verdienste jedes von beiden. Die Hauptbeschäftigung der damaligen literarischen Kritik bestand in dergleichen. Nachdem sie im Hause großer Männer alles ausgekundschaftet, die Wandschränke durchsucht, die Schiebladen gewendet und die Schränke geleert hatten, durchstöberten sie die Schlafkammer. Die Situation des Herrn von Lauzun, wie er unter dem Bett des Königs und der Montespan platt auf dem Bauch liegt, gehörte zu denen, welche sie an ihrem Kultus der Geschichte und Wahrheit besonders interessierten: Alle Leute dieser Zeit trieben, wie man weiß, den Kultus der Wahrheit. Christofs Tischgenossen zeigten deutlich, wie sehr sie davon besessen waren: bei ihrem Aufspüren der Wahrheit wurden sie keiner Einzelheit überdrüssig. Sie stöberten mit ihrem Späherblick in der gegenwärtigen ebenso wie in der vergangenen Kunst herum; und sie untersuchten mit derselben Leidenschaft für Genauigkeit das Privatleben manches ihrer bekanntesten Zeitgenossen. Es war eigentümlich, daß sie die geringsten Einzelheiten von Szenen kannten, die gewöhnlich jedes Zeugen entbehren. Man mußte glauben, daß die Beteiligten aus Liebe zur Wahrheit als erste dem Publikum genaue Auskunft gaben. Christof fühlte sich mehr und mehr peinlich berührt und versuchte mit seinen Nachbarn von etwas anderem zu sprechen. Keiner aber kümmerte sich um ihn. Zuerst hatten sie ihm wohl einige unbestimmte Fragen über Deutschland gestellt   Fragen, die ihm zu seinem großen Erstaunen die fast völlige Unwissenheit offenbarten, in der sich diese, wie es schien, feinen und gebildeten Menschen in betreff der einfachsten Dinge ihres Berufes   Literatur und Kunst   außerhalb von Paris befanden; höchstens hatten sie einige große Namen nennen hören: Hauptmann, Sudermann, Liebermann, Strauß (David, Johann und Richard); zwischen ihnen schlängelten sie sich aus Furcht vor irgendeiner schlimmen Verwechslung vorsichtig hindurch. Wenn sie im übrigen Christof gefragt hatten, so war es nur aus Höflichkeit geschehen, nicht aus Wißbegierde: die hatten sie nicht; kaum hatten sie auf seine Antworten acht gegeben; schleunigst waren sie auf ihre Pariser Angelegenheiten, die die übrige Tischgesellschaft ergötzten, zurückgekommen. Christof versuchte schüchtern von Musik zu sprechen. Keiner dieser Literaten war musikalisch. Im Grunde sahen sie die Musik als eine untergeordnete Kunst an. Doch ihr seit einigen Jahren wachsender Erfolg ärgerte sie heimlich; und da sie nun einmal in Mode war, taten sie, als ob sie sich dafür interessierten. Vor allem schlugen sie um eine neue Oper großen Lärm, von welcher an sie ungefähr die Musik datierten oder doch wenigstens ein neues Zeitalter der Musik. Ihrer Unwissenheit und ihrem Snobismus war dieser Gesichtspunkt recht bequem, da er sie der Notwendigkeit enthob, die ganze übrige Musik zu kennen. Der Komponist dieser Oper, ein Pariser, dessen Namen Christof zum erstenmal hörte, hatte, wie manche behaupteten, mit allem, was vor ihm war, reinen Tisch gemacht, alles aus einem Guß erneuert, die Musik wiedergeboren. Christof fuhr auf. Er wünschte nichts Besseres, als an das Genie zu glauben. Aber ein Genie dieses Schlages, das mit einem Hieb die Vergangenheit null und nichtig machte ... Donnerwetter! Das war ein Kerl; wie zum Teufel hatte er das angestellt?   Er bat um Aufklärungen. Die andern, denen es recht schwer gefallen wäre, ihm solche zu geben, und die Christof zu Tode langweilte, wandten sich an den Musiker der Gesellschaft, den großen Musikkritiker Theophile Goujart, der sofort von Septimen und Nonen mit ihm zu reden anfing. Christof folgte ihm auf dieses Feld. Goujart verstand ungefähr soviel von Musik wie Sganarelle vom Latein ...

»… Sie verstehen nicht Latein?«

»Nein.«

»(Mit Begeisterung) Cabricias, arci thuram, cacalamus, singulariter, ... bonus, bona, bonum ...«

Da er sich jetzt einem Mann, der »Latein verstand«, gegenüber sah, zog er sich sofort vorsichtig in das Gestrüpp der Ästhetik zurück. Von diesem uneinnehmbaren Schlupfwinkel aus machte er sich daran, Beethoven, Wagner und die klassische Kunst hinzurichten, von denen ja nicht die Rede war: aber in Frankreich kann man keinen Künstler loben, ohne ihm alle, die nicht so sind wie er, als Sühneopfer darzubringen. Er verkündete den Anbruch einer neuen Kunst, die alle Überlieferungen der Vergangenheit mit Füßen trete. Er redete von einer musikalischen Sprache, die soeben von dem Christoph Kolumbus der Pariser Musik entdeckt sei, einer Sprache, welche die der Klassiker zu einer toten und vollständig überflüssigen mache.

Christof hielt seine Meinung über den genialen Neuerer zurück, dessen Werke er erst gesehen haben wollte, ehe er etwas über sie sagte; wider Willen fühlte er ein gewisses Mißtrauen gegen diesen musikalischen Baal, dem man die gesamte Musik opferte. Er war empört, so von den Meistern reden zu hören; und es kam ihm nicht in den Sinn, daß er selbst in Deutschland noch ganz anderes über sie gesagt hatte. Er, der sich daheim als Revolutionär in der Kunst gefühlt hatte, er, der die andern durch seine Urteilskühnheit und seinen derben Freimut entrüstet hatte, fühlte sich in Frankreich bei den ersten Worten im Herzen konservativ werden. Er wollte widersprechen und er war so taktlos, es nicht als wohlerzogener Mensch zu tun, der Behauptungen vorbringt, ohne sie zu begründen, sondern als Fachmann, der Tatsachen heranholt und einen damit umbringt. Er schreckte nicht davor zurück, sich in technische Erörterungen einzulassen; und seine streitende Stimme erhob sich zu Tönen, die wohl geeignet waren, die Ohren einer Elite zu verletzen, bei der seine Gründe, ebenso wie der Eifer, den er darauf verwandte, sie zu erhärten, gleichermaßen lächerlich wirkten. Der Kritiker beeilte sich, durch ein sogenanntes geistreiches Wort einer langweiligen Debatte ein Ende zu machen, bei der Christof voller Verblüffung gemerkt hatte, daß sein Gegenüber nichts von dem wußte, wovon er redete. Von diesem Augenblick an stand die Meinung über den pedantischen und unmodernen Deutschen fest; und seine Musik wurde, bevor man sie kannte, abscheulich gefunden. Doch die Aufmerksamkeit dieser dreißig spöttischen jungen Leute, die alles Lächerliche schnell erfaßten, war jetzt auf diesen sonderbaren Menschen gelenkt worden, der mit seinen mageren Armen und riesenhaften Händen linkisch und heftig hin und her fuhr, wütende Blicke umherwarf und mit überlauter Stimme schrie. Sylvain Kohn machte es sich zur Aufgabe, ihn seinen Freunden zur Belustigung vorzuführen.

Das Gespräch hatte sich jetzt ganz von der Literatur entfernt und drehte sich um die Frauen.   Eigentlich waren es nur zwei Seiten eines und desselben Gegenstandes: denn in ihrer Literatur war eigentlich nur von Frauen die Rede und bei ihren Frauen nur von Literatur, so sehr gaben diese sich mit literarischen Dingen oder mit Literaten ab.

Man redete von einer tugendsamen, in der Pariser Gesellschaft wohlbekannten Dame, die soeben angeblich ihren Liebhaber mit ihrer Tochter verheiratet hatte, um ihn sich besser warmzuhalten. Christof wetzte auf seinem Stuhl und schnitt unbewußt eine Grimasse des Ekels. Kohn bemerkte es. Er stieß seinen Nachbar mit dem Ellbogen an und ließ die Bemerkung fallen, daß das Gespräch den Deutschen zu begeistern scheine und dieser sicher vor Begierde brenne, die Dame kennen zu lernen. Christof errötete, stotterte und brachte schließlich voller Zorn heraus, daß derartige Frauen die Peitsche verdienten. Ein Ausbruch homerischen Gelächters folgte seiner Behauptung und Sylvain Kohn wandte flötend ein, man dürfe eine Frau nicht anrühren, nicht einmal mit einer Blume ... usw. ... usw. Christof antwortete, eine derartige Frau sei nicht mehr und nicht weniger als eine Hündin und für liederliche Hunde gebe es nur ein Mittel: die Peitsche. Man schrie Zeter und Mordio. Christof meinte, ihre Galanterie sei Heuchelei und daß stets die, welche die Frauen am wenigsten achteten, am meisten von ihrer Achtung redeten; und er entrüstete sich über ihre Skandalgeschichten. Man entgegnete ihm, das sei durchaus nichts Skandalöses, sondern nur etwas höchst Natürliches; und alle stimmten darin überein, daß die Heldin der Geschichte nicht nur eine reizende Frau, sondern die Frau im wahrsten Sinne des Wortes sei. Der Deutsche entsetzte sich. Sylvain Kohn fragte ihn arglistig, wie er sich denn die Frau vorstelle. Christof fühlte, daß man ihm eine Schlinge lege; aber von seinem Ungestüm und seiner Überzeugung mitgerissen, fiel er der Länge nach hinein. Er machte sich daran, diesen mokanten Parisern seine Ideen über die Liebe zu entwickeln. Er fand die Worte nicht, suchte sie sich schwerfällig zusammen und fischte aus seinem Gedächtnis unwahrscheinliche Ausdrücke, sagte zum Jubel der Zuhörerschaft Ungeheuerlichkeiten, ohne aus der Fassung zu kommen, mit erstaunlichem Ernst, mit rührender Sorglosigkeit gegenüber dem Lächerlichen seiner Lage. Denn es konnte ihm nicht entgehen, daß man sich, ihm direkt ins Gesicht, über ihn lustig machte. Schließlich verfing er sich in einem Satz, konnte nicht mehr heraus, schlug mit der Faust auf den Tisch und schwieg.

Man suchte ihn von neuem in die Diskussion zu treiben; aber er hatte beschämt und geärgert die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, runzelte die Brauen und rührte sich nicht mehr. Bis zum Ende des Diners brachte er die Zähne nicht mehr auseinander, höchstens um zu essen und zu trinken. Er trank, im Gegensatz zu den Franzosen, die ihren Wein kaum berührten, ungeheuer viel. Sein Nachbar ermunterte ihn dabei boshaft und füllte ihm das Glas, das er gedankenlos leerte, immer von neuem. Aber obgleich er solche Tafelgelage nicht gewöhnt war, vor allem nach Wochen von Entbehrungen, wie er sie hinter sich hatte, hielt er gut stand und gab den anderen nicht das erhoffte lächerliche Schauspiel. Er blieb nur in sich vertieft; man beachtete ihn weiter nicht mehr und glaubte, der Wein habe ihn schläfrig gemacht. Außer der Anstrengung, die es ihm verursachte, einer französischen Unterhaltung zu folgen, war er es überdrüssig, von nichts anderem als von Literatur, Schauspielern, Autoren, Verlegern, Kulissengeschwätz oder Schlafzimmerklatsch der Literaten reden zu hören.   Die Welt schien aus nichts anderem zu bestehen. Inmitten aller dieser neuen Gesichter und dieses Redelärms gelang es ihm nicht, irgendeine Physiognomie oder einen Gedanken festzuhalten. Seine kurzsichtigen Augen, die unbestimmt und zerstreut langsam die Runde um den Tisch machten, hafteten an den Leuten und schienen sie doch nicht zu sehen. Dennoch sah er sie und besser als irgendeiner. Aber ihm selbst wurde das nicht bewußt. Er hatte nicht den Raubvogelblick dieser Franzosen und Juden, der die allerkleinsten Fetzchen von Objekten erhascht und sie im Nu zerfasert. Wie ein Schwamm sog er sich lange schweigend mit allem voll; und er trug es mit sich fort. Es war ihm, als habe er nichts gesehen, als erinnerte er sich an nichts. Erst nach Stunden, oft tagelang später, wenn er allein war und in sich hineinschaute, merkte er, daß er alles eingefangen hatte.

Im Augenblick aber machte er nur den Eindruck eines klotzigen Deutschen, der sich mit Essen vollstopfte und einzig darauf bedacht war, keinen Bissen zu verlieren. Er faßte nichts auf, nur daß er sich, wenn er seine Tischgenossen beim Namen anrufen hörte, mit der Hartnäckigkeit des Betrunkenen fragte, warum so viele Franzosen ausländische Namen trügen: flämische, deutsche, jüdische, italienische, englisch- oder spanisch-amerikanische ...

Er merkte nicht, daß man vom Tisch aufstand. Er allein blieb sitzen; und er träumte von den rheinischen Hügeln, den großen Wäldern, den Äckern, Feldern, den Wiesen am Uferrand, von der alten Mutter. Einige Tischgäste standen noch plaudernd am andern Ende des Saales. Die meisten waren schon fortgegangen. Endlich raffte sich Christof zusammen, stand ebenfalls auf und holte, ohne jemand anzusehen, seinen Mantel und seinen Hut, die im Vorzimmer hingen. Nachdem er sich angezogen hatte, ging er, ohne sich zu verabschieden, davon; da bemerkte er durch eine halboffene Tür in einem Nebenzimmer etwas, das ihn anzog: ein Klavier. Seit mehreren Wochen hatte er kein Musikinstrument berührt. Er trat ein, streichelte liebevoll die Tasten, setzte sich und begann, den Hut auf dem Kopf, den Mantel über dem Rücken, zu spielen. Er hatte vollständig vergessen, wo er sich befand.

Er merkte nicht, wie zwei Personen lautlos hereinkamen, um zuzuhören. Die eine war Sylvain Kohn, der Gott weiß warum eine Leidenschaft für Musik hatte. Er verstand nicht das geringste davon und hatte die schlechte ebenso gern wie die gute.   Der andere war der Musikkritiker Théophile Goujart; dieser   bei ihm lag der Fall einfacher   verstand von Musik nichts und hatte sie auch nicht gern. Doch das hielt ihn nicht davon ab, über sie zu reden. Im Gegenteil: Es gibt keine unabhängigeren Geister als die, die das, wovon sie reden, nicht verstehen: denn es ist ihnen gleichgültig, ob sie dies oder jenes darüber sagen.

Théophile Goujart war ein stämmiger, muskulöser Dickwanst. Er hatte einen schwarzen Bart, dicke Stirnlocken, unter denen grundloserweise tiefe Denkerfalten hervorkamen, ein schlecht modelliertes, gleichsam plump in Holz geschnittenes Gesicht, kurze Arme, kurze Beine, eine fettgepolsterte Brust: Er sah aus wie ein Holzhändler oder ein Packträger aus der Auvergne. Er hatte gewöhnliche Manieren und eine anmaßende Art zu reden. Zur Musik war er durch die Politik gekommen, die zu jener Zeit das einzige Mittel in Frankreich war, etwas zu erreichen. Er hatte sich an das Glücksschiff eines Ministers seiner Provinz gehängt, zu dem er eine entfernte Verwandtschaft oder sonst welche Beziehungen   als irgendein Sohn »des Bastards seines Apothekers«   entdeckt hatte. Minister dauern nicht ewig. Als der seine nahe am Kentern war, hatte Théophile Goujart das Schiff verlassen, nicht ohne zuvor alles, was er erraffen konnte, mitzunehmen: vor allem Ordensdekorationen; denn er liebte den Ruhm. Der Politik überdrüssig, die ihm seit einiger Zeit ziemlich derbe, seinem Vorgesetzten oder sogar ihm selbst zugedachte Püffe eingetragen hatte, suchte er Zuflucht gegen alle Stürme in einer vollkommen gesicherten Lebensstellung, in der er die andern ärgern konnte, ohne selbst jemals geärgert zu werden. Die Kritik war dazu wie geschaffen. An einer der großen Pariser Zeitungen war gerade ein Posten für einen Musikkritiker frei. Der ihn innegehabt hatte, ein junger, talentvoller Komponist, war verabschiedet worden, weil er sich darauf versteifte, von Werken und Autoren zu sagen, was er dachte. Goujart hatte sich niemals mit Musik beschäftigt; er verstand nichts davon: so wählte man ihn denn ohne Zögern. Der urteilsfähigen Leute war man überdrüssig; bei Goujart hatte man wenigstens nichts zu fürchten; er legte seinen Ansichten nicht eine lächerliche Bedeutung bei; er ließ sich von der Direktion alles vorschreiben und war immer bereit, giftige Kritiken oder Reklamegeschrei zu veröffentlichen. Daß er nicht Musiker war, hatte nebensächliche Bedeutung. In Frankreich versteht bekanntlich jeder etwas von Musik. Goujart hatte sich die notwendigsten Kenntnisse schnell angeeignet. Der Weg dazu war einfach: man brauchte sich in den Konzerten nur neben irgendeinen guten Musiker, womöglich neben einen Komponisten zu setzen und ihn über das auszuholen, was er zu den aufgeführten Werken meinte. Nach einigen Monaten solcher Lehrzeit verstand man sich aufs Handwerk: das Gänschen konnte fliegen. Allerdings nicht gerade wie ein Adler; und der Himmel weiß, welche Dummheiten Goujart voller Autorität in seinem Blatt ablud. Er hörte und las die Kreuz und die Quer, warf in seinem schwerfälligen Gehirn alles durcheinander und wies die andern anmaßend zurecht. Er schrieb einen gespreizten, mit Kalauern ausstaffierten und mit Pedanterien gespickten Stil; seine Geistesbeschaffenheit war die eines Schulaufsehers. Manchmal, wenn auch selten, hatte er sich scharfe Gegenhiebe zugezogen: in solchen Fällen stellte er sich taub und hütete sich wohl, zu antworten. Er war ein großer Schlauberger und dabei doch ein plumper Kerl, je nach den Umständen unverschämt oder seicht. Vor den verehrten Meistern in Amt und Würden machte er Bücklinge  : nur ihnen gegenüber vermochte er, musikalisches Verdienst ganz sicher zu bewerten. Die andern behandelte er hochmütig und schlachtete die Hungerleider ab.   Er war kein Dummkopf. Trotz seiner erworbenen Autorität und trotz seinem Ruf wußte er im tiefsten Innern, daß er von Musik nichts verstand; und er hatte ein Gefühl dafür, daß Christof sehr genau darin Bescheid wußte. Wohl hätte er sich gehütet, das zu sagen; aber er war dessen sicher.   Und jetzt hörte er dem spielenden Christof zu; mit tiefsinniger, bedeutender Miene und ohne das Geringste zu denken, versuchte er zu verstehen; erkennen konnte er nicht das Geringste in diesem Nebel von Noten, aber er nickte wie ein Kenner mit dem Kopf und richtete sich in seinen Beifallszeichen nach dem Augenblinzeln Sylvain Kohns, der mit Mühe ruhig blieb.

Christof, dessen Bewußtsein nach und nach aus dem Dunst von Musik und Wein emportauchte, merkte allmählich etwas von der Pantomime, die sich hinter seinem Rücken abspielte; als er sich umdrehte, sah er die beiden Musikfreunde. Sofort stürzten sie auf ihn zu und schüttelten ihm kräftig die Hände;   Sylvain Kohn kreischte, er habe wie ein Gott gespielt, Goujart bestätigte mit gelehrter Miene, daß er die linke Hand von Rubinstein und die rechte von Paderewski habe (möglicherweise war es auch umgekehrt).   Sie einigten sich beide auf die Erklärung, daß ein solches Talent nicht unter dem Scheffel bleiben dürfe, und sie machten sich anheischig, es ins rechte Licht zu stellen. Zunächst rechneten beide darauf, alle nur mögliche Ehre und allen denkbaren Nutzen für sich selber aus ihm herauszuschlagen.

 

Sylvain Kohn lud Christof ein, schon am nächsten Tag zu ihm zu kommen, und stellte ihm das ausgezeichnete Klavier, das er besaß und das er niemals benützte, zur Verfügung. Christof, der an verhaltener Musik verging, nahm, ohne sich lange bitten zu lassen, an; und einige Zeit machte er von der Einladung auch Gebrauch. An den ersten Abenden ging alles gut. Christof war überglücklich, spielen zu können; und Sylvain Kohn legte sich eine gewisse Zurückhaltung auf und ließ ihm ruhig den Genuß. Auch er hatte einen ehrlichen Genuß davon. Infolge eines jener wunderlichen Phänomene, die jeder beobachten kann, wurde dieser Mensch, der weder musikalisch noch sonst künstlerisch veranlagt war, der das nüchternste, jeder Poesie, jeder tiefen Güte barste Herz hatte, durch diese Musik sinnlich ergriffen, von der er nichts verstand und die dennoch eine wollüstige Macht auf ihn ausübte. Unglücklicherweise konnte er nicht den Mund halten. Er mußte, während Christof spielte, unbedingt laut reden. Er begleitete die Musik wie ein Snob im Konzert mit begeisterten Ausrufen oder er stellte alberne Betrachtungen darüber an. Dann schlug Christof aufs Klavier und erklärte, so könne er nicht weiterspielen. Kohn gab sich alle Mühe, still zu sein; aber es ging über seine Kraft: gleich fing er wieder an zu grinsen, zu seufzen, zu pfeifen, zu trommeln, zu trällern, die Instrumente nachzuahmen. Und war das Stück zu Ende, so wäre er geplatzt, wenn er Christof nicht seine ungereimten Bemerkungen zum besten gegeben hätte.

Er war ein sonderbares Gemisch aus germanischer Sentimentalität, pariserischem Aufschneidertum und unerträglicher Geckenhaftigkeit. Einmal kam er mit gezierten und anmaßenden Urteilen, ein andermal mit gesuchten Vergleichen, ein drittes Mal mit Unverschämtheiten, Zoten, Albernheiten und Possen. Um Beethoven loben zu können, entdeckte er in ihm Frivolitäten und eine schlüpfrige Sinnlichkeit. Die düstersten Gedanken erklärte er für elegante Tändelei. Das Quartett in Cis-Moll schien ihm liebenswürdig keck. Das erhabene Adagio der neunten Symphonie erinnerte ihn an den Pagen Cherubin. Nach den drei Schlägen, mit denen die C-Moll-Symphonie beginnt, schrie er: »Draußen bleiben! schon besetzt!« Die Schlacht im »Heldenleben« bewunderte er mit der Begründung, man erkenne darin das Rattern eines Automobils. Für jedes Stück hatte er Bilder zur Erklärung bei der Hand, und zwar kindische, unpassende Bilder. Man fragte sich, wie dieser Mensch Musik lieben könne.

Und dennoch: er liebte sie; bei manchen Stellen, die er in der komischesten Art auffaßte, traten ihm beinahe die Tränen in die Augen. Aber nachdem er durch eine Wagner-Szene gerührt worden war, klimperte er auf dem Klavier einen Galopp von Offenbach oder summte er nach dem Lied an die Freude einen Tingeltangel-Schlager. Dann sprang Christof auf und brüllte vor Zorn.   Doch es war nicht das Schlimmste, wenn Sylvain Kohn albern war; schlimmer war es, wenn er tiefe und feinsinnige Dinge sagen wollte, wenn er sich vor Christof aufspielen wollte, wenn Hamilton aus ihm sprach, und nicht Sylvain Kohn. In solchen Augenblicken schleuderte Christof einen haßerfüllten Blick auf ihn und schmetterte ihn mit kalt beleidigenden Worten nieder, die Hamiltons Eigenliebe verletzten. So endeten die Klavierabende meistens mit Streit. Aber am nächsten Tag hatte Kohn alles vergessen und Christof, den seine Heftigkeit reute, fühlte sich verpflichtet, wiederzukommen. Alles das wäre aber noch nichts gewesen, wenn Kohn sich hätte enthalten können, Leute einzuladen, die Christof anhören sollten. Er mußte mit seinem Musiker durchaus protzen.   Als Christof das erstemal bei Kohn drei oder vier Judenjungen und Kohns Geliebte traf, ein großes gepudertes Frauenzimmer, das strohdumm war, fortwährend alberne Kalauer machte und nur vom Essen redete, sich aber für musikalisch hielt, weil sie jeden Abend in einem Ausstattungsstück des Variététheaters ihre Beine zeigte, machte er eine saure Miene. Beim zweitenmal erklärte er Sylvain Kohn kurz und bündig, daß er nicht mehr bei ihm spielen würde. Sylvain Kohn schwur bei allen Göttern, er werde niemand mehr einladen. Aber heimlich machte er es doch weiter und verbarg seine Gäste in einem Nebenzimmer. Natürlich merkte es Christof schließlich; er ging wütend fort und diesmal für immer. Immerhin mußte er sich mit Kohn gut stellen, weil dieser ihn in kosmopolitische Familien einführte und ihm Stunden verschaffte.

 

Einige Tage später kam Théophile Goujart seinerseits, um Christof in seiner Behausung aufzusuchen. Er schien keinen Anstoß daran zu nehmen, ihn so schlecht untergebracht zu sehen. Im Gegenteil, er war sehr liebenswürdig. Er sagte zu Christof: »Ich habe mir gedacht, es würde Ihnen vielleicht Vergnügen machen, ein bißchen Musik zu hören; und da ich überall Zutritt habe, wollte ich Sie abholen.«

Christof war begeistert. Er fand die Aufmerksamkeit zartsinnig und dankte voller Überschwang. Goujart war ganz anders, als er ihn am ersten Abend gesehen hatte. So unter vier Augen mit ihm, war er ohne Dünkelhaftigkeit; ein schüchterner guter Kerl, der Belehrung suchte. Nur wenn er mit anderen zusammen war, nahm er sofort seine überlegene Miene wieder an und verfiel in seinen hochfahrenden Ton. Übrigens hatte sein Wunsch nach Belehrung immer einen praktischen Zweck. Was nicht aktuell war, ließ ihn gleichgültig. Momentan wollte er wissen, was Christof über eine Partitur dachte, die er bekommen hatte und deren Kritik ihm rechte Verlegenheit bereitete: denn er konnte kaum ihre Noten lesen.

Sie gingen zusammen in ein Symphoniekonzert. Dieselbe Eingangstür führte gleichzeitig in ein Tingeltangel. Durch einen gewundenen Gang gelangte man in einen Saal, in dem es einem den Atem verschlug: die Luft war zum Ersticken, die Sitze waren zu schmal und zu dicht nebeneinander; ein Teil des Publikums stand und versperrte alle Ausgänge: der in Frankreich übliche Platzmangel. Ein Mann, an dem ein unheilbarer Kummer zu nagen schien, dirigierte im Galopptempo eine Beethovensymphonie, als könne er das Ende nicht erwarten. Der Gassenhauer eines Bauchtanzes aus dem anstoßenden Tingeltangel vermischte sich mit dem Trauermarsch der Eroica. Neues Publikum kam fortwährend, nahm seine Plätze ein und beäugte sich durch die Operngläser. Als schließlich das Kommen aufhörte, fing das Fortgehen an. Christof spannte alle Geisteskräfte an, um in diesem Jahrmarktlärm dem Faden des Werkes zu folgen; und mit einer energischen Anstrengung gelang es ihm, Vergnügen daran zu finden   denn das Orchester war gut und Christof war seit langem jeder Orchestermusik entwöhnt. Plötzlich nahm ihn Goujart am Arm und sagte mitten im Konzert zu ihm:

»Jetzt wollen wir fort. Wir gehen in ein anderes Konzert.«

Christof runzelte die Stirn; aber er erwiderte nichts und folgte seinem Führer. Sie durchwanderten halb Paris. Dann gelangten sie in einen andern Saal, wo es nach Pferdestall roch und wo man zu anderen Stunden Ausstattungs- und Volksstücke spielte. (Der Musik in Paris geht's wie jenen armen Arbeitern, die sich zusammentun und zu zweit eine Schlafstelle mieten: Sobald der eine aus dem Bett steigt, kriecht der andere unter die noch warmen Decken.) Natürlich keine frische Luft: seit Ludwig XIV. halten die Franzosen frische Luft für ungesund; die hygienischen Vorschriften für die Theater sind noch so wie einstmals in Versailles, daß man nicht atmen kann. Ein Heldengreis ließ mit den Gesten eines Tierbändigers einen Akt von Wagner los: das unglückliche Tier   der Akt   ähnelte jenen Menagerie-Löwen, die sich entsetzt den Lampenlichtern gegenüber sehen und die man peitschen muß, um ihnen ins Gedächtnis zurückzurufen, daß sie immerhin Löwen sind. Dicke Pharisäerinnen und kleine Gänse wohnten mit einem Lächeln auf den Lippen dieser Vorführung bei. Nachdem der Löwe schön gemacht, nachdem der Bändiger gegrüßt hatte und sie alle beide durch den Beifall des Publikums belohnt worden waren, zeigte Goujart das kühne Verlangen, Christof noch in ein drittes Konzert zu führen. Diesmal aber legte Christof die Hände um die Arme seines Sessels und erklärte, daß er sich nicht mehr von der Stelle rühren würde: Er habe es satt, aus einem Konzert ins andere zu laufen und im Vorübergehen hier Symphoniefetzen, dort Konzertbrocken aufzuschnappen. Goujart versuchte ihm vergeblich auseinanderzusetzen, daß die Musik-Kritik in Paris ein Beruf sei, bei dem es mehr aufs Sehen als aufs Hören ankäme. Christof wandte ein, daß die Musik nicht dazu da sei, um in der Droschke gehört zu werden, und daß sie mehr Sammlung verlange. Dieser Mischmasch von Konzerten mache ihm übel: Eines genüge ihm jeweils.

Er war durch diese Mannigfaltigkeit von Konzerten sehr überrascht. Er hatte, wie die meisten Deutschen, geglaubt, daß in Frankreich die Musik einen untergeordneten Rang einnähme; und er war darauf gefaßt gewesen, daß man sie ihm in kleinen, aber sehr sorgfältig zubereiteten Portionen vorsetzen würde. Nun bot man ihm gleich fünfzehn Konzerte in sieben Tagen. An jedem Abend der Woche fanden Konzerte statt und oft zwei bis drei zur selben Stunde in den verschiedenen Stadtvierteln. Am Sonntag waren es sogar gleichzeitig immer vier. Christof bewunderte diesen Musikhunger. Nicht weniger erstaunte ihn die Überfülle der Programme. Bis dahin hatte er gedacht, daß solche Tonschlemmereien, die ihn mehr als einmal in Deutschland angewidert hatten, eine Spezialität seiner Landsleute seien. Jetzt wurde er gewahr, daß die Pariser es ihnen zuvortaten. Man schenkte ihnen ein gehöriges Maß voll: Zwei Symphonien, ein Konzert, eine oder zwei Ouvertüren, einen Opernakt. Und von jeder möglichen Herkunft: Deutsch, russisch, skandinavisch, französisch   Bier, Champagner, Mandelmilch und Wein   sie schluckten alles ohne Murren hinunter. Christof wunderte sich höchlich, daß diese französischen Vögelchen einen so weiten Magen hatten. Sie bekamen nicht einmal Magendrücken. Das Faß der Danaiden. Auf dem Grunde blieb nichts zurück.

Es dauerte nicht lange und Christof merkte, daß diese Unmenge Musik sich im ganzen auf ein recht kleines Maß reduzierte. Er fand in allen Konzerten dieselben Gesichter und dieselben Stücke. Diese reichlichen Programme gingen nie über einen gewissen Kreis hinaus. Fast nichts vor Beethoven. Fast nichts nach Wagner. Aber was für Lücken zwischen beiden! Es war, als beschränke sich die Musik in Deutschland auf fünf oder sechs berühmte Namen, auf drei oder vier in Frankreich und seit der Französisch-Russischen Alliance auf ein halbes Dutzend Moskowiterstücke.   Nichts von den alten Franzosen. Nichts von den großen Italienern. Nichts von den deutschen Riesen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Nichts von der modernen deutschen Musik, mit einziger Ausnahme von Richard Strauß, der, klüger als die andern, jedes Jahr persönlich kam, um dem Pariser Publikum seine neuen Werke aufzuzwingen. Nichts von belgischer Musik. Nichts von tschechischer Musik. Aber als Erstaunlichstes: Fast nichts von der modernen französischen Musik.   Und dabei sprach alle Welt in geheimnisvollen Ausdrücken von ihr, als von etwas Welterschütterndem. Christof lauerte auf jede Gelegenheit, um von ihr etwas zu hören. Seine Wißbegierde war weitherzig und ohne jedwede Voreingenommenheit: er brannte vor Verlangen, Neues kennen zu lernen und geniale Werke zu bewundern. Aber trotz allen Anstrengungen gelang es ihm nicht, etwas von ihr zu Gehör zu bekommen; denn drei oder vier artig geschriebene, aber kalte und bewußt-komplizierte Stückchen zählte er geflissentlich nicht mit.

 

Bis es ihm möglich wurde, sich eine eigene Meinung zu bilden, suchte Christof Auskunft bei der Musik-Kritik.

Das war nicht leicht. Sie glich dem polnischen Reichstag. Nicht allein widersprachen die Musikzeitungen einander nach Herzenslust, sondern jede widersprach, von Artikel zu Artikel, fast von Seite zu Seite, sich selbst. Hätte man alles lesen wollen, so hätte man darüber verrückt werden können. Glücklicherweise las jeder Redakteur nur seine eigenen Artikel, und das Publikum las überhaupt keinen. Christof aber, der sich ein genaues Bild von den französischen Musikern machen wollte, versteifte sich darauf, nichts auszulassen; und er bewunderte die heitere Seelenruhe dieses Volkes, das sich's im Widerspruch wohl sein ließ wie ein Fisch im Wasser.

Unter all diesen Meinungsverschiedenheiten fiel ihm eines auf: das lehrhafte Gehaben der meisten Kritiken. Wie konnte man nur behaupten, daß die Franzosen liebenswürdige Phantasten seien, die an nichts glaubten? Die, welche Christof sah, waren mit mehr musikalischer Gelehrsamkeit aufgeputzt   selbst wenn sie nichts wußten   als die gesamte Kritik jenseits des Rheins.

Zu jener Zeit hatten die französischen Musik-Kritiker beschlossen, Musik zu studieren. Einige unter ihnen verstanden sogar etwas davon: das waren Originale, die sich die Mühe gegeben hatten, über ihre Kunst nachzusinnen und selbständig zu denken. Natürlich waren sie nicht sehr bekannt: sie blieben in ihren kleinen Zeitschriften vergraben; die Zeitungen waren, bis auf eine oder zwei Ausnahmen, nicht für sie da. Es waren wackere, kluge, interessante Leute, die durch ihre Einsamkeit manchmal zu Paradoxen verführt wurden und deren Gewohnheit, immer zu sich selber zu sprechen, zur Unduldsamkeit im Urteil und zur Geschwätzigkeit führte.   Die andern hatten sich hastig die Anfangsgründe der Harmonielehre angeeignet; und sie standen bewundernd vor ihrer neuerworbenen Gelehrsamkeit. So wie Herr Jourdain, der eben die Regeln der Grammatik erlernt hat, staunten auch sie über ihr Wissen:

» D, a, Da. F, a, Fa. R, a, Ra ... Ach! Wie schön das ist! ... Ach ... Wie herrlich ist es doch etwas zu wissen ...«

Sie redeten nur noch von Thema und Gegenthema, von Ober- und Nebentönen, von Nonen, Reihen und großen Terzen-Schritten. Wenn sie die Harmoniefolgen, die sich auf einer Seite abwickelten, genannt hatten, trockneten sie sich voller Stolz die Stirn: sie meinten, nun hätten sie das Stück erklärt; fast glaubten sie, es selbst geschrieben zu haben. In Wirklichkeit hatten sie es nur in Schulausdrücken wiederholt, wie ein Gymnasiast, wenn er eine Seite von Cicero grammatikalisch analysiert. Aber es wurde den Besten unter ihnen so schwer, die Musik als eine Natursprache der Seele anzusehen, daß sie, wenn sie aus ihr schon nicht eine Filiale der Malerei machten, sie im Vorhof der Wissenschaft unterbrachten und sie auf harmonische Konstruktionsprobleme beschränkten. So gelehrte Leute hatten natürlich an den Musikern der Vergangenheit allerlei auszusetzen. Sie fanden bei Beethoven Fehler, klopften Wagner auf die Finger. Über Berlioz und Gluck machten sie sich lustig. Der augenblicklichen Mode galten nur Johann Sebastian Bach und Claude Debussy etwas. Allerdings begann der erstere, den man in den letzten Jahren recht abgenutzt hatte, schon etwas pedantisch, etwas verzopft, kurz etwas altväterisch zu erscheinen. Ganz feine Leute rühmten geheimnisvoll Rameau und Couperin, den man den Großen nannte.

Unter diesen gelehrten Männern entbrannten heroische Kämpfe. Alle waren musikalisch; aber da sie es nicht alle in derselben Art waren, behauptete jeder, seine Manier sei die einzig gute, und schrie Wehe über die seiner Berufsgenossen. Sie behandelten sich gegenseitig als falsche Literaten und falsche Gelehrte und warfen sich Worte wie Idealismus und Materialismus, Symbolismus und Verismus, Subjektivismus und Objektivismus an den Kopf. Christof sagte sich, es sei nicht der Mühe wert, Deutschland zu verlassen, um in Paris den Streit um des Kaisers Bart wiederzufinden. Anstatt es der guten Musik Dank zu wissen, daß sie ihnen allen so viele verschiedene Arten des Genusses bot, duldeten sie keinen anderen Standpunkt neben dem eignen, und ein neuer »Lutrin«, ein hitziger Krieg, teilte in diesem Augenblick die Musiker in zwei Heere: in das des Kontrapunkts und in das der Harmonie; wie die Dickender und Spitzender verfochten die einen heftig, daß die Musik horizontal gelesen werden müsse, und die anderen, daß sie vertikal zu lesen sei. Diese wollten nur von saftigen Akkorden hören, von schmelzenden Verbindungen, von kräftigen Harmonien: sie sprachen von der Musik wie von einer Zuckerbäckerei. Jene gaben nicht zu, daß man sich überhaupt um das Ohr, dieses lumpige Ding, kümmere: Musik war für sie ein Vortrag, eine parlamentarische Versammlung, wo die Redner, ohne sich um ihre Nachbarn zu kümmern, alle auf einmal sprachen, bis sie zu Ende gekommen waren; um so schlimmer, wenn man sie nicht verstand; man konnte ihre Reden am andern Morgen im Amtsblatt lesen: die Musik war dazu da, um gelesen und nicht um gehört zu werden. Als Christof zum ersten Mal von diesem Streit zwischen Horizontalisten und Vertikalisten reden hörte, meinte er, daß sie alle miteinander verrückt wären. Aufgefordert, zwischen dem Lager des Nebeneinander und dem Lager des Übereinander Partei zu ergreifen, antwortete er ihnen mit seinem gewohnten Wahlspruch, der nicht ganz der des Sosias war:

»Meine Herren, ich bin der Feind aller.«

Und als sie weiter mit der Frage in ihn drangen:

»Harmonie oder Kontrapunkt, was ist für die Musik am wichtigsten?«, antwortete er ihnen:

»Die Musik. Zeigen Sie mir also die Ihre.«

Über ihre Musik waren sie alle einer Meinung. Diese unerschrockenen Kämpfer, die sich um die Wette miteinander herumschlugen, wenn sie nicht gerade einen berühmten Toten, dessen Ruhm allzulange gedauert hatte, umbrachten, fanden sich in einer gemeinsamen Leidenschaft zusammen; in der Glut ihres musikalischen Patriotismus. Die Franzosen waren für sie das große musikalische Volk. Sie verkündeten in allen Tonarten den Niedergang Deutschlands.   Christof fühlte sich nicht getroffen. Er hatte diesen Niedergang selber so nachdrücklich verkündet, daß er einem solchen Urteil nicht gut mit Überzeugung widersprechen konnte. Daß die französische Musik überlegen sein sollte, wunderte ihn aber; sah er doch in der Vergangenheit nur geringe Spuren davon. Jedoch behaupteten die französischen Musiker, daß ihre Kunst in sehr alten Zeiten herrlich gewesen sei. Um die französische Musik mehr zu feiern, fingen sie übrigens damit an, alles, was den französischen Ruhm des vergangenen Jahrhunderts ausgemacht hatte, ins Lächerliche zu ziehen, einen einzigen tüchtigen, ganz einwandfreien Meister ausgenommen   der Belgier war. Nach dieser Hinrichtung hatte man es leichter, die archaischen Meister zu bewundern, die alle vergessen und von denen einige sicher bis zum heutigen Tag völlig unbekannt geblieben waren. Im Gegensatz zu den Gemeindeschulen in Frankreich, welche die Welt von der französischen Revolution an datieren, betrachteten die Musiker diese wie eine gewaltige Bergkette, die man erklimmen mußte, um hinter ihr das goldene Zeitalter der Musik, das Eldorado der Kunst zu erschauen. Nach einer langen Sonnenfinsternis sollte das goldene Zeitalter wieder erstehen: die eherne Mauer begann einzustürzen; ein Zauberer der Töne ließ einen wundervollen Frühling neu erblühen; junger zarter Flaum bekleidete den alten Baum der Musik; auf den Beeten der Harmonie öffneten tausend Blumen ihre lachenden Augen der neuen Morgenröte. entgegen; man hörte die silbernen Quellen rieseln, hörte den frischen Sang der Bäche:   die reinste Idylle. Christof war begeistert; doch als er die Zettel der Pariser Theater betrachtete, sah er dort immer die Namen von Meyerbeer, von Gounod, von Massenet, sogar von Mascagni und von Leoncavallo, die er nur allzu genau kannte; und er fragte seine Freunde, ob diese schamlose Musik, diese Leidenschaftsanfälle schmachtender Weiber, diese Kunstblumen, diese Parfümerieladen die Gärten der Armida wären, die sie ihm versprochen hatten. Sie erhoben beleidigt Einspruch: Es waren   nach ihrer Ansicht   die letzten Spuren eines sterbenden Zeitalters; niemand dachte sich mehr etwas dabei. In Wirklichkeit herrschten die Cavalleria Rusticana in der Opéra-Comique und der Bajazzo in der Oper: Massenet und Gounod erreichten die höchsten Aufführungsziffern; und die musikalische Dreieinigkeit: Mignon, die Hugenotten und Faust hatten vergnügt das Kap der tausendsten Aufführung umschifft. Aber das waren Zufälligkeiten ohne Bedeutung; man brauchte sie nur nicht zu sehen. Wenn eine Tatsache eine Theorie dreist stört, ist nichts einfacher, als sie abzuleugnen. Die französischen Kritiker leugneten diese frechen Werke ab, sie leugneten das Publikum ab, das ihnen Beifall klatschte; und es hätte keines starken Drängens bedurft, so hätten sie das ganze Operntheater abgeleugnet. Die Oper gehörte für sie zur Literatur und war folglich unrein. (Da sie alle Literaten waren, verwahrten sie sich alle dagegen, es zu sein.) Alle Ausdrucksmusik, alle malende oder bestimmte Vorstellungen erzwingende Musik, jede Musik, die etwas sagen wollte, galt als unrein. In jedem Franzosen steckt ein Robespierre. Er muß immer irgend jemand oder irgend etwas guillotinieren, um es »rein« werden zu lassen.   Die großen französischen Kritiker erkannten nur die reine Musik an und überließen die andere dem Pöbel.

Christof fühlte sich tief geknickt, wenn er darüber nachdachte, wie pöbelhaft sein Geschmack war. Ein wenig Trost fand er nur darin, daß alle jene Musiker, die das Theater verachteten, dennoch für das Theater schrieben: nicht einer war unter ihnen, der keine Opern komponierte.   Aber höchstwahrscheinlich lag auch hier nur eine bedeutungslose Zufälligkeit vor. Man mußte sie beurteilen, wie sie beurteilt sein wollten, also nach ihrer reinen Musik. Christof suchte ihre reine Musik.

 

Théophile Goujart führte ihn in die Konzerte einer Gesellschaft, die sich in den Dienst der nationalen Kunst gestellt hatte. Dort wurden die neuen Berühmtheiten ausgeheckt und mit mütterlicher Wärme gehegt. Es handelte sich um eine große Klique, eine Art kleiner Kirche mit mehreren Kapellen. Jede Kapelle hatte ihren Heiligen, jeder Heilige hatte seine Gläubigen, die dem Heiligen der Nebenkapelle gern Böses nachsagten. Christof machte zunächst zwischen all diesen Heiligen keinen großen Unterschied. Da er eine völlig anders geartete Kunst gewöhnt war, so verstand er natürlich nichts von dieser neuen Musik, verstand um so weniger, als er ihr etwas unterlegte. Alles schien ihm in ein beständiges Halbdunkel getaucht. Er sah eine Grisaille, in der sich die Linien verwischten, miteinander verschmolzen, für Augenblicke hervortraten, von neuem erloschen. Unter diesen Linien gab es harte, abstoßende und steife Gebilde, die wie mit dem Winkelmaß gezogen schienen, die mit Ecken, spitz wie die Ellbogen einer mageren Frau, aneinander stießen. Auch wellige waren darunter, die sich wie Zigarrenrauch kräuselten. Aber alles war grau in grau. Gab es denn in Frankreich keine Sonne mehr? Christof, der seit seiner Ankunft in Paris nichts als Regen und Nebel gehabt hatte, war ziemlich geneigt es anzunehmen; aber es ist die Aufgabe des Künstlers, Sonne zu schaffen, wenn keine da ist. Jeder von ihnen zündete wohl sein Lämpchen an; nur glich sein Licht dem der Glühwürmchen: es erwärmte nicht und erhellte kaum. Die Titel der Werke wechselten: manchmal sprachen sie vom Frühling, vom Mittag, von Liebe, von Lebensfreude, vom Streifen durch Wald und Feld; die Musik aber, die wechselte nicht; sie war einförmig, sanft, blaß, schläfrig, blutarm, bleichsüchtig.   Es war damals unter den Feinfühligen in Frankreich Mode, in der Musik leise zu reden. Und man tat recht daran: denn sobald man laut sprach, begann man zu schreien. Ein Mittelding gab es nicht. Man hatte nur die Wahl zwischen vornehmer Schläfrigkeit und Schmierenpathos.

Christof suchte die Betäubung, die ihn zu übermannen begann, von sich abzuschütteln und schaute sein Programm an; da sah er mit Überraschung, daß diese Nebelstreifen, die über den grauen Himmel hinzogen, ganz bestimmte Dinge darzustellen behaupteten. Denn trotz aller Theorien war diese reine Musik fast immer Programm-Musik oder zum mindesten Inhalts-Musik. Sie mochten noch so sehr die Literatur verleumden, sie brauchten doch eine literarische Krücke, auf die sie sich stützten; meistens sehr sonderbare Krücken. Christof fiel es auf, wie ausgesucht kindisch die Gegenstände waren, die zu malen sie sich zwangen. Da gab es musikalische Obst- und Gemüsegärten, Hühnerhöfe, förmliche Menagerien, wahre botanische Gärten. Manche schufen nach den Gemälden des Louvre oder den Fresken der Oper Transskriptionen für Orchester oder Klavier. Sie setzten Cuyp, Baudry und Paul Potter in Musik; Erklärungen mußten helfen, hier den Apfel des Paris, dort die holländische Schenke oder das Hinterteil eines weißen Pferdes zu erkennen. Christof erschien das wie ein Spiel erwachsener Kinder, denen es nur auf Bilder ankam und die, da sie nicht zeichnen konnten, ihre Hefte mit allem, was ihnen durch den Kopf ging, vollschmierten und naiv mit großen Buchstaben darunter schrieben: das ist ein Bild, das ist ein Haus, das ist ein Baum.

Neben diesen blinden Zeichenkünstlern, die mit den Ohren sahen, gab es auch Philosophen: ihre Musik handelte von metaphysischen Problemen; ihre Symphonien stellten den Kampf abstrakter Prinzipien dar, entwickelten ein Symbol oder eine Religion. Es waren dieselben Leute, die in ihren Opern juristische und soziale Zeitfragen behandelten: die Proklamation der Frauen- und der Bürgerrechte, wie sie von Metaphysikern des Montmartre und der Abgeordneten-Kammer ausgeheckt worden waren. Man brachte es fertig, die Ehescheidungsfrage, die Vaterschaftsklage und die Trennung von Kirche und Staat aufs Tapet zu bringen. Es gab kirchliche und weltliche Symbolisten unter ihnen. In ihren Opern traten philosophische Lumpensammler, soziologische Grisetten, prophetische Bäcker, apostolische Fischer auf. Schon Goethe hatte von den Künstlern seiner Epoche gesprochen, die Kants Ideen in allegorischen Gemälden wiedergäben. Christofs Zeitgenossen brachten die Soziologie in Sechzehntelnoten. Zola, Nietzsche, Maeterlinck, Barrès, Jaurès, Mendès, das Evangelium und Moulin Rouge speisten die Zisterne, aus der die Oper- und Symphonie-Komponisten ihre Gedanken schöpfen kamen. Und wie mancher unter ihnen rief berauscht von Wagners Beispiel aus: »Auch ich bin ein Dichter!«   Und sie schrieben selbstbewußt unter ihre Musikzeilen gereimte oder nicht gereimte Verschen im Stil von Schulaufsätzen oder von schwülstigen Feuilletons. Alle diese Denker und Dichter waren Parteigänger der reinen Musik, aber sie konnten besser von ihr sprechen als sie schreiben. Immerhin geschah es manchmal, daß sie welche schrieben. Das war dann Musik, die nichts sagen wollte. Zu ihrem Unglück brachten sie das oft fertig; ihre Musik sagte nicht das Geringste, wenigstens nicht dem suchenden Christof. Es muß indes gesagt werden, daß er den Schlüssel zu ihr nicht besaß.

Um eine fremde Musik zu verstehen, muß man sich die Mühe geben, ihre Sprache zu erlernen, und nicht meinen, man kenne sie von vornherein. Christof glaubte das wie jeder gute Deutsche. Das ist entschuldbar. Selbst viele Franzosen verstanden sie nicht besser als er. Wie die Deutschen zur Zeit Ludwigs XIV., die sich so lange Mühe gaben, französisch zu sprechen, bis sie schließlich ihre eigene Sprache vergaßen, hatten die französischen Musiker des neunzehnten Jahrhunderts seit langem die ihre verlernt, so daß ihre Musik eine fremdländische Färbung angenommen hatte. Erst seit kurzem hatte eine Bewegung eingesetzt, um in Frankreich französisch zu sprechen. Immer gelang das aber nicht: die Gewohnheit war mächtig; und Weniges ausgenommen, war alles französische belgisch oder bewahrte einen germanischen Hauch. Es war also nur natürlich, wenn ein Deutscher einen falschen Eindruck bekam und mit seiner gewohnten Sicherheit erklärte, das sei ein recht schlechtes Deutsch und ohne jeden Sinn, da er ja nichts davon verstand. Christof machte es nicht anders. Die französischen Symphonien schienen ihm von einer abstrakten Dialektik, in der die musikalischen Themen einander entgegengestellt oder übereinandergesetzt waren wie bei arithmetischen Aufgaben: um ihre Gruppierungen auszudrücken, hätte man sie ebenso gut durch Zahlen oder Buchstaben ersetzen können. Der eine baute ein Werk auf der progressiven Entfaltung einer musikalischen Phrase auf, die vollständig erst auf der letzten Seite des letzten Teils auftauchte und neun Zehntel des Werkes hindurch im Zustand der Larve blieb. Der andere türmte Variationen über ein Thema aufeinander, das vom Komplizierten zum Einfachen hinabging und erst am Schluß rein zum Vorschein kam. Das waren sehr kunstvolle Spielereien. Man mußte gleichzeitig sehr alt und sehr kindlich sein, um daran Vergnügen zu finden. Die Erfinder kostete derartiges unerhörte Anstrengungen. Sie verwandten Jahre darauf, eine Phantasie zu schreiben. Sie bekamen graue Haare über dem Suchen nach neuen Akkordverbindungen, um   was auszudrücken? Gleichviel! Wenn es nur eine neue Ausdrucksform war. Wie ein Organ das Bedürfnis erzeugt, so erzeugt die Ausdrucksform schließlich den Gedanken: die Hauptsache ist, daß sie neu ist. Neues um jeden Preis! Sie hatten eine krankhafte Angst vor dem »schon Dagewesenen«. Die Besten unter ihnen waren dadurch wie gelähmt. Mau fühlte, daß sie stets ängstlich auf sich Acht gaben, das, was sie schon geschrieben hatten, ausstrichen und sich fragten: »O mein Gott! Wo habe ich das doch schon gelesen?« ... Es gibt Musiker   besonders in Deutschland  , die ihre Zeit damit hinbringen, die Gedanken Anderer aneinander zu stückeln. Der Franzose dagegen schaute bei jeder seiner musikalischen Phrasen nach, ob sie sich nicht in seinen Verzeichnissen der Melodien fände, die schon von anderen verwendet waren, und dann begann er zu streichen, daran herumzukritzeln und die Form ihrer Nase zu ändern, bis sie keiner bekannten Nase mehr ähnlich sah, noch überhaupt irgend einer Nase.

Mit alledem führten sie Christof nicht hinters Licht: sie mochten sich noch so sehr in eine kunstvolle Form vermummen und übermenschliche Leidenschaften, Zitterkrämpfe des Orchesters aufführen oder unreine Akkorde, gequälte Eintönigkeiten, Deklamationen in der Art der Sarah Bernhardt pflegen, die immer neben dem Ton einsetzten und stundenlang weitergingen wie verschlafene Maulesel am Rand eines schlüpfrigen Abhangs   Christof fand unter dieser Maske immer wieder kalte, fade Seelchen, die in der Art der Gounod und Massenet aufdringlich parfümiert waren, aber noch weniger Natürlichkeit besaßen als diese. Und er erinnerte sich des ungerechten Wortes von Gluck, das dieser in Bezug auf die Franzosen gesagt hatte:

Laßt sie nur gewähren: sie kehren doch immer zu ihren Gassenhauern zurück.

Nur strebten diese Leute danach, sie recht gelehrt aufzuputzen. Sie nahmen Volkslieder zu Themen für Symphonien, die lehrhaft wie Dissertationen der Sorbonne aussahen. Das war das große Modespiel. Sämtliche Volkslieder sämtlicher Länder kamen der Reihe nach dran.   Und damit schufen sie Neunte Symphonien und Francksche Quartette, nur noch viel schwerer. Irgend einer erfand ein vollkommen klares Thema. Schleunigst machte er sich daran, in die Mitte ein zweites einzufügen, das zwar nichts besagte, aber gräulich gegen das erste abstach.   Und doch fühlte man, daß alle diese Leute so ruhig waren, so vollkommen ausgeglichen ...

Um dann diese Werke zu dirigieren, gebärdete sich ein junger, korrekt gekleideter und verstört blickender Orchesterdirigent wie unsinnig, fuhr wie der Blitz hin und her und vollführte michelangeleske Gesten, als handle es sich darum, die Beethoven oder Wagner armeenweise auf die Beine zu bringen. Das Publikum   das einerseits aus Gesellschaftsmenschen bestand, die vor Langerweile starben, aber um alles in der Welt nicht auf die Ehre verzichtet hätten, eine rühmliche Langeweile teuer zu bezahlen, andrerseits aus kleinen Anfängern, die glücklich waren, einander ihre Schulweisheit darzutun, indem sie die Kunstgriffe herausfanden   zeigte eine frenetische Begeisterung, die der Gebärden des Dirigenten und des Getöses der Musik würdig war ...

»Quatsch mit Sauce ...« sagte Christof. (Denn er war ein echter Pariser geworden.)

Aber es ist leichter, hinter den Straßenjargon von Paris zu kommen als hinter seine Musik. Christof urteilte mit der Leidenschaft, die er für alles aufbrachte, und mit der angebornen Unfähigkeit des Deutschen, die französische Kunst zu verstehen. Doch er war wenigstens aufrichtig und wünschte nichts anderes, als seine Irrtümer einzusehen, wenn man ihm bewies, daß er sich geirrt hätte. So hielt er sich denn auch durch sein Urteil durchaus nicht für gebunden und ließ die Tür für alle neuen Eindrücke, die es umwerfen konnten, weit offen. Er mußte sofort anerkennen, daß in dieser Musik sehr viel Talent stecke, interessantes Material, eigenartige Einfälle von Rhythmen und Harmonien, Feinheit, Kraft und Glanz in der stofflichen Behandlung, Farbengeflimmer und ein ständiger Aufwand von Erfindung und Geist. Christof fand Vergnügen an diesem Wesen und machte es sich zu nutze. Alle diese kleinen Musiker besaßen unendlich mehr geistige Freiheit als ihre deutschen Berufsgenossen; sie verließen tapfer den breiten Weg und gerieten in die Wälder. Sie wollten sich gern verlaufen, aber sie waren so artige Kinderchen, daß es ihnen nicht gelang. Die einen stießen nach zwanzig Schritten wieder auf den breiten Weg. Die anderen wurden sofort müde und blieben, wo sie gerade waren. Einige kamen beinahe bis zu neuen Pfaden, aber anstatt vorwärts zu gehen, setzten sie sich an den Wegrand und tändelten unter einem Baum. Was ihnen am meisten fehlte, war der Wille, die Kraft; sie besaßen alle Gaben, außer einer: der des starken Lebens. Vor allem hatte es den Anschein, als würde diese Unmenge von Anstrengungen planlos verbraucht und zersplittere sich unterwegs. Selten wurden sich diese Künstler ihrer Natur deutlich bewußt, selten verstanden sie es, ihre Kräfte auf ein gegebenes Ziel hin mit anhaltender Energie zusammenzuschließen. Es war dies das gewöhnliche Ergebnis der französischen Anarchie, die ungeheure Mittel an Talent und gutem Willen aufwendet und sie dann durch ihre Unsicherheit und durch Widersprüche zunichte zu machen pflegt. Es stand fast beispiellos da, wenn einer ihrer großen Musiker, ein Berlioz, ein Saint-Saëns   um nicht die modernsten zu nennen   sich einmal nicht aus Mangel an Energie, aus Mangel an Überzeugung, vor allem aus Mangel an einer inneren Richtschnur in sich selber verrannt, hartnäckig sich selbst zerstört und verleugnet hatte. Christof dachte mit dem unverschämten Hochmut der heutigen Deutschen:

Die Franzosen können ihre Zeit nur mit Erfindungen totschlagen, mit denen sie nichts anzufangen wissen. Sie bedürfen stets eines Meisters aus anderer Rasse, eines Gluck oder eines Napoleon, damit aus ihren Revolutionen etwas herauskommt. Und er schmunzelte bei dem Gedanken an einen neuen achtzehnten Brumaire.

 

Indessen war inmitten der Anarchie eine einzelne Gruppe bestrebt, in den Köpfen der Künstler und des Publikums die Ordnung und die Zucht wieder herzustellen. Sie hatte sich vor allem einen lateinischen Namen beigelegt, um so das Andenken an eine kirchliche Institution wachzurufen, die vor etwa dreizehn- oder vierzehnhundert Jahren, zur Zeit der gotischen und vandalischen Einwanderung, geblüht hatte. Christof wunderte sich ein wenig, daß man so weit zurückging. Gewiß, es war gut, wenn man über seiner Zeit stand. Aber es stand doch zu befürchten, daß die Höhe von vierzehnhundert Jahren einen etwas unbequemen Beobachtungsturm abgab, von dem man leichter den Bewegungen der Sterne als denen heut lebender Menschen folgen konnte. Christof wurde schnell darüber beruhigt, denn er sah, daß die Söhne des heiligen Gregorius nur selten auf ihrem Turm blieben; sie stiegen nur hinauf, um die Glocken zu läuten. Die ganze übrige Zeit verbrachten sie unten in der Kirche. Christof wohnte einigen ihrer Gottesdienste bei, brauchte aber einige Zeit, bevor er merkte, daß man katholisch war; zuerst hatte er die Überzeugung gewonnen, daß man dem Ritus irgend einer kleinen protestantischen Sekte folgte. Ein demutsvoll anbetendes Publikum; fromme, unduldsame, sogar angriffslustige Jünger; an ihrer Spitze ein sehr reiner, sehr kalter, eigensinniger und ein wenig kindlicher Mann, der die Unantastbarkeit der religiösen, sittlichen und künstlerischen Lehre verfocht, in abstrakten Ausdrücken das Evangelium der Musik dem kleinen Volk der Auserwählten deutete und in aller Ruhe Hochmut und Ketzerei verdammte. Ihnen schob er alle Sünden der Kunst und alle Laster der Menschheit zu: die Renaissance, die Reformation und das neuzeitliche Judentum, die er in denselben Sack warf. Die Musikjuden wurden in effigie verbrannt, nachdem man sie in schimpfliche Kostüme gesteckt hatte. Dem gewaltigen Händel verabfolgte man die Knute. Einzig Johann Sebastian Bach wurde des Heils teilhaftig durch die Gnade des Herrn, der in ihm einen Protestanten aus Versehen erkannte.

Der Tempel der Rue Saint-Jacques waltete eines Apostel-Amtes: man rettete dort die Seelen und die Musik. Man lehrte methodisch die Regeln der Genialität. Arbeitsame Schüler befolgten diese Rezepte mit vielem Fleiß und unerschütterlicher Überzeugung. Man hätte meinen können, daß sie durch ihre frommen Anstrengungen abbüßen wollten, was der sündhafte Leichtsinn ihrer Großväter verschuldet hatte: der Auber, der Adam und jenes Erzverdammten, jenes teuflischen Esels Berlioz, des Teufels in Person, des diabolus in musica. Mit lobenswertem Eifer und aufrichtiger Gläubigkeit verbreitete man den Kult der anerkannten Meister. Nach etwa zehn Jahren war ein ansehnliches Stück Arbeit geleistet: die Umwandlung der französischen Musik. Nicht nur die französischen Kritiker, sogar die französischen Musiker waren etwas in die Musik eingedrungen. Es gab nunmehr Komponisten und sogar Virtuosen, die Bachs sämtliche Werke kannten. Der Fall war vorher selbst in Deutschland nicht so häufig gewesen.   Vor allem hatte man große Anstrengungen gemacht, um den Stubenhockergeist der Franzosen zu bekämpfen. Diese Leute sitzen immer hinterm Ofen und sind nur mit Mühe aus ihrem Winkel herauszubringen. Auch ihrer Musik fehlt es an Luft: sie ist eine Zimmerluft-Musik, eine Sofa-Musik, eine Musik, die nicht ins Freie kommt. Das gerade Gegenteil eines Beethoven, der komponierte, wenn er quer über die Felder lief, die Abhänge hinunter stolperte, mit großen Schritten dahinstürmte, gleichviel ob Sonne oder Regen, und der mit seinen Gebärden, seinen Ausrufen die Herden aufschreckte. Bei den französischen Musikern war keine Gefahr, daß sie ihre Nachbarn durch das Getöse ihrer Offenbarungen störten, wie der Bonner Bär. Sie dämpften beim Komponieren ihre Gedanken; und dichte Vorhänge verhinderten, daß die Geräusche von draußen bis zu ihnen hineindrangen.

Die Schola hatte versucht, frische Luft hereinzulassen. Sie hatte die Fenster nach der Vergangenheit hin geöffnet. Nach der Vergangenheit allein. Das hieß, sie nach dem Hof öffnen und nicht nach der Straße. Es nützte nicht viel. Kaum war das Fenster offen, so ließen sie die Rolläden herunter, wie alte Damen, die sich vor dem Schnupfen fürchten. Ein bißchen mittelalterlicher Lufthauch von Bach, von Palestrina, von Volksliedern drang wohl herein. Aber was besagte das? Das Zimmer roch darum nicht weniger   muffig. Im Grunde genommen befanden sie sich wohl dabei; sie fürchteten die großen modernen Strömungen. Und kannten sie mehr von der Kunst als die anderen, so lehnten sie auch mehr ab. Die Musik nahm in dieser Umgebung ein doktrinäres Wesen an; sie bedeutete kein Ausspannen: die Konzerte waren Geschichtsstunden oder boten Erbauungstexte. Die fortschrittlichen Gedanken wurden akademisch zurechtgemacht. Der große, einem Sturzfall gleich hintosende Bach wurde, nachdem man ihn zur Artigkeit gebändigt hatte, in den Schoß der Kirche aufgenommen. Seine Musik erfuhr in den scholastischen Gehirnen eine Umwandlung, ähnlich wie sie sich in dem Gehirn der Engländer vor der stürmischen und sinnenheißen Bibel vollzog. Für die moderne Musik lautete die gepredigte Lehre auf einen sehr aristokratischen Eklektizismus, der bestrebt war, die charakteristischen Merkmale von drei oder vier großen musikalischen Epochen zwischen dem sechsten und dem zwanzigsten Jahrhundert miteinander zu vereinen. Wäre es möglich gewesen, diese Lehre zu verwirklichen, so hätte die Musik das Gleiche erreicht, wie jener Vizekönig von Indien in seinen Bastardbauten, die er aus kostbarem, auf seinen Reisen in allen Weltenden zusammengerafftem Material aufführen ließ. Aber der gesunde französische Menschenverstand bewahrte vor solchen Auswüchsen der Bildungsbarbarei; die guten Leute hüteten sich davor, ihre Theorien anzuwenden; sie machten es damit wie Molière mit seinen Ärzten: man nahm die Verordnung entgegen, aber man befolgte sie nicht. Die Tüchtigsten gingen ihren eigenen Weg. Die Herde befaßte sich in der Praxis mit gelehrten und höchst schwierigen kontrapunktischen Übungen; man nannte sie Sonaten, Quartette und Symphonien ... »Sonate, was willst du von mir?«   wie jener sagte. Sie wollte gar nichts, nur Sonate sein. Der Gedanke darin war abstrakt und dürr, ausgeklügelt und ohne Freudigkeit. Es war eine vollkommen papierene Kunst. Christof, der es den Franzosen zuerst hoch angerechnet hatte, daß sie Brahms nicht liebten, sagte sich jetzt, daß es in Frankreich viele kleine Brahmse gäbe. Alle diese wackeren, fleißigen, gewissenhaften Arbeiter waren voller Tugenden. Christof schied von ihnen äußerst erbaut, aber im Innersten gelangweilt. Das war ja recht schön und gut ...

Doch draußen war solch herrliches Wetter!

 

Immerhin lebten in Paris unter den Musikern einige Unabhängige, die sich von jeder Schule losgesagt hatten. Das waren die einzigen, die Christof interessierten. Nur sie, die allein stehen, können den Maßstab für die Lebenskraft einer Kunst geben. Schulen und Kliquen können nur eine oberflächliche Mode oder zurechtgemachte Theorien zur Geltung bringen. Den Unabhängigen aber, die sich auf ihr wahres Selbst besinnen, ist es eher möglich, in sich das wahre Denken ihrer Zeit und ihrer Rasse zu finden. Allerdings sind sie gerade dadurch für einen Fremden noch schwerer verständlich als die andern.

So ging es Christof, als er zum ersten Mal das vielgenannte Werk hörte, von dem die Franzosen mit tausend Übertreibungen redeten und das manche als die größte musikalische Umwälzung ausschrieen, die seit zehn Jahrhunderten vollbracht worden sei. Es kam ihnen nicht auf ein paar Jahrhunderte an, sie verlängerten damit die eigene ja kaum.

Théophile Goujart und Sylvain Kohn führten Christof in die Opera-Comique, um Pelléas und Mélisande zu hören. Sie waren ganz stolz darauf, ihm dieses Werk zu zeigen: man hätte meinen können, sie hätten es selbst geschaffen. Sie gaben Christof zu verstehen, daß er hier seinen Weg nach Damaskus finden werde. Die Vorstellung hatte schon begonnen, als sie noch immer in ihren Kommentaren fortfuhren. Christof hieß sie schweigen und lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit. Nach dem ersten Akt neigte er sich zu Sylvain Kohn, der ihn mit glänzenden Augen fragte:

»Na, Alterchen, was sagen Sie dazu?«

Und Christof sagte:

»Geht das die ganze Zeit so weiter?«

»Ja.«

»Aber das ist ja nichts.«

Kohn widersprach laut und schalt ihn einen Philister.

»Das ist gar nichts,« fuhr Christof fort. »Keine Musik. Das hat keine Entwicklung. Keine Aufeinanderfolge. Keinen Zusammenhang. Sehr feine Harmonien. Recht gute, recht geschmackvolle Orchestereffekte. Aber es steckt doch nichts, gar nichts drin ...« Er begann von neuem zuzuhören. Nach und nach ging ihm ein Licht auf. Er begann in dem Halbdunkel etwas zu unterscheiden. Ja, er begriff wohl, daß hier mit gewolltem Maßhalten Partei ergriffen wurde gegen das Wagnersche Ideal, das die Handlung in den Fluten der Musik ertränkte; aber er fragte sich mit einiger Ironie, ob man diesem Ideal der Aufopferung nicht etwa deshalb diene, weil man dem entsagte, was man nicht besaß. Er spürte in dem Werk die Furcht vor der Mühe, das Suchen nach einer Wirkung, die mit dem Mindestmaß von Anstrengung erreicht werden konnte, den trägen Verzicht auf den harten Kampf, wie ihn das mächtige Gefüge Wagnerscher Tonwerke verlangte. Er verschloß sich indes nicht dem Eindruck des einfarbigen, schlichten, bescheidenen, gedämpften Vortrags, wenn er ihn auch als eintönig empfand und ihn als Deutscher für unwahr hielt: (er fand sogar, daß, je mehr diese Tonsprache versuchte wahr zu sein, sie nur um so mehr enthüllte, wie wenig die französische Sprache für die Musik geschaffen sei: zu logisch, zu formhaft, wie sie ist, zu bestimmt umrissen, eine in sich vollkommene, aber hermetisch abgeschlossene Welt.)   Immerhin war der Versuch eigenartig, und Christof begrüßte freudig den Geist der revolutionären Auflehnung gegen das gewaltsame Pathos der Wagnerschen Kunst. Der französische Musiker schien sich mit ironisch überlegener Zurückhaltung bemüht zu haben, alle leidenschaftlichen Gefühle mit halber Stimme vortragen zu lassen. Bei Liebe und Tod gab es kein Schreien. Nur durch ein kaum merkliches Erzittern der melodischen Linie, ein Zucken im Orchester, gleich dem Kräuseln der Mundwinkel, wurde man sich des Dramas bewußt, das sich in den Seelen abspielte. Man hätte meinen können, der Künstler zittere davor, sein Inneres preiszugeben. Er war ein Genie des guten Geschmacks   außer in gewissen Augenblicken, wo der Massenet, der in allen französischen Herzen schlummert, aufwachte, um in Lyrismen zu schwelgen. Dann fand man die allzu blonden Haare, die gar zu roten Lippen wieder   die Bürgersfrau der dritten Republik, die sich als große Liebeskünstlerin aufspielt. Aber diese Augenblicke waren die Ausnahme: sie bedeuteten ein Nachlassen des Zwanges, den der Komponist sich auferlegte; überall sonst herrschte in dem Werk eine raffinierte Schlichtheit, eine Einfachheit, die gar nicht einfach, die das Erzeugnis des Willens war, die zarte Blüte einer alten Kultur. Der junge Barbar Christof konntet nur zur Hälfte genießen. Vor allem ärgerte ihn die Handlung des Dramas, die Dichtung. Er meinte eine alternde Pariserin zu sehen, die das Kind spielte und sich Märchen erzählen ließ. Das war zwar nicht mehr das Wagnerische Tongestammel, sentimental und schwerfällig wie eine dicke Rheinländerin. Aber das französisch-belgische Quak-quak mit seinen Zierereien und Salonalbernheiten war um nichts besser:   »die Haarpracht«, »lieb Väterchen«, »Täubchen«   und diese ganze Geheimniskrämerei zum gefälligen Gebrauch für Weltdamen. Die Seele des Parisers spiegelte sich in diesem Stück, das ihm wie ein geschmeicheltes Gemälde das Bild seines entnervten Fatalismus, seines Boudoir-Nirvanas, seiner weichlichen Melancholie zurückwarf. Von Willenskraft keine Spur. Niemand wußte, was er wollte.

»Ich kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür ...« seufzten diese großen Kinder. Die ganzen fünf Akte lang, die in beständiger Dämmerung spielten   in Wäldern, Höhlen, unterirdischen Grotten, Sterbegemächern  , kämpften diese kleinen exotischen Vögel kaum. Arme kleine Vögel! Hübsch, matt und fein ... Wie sie Angst hatten vor dem allzu hellen Licht, vor der Brutalität in Gebärden, Worten, Leidenschaften, vor dem Leben! Das Leben ist nicht überfeinert. Das Leben faßt man nicht mit Handschuhen an ...

Christof hörte schon den Donner der Kanonen daherrollen, die diese erschöpfte Zivilisation, dies verhauchende kleine Griechenland zerschmettern würden.

 

War es dies Gefühl wehmütigen und zugleich stolzen Mitleids, das ihm trotz allem eine Zuneigung für das Werk abnötigte? Jedenfalls fesselte es ihn mehr, als er zugeben wollte. Obgleich er Sylvain Kohn nach Schluß des Theaters beständig antwortete, daß es »sehr fein wäre, aber daß ihm der Schwung fehle und daß ihm nicht genug Musik darin sei,« hütete er sich doch wohl, Pelléas mit den anderen französischen Musikwerken zusammenzuwerfen. Er fühlte sich von dieser Lampe mitten im Nebel angezogen. Er entdeckte sogar noch andre, lebhafte, phantastische Lichtscheine, die um sie herumflackerten. Diese Irrlichter erregten seine Neugier. Er hätte sich ihnen gern genähert, um zu sehen, was sie eigentlich glänzen machte, aber sie waren nicht leicht zu fassen. Diese freien Musiker, die Christof nicht verstand und die ihn umso mehr zur Beobachtung reizten, waren wenig zugänglich. Das große Bedürfnis nach Sympathie, das Christof beseelte, schien ihnen zu fehlen. Außer einem oder zweien schienen sie wenig zu lesen, wenig zu kennen, wenig kennen lernen zu wollen. Fast alle lebten abseits, die einen außerhalb Paris, die anderen in Paris, aber tatsächlich und mit Willen einsam, in einen engen Kreis eingeschlossen, sei es aus Stolz, aus Scheu, aus Widerwillen oder aus Gleichgiltigkeit. So wenige ihrer waren, zerfielen doch auch sie in kleine gegnerische Gruppen, die nicht miteinander auskommen konnten. Sie waren äußerst empfindlich und konnten weder ihre Feinde noch ihre Rivalen, ja nicht einmal ihre Freunde vertragen, wenn diese wagten, einen anderen Musiker als sie zu bewundern, oder sich erlaubten, sie zu kalt oder zu übertrieben, auf zu banale oder zu absonderliche Art zu loben. Sie zufrieden zu stellen, war daher äußerst schwierig. Jeder von ihnen hatte schließlich einen Kritiker zum Bevollmächtigten, der eifersüchtig am Fuß seines Götzen Wache hielt. Kein anderer durfte ihn anrühren.   Wurden sie so nur von sich selbst verstanden, so war das Verständnis darum nicht besser. Von ihrer eigenen und ihrer Parteigänger Meinung umschmeichelt und entstellt, verloren sie den Boden der Einsicht in ihre Kunst und ihren Genius. Komponisten mit liebenswürdigen Einfällen hielten sich für Reformatoren. Epigonenhafte Künstler gebärdeten sich als Rivalen Wagners. Fast alle waren Opfer des Einander-Überbietens. Jeden Tag mußten sie höher springen, als sie am Abend vorher gesprungen waren, und vor allem höher als ihre Nebenbuhler. Diese Zirkuskunststücke gelangen ihnen nicht immer und hatten außerdem nur für einige Berufsgenossen Anziehungskraft. Um das Publikum bekümmerten sie sich nicht, und dieses bekümmerte sich nicht um sie. Ihre Kunst war eine Kunst ohne Volk, eine Musik, die nur aus dem Technischen ihre Nahrung zog. Nun aber hatte Christof, ob mit Recht oder Unrecht, den Eindruck, daß keine Musik mehr als die französische einer Stütze außerhalb ihrer selbst bedurfte. Diese schmiegsame Schlingpflanze konnte ohne Stütze nicht bestehen, sie konnte der Literatur nicht entbehren. Selber besaß sie nicht genügend Lebenskraft. Sie war kurzatmig, blutarm, willenlos. Wie ein schmachtendes Weib war sie, das auf einen Mann wartet, damit er sie ergreife. Aber diese byzantinische Kaiserin mit dem schmächtigen, blutlosen und edelsteinbehangenen Leib war von Eunuchen umgeben: von Snobs, Ästheten und Kritikern. Die Nation war nicht musikalisch. Und die ganze, seit zwanzig Jahren lärmend verkündete Begeisterung für Wagner, Beethoven, Bach oder Debussy reichte nicht über eine gewisse Kaste hinaus. Diese Überfülle an Konzerten, die verheerende Flut von Musik um jeden Preis entsprach keiner tatsächlichen Entwicklung des allgemeinen Geschmacks. Alles war einfach ein Modezwang, der nur die Elite etwas anging und sie verdarb. Wahrhaft geliebt wurde die Musik nur von einer Handvoll Menschen, doch nicht immer von denen, die sich am meisten mit ihr beschäftigten: Komponisten und Kritikern. Überhaupt, wie wenig Musiker gibt es in Frankreich, die eine wahrhafte Liebe zur Musik hegen! So dachte Christof. Aber er vergaß dabei, daß es überall so ist und daß selbst in Deutschland die wahren Musiker dünn gesät sind. Die wirklich in der Kunst zählen, das sind nicht die Tausende, die nichts davon verstehen, es ist vielmehr die Handvoll Menschen, die die Kunst lieben und ihr in stolzer Demut dienen. Hatte er solche je in Frankreich gesehen? Von den Schaffenden und Kritikern arbeiteten die Besten in der Stille, fern dem Lärm, wie Franck es getan hatte, wie es die begabtesten Komponisten der Gegenwart und so unendlich viele Künstler taten, die ihr ganzes Leben lang im Schatten standen, vielleicht nur damit später irgend ein Journalist den Ruhm genösse, sie zu entdecken und sich ihren Freund zu nennen. Und nicht anders das kleine Heer unbekannter arbeitsamer Gelehrten, die ohne Ehrgeiz, ohne an sich selbst zu denken, Stein für Stein die Größe des einstigen Frankreichs wieder aufbauten, oder, wenn sie sich der musikalischen Erziehung des Landes widmeten, die Größe des künftigen Frankreichs vorbereiteten. Wieviel Köpfe gab es doch unter ihnen, deren Reichtum, deren Freiheit, deren universelle Wißbegierde Christof angezogen haben würde, hätte er sie nur kennen gelernt! Aber kaum zwei oder drei von ihnen hatte er flüchtig getroffen; er kannte sie nur durch Karikaturen ihrer Ideen. Er erblickte nur ihre Fehler, die von den gewohnheitsmäßigen Nachäffern der Kunst und den Commis voyageurs der Presse nachgeahmt und übertrieben wurden. Was ihn vor allem an dieser musikalischen Plebs anwiderte, war ihr Formkultus. Niemals sprachen diese Leute von etwas anderem als von der Form. Vom Gefühl, vom Charakter, vom Leben nicht ein Wort. Nicht einer von ihnen ahnte, daß jeder wahre Musiker in einem tönenden Universum lebt, wie andere Menschen in einer sichtbaren Welt, und daß seine Tage wie ein Strom von Musik durch ihn hinfluten. Musik ist die Luft, die er atmet, der Himmel, der sich über ihm wölbt. Die Natur bildet sich in seiner Seele als Musik ab. Seine Seele selber ist Musik; Musik ist alles, was er liebt, haßt, leidet, fürchtet, hofft. Eine musikalische Seele, die einen schönen Körper liebt, erblickt ihn als Musik. Geliebte Augen, die sie entzücken, sind weder blau, noch grau, noch braun: sie sind Musik. Allein ihr Anblick erweckt den Eindruck einer Zärtlichkeit in der Sprache der Musik oder eines köstlichen Akkordes. Diese innere Musik ist tausendmal reicher als die hörbare Musik, und das Klavier ist arm an Klang gegenüber dem Spielenden. Das Genie mißt sich an der Macht des Lebens und der Fähigkeit, durch das unvollkommene Instrument der Kunst Leben heraufzubeschwören.   Wieviele Menschen in Frankreich aber ahnen das? Diesem Volk von Chemikern scheint die Musik nur die Kunst, Töne aneinander zu reihen. Das Alphabet halten sie für das Buch selbst. Christof zuckte die Achseln, wenn er sie selbstgefällig sagen hörte, man müsse, um die Kunst zu verstehen, vom Menschen abstrahieren. Dies Paradoxon erfüllte sie mit großer Genugtuung: denn sie glaubten sich selbst dadurch ihre Musikalität zu beweisen. So war es bei allen bis hinab zu Goujart, diesem Strohkopf, der es nie begriff, wie man eine Musikseite auswendig behalten konnte   (er hatte versucht, sich dies Geheimnis von Christof erklären zu lassen)   und der Christof beweisen wollte, daß die Seelengröße Beethovens und die Sinnlichkeit Wagners nicht mehr mit ihrer Musik zu tun hätten, als das Modell eines Malers mit seinen Bildnissen.

»Das beweist,« antwortete ihm Christof schließlich ungeduldig, »daß ein schöner Körper an künstlerischem Wert für Sie nicht höher steht als eine große Leidenschaft. Armer Kerl! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr die Schönheit einer vollkommenen Gestalt die Schönheit der sie nachbildenden Malerei steigert, so wie die Schönheit einer großen Seele die Schönheit der Musik, die sie wiederspiegelt, erhöht? ... Armer Kerl! ... Nur das Handwerkliche bedeutet Ihnen etwas? Ist nur die Arbeit als solche vollendet, so läßt es Sie gleichgiltig, was sie bedeutet? ... Armer Kerl! ... Sie sind wie jene Leute, die nicht hören, was ein Redner spricht, die aber dem Klang seiner Stimme lauschen, verständnislos seinen Gebärden folgen und dann finden, er spreche doch verteufelt gut ... Armer Kerl! ... Armer Kerl! ... Zum Teufel! So ein Trottel!«

Christof verdroß jedoch nicht nur diese oder jene Theorie, sondern überhaupt jede Theorie. Er war schon ganz zermürbt von diesem endlosen Hin- und Hergerede, diesen byzantinischen Disputationen, diesen ewigen Musikergesprächen über Musik, und immer nur über Musik. Dem besten Musiker konnte man dadurch auf immer seine Kunst verleiden. Wie Moussorgski dachte Christof, die Musiker täten gut daran, von Zeit zu Zeit ihren Kontrapunkt und ihre Harmonien um guter Bücher und einiger Lebenserfahrung willen beiseite zu lassen. Die Musik allein genügt für den heutigen Musiker nicht: so wird er nicht dazu kommen, das Jahrhundert zu beherrschen und sich über das Nichts zu erheben ... Das Leben gilt es! Das ganze Leben! Alles sehen, alles erkennen, alles fühlen. Die Wahrheit lieben, suchen, umfangen   die Wahrheit   die schöne Amazonenkönigin Penthesilea, die den Kuß mit einem Biß erwidert. Er hatte genug von dem musikalischen Geschwätz, von den Werkstätten zur Herstellung von Akkorden! Alle diese Albernheiten der Harmonie-Küche würden ihn niemals eine neue Harmonie finden lehren, die ein lebendiges Wesen wäre und nicht eine Mißgeburt!

Er wandte sich ab von diesen Ebenbildern des Famulus Wagner, ihnen allen, die über ihren Destilliergläsern hockten, um irgend einen Homunkulus in der Flasche auszubrüten; er ließ die französische Musik Musik sein und suchte die literarischen Kreise und die Pariser Gesellschaft kennen zu lernen.

 

Gleich Millionen anderer Menschen in Frankreich machte Christof die Bekanntschaft der französischen Literatur seiner Zeit zuerst durch die Tageszeitungen. Da ihm viel daran lag, sich so schnell wie möglich der Pariser Denkart anzupassen und sich dabei in der Sprache zu vervollkommnen, zwang er sich, die Zeitungen, die man ihm als die pariserischesten bezeichnete, mit größter Gewissenhaftigkeit durchzulesen. Am ersten Tag las er unter den Schauerberichten, deren Erzählung und deren Momentphotographien mehrere Seiten füllten, die Geschichte eines Vaters, der bei seiner fünfzehnjährigen Tochter schlief. Die Sache war als ganz natürlich und sogar recht rührend dargestellt. Am zweiten Tag las er in derselben Zeitung die Geschichte von einem Vater und dessen zwölfjährigen Sohne, die beide bei demselben Mädchen schliefen. Am dritten Tag las er die Geschichte eines Bruders, der bei seiner Schwester schlief. Am vierten von zwei Schwestern, die beieinander schliefen. Am fünften ... am fünften warf er die Zeitung voller Ekel von sich und sagte zu Sylvain Kohn:

»Ah! was ist denn mit euch los? Seid ihr krank?«

Sylvain Kohn begann zu lachen und sagte:

»Das ist Kunst.«

Christof zuckte die Achseln:

»Sie machen sich über mich lustig.«

Kohn lachte noch mehr.

»In keiner Weise. Da, sehen Sie einmal.«

Er zeigte Christof eine kürzlich veranstaltete Rundfrage über Kunst und Sittlichkeit, aus der hervorging, daß »die Liebe alles heilige«, daß »die Sinnlichkeit der Gärungsstoff der Kunst sei«; daß »die Kunst nicht unmoralisch sein könne«, daß »die Sittlichkeit eine Überlieferung jesuitischer Erziehung sei« und daß einzig »die Ungeheuerlichkeit der Begierde« Geltung habe.   Eine Reihe von literarischen Zeugnissen bescheinigte in den Zeitungen die künstlerische Reinheit eines Romans, der die Sitten der Zuhälter schilderte. Unter den Antwortenden waren Berühmtheiten der zeitgenössischen Literatur oder ernste Kritiker. Ein bürgerlicher und katholischer Familiendichter gab seinen Künstlersegen einem sorgfältig ausgeführten Gemälde der üblen griechischen Sitten. Lyrische Lobpreisungen feierten Romane, in denen mit großem Fleiß die Arten der Ausschweifung in den verschiedenen Zeitaltern dargestellt wurden: in Rom, Alexandrien, Byzanz, der italienischen und französischen Renaissance, dem Grand Siècle ... es war ein vollständiger Lehrkurs. Ein anderer Studienzyklus umfaßte die verschiedenen Länder des Erdballs: gewissenhafte Schriftsteller hatten sich mit Benediktinergeduld dem Studium der Freudenhäuser in allen fünf Erdteilen gewidmet. Man wunderte sich durchaus nicht, unter diesen Geographen und Historikern der Lust geachtete Dichter und vorzügliche Schriftsteller zu finden. Man unterschied sie von den anderen nur durch ihre Gelehrsamkeit. Sie erzählten in untadeligen Ausdrücken archaische Zoten.

Das Verblüffendste war, tüchtige Leute und wirkliche Künstler, die berechtigtes Ansehn in der französischen Literatur genossen, aufs eifrigste bemüht zu sehen, in diesem Handwerk, für das sie nicht geschaffen waren, etwas zu leisten. Manche quälten sich damit ab, wie die Andern Schmutzereien zu schreiben, die durch die Morgenzeitungen in Fortsetzungen vertrieben wurden. Regelmäßig an bestimmten Tagen, wöchentlich ein- oder zweimal, legten sie ihre Eier; und das dauerte Jahre lang. Sie legten ihre Eier immer weiter, hatten nichts mehr zu sagen und zermarterten sich das Gehirn, um irgend etwas Neues herauszuquetschen, noch Abgeschmackteres, noch Unsinnigeres: denn das überfütterte Publikum wurde aller dieser Gerichte überdrüssig und fand bald die Ausmalung der schamlosesten Lüste fade; man mußte alles überbieten, immerfort überbieten, die anderen überbieten wie sich selbst.   Und so überhitzten sie ihr eignes Blut, preßten ihre eignen Eingeweide aus: es war ein jämmerliches und groteskes Schauspiel.

Christof kannte nicht alle Kehrseiten dieses traurigen Berufes, und hätte er sie gekannt, so wäre er darum nicht nachsichtiger gewesen: denn nichts in der Welt entschuldigte in seinen Augen einen Künstler, der seine Kunst für dreißig Silberlinge verkaufte ...

»Nicht einmal für das Wohlergehen derer, die er liebt?«

»Nicht einmal dafür!«

»Das ist nicht menschlich.«

»Es handelt sich nicht darum, menschlich, sondern ein Mann zu sein ... Menschlich! ... Gott bewahre mich vor eurer bleichsüchtigen Humanitätsduselei, in der es keinen Tropfen roten Blutes mehr gibt ... Man liebt nicht zwanzig Dinge auf einmal, man dient nicht mehreren Göttern ...« ... Christof, dessen Blick bei seinem arbeitsamen Leben kaum je über den Gesichtskreis seiner deutschen Kleinstadt hinausgedrungen war, konnte nicht ahnen, daß diese künstlerische Sittenverderbnis, die sich in Paris so rücksichtslos breit machte, fast allen Großstädten gemeinsam war. Die ererbten Vorurteile des keuschen Deutschlands gegen die lateinische Unmoral erwachten in ihm. Nun hätte ihm Sylvain Kohn zwar mit Leichtigkeit das entgegenhalten können, was sich an den Ufern der Spree abspielte, und auf die erschreckende Fäulnis einer Elite des kaiserlichen Deutschlands hinweisen können, deren Schändlichkeit noch abstoßender durch Roheit wurde. Doch Sylvain Kohn dachte nicht daran, dies auszunutzen; ihn entrüstete das ebensowenig wie die Pariser Sitten. Er dachte bei sich ironisch: »Jedes Volk hat seine Bräuche,« und er fand die seiner Umwelt so natürlich, daß Christof glauben konnte, sie seien die eigenste Natur der Rasse. So ließ er es, ebenso wie seine Landsleute, nicht daran fehlen, in dem Geschwür, das an den geistigen Aristokratien Europas zehrt, ein der französischen Kunst besonders eigenes Gebrechen, den Niedergang der lateinischen Rassen zu erblicken.

Diese erste Berührung mit der französischen Literatur war für Christof peinlich und er brauchte Zeit, um sie nach und nach zu vergessen. Dabei fehlte es nicht an Werken, die sich nicht ausschließlich mit dem befaßten, was einer jener Schriftsteller vornehm als »den Sinn für die fundamentalen Vergnügungen« bezeichnete. Von den schönsten und besten jener Werke aber drang nichts bis zu ihm. Sie gehörten nicht zu denen, die den Beifall eines Sylvain Kohn und seiner Freunde suchten; sie kümmerten sich nicht um diese Leute und diese Leute kümmerten sich nicht um sie: sie übersahen einander. Von ihnen hatte Sylvain Kohn niemals mit Christof gesprochen. Er war der Überzeugung, daß er und seine Freunde die französische Kunst verträten und daß außer denen, die durch ihre Meinung und die Boulevardpresse zu großen Männern gestempelt waren, es kein Talent, keine Kunst, kein Frankreich gebe. Von den Dichtungen, die der zeitgenössischen französischen Literatur zur Ehre gereichten und die Frankreichs Krone bildeten, kannte Christof nichts. Von den Romanen, die über den Sumpf der Mittelmäßigkeit ragten, kamen ihm nur ein paar Bücher von Barrès und Anatole France in die Hände. Aber er beherrschte die Sprache noch zu wenig, um des letzteren universalen Dilettantismus und gelehrte Ironie wie des anderen zwar unausgeglichene, aber manchmal überragende Kunst ganz genießen zu können. Er verbrachte einige Zeit damit, die in dem literarischen Treibhaus von Anatole France künstlich gezogenen Orangenbäumchen und die schmächtigen, formvollendeten Blumen, welche auf dem Seelenfriedhof von Barrès sproßten, neugierig zu betrachten. Er hielt sich auch einige Augenblicke bei dem ein wenig erhabenen, ein wenig einfältigen Genie Maeterlincks auf; ein weltlicher, einförmiger Mystizismus entstieg ihm, der einlullend wirkte, wie ein unbestimmter Schmerz. Er schüttelte ihn von sich ab, fiel dann in den Sturzbach plumper Kraft, in die schlammige Romantik Zolas, die er bereits kannte, und entfloh ihr   doch nur, um sich ganz und gar in einer Hochflut von Literatur zu ertränken.

Ein odor di femina erhob sich von diesen überschwemmten Ebenen. In der damaligen Literatur wimmelte es von weibischen Männern und von Weibern.   Es ist gut, daß die Frauen schreiben, wenn sie die Aufrichtigkeit besitzen, das zu schildern, was kein Mann jemals ganz und gar zu sehen vermochte: den Grund der weiblichen Seele. Aber nur eine kleine Anzahl wagte das zu tun, die Mehrzahl der anderen schrieb nur, um den Mann anzulocken: sie waren in ihren Büchern ebenso verlogen wie in ihren Salons; sie schmückten sich auf abgeschmackte Weise und liebäugelten mit dem Leser. Seitdem sie nicht mehr bigott waren und keinem Beichtiger ihre kleinen Unsauberkeiten vorzutragen hatten, erzählten sie sie dem Publikum. Es war eine Flut von fast immer schlüpfrigen, immer manirierten Romanen, in einer lispelnden Sprache, einer Sprache, die nach Blumen duftete, nach guten Parfüms, nach zu guten Parfüms   auch nach mittelmäßigen   und die vor allem diesen ewig zudringlichen, heißen und süßlich-faden Geruch an sich hatte. Der durchzog diese ganze Literatur. Christof dachte mit Goethe: »Wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Unsere Dichterinnen möchten immer dichten und schreiben, so viel sie wollten. Aber das ist es, was mir nicht gefällt.« Nur mit Widerwillen sah er alle diese Zierereien, diese zweideutige Koketterie, diese Empfindelei, die sich mit Vorliebe für Geschöpfe verausgabte, die der Anteilnahme am wenigsten würdig waren. Mit Ekel empfand er diesen ganzen mit Ideologie, Affektiertheit und Sinnlichkeit gespickten Stil, dieses Gemisch von Überfeinerung und Brutalität, diese Fuhrknechtspsychologie.

Jedoch Christof wurde sich dessen bewußt, daß er zu keinem Urteil kommen konnte. Der Lärm auf dem Jahrmarkt der Worte betäubte ihn. Unmöglich war es, die hübschen Flötenweisen, die sich dazwischen verloren, zu vernehmen. Denn selbst unter diesen nur zum Ergötzen bestimmten Werken gab es welche, aus deren Grund der klare Himmel und die harmonische Linie attischer Hügel lächelte   Arbeiten mit viel Talent, viel Grazie, Lebensreiz, Anmut des Stils und einer Geistigkeit, wie sie den genußsüchtigen Schönheiten oder den schmachtenden Jünglingen des Perugino und des jungen Raffael eigen ist, die mit halbgeschlossenen Augen ihrem Liebestraum zulächeln. Christof freilich bemerkte nichts davon. Nichts vermochte ihm die herrschenden Bestrebungen, die geistigen Strömungen zu offenbaren. Selbst einem Franzosen wäre es schwer geworden, sich darin auszukennen. Was er im Augenblick einzig feststellen konnte, das war dieser Überfluß an Literatur, der wie eine öffentliche Plage wirkte. Es war, als schriebe alle Welt: Männer, Frauen, Kinder, Offiziere, Komödianten, Leute aus der großen Welt, Zuchthäusler. Es war eine Seuche.

Christof gab es vorläufig auf. Er fühlte auch, daß ein Führer wie Sylvain Kohn ihn nur vollends in die Irre führen konnte. Die Erfahrung, die er in einem literarischen Kreise Deutschlands gemacht hatte, wappnete ihn mit Mißtrauen gerade gegen die Umgebung, in der er sich befand. Büchern und Zeitschriften gegenüber war er skeptisch: man wußte nie, ob sie nicht einfach die Ansichten von einigen hundert Müßiggängern wiedergaben, oder ob, was ja auch manchmal vorkam, der Schriftsteller selber nicht etwa sein einziges Publikum war.

Ein richtigeres Bild der Gesellschaft zeichnete das Theater. Es nahm im täglichen Leben von Paris einen ungeheuren Raum ein. Es war wie eine riesige Küche, ein pantagruelisches Restaurant, das den Appetit dieser zwei Millionen Menschen dennoch nicht zu stillen vermochte. Einige dreißig große Theater, dazu Vorstadt-Bühnen, Konzert-Cafés, verschiedene Singspielhallen, wohl gegen hundert Vergnügungslokale waren Abend für Abend fast voll. Ein Volk von Schauspielern und Angestellten. Riesige Summen verschlang dieser Abgrund. Die vier subventionierten Theater beschäftigten allein nahezu dreitausend Menschen und hatten zehn Millionen Ausgaben. Ganz Paris war erfüllt vom Ruhme der Komödianten. Auf Schritt und Tritt gaben zahllose Photographien, Zeichnungen, Karikaturen ihre Grimassen und ihre Moden wieder, die Grammophone wiederholten ihr Genäsel, die Zeitungen ihre Urteile über Kunst, über Politik. Sie hatten ihre besondere Presse. Sie veröffentlichten ihre Memoiren, die heroisch und intim waren. Inmitten der anderen Pariser, jener großen müßigen Kinder, die ihre Zeit mit gegenseitiger Nachäfferei verbrachten, schwangen diese vollkommenen Affen das Szepter; und die dramatischen Dichter waren ihre ersten Minister. Christof bat Sylvain Kohn, ihn in dieses Reich des Widerscheins und der Schatten einzuführen.

 

Sylvain Kohn aber war in diesem Reiche ein ebensowenig zuverlässiger Führer wie in dem der Bücher, und die ersten Eindrücke, die Christof von den Pariser Theatern empfing, waren daher nicht weniger abstoßend als die seiner ersten Lektüre. Ihm schien überall der gleiche Geist der zerebralen Prostitution zu herrschen.

Die Händler mit Vergnügungen bilden zwei Schulen. Die eine war von der guten alten Art, der nationalen Art: mit breiter Lust an schmutzigem Vergnügen, Freude am Häßlichen, am reichlichen Verdauen, am Mißgestalteten, an halbbekleideten Leuten, Wachtstubenspäßen, gegerbten und gepfefferten Geschichten, an Haut-gout-Geruch und an verschwiegenen Hinterstübchen. Dieser »männliche Freimut«, wie sie das nannten, behauptete, Ausgelassenheit und Sittlichkeit zu vereinen, weil nach vier Akten voller Gemeinheit die Ordnung und der Triumph des Codex wieder hergestellt wird, indem der Zufall irgend einer Verwicklung die legitime Frau in das Bett des Ehemannes wirft, den sie hatte betrügen wollen (war das Gesetz nur gerettet, so war es die Tugend auch)   diese liederliche Ehrbarkeit, welche die Ehe verteidigt, indem sie ihr das Benehmen des Lasters gibt   gallischer Geschmack. Die andere Schule war modern style. Sie war viel raffinierter, dabei noch widerlicher. Die verpariserten Juden und die verjudeten Christen, die auf dem Theater überhand nahmen, hatten dort den bekannten Gefühlsmischmasch eingeführt, der das Kennzeichen eines entarteten Weltbürgertums ist. Diese Söhne, die sich ihrer Väter schämten, waren bestrebt, das Gewissen ihrer Rasse zu verleugnen; und das gelang ihnen nur zu gut. Hatten sie ihre Jahrhunderte alte Seele abgestreift, so blieb ihnen nur noch eine aus den geistigen und sittlichen Werten der anderen Völker zusammengemengte Persönlichkeit; sie machten ein buntes Allerlei daraus, eine olla podrida: das war ihre Art, zu genießen. Die damaligen Beherrscher des Theaters in Paris verstanden es glänzend, Schmutz und Empfindung zusammenzuwerfen, der Tugend einen Hauch von Laster, dem Laster einen Hauch von Tugend zu verleihen und alle Beziehungen zwischen Alter, Geschlecht, Familie, Zuneigung auf den Kopf zu stellen. Ihre Kunst erhielt so einen Duft sui generis, der gleichzeitig gut und schlecht, das heißt also: sehr schlecht roch; sie nannten das »Amoralismus«.

Einer ihrer Lieblingshelden war damals der verliebte Alte. Ihr Theater besaß eine reiche Galerie seiner Bildnisse. In der Ausmalung dieses Typus hatten sie Gelegenheit zu tausend Feinheiten. Einmal hatte der sechzigjährige Held seine Tochter zur Vertrauten; er erzählte ihr von seiner Geliebten, sie ihm von ihren Liebhabern; sie gaben sich geschwisterlich Ratschläge; der gute Vater half seiner Tochter bei ihren Ehebrüchen; die gute Tochter spielte die Vermittlerin bei der ungetreuen Geliebten, flehte sie an, wiederzukehren, führte sie in den Schoß der Familie zurück. Ein anderes Mal machte sich der würdige Greis selber zum Vertrauten seiner Geliebten. Er plauderte mit ihr von ihren Liebhabern, begnügte sich wohl oder übel mit der Schilderung ihrer Ausschweifungen und fand schließlich sogar Vergnügen daran. Man sah auch Liebhaber, vollendete Gentlemen, die als Geschäftsführer bei ihren früheren Geliebten eintraten, ihren Betrieb und ihre Liebesaffären überwachten. Die Damen der Gesellschaft stahlen. Die Männer waren Kuppler, die Töchter Lesbierinnen. Alles das in der großen Welt: der reichen Welt   der einzigen, die zählte. Denn sie erlaubte, unter dem Deckmantel der Verführungen zum Luxus, den Kunden verdorbene Ware anzubieten. So zurechtgeschminkt, fand diese auf dem Jahrmarkt raschen Absatz; die jungen Frauen und die alten Herren taten sich gütlich daran. Ein wahrer Leichengeruch und ein Dunst von Räucherkerzchen stieg daraus empor.

Ihr Stil war nicht weniger gemischt als ihre Gefühle. Sie hatten sich ein Kauderwelsch von Ausdrücken aller Klassen und aller Länder zusammengebraut: pedantische, überbrettelhafte, klassische, lyrische, gespreizte, schmierige und pöbelhafte, ein Gemisch von Ungereimtheiten, Zierereien, Roheiten und Geistreicheleien, deren Tonfall fremdländisch klang. Bei ihrer Ironie und ihrem possenhaften Humor besaßen sie doch nicht viel natürlichen Geist, aber vermöge ihrer Gewandtheit wußten sie sich ziemlich geschickt Geist nach Pariser Muster zu fabrizieren. War auch der Edelstein nicht immer von reinstem Wasser, die Fassung beinah stets von barockem Geschmack und überladen, so funkelte er doch zum mindesten bei Licht, und mehr brauchte er ja nicht. Im übrigen waren sie intelligent und gute, freilich kurzsichtige Beobachter; ihre Augen waren seit Jahrhunderten durch das beständige Kontorleben verbildet; sie untersuchten die Gefühle mit der Lupe, vergrößerten die Kleinigkeiten und sahen das Große nicht; mit ihrem ausgeprägten Geschmack für Flitterkram waren sie unfähig, irgend etwas anderes zu schildern, als das, was für ihren Emporkömmlings-Snobismus das Ideal der eleganten Welt ausmachte: eine Handvoll erschöpfter Lebemänner und Abenteurer, die einander den Genuß irgend welchen gestohlenen Geldes und irgend welcher sittenloser Weibchen streitig machten.

Bisweilen aber erwachte plötzlich die wahre Natur dieser jüdischen Schriftsteller und stieg aus den Tiefen ihres Wesens empor, wenn irgend ein Wort oder ein Aufsehen erregender Vorfall ein rätselhaftes Echo in ihnen erweckt hatte. Dann entstand eine sonderbare Verquickung von Jahrhunderten und von Rassen; ein Wüstenhauch trug übers Meer herüber in die Pariser Alkoven den muffigen Geruch türkischer Bazare, das Blitzen von Säbeln, orientalische Halluzinationen, trunkene Sinnlichkeit, gewaltige Schmähreden, rasende Nervenzustände, fast Krämpfe, tolle Zerstörungswut ... Simson, der nach jahrhundertelanger Gefangenschaft im Dunkeln sich plötzlich wie ein Löwe aufrichtet und voller Wut die Säulen des Tempels schüttelt, daß sie über ihm und über der feindlichen Rasse zusammenstürzen.

Christof hielt sich die Nase zu und sagte zu Sylvain Kohn:

»Kraft ist darin; aber sie stinkt. Genug! Wir wollen etwas anderes sehen.«

»Was?« fragte Sylvain Kohn.

»Frankreich.«

»Da ist es ja.«

»Das ist nicht möglich,« meinte Christof; »Frankreich ist nicht so.«

»Das ist Frankreich, ebenso wie Deutschland.«

»Das glaube ich nicht. Ein Volk, das so wäre, hätte nicht zwanzig Jahre mehr zu leben: es riecht schon nach Verwesung. Es muß noch etwas anderes da sein.«

»Besseres ist nicht da.«

»Aber etwas anderes,« beharrte Christof.

»O, wir haben natürlich auch schöne Seelen,« sagte Sylvain Kohn, »und auch Theater für schöne Seelen. Suchen Sie so etwas? Das können Sie haben!«

Und er führte Christof ins Théatre-Français.

 

Man spielte an jenem Abend ein modernes Lustspiel in Prosa, das eine juristische Frage behandelte. Schon nach den ersten Worten wußte Christof nicht mehr, wo sich die Geschichte abspielte. Die Stimmen der Schauspieler waren übertrieben voll, feierlich, langsam, abgemessen; alle Silben betonten sie, als wollten sie Vortragsstunden geben, und mit ihren tragischen Glucksern schienen sie fortwährend Alexandriner zu skandieren. Ihre Gebärden waren feierlich, fast priesterlich. Die Heldin, die ihr Morgenrock wie ein griechisches Peplum umhüllte, spielte mit erhobenen Armen und gesenktem Haupt beständig Antigone und lächelte ein ewig opferbereites Lächeln, während sie die tiefsten Töne ihrer schönen Altstimme bildete. Der edle Vater wandelte mit dem Schritt eines Heerführers einher, hatte automatische Gesten, bewegte sich mit todesdüsterer Würde und entfaltete eine wahre Bratenrockromantik. Der junge Liebhaber versuchte, sich mit aller Gewalt Kehl- und Brusttöne auszupressen, um Tränen zu entlocken. Das Stück war im Stil einer Feuilleton-Tragödie gehalten: abstrakte Worte, bürokratische Beiwörter, akademische Umschreibungen. Nicht eine Bewegung, nicht ein unerwarteter Schrei. Von Anfang bis zu Ende ein Uhrwerk, ein festgesetztes Problem, ein dramatisches Schema, das Gerippe eines Stückes und darüber kein Fleisch, sondern Buchphrasen. Diese sich kühn gebärdenden Erörterungen bargen im Grunde kraftlose Gedanken, offenbarten die Seele eines kleinen steifen Spießbürgers.

Die Heldin war von ihrem unwürdigen Mann, von dem sie ein Kind hatte, geschieden und nun mit einem braven Menschen, den sie liebte, wieder verheiratet. Es galt, zu beweisen, daß selbst in diesem Fall die Scheidung von der Natur wie von dem allgemeinen Vorurteil verdammt werde. Nichts war leichter: der Autor richtete es so ein, daß der erste Mann die Frau noch einmal durch Überrumpelung gewann. Statt nun ganz schlicht nach der Natur zu gehen, die Gewissensbisse, vielleicht eine tiefe Beschämung der Frau verlangt, aber auch einen um so größeren Wunsch in ihr erregt hätte, den zweiten, den braven Mann zu lieben und zu ehren, entwickelte man einen Fall von heldenhaftem Gewissen, wider alle Natur. Es gehört so wenig dazu, widernatürlich tugendhaft zu sein! Die französischen Schriftsteller sehen nicht so aus, als seien sie mit der Tugend sehr vertraut: wenn sie von ihr sprechen, ist der Ton immer gezwungen; man kann unmöglich mehr daran glauben. Es ist, als habe man immer mit Corneilleschen Helden, mit Tragödienkönigen zu tun.   Und sind sie nicht Könige, diese Millionärhelden, diese Heldinnen, die niemanden interessierten, besäßen sie nicht mindestens ein Haus in Paris und zwei oder drei Schlösser in der Provinz? Reichtum ist für diese Art Schriftsteller und Publikum eine Schönheit, ja beinahe eine Tugend.   Die Zuhörerschaft war noch erstaunlicher als das Stück. Alle diese unendlich oft wiederholten Unwahrscheinlichkeiten langweilten sie nicht. Sie lachten an den richtigen Stellen, wo der Schauspieler einen Satz sagte, bei dem man lachen sollte, und den er im voraus ankündete, damit man Zeit hatte, sich aufs Lachen vorzubereiten. Und in den Augenblicken, wo die tragischen Gliederpuppen nach ihren heiligsten Vorschriften glucksten, brüllten oder in Ohnmacht fielen, schneuzte sich das Publikum und hüstelte tief bewegt.

»Und da sagt man, die Franzosen seien leichtfertig,« rief Christof beim Fortgehen nach der Vorstellung verwundert aus.

»Jedes zu seiner Zeit,« sagte Sylvain Kohn spöttelnd. »Sie wollten Tugend? Sie sehen, es gibt noch welche in Frankreich.«

»Aber das ist keine Tugend,« widersprach Christof, »das ist Rederei!«

»Die Tugend auf dem Theater ist bei uns immer sehr beredt,« sagte Sylvain Kohn.

»Eine Gerichtssaaltugend,« sagte Christof, »der Geschwätzigste bekommt die Palme. Ich kann die Advokaten nicht ausstehen. Habt ihr in Frankreich keine Dichter?«

Sylvain Kohn führte ihn in die poetische Schauspielkunst ein.

 

Es gab Dichter in Frankreich. Sogar große Dichter. Aber ihnen war das Theater verschlossen. Es gehörte den Reimkünstlern. Das Theater ist für die Dichtung, was die Oper für die Musik ist. Wie Berlioz sagte: Sicut amori lupanar. Christof sah Prinzessinnen, die aus Tugend Kurtisanen waren, eine Ehre darein setzten, sich zu prostituieren, und die man mit Christus verglich, der den Kalvarienberg erklimmt. Er sah Freunde, die ihren Freund aus lauter Ergebenheit betrogen; »dreieckige«, großzügige Verhältnisse; heldenmütige Hahnreie (der Typus war wie die heilige Prostituierte europäische Ware geworden; das Beispiel des Königs Marke hatte ihnen den Kopf verdreht: wie der Hirsch des heiligen Hubertus zeigten sie sich nur noch mit einer Gloriole).   Christof sah auch Kokotten, die zwischen Leidenschaft und Pflicht schwankten; die Leidenschaft trieb zu einem neuen Liebhaber, die Pflicht gebot, bei dem früheren zu bleiben, einem alten, der ihnen Geld gab und den sie nebenher noch betrogen. Zuletzt wählten sie heldenmütig die Pflicht.   Christof fand, daß diese Pflicht von schmutzigem Eigennutz nicht sehr verschieden sei; aber das Publikum war zufrieden. Das Wort Pflicht genügte ihm; an der Sache lag ihm nichts: die Flagge deckte die Ware.

Der Höhepunkt der Kunst war erreicht, wenn sich, was auch am besten gefiel, die sexuelle Unmoral mit dem Corneilleschen Heldentum in der widersinnigsten Weise verband. So fand das Pariser Publikum Befriedigung für alles: für seinen Geist, seine Sinne und seine Lust an Rhetorik.   Übrigens muß man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: es hatte weit mehr übrig für Geschwätzigkeit als für Lüsternheit. Beredsamkeit machte sein ganzes Entzücken aus. Für einen schönen Vortrag hätte es sich prügeln lassen. Ob man ihm Tugend oder Laster, unsinnigstes Heldentum oder gemeinstes Lumpentum vorsetzte   es schluckte jede Pille, wenn sie nur mit klingenden Reimen und großen Worten vergoldet war. Alles gab Stoff zu Tiraden, zu Antithesen, zu Beweisführungen her: Liebe, Leiden, Tod. Und hatten sie das vollbracht, so glaubten sie Liebe, Leiden und Tod gefühlt und dargestellt zu haben. Alles war Phrase. Alles war Spiel. Wenn Viktor Hugo seinen Donner hören ließ, setzte er (wie einer seiner Apostel sagte) schnell einen Dämpfer auf, um nicht einmal ein kleines Kind zu erschrecken. (Der Apostel war überzeugt, ein Lob damit auszusprechen.)   Niemals fühlte man in ihrer Kunst eine Naturgewalt. Alles machten sie zu einem Gegenstand der guten Gesellschaft. Wie in der Musik   ja noch viel mehr als in der Musik, die für Frankreich eine jüngere und verhältnismäßig naivere Kunst war   hatten sie eine wahre Angst vor dem »schon Dagewesenen«. Die Begabtesten bemühten sich, eiskalt berechnend, stets das Gegenteil von allem zu tun. Das Vorgehen war kindlich einfach: man wählte eine schöne Sage oder ein Märchen und ließ es das genaue Gegenteil von dem ausdrücken, was es ursprünglich besagte. So erstand ein Blaubart, den seine Frauen schlugen, oder ein Polyphem, der sich aus Güte und um sich dem Glück von Acis und Galathea zu opfern, das Auge ausriß. Bei alledem wurde nichts ernst genommen als die Form, überdies wollte es Christof bedünken   obwohl er ein schlechter Beurteiler war  , daß diese großen Meister der Form viel eher Kleinmeister und Nachahmer wären als große Schriftsteller und mit breitem Pinsel malende Schöpfer eines eigenen Stils.

Sie spielten Künstler. Sie spielten Dichter. Nirgends breitete sich der poetische Betrug mit so viel Unverschämtheit aus wie im Heldendrama. Vom Helden gar hatten sie eine schnurrige Vorstellung:

» L'important, c'est d'avoir une âme magnifique,
Un œil d'aigle, un front large et haut comme un portique,
Un air puissant et grave, émouvant, radieux,
Un cœur plein de frissons, du rêve plein les yeux.
«

Solche Verse wurden ernst genommen. Unter der lächerlichen Vermummung solcher großen Worte und buntscheckigen Phrasen, solcher Theaterparaden mit Blechdegen und Papphelmen, fand man immer wieder die unheilbare Seichtheit eines Sardou, des unermüdlichen Possenreißers, der aus der Geschichte ein Kasperltheater machte. Was entsprach denn in der Wirklichkeit dem Heldentum eines Cyrano? Diese Leutchen setzten ja Himmel und Erde in Bewegung. Sie ließen den Kaiser und seine Legionen, die Rotten der Liga, die Condottieri der Renaissance aus ihren Gräbern auferstehen, entfesselten alle menschlichen Wirbelstürme, die den Erdball verwüstet hatten:   und das alles, um irgend einen Marionettenmann vorzuführen. Er blieb bei all den Metzeleien ungerührt, war von Reiterscharen und Serail-Sklavinnen umringt und verzehrte sich dabei in dumm-romantischer Liebe zu einer Frau, die er zehn oder fünfzehn Jahre zuvor gesehen.   Oder sie stellten einen König Heinrich IV. hin, der sich ermorden ließ, weil seine Maitresse ihn nicht liebte. So spielten diese Leutchen Könige und Stuben-Condottieri, und derart stellten sie heldische Leidenschaft dar. Sie waren würdige Nachkommen jener berühmten Dummköpfe aus der Zeit des Grand Cyrus, jener Gascogner des Ideals, Scudéry, La Calprenède   diese ewige Sippe, diese Sänger falschen Heldentums, des unmöglichen Heldentums, das des wahren steter Feind ist. Christof merkte mit Erstaunen, daß den Franzosen, die doch als so feinfühlig galten, der Sinn für das Lächerliche abging.

Ein Glück, daß nicht eben die Religion in Mode war. Früher lasen Schauspieler während der Fastenzeit in der Gaîté unter Orgelbegleitung Predigten von Bossuet vor. Israelitische Schriftsteller schrieben für israelitische Schauspielerinnen Tragödien über die heilige Therese. Man spielte den »Leidensweg« in der Bodinière, den »kleinen Jesus« im Ambigu, die »Passion« in der Porte-Saint-Martin, »Jesus« im Odéon, Suiten aus »Christus« im Botanischen Garten. Irgend ein glänzender Causeur   ein Dichter der Wollust   hielt im Châtelet einen Vortrag über die Erlösung. Natürlich hatten diese Weltmenschen aus dem ganzen Evangelium am besten die Geschichten von Pilatus und Magdalena behalten:   Was ist Wahrheit? und Die heilige Törin.   Ihre Boulevard-Christusse waren widerliche Schwätzer, die gut Bescheid wußten über die letzten Kasuistiken der großen Welt.

Christof sagte:

»Das ist das Schlimmste von allem. Das ist die Lüge in Person. Ich ersticke. Fort von hier!«

 

Gleichwohl gab es eine große klassische Kunst, die sich unter diesen modernen Gewerben behauptete, gleich den Ruinen edler antiker Tempel zwischen den anspruchsvollen Bauten des heutigen Roms. Doch war Christof noch nicht imstande, diese Kunst zu schätzen, Molière ausgenommen. Es fehlte ihm die innige Vertrautheit mit der Sprache und folglich das Verständnis für den Genius der Rasse. Nichts blieb ihm so fremd wie die Tragödie des XVII. Jahrhunderts   ein dem Fremden am schwersten zugängliches Gebiet der französischen Kunst, gerade weil es im Herzen Frankreichs selber ruht. Christof fand diese Kunst erdrückend langweilig, kalt, trocken und in ihrer Ziererei und Schulmeisterei abstoßend. Eine dürftige oder gezwungene Handlung, die Personen so abstrakt wie rhetorische Beweise oder so seicht wie eine Unterhaltung von Frauen der großen Welt. Eine Karikatur antiker Stoffe und Helden. Eine Auslage von Vernunft, von Begründungen, von Spitzfindigkeiten, von Psychologie, von altmodischer Archäologie. Reden, Reden, Reden: die ewige französische Geschwätzigkeit. Christof weigerte sich ironisch, darüber zu entscheiden, ob etwas schön oder nicht schön sei: nichts von alledem interessierte ihn; es war ihm ganz gleichgiltig, welche Behauptungen die Redner im Cinna der Reihe nach verteidigen mochten und welche dieser Sprechmaschinen schließlich den Sieg davontrug.

Er stellte übrigens fest, daß das französische Publikum nicht seiner Ansicht war und daß es bei den Stücken, die ihn langweilten, Beifall klatschte. Das förderte die Aufklärung des Mißverständnisses keineswegs: er sah jene Dramenkunst durch das Medium: Publikum hindurch, und er erkannte in den modernen Franzosen gewisse Züge der Klassiker wieder, freilich entstellt. So wie ein allzu scharfer Blick in dem verblühten Gesicht einer alten Kokette die feinen und reinen Züge ihrer Tochter wiederfindet (solcher Anblick ist wenig geeignet, die Liebesillusion zu nähren). Die Franzosen indes bemerkten, gleich den Mitgliedern einer Familie, die einander zu sehen gewöhnt sind, die Ähnlichkeit nicht. Christof aber fiel sie auf und er übertrieb sie fortan: er erblickte nur noch sie. Die Kunst, die ihn umgab, schien ihm die ältliche Karikatur der großen Vorfahren, und diese wiederum erschienen ihm gleichfalls wie Karikaturen. Er unterschied Corneille nicht mehr von der Nachkommenschaft poetischer Schönredner, die sich eifrig bemühten, überall erhabene und widersinnige Gewissensstreitigkeiten anzubringen. Und für ihn verschmolz Racine mit seiner Gefolgschaft kleiner Pariser Psychologen, die anspruchsvoll ihre Herzen analysierten.

Alle diese Leute kamen über ihre Klassiker nicht heraus. Die Kritiker stritten über Tartuffe und Phädra unentwegt weiter. Sie wurden nicht müde, immer wieder dieselben Stücke zu hören. Sie ergötzten sich an immer denselben Worten und lachten als Greise noch über dieselben Scherze, die sie als Kinder entzückt hatten. Und so würde es wohl bis zum Untergang der Rasse bleiben. In keinem Lande der Welt war der Kultus der Vorfahren so fest eingewurzelt. Die übrige Welt war ihnen gleichgültig. Wie viele unter der Intelligenz gab es, die nichts gelesen hatten und auch nichts anderes lesen wollten als das, was unter dem großen König in Frankreich geschrieben worden war! Ihre Theater spielten weder Goethe noch Schiller, weder Kleist noch Grillparzer noch Hebbel, noch irgend einen der Großen irgend einer andern Nation, das antike Griechenland ausgenommen, dessen Erben sie sich nannten (wie alle europäischen Völker). Ab und zu zeigten sie das Bedürfnis, Shakespeare in ihre Gefolgschaft aufzunehmen. Das war der Prüfstein. Es gab unter ihnen zwei verschiedene Darstellerschulen: die einen spielten König Lear mit bürgerlichem Realismus wie ein Lustspiel von Emile Augier; die andern machten aus Hamlet eine Oper mit Bravourarien und Stimmübungen nach Victor Hugo. Es fiel ihnen nicht im mindesten ein, daß die Wirklichkeit poetisch sein könne, noch auch, daß die Dichtung eine spontane Sprache für von Leben überströmende Herzen sei. Shakespeare schien unwahr. Man kam von ihm rasch auf Rostand zurück.

Dabei hatte man seit zwanzig Jahren kräftige Anstrengungen gemacht, das Theater zu verjüngen. Der enge Motivkreis der Pariser Literatur hatte sich erweitert; mit einem Anschein von Kühnheit machte sie sich an alles. Zwei oder dreimal hatte sogar das Schlachtgetümmel der Außenwelt, das öffentliche Leben, mit kräftigem Stoß die Schranke der Überlieferungen durchbrochen. Aber man beeilte sich, die Bruchstellen wieder auszubessern. Alle miteinander waren sie verweichlichte Mönchlein, die Angst davor hatten, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Gesellschaftsgeist, klassische Überlieferung, geistige und formale Routine, ein Mangel an tiefem Ernst hinderte sie, ihre Kühnheiten bis zum Ende zu verfolgen. Die packendsten Probleme wurden zum ausgeklügelten Spiel; und alles führte schließlich wieder auf Weibergeschichten   Dirnengeschichten. Welch traurige Figur machten auf ihren Gauklerbühnen die Schatten der großen Männer: die heroische Anarchie Ibsens, das Evangelium Tolstois, das Übermenschentum Nietzsches ...

Die Pariser Schriftsteller strengten sich an, um den Anschein zu erwecken, daß sie etwas Neues erdächten. Im Grunde freilich waren sie alle konservativ. In keiner andern europäischen Literatur herrschte allgemeiner und unbewußter das Vergangene, das Alte, »das ewig Gestrige«; in den großen Revuen, den großen Zeitungen, wie in den subventionierten Theatern und den Akademien. Paris war für die Literatur, was London für die Politik war: die Bremse des europäischen Geistes. Die französische Akademie war eine Art Oberhaus. Eine gewisse Anzahl Einrichtungen des Ancien Régime drängte der neuen Gesellschaft beharrlich ihren Geist von Anno dazumal auf. Die revolutionären Elemente wurden abgestoßen oder schnellstens aufgesogen. Sie wünschten sich nichts Besseres. Vergeblich trug die Regierung in der Politik eine sozialistische Haltung zur Schau. In der Kunst ließ sie sich von den Akademien und den akademischen Schulen ins Schlepptau nehmen. Gegen die Akademien kämpften nur die Kliquen; doch es wurde äußerst schlecht gekämpft. Denn sobald es einer vermochte, wechselte er aus der Klique in eine Akademie hinüber und wurde noch akademischer als die anderen. Übrigens war fast jeder Schriftsteller, ob er nun der Vorhut oder dem Train der Armee angehörte, fast stets ein Gefangener seiner Gruppe und ihrer Ideen. Die einen hüllten sich in ihr akademisches, die andern in ihr revolutionäres Credo, und zu guterletzt kam es überall auf dasselbe heraus.

 

Die akademische Kunst hatte Christof eingeschläfert. Um ihn aufzuwecken, schlug ihm Sylvain Kohn vor, noch ein Theater von ganz besonderer Art zu besuchen, wo das Raffinierteste geboten wurde. Dort sah man Morde, Notzüchtigungen, Rasereien, Martern, ausgerissene Augen, aufgeschlitzte Bäuche   alles, was an den Nerven rütteln konnte und die versteckte Barbarei einer überzivilisierten Elite zu befriedigen vermochte. Das übte auf ein Publikum von hübschen Frauen und Lebemännern seine Anziehungskraft aus   auf dieselben, die ganze Nachmittage in der Stickluft der Säle des Justizpalastes zubrachten, um schwatzend, lachend und Bonbons knabbernd die Skandalprozesse zu verfolgen.   Christof aber weigerte sich empört hinzugehen. Je mehr er diese Kunst kennen lernte, desto deutlicher verspürte er den Geruch, der von Anfang an, zuerst versteckt, dann hartnäckig erstickend auf ihn eingedrungen war: den Geruch des Todes. Der Tod war überall unter diesem Luxus und diesem Gelärm. Christof wußte sich jetzt den Widerwillen zu deuten, den er manchen Werken gegenüber sofort empfunden hatte. Nicht ihre Unsittlichkeit hatte ihn verletzt. Moral, Unmoral, Amoral   alle solche Worte bedeuteten nichts. Christof hatte sich niemals moralische Theorien zurechtgemacht; er liebte manche sehr große Dichter und sehr große Musiker der Vergangenheit, die keine Tugendspiegel gewesen waren; wenn das Glück ihm einen großen Künstler zuführte, dann fragte er ihn nicht nach seinem Beichtzettel; er fragte ihn vielmehr: »Bist du gesund?«

Gesundsein, das war die Hauptsache. »… Mir will das kranke Zeug nicht munden, Autoren sollten erst gesunden,« sagt Goethe.

Die Pariser Schriftsteller waren krank; oder wenn einer gesund war, so schämte er sich dessen zumeist; er suchte es vor sich zu verbergen und suchte sich eine hübsche Krankheit beizulegen. Ihr Übel zeigte sich nicht an diesem oder jenem Zug ihrer Kunst: an der Vergnügungssucht, an der überspannten Freiheit ihres Denkens, an der allgemeinen Kritik, die alles geistig Gegebene in Frage stellte. Alle diese Züge waren, je nach dem Fall, gesund oder ungesund; darin lag keinerlei Todeskeim. Wenn der Tod da war, so kam er nicht aus diesen Kräften, sondern aus dem Gebrauch, den diese Leute von ihnen machten; in ihnen selber saß der Tod.   Auch er, Christof, hatte ja Freude an Vergnügungen. Auch er liebte die Ungebundenheit. Er hatte sich die schlechte Meinung seiner deutschen Kleinstadt zugezogen, weil er vieles mit Freimut verteidigte, was er hier von den Parisern gepredigt wiederfand, was jedoch, weil es von ihnen gepredigt ward, ihn jetzt anwiderte. Gewiß waren es dieselben Dinge. Aber es klang bei diesen Parisern und bei ihm ganz verschieden. Wenn Christof in seiner Ungeduld das Joch der großen Meister der Vergangenheit abschüttelte, wenn er gegen die pharisäische Ästhetik und Moral zu Felde zog, so war das für ihn kein Spiel wie für jene Schöngeister; ihm war es ernst damit, furchtbar ernst; und seiner Auflehnung Ziel war das Leben, das fruchtbare, zukunftsschwangere Leben. Bei diesen Leuten aber trieb alles dem unfruchtbaren Genuß zu. Zur Unfruchtbarkeit. Unfruchtbar. Das war das treffende Wort. Eine unfruchtbare Ausschweifung des Denkens und der Sinne war es. Eine glänzende, geistvolle, gewandte Kunst   eine schöne Form, gewiß, eine Überlieferung von Schönheit, die sich trotz fremdländischer Anschwemmungen unzerstörbar hielt   ein Theater, das Theater war, ein Stil, der ein Stil war, Verfasser, die ihr Handwerk verstanden, Schriftsteller, die schreiben konnten; das leidlich schöne Gerippe einer Kunst, eines Denkens, die einst kraftvoll gewesen waren. Aber doch nur ein Gerippe. Klingende Worte, tönende Sätze, metallische Reibung von Gedanken, die im Leeren aufeinanderstoßen, Geistreicheleien, von Sinnlichkeit besessene Gehirne und klügelnder Verstand. Das alles war zu nichts nutz als zu egoistischem Genießen. Es trieb dem Tode zu. Es war ein Phänomen, ähnlich dem der furchtbaren Entvölkerung Frankreichs, die Europa schweigend beobachtete   berechnete. So viel an Geist, an Intelligenz, an Sinnenverfeinerung verausgabte sich in einer Art schmachvoller Onanie. Sie ahnten nichts davon, ja wollten nichts davon ahnen. Sie lachten. Das war das einzige, was Christof ein wenig beruhigte; diese Leute wußten noch gut zu lachen; dann war noch nicht alles verloren. Weit weniger gefielen sie ihm, wenn sie den Versuch machten, sich ernst zu nehmen; und nichts verletzte ihn so sehr, als Schriftsteller zu sehen, die in der Kunst nur einen Vergnügungsgegenstand erblickten, sich dabei aber wie Priester einer selbstlosen Religion gebärdeten:

»Wir sind Künstler,« sagte wohlgefällig Sylvain Kohn immer wieder. »Wir schaffen Kunst um der Kunst willen. Die Kunst ist immer rein; nichts als Keusches ist in ihr. Wir erforschen das Leben als Vergnügungsreisende, denen alles Freude macht. Wir sind die Sammler seltener Eindrücke, die Liebhaber der Schönheit.«

»Heuchler seid ihr!« parierte Christof schließlich rücksichtslos. »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das sage. Ich glaubte bisher, nur mein Vaterland wäre so. In Deutschland besitzen wir die Heuchelei, immer von Idealismus zu reden und dabei das eigene Interesse zu verfolgen, ja, uns sogar für Idealisten zu halten, während wir nur an unseren Eigennutz denken; aber ihr seid weit schlimmer: ihr deckt mit dem Namen Kunst und Schönheit (groß geschrieben!) eure nationale Unzucht   falls ihr nicht gar eure Pilatusmoral unter dem Namen der Wahrheit, der Wissenschaft und der geistigen Pflicht beherbergt, einer Pflicht, die sich um die möglichen Folgen ihrer erhabenen Forschungen nicht bekümmert. Kunst um der Kunst willen ... Ein wundervoller Glaube! Aber ein Glaube nur für Starke. Kunst! Das Leben umkrallen, wie der Adler die Beute, es in den Äther emportragen, sich mit ihm zum Licht emporschwingen! ... Dazu freilich braucht man Klauen, weite Flügel und ein kraftvolles Herz. Ihr aber seid nur Spatzen, die irgend ein Stück Aas, das sie gefunden haben, auf der Stelle zerfetzen und sich kreischend drum balgen ... Kunst um der Kunst willen ... Unglückliche! Die Kunst ist nicht ein gemeines Fressen, das jedem gewöhnlichen Vorübergehenden erreichbar ist. Ein Genuß ist sie, gewiß, und der berauschendste von allen. Aber ein Genuß, der nur der Preis hartnäckigen Kampfes ist, der Lorbeer, der die siegende Kraft krönt. Kunst ist gebändigtes Leben. Die Kunst ist die höchste Beherrscherin des Lebens. Will man Cäsar sein, so muß man die Seele eines Cäsar haben. Ihr aber seid nur Theaterkönige: ihr spielt eine Rolle, an die ihr nicht einmal glaubt. Und wie gewisse Schauspieler, die sich ihrer Häßlichkeit rühmen, macht ihr Literatur mit euren und des Publikums Auswüchsen. Liebevoll hegt ihr die Krankheiten eures Volkes, seine Scheu vor Anstrengung, seine Sucht nach Vergnügungen, nach grobsinnlichen Vorstellungen, nach einem trügerischen Humanitarismus, nach allem, was den Willen wollüstig einlullt, nach allem, was ihm alle Beweggründe zum Handeln nehmen kann. Ihr führt es geradenwegs zum Opiumrauchen. Und ihr wißt es genau, wenn ihr's auch nicht sagt: am Ziel steht der Tod.   Ich aber sage euch: wo der Tod ist, da ist keine Kunst. Kunst heißt: das Leben fördern. Aber die ehrlichsten unter euren Schriftstellern sind so feige, daß sie, selbst wenn ihnen die Binde von den Augen gefallen ist, so tun, als ob sie nichts sähen; sie haben die Stirn zu sagen:

»Gefährlich ist es, das gebe ich zu; irgend ein Gift ist darin; aber es ist doch so talentvoll!«

Wie wenn der Zuchtpolizeirichter von einem Apachen sagen wollte:

»Er ist ein Lump, gewiß; aber er hat doch so viel Talent!«

 

Christof fragte sich, wozu die französische Kritik eigentlich da sei. Es fehlte ja nicht an Kritikern; es wimmelte von ihnen in der französischen Kunst. Man sah schließlich vor lauter Kritik nicht mehr die Werke.

Christof war im allgemeinen der Kritik gegenüber nicht milde. Es widerstrebte ihm schon, den Nutzen jener Unzahl von Künstlern zuzugeben, die gleichsam einen vierten oder fünften Stand in der modernen Gesellschaft bildeten. Er erblickte darin das Zeichen einer müden Epoche, die es andern überläßt, das Leben zu betrachten   die per procura empfindet. Mit um so mehr Recht fand er es etwas beschämend, daß die Zeit nicht einmal mehr fähig war, mit eigenen Augen diesen Reflex des Lebens zu betrachten, sondern daß sie selbst dazu wiederum Vermittler brauchte, Spiegel für jenen Reflex, kurzum Kritiker. Zum mindesten hätten diese Spiegel treuer sein müssen. Aber sie gaben nichts wieder als die Unsicherheit der Menge, die sich um sie herum drängte. Sie glichen jenen Museumsspiegeln, die mit einem Deckengemälde zugleich die Gesichter der Neugierigen wiederspiegeln, die es darin zu sehen versuchen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich die Kritiker in Frankreich eines ungeheuren Ansehens erfreuten. Das Publikum beugte sich vor ihrem Urteil, und es war nicht sehr davon entfernt, sie als den Künstlern überlegen, als intelligente Künstler anzusehen (die beiden Worte scheinen nicht zusammenzugehen). Hernach hatten sie sich mit außerordentlicher Schnelligkeit vermehrt. Es gab zu viel Auguren: das bringt das Handwerk in Verruf. Wenn es so viel Leute gibt, von denen jeder behauptet, nur er besitze die alleinige Wahrheit, so glaubt man ihnen nicht mehr, und sie glauben sich schließlich selbst nicht mehr. Entmutigung trat ein. Im Handumdrehen verfielen sie, nach französischer Art, aus einer Übertreibung in die andere. Nachdem sie verkündet hatten, daß sie alles wüßten, verkündeten sie jetzt öffentlich, daß sie nichts wüßten. Sie setzten ihre Ehre, ja ihre Eitelkeit darein, nichts zu wissen. Renan hatte die verweichlichten Zeitgenossen gelehrt, daß es nicht vornehm sei, irgend etwas zu behaupten, ohne es sofort wieder zu verneinen oder doch wenigstens in Frage zu stellen. Er gehörte nicht zu denen, von welchen der Evangelist sagt: »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was drüber ist, das ist vom Übel.« Die ganze französische Elite hatte sich für dieses doppelzüngige Credo begeistert. Geistige Trägheit und Charakterschwäche waren dabei auf ihre Rechnung gekommen. Man sagte von einem Werk nicht mehr, es sei gut oder schlecht, wahr oder falsch, klug oder dumm. Man sagte: »Es könnte sein ... Es wäre nicht unmöglich ... Ich habe keine Ahnung davon ... Ich wasche meine Hände in Unschuld.« Wenn man einen Dreck spielte, sagten sie nicht:

»Das ist ein Dreck.«

Sie sagten:

»Hoher Herr Sganarelle, ändern Sie, bitte, diese Art zu reden. Unsere Philosophie gebietet, von allem unbestimmt zu reden; und aus diesem Grunde dürfen Sie nicht sagen: »Das ist Dreck«, sondern: »Mich dünkt ... Es scheint mir, daß wir es hier mit Dreck zu tun haben ... Aber es ist nicht sicher, daß dem so ist. Möglicherweise könnte es ein Meisterwerk sein. Und wer weiß, ob es nicht eins ist?«

Die Gefahr, daß man sie beschuldigen könnte, die Künste zu tyrannisieren, bestand nicht mehr. Ehedem hatte sie Schiller zurechtgewiesen und den Pressetyrannen seiner Zeit in Erinnerung gebracht, was er ohne Umschweife: »Bedientenpflicht« nannte.

»Rein zuerst sei das Haus, in welchem die Königin einzieht. Frisch denn, die Stuben gefegt! Dafür, ihr Herrn, seid ihr da. Aber, erscheint sie selbst   hinaus vor die Türe, Gesinde! Auf den Sessel der Frau pflanze die Magd sich nicht hin.«

Man mußte indes den heutigen Kritikern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie setzten sich nicht mehr auf den Sessel der Frau. Da man wollte, daß sie Bediente seien, so waren sie es. Allerdings schlechte Bediente: sie fegten nicht; die Wohnung war ein Schmutzloch. Statt für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen, verschränkten sie lieber die Arme und überließen die Aufsicht dem Herrn, der Tagesgottheit: dem allgemeinen Stimmrecht.

Zwar machte sich seit einiger Zeit im bürgerlichen Gewissen eine Gegenbewegung bemerkbar. Ein paar brave Leute hatten   wenn auch noch recht schwach   einen Feldzug zur Gesundung der Öffentlichkeit unternommen; Christof aber merkte davon in seiner Umgebung nichts. Übrigens schenkte man ihnen kein Gehör oder machte sich über sie lustig. Wenn es ab und zu vorkam, daß ein ehrlicher Mann seine Stimme gegen die unlautere Kunst erhob, so erwiderten die Schriftsteller hochfahrend, daß das Recht auf ihrer Seite läge, denn das Publikum sei zufrieden. Das genügte, um alle Einwände zum Schweigen zu bringen. Das Publikum hatte gesprochen: oberstes Gesetz der Kunst! Niemandem kam es in den Sinn, daß man das Zeugnis eines verdorbenen Publikums zugunsten derer, die es verdarben, verwerfen könne, und daß der Künstler dazu da sei, dem Publikum zu gebieten, doch nicht das Publikum dem Künstler. Die Religion der Zahl   der Zahl der Zuschauer und der des Ertrags   beherrschte den künstlerischen Sinn dieser verkrämerten Demokratie. In der Gefolgschaft der Autoren dekretierten die Kritiker gefügig, die Hauptaufgabe des Kunstwerks sei, zu gefallen. Der Erfolg sei ausschlaggebend, und wenn der Erfolg anhalte, so habe man sich dem zu beugen. Sie bemühten sich also, die Schwankungen der Vergnügungsbörse vorauszuwittern und in den Augen des Publikums zu lesen, was es von den Werken dachte. Spaßhaft war, daß sich das Publikum seinerseits bemühte, in den Augen der Kritik zu lesen, was es von den Werken zu halten habe. So sahen beide einander an; und einer sah in des anderen Augen nur die eigene Unschlüssigkeit.

Und doch wäre ein unerschrockener Kritiker niemals nötiger gewesen. Im Gegensatz zum konservativen Staat hat in einer anarchischen Republik die Mode, die in der Kunst ja allmächtig ist, nur selten Rückzugsmöglichkeiten; sie strebt immer vorwärts, und es findet ein fortwährendes Überbieten in einer falschen Geistesfreiheit statt, der fast niemand zu widerstehen wagt. Die Menge ist unfähig, sich zu äußern; sie ist im Grunde entsetzt; aber keiner wagt zu sagen, was jeder im geheimen fühlt. Wie groß würde die Macht der Kritiker sein, wenn sie stark wären, wenn sie nur wagten, stark zu sein! Ein kraftvoller Kritiker könnte sich in wenigen Jahren zum Napoleon des öffentlichen Geschmacks aufschwingen und die Kranken in der Kunst ins Irrenhaus befördern. Aber es gibt keinen Napoleon mehr. Erstens leben alle Kritiker in der verseuchten Atmosphäre: sie spüren sie nicht mehr. Zweitens wagen sie nicht zu reden. Sie kennen einander alle, sie bilden eine kleine Zunft, in der alle mehr oder weniger aufeinander angewiesen sind und Rücksichten aufeinander nehmen müssen: keiner ist unabhängig. Dazu müßte man auf das gesellige Leben, ja beinahe auf Freundschaften verzichten. Wer aber hat dazu den Mut, in einer erschlafften Epoche, in der die besten bezweifeln, daß die Gerechtigkeit einer Kritik die Unannehmlichkeiten aufwiegt, welche sie dem eintragen kann, der sie übt und dem, der sie erhält? Wer wollte aus Pflichtgefühl sich dazu verdammen, aus seinem Leben eine Hölle zu machen? Wer wollte es wagen, der öffentlichen Meinung die Stirn zu bieten; gegen die Dummheit des Publikums kämpfen, die Minderwertigkeit der Tagessieger bloßstellen, den unbekannten, einsamen, von unwissenden und übelwollenden Kritikern zerfleischten Künstler verteidigen, die königlichen Gedanken den Untertanengehirnen aufzwingen?   Es kam vor, daß Christof mitanhörte, wie Kritiker am Abend einer Première in den Theatergängen zueinander sagten:

»Na. Ist das ein elendes Zeug! Das wird ein Durchfall!«

Aber in ihrem Bericht am nächsten Morgen sprachen sie von einem Meisterwerk, von Shakespeare und von den Schwingen des Genius, dessen Flügelschlag über ihren Häuptern dahingerauscht sei.

»Talent fehlt eurer Kunst nicht so sehr wie Charakter,« sagte Christof zu Sylvain Kohn. »Ihr brauchtet eher einen großen Kritiker, einen Lessing, einen ...«

»Einen Boileau?« sagte Sylvain Kohn spöttelnd.

»Vielleicht eher einen Boileau als zehn geniale Künstler.«

»Wenn wir einen Boileau hätten,« sagte Sylvain Kohn, »so würde man nicht auf ihn hören.«

»Wenn man nicht auf ihn hören würde, so wäre er kein Boileau,« erwiderte Christof. »Ich versichere Sie: an dem Tage, an dem ich, so ungeschickt ich auch bin, euch die nackte Wahrheit sagen wollte   an dem Tage würdet ihr mich schon anhören, und ihr hättet sie einfach zu schlucken!«

»Armes Alterchen!« grinste Sylvain Kohn.

Das war seine ganze Antwort. Er schien von der allgemeinen Schlaffheit so überzeugt und auch so ganz mit ihr einverstanden, daß Christof, als er ihn ansah, plötzlich empfand, wie sehr doch dieser Mensch hundertmal mehr als er selber ein Fremder in Frankreich sei; und das Herz zog sich ihm zusammen. »Es ist nicht möglich,« sagte er von neuem, wie an jenem Abend, als er angewidert aus einem Boulevardtheater weggegangen war. »Es muß noch etwas anderes geben.«

»Was vermissen Sie noch?« fragte Kohn.

Christof erwiderte hartnäckig: »Frankreich.«

»Frankreich   das sind wir!« rief Sylvain Kohn und lachte laut auf. Christof sah ihn einen Augenblick lang starr an, dann schüttelte er den Kopf und wiederholte seinen Kehrreim:

»Es muß noch etwas anderes geben.«

»Nun, mein Lieber, so suchen Sie es,« sagte Sylvain Kohn und lachte stärker.

Christof konnte lange suchen. Sie hatten es gut versteckt.

 

Je schärfer Christof in den Gedankenbottich sah, in dem die Pariser Kunst gärte, um so stärker drängte sich ihm ein Eindruck auf: das Übergewicht der Frau in dieser kosmopolitischen Gesellschaft. Sie nahm darin einen unsinnigen, übermäßigen Platz ein. Es genügte ihr nicht mehr, die Gefährtin des Mannes zu sein. Es genügte ihr nicht einmal mehr, ihm gleichgestellt zu werden. Für sie wie für den Mann mußte das oberste Gesetz ihr Vergnügen sein. Und der Mann gab sich dazu her. Wenn ein Volk altert, legt es den Willen, den Glauben, jedes Ziel des Lebens in die Hände der Spenderin der Freuden nieder.   Die Männer formen die Werke; die Frauen aber formen die Männer (wenn sie sich nicht etwa auch an die Werke heranmachen, wie es im damaligen Frankreich der Fall war); und von dem, was sie formen, wäre es richtiger zu sagen, daß sie es entformen. Das Ewig-Weibliche hat zweifellos von jeher mit hinanziehender Kraft auf die Besten eingewirkt. Aber für den Durchschnittsmann und für erschöpfte Epochen gibt es   wie jemand richtig sagte   ein anderes, nicht weniger Ewig-Weibliches, das sie hinabzieht. Und dieses Ewig-Weibliche beherrschte die Gedanken von Paris, von der ganzen Republik.

 

Christof beobachtete in den Salons, zu denen ihm sein Virtuosentalent und Sylvain Kohns Vermittlung Zutritt verschafft hatten, neugierig die Pariserinnen. Ohne Nachsicht, wie die meisten Fremden, übertrug er auf alle Französinnen die Beobachtungen, die er an zwei oder drei Typen gemacht hatte, denen er begegnet war. Es waren junge Frauen, die nicht sehr groß waren, nicht viel Frische besaßen, dagegen eine geschmeidige Gestalt, gefärbtes Haar, einen angenehmen, für ihren Körper etwas zu starken Kopf, den meist ein großer Hut bedeckte; klare Züge, etwas gedunsenes Fleisch; eine ziemlich wohlgeformte, oft gewöhnliche, stets aber charakterlose kleine Nase; immer wache Augen, ohne tieferes Leben, die sich so glänzend und groß wie nur möglich zu machen suchten; einen gut gezeichneten, beherrschten Mund; ein volles Kinn, das wie die ganze untere Gesichtshälfte die materielle Gesinnung dieser eleganten Wesen verriet, die, trotz allen Liebeleien und Intrigen, niemals die Rücksicht auf die Gesellschaft und ihren Haushalt aus den Augen verloren. Hübsch, aber ohne Rasse waren sie. Bei fast allen diesen Weltdamen merkte man die sittlich verdorbene Bürgersfrau   oder eine, die es gern gewesen wäre   mit allen Überlieferungen ihrer Klasse: Vorsicht, Sparsamkeit, Kälte, praktischem Sinn, Egoismus. Ein armes Leben war es doch. Ihre Vergnügungssucht entsprang mehr einer Neugier des Gehirns als einem Bedürfnis der Sinne. Sie besaßen eine entschiedene, wenn auch auf das Mittelmäßige gerichtete Willenskraft. Sie kleideten sich vorzüglich. Sie hatten feine automatische Bewegungen. Mit kleinen zarten Berührungen der äußeren oder inneren Handfläche tätschelten sie ihre Haare und ihre Kämme. Stets setzten sie sich so, daß sie sich spiegeln und   die andern beobachten konnten, entweder in einem nahen oder fernen Spiegel, oder, wenn es beim Essen, beim Tee war, in den geputzten glänzenden Löffeln, Messern, silbernen Kaffeekannen, in denen sie mit einem Streifblick ihr Spiegelbild auffingen, das sie mehr interessierte als alles andere, was oder wer es auch war. Bei den Mahlzeiten befolgten sie strenge Gesundheitsregeln: tranken nur Wasser und enthielten sich aller Gerichte, die ihrem Ideal, ihrer Puderweiße, hätten schaden können.

Es gab ziemlich viele Jüdinnen in den Kreisen, die Christof besuchte, und er fühlte sich stets von ihnen angezogen, obgleich er sich seit seiner Begegnung mit Judith Mannheim kaum mehr Illusionen über sie machte. Sylvain Kohn hatte ihn in einige israelitische Salons eingeführt, in denen er mit der gewohnten Intelligenz dieser Rasse, welche die Intelligenz liebt, empfangen wurde. Christof traf dort beim Essen mit Finanzleuten, Ingenieuren, Zeitungsmachern, internationalen Maklern, einer Art algerischer Sklavenhändler   lauter Geschäftsleuten der Republik zusammen. Sie waren scharfblickend und energisch, gegen andere gleichgültig, liebenswürdig, mitteilsam und verschlossen. Christof hatte manchmal das Gefühl, daß sich hinter diesen harten Stirnen vergangene oder zukünftige Verbrechen der Männer verbargen, die da um den üppigen, mit Fleisch, Blumen und Weinen beladenen Tisch zusammen, saßen. Fast alle waren häßlich. Dagegen machte die Frauenschar in dem Gesamtbild und von fern einen ziemlich glänzenden Eindruck. Man durfte sie indes nicht aus großer Nähe betrachten. Der Farbe der meisten fehlte die Feinheit. Aber sie besaßen Frische, ein Äußeres, das ein recht gutes Leben verriet, schöne Schultern, die den Blicken stolz entgegenblühten, und eine angeborene Kunst, aus ihrer Schönheit und sogar aus ihrer Häßlichkeit eine Männerfalle zu machen. Ein Künstler hätte in manchen den alten römischen Typus, Frauen aus der Zeit Neros und Hadrians, wiedergefunden. Man sah auch an Palma Vecchio erinnernde Gestalten von wollüstigem Ausdruck, mit schwerem Kinn, festem Halsansatz, Gestalten, von fast tierhafter Schönheit. Andere hatten üppiges gelocktes Haar, brennende, kecke Augen; man mochte sie für schlau, scharf, zu allem bereit halten, männlicher als die anderen Frauen und dennoch weiblicher. Von dieser Herde hob sich wohl da und dort auch ein vergeistigteres Profil ab. Seine reinen Züge gingen noch hinter Rom zurück, zum Orient, zum Lande Labans: die Poesie des Schweigens, der Wüste lag in ihm. Wenn sich aber Christof näherte und vernahm, was für Reden Rebekka mit Faustina, der Römerin, oder Sta. Barbara, der Venezianerin, tauschte, so fand er eine Pariser Jüdin wie die anderen, noch pariserischer als eine Pariserin, noch gekünstelter und gefälschter, die seelenruhig Bosheiten sagte und Leib und Seele der Menschen mit ihren Madonnenaugen entblößte.

Christof irrte von Gruppe zu Gruppe, ohne in irgendeiner aufgehen zu können. Die Männer redeten mit Leidenschaft von der Jagd, mit Roheit von der Liebe, vom Gelde nur mit einer gewissen kalten und spöttischen Richtigkeit. Im Rauchzimmer sprach man von Geschäften. Christof hörte, wie man von einem geschniegelten Herrn, der sich, ein Ordensbändchen im Knopfloch, zwischen den Sesseln der Damen hindurchschlängelte und schwerfällige Liebenswürdigkeiten schnarrte, sagte:

»Was! Er ist also in Freiheit?«

In einer Salonecke unterhielten sich zwei Damen über die Liebschaften einer jungen Schauspielerin und einer Dame der Gesellschaft. Manchmal wurde musiziert. Man bat Christof vorzuspielen. Pausbäckige, schweißtriefende Dichterinnen trugen in apokalyptischem Ton Verse von Sully, Prudhomme und Auguste Dorchain vor. Ein berühmter Komödiant hatte soeben eine »mystische Ballade« mit Celestabegleitung deklamiert. Musik und Verse waren so albern, daß Christof ganz krank davon wurde. Aber die Römerinnen waren entzückt und lachten aus vollem Herzen, wobei sie ihre prächtigen Zähne zeigten. Man spielte auch Ibsen. Der Kampf eines großen Mannes gegen die Stützen der Gesellschaft endete damit, daß er ihnen Unterhaltungsstoff lieferte!

Ferner hielten sich natürlich alle für verpflichtet, ihre Ansichten über Kunst von sich zu geben. Das war nun ganz widerwärtig. Besonders die Frauen waren darauf erpicht, aus Koketterie, aus Höflichkeit, aus Langerweile, aus Dummheit über Ibsen, Wagner, Tolstoi zu reden. War die Unterhaltung einmal auf diesem Feld, so gab es kein Mittel, sie aufzuhalten. Das Übel steckte an. Man mußte die Gedanken der Bankiers, der Makler und Sklavenhändler über Kunst mit anhören. Christof konnte sich noch so sehr bemühen, eine Antwort zu vermeiden, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen: man versteifte sich darauf, mit ihm von Musik und großer Dichtung zu reden. Ganz wie Berlioz sagte: »Diese Leute gebrauchen dergleichen Ausdrücke mit der größten Kaltblütigkeit: man könnte meinen, sie sagten Wein, Weiber oder andere Schweinereien«. Ein Irrenarzt erkannte in einer Heldin von Ibsen eine seiner Patientinnen wieder, nur sei sie noch viel dümmer. Ein Ingenieur versicherte in voller Überzeugung, die sympathische Gestalt in »Nora« sei der Ehemann. Der große Komödiant   ein berühmter Komiker   wieherte tiefe Gedanken über Nietzsche und Carlyle hervor; er erzählte Christof, daß er kein Gemälde von Velasquez sehen könne (der gerade die Tagesgottheit war), ohne daß ihm dicke Tränen die Wangen herabliefen. Immerhin   vertraute er Christof an  , so hoch er die Kunst auch stelle, noch höher stelle er die Lebenskunst, die Tat, und wenn er sich eine Rolle hätte wählen dürfen, so hätte er nach der Bismarcks gegriffen.   Manchmal war ein sogenannter geistreicher Mann da, wodurch die Unterhaltung aber nicht wesentlich gehoben wurde. Christof verglich, was solch einer angeblich und was er wirklich sagte. Meistens sagten diese Berühmtheiten gar nichts; sie ließen es bei erkünstelten Schroffheiten bewenden oder bei einem rätselhaften Lächeln; sie lebten von ihrem Ruf und gaben sich keinerlei Mühe. Auszunehmen waren ein paar Schönredner, meist Südfranzosen. Die sprachen über alles. Sie hatten gar kein Gefühl für Werte; alles lag auf derselben Ebene. Für sie waren ein Shakespeare, ein Molière, ein Pascal oder selbst ein Christus gleich bedeutend. Sie verglichen Ibsen mit Dumas dem jüngeren oder Tolstoi mit George Sand; und natürlich geschah das, um zu zeigen, daß in Frankreich alles zuerst dagewesen sei. Gewöhnlich kannten sie keine einzige fremde Sprache. Aber das störte sie nicht. Es war ihrer Zuhörerschaft so unwichtig, ob sie die Wahrheit sagten! Wichtig war, daß sie amüsante Sachen sagten, die der nationalen Eigenliebe soviel wie möglich schmeichelten. Die Ausländer hatten ein dickes Fell   ausgenommen der Tagesgötze, denn einen brauchte die Mode immer: gleichviel ob Grieg oder Wagner, Nietzsche oder Gorki oder d'Annunzio. Lange indes währte es nicht, und das Götterbild war sicher, eines Morgens auf den Kehricht zu wandern.

Augenblicklich war Beethoven der Abgott. Beethoven   wer hätte das gedacht?   war in Mode. Wenigstens in der großen Welt und bei den Literaten, denn die Musiker hatten sich sofort wieder von ihm losgesagt, gemäß dem Schaukelsystem, das eins der Gesetze des künstlerischen Geschmacks in Frankreich ausmacht. Ein Franzose muß, um zu wissen, was er denken soll, wissen, was sein Nachbar denkt, damit er dasselbe oder das Gegenteil denken kann. So hatten auch die vornehmsten unter den Musikern, als sie sahen, daß Beethoven volkstümlich wurde, angefangen, ihn für sich nicht mehr vornehm genug zu finden; sie behaupteten, der allgemeinen Meinung voraus zu sein und ihr niemals zu folgen; lieber wollten sie ihr den Rücken wenden, als je mit ihr einig gehen. Also begannen sie, Beethoven als tauben Alten zu behandeln, der mit heiserer Stimme schrie; und manche behaupteten, daß er wohl ein achtbarer Sittenprediger, aber ein überschätzter Musiker sei.   Solche schlechten Witze waren nicht nach Christofs Geschmack. Die Begeisterung der Gesellschaftsmenschen erfreute ihn ebensowenig. Wäre Beethoven in diesem Augenblick nach Paris gekommen, so wäre er der Löwe des Tages geworden; wie ärgerlich für ihn, daß er schon bald ein Jahrhundert tot war. Übrigens zählte seine Musik in dieser Begeisterungswelle nicht so viel wie seine mehr oder weniger romantischen Lebensfülle, die sentimentale, tugendselige Biographien verbreitet hatten. Seine leidenschaftliche Maske mit dem Löwenmaul war zur Romanfigur geworden. Die Damen bejammerten ihn; sie gaben zu verstehen, daß er nicht gar so unglücklich gewesen wäre, wenn sie ihn gekannt hätten; und ihr edles Herz neigte um so mehr dazu, sich ihm anzubieten, als keinerlei Gefahr bestand, daß Beethoven sie beim Wort nahm: der alte Knabe hatte nichts mehr nötig. Eben darum entdeckten die Virtuosen, die Orchesterdirigenten, die Impresarien in sich auch soviel Schätze des Mitleids für ihn; und sie heimsten als Beethoven-Vertreter die Ehrenbezeigungen ein, die ihm galten. Pomphafte Musikfeste zu großen Preisen boten den Gesellschaftsmenschen Gelegenheit, ihre Freigebigkeit zu zeigen   und manchmal auch Beethovensche Symphonien zu entdecken. Ein Komitee von Schauspielern, von Leuten der Welt und Halbwelt, von Politikern, die von der Republik beauftragt waren, die Schicksale der Kunst zu lenken, taten der Welt kund, daß sie Beethoven ein Denkmal errichten würden; man sah auf der Liste unter ein paar braven Leuten, die den andern als Geleit dienten, jenes ganze Lumpenpack, das den lebenden Beethoven mit Füßen getreten oder das er zermalmt hätte.

Christof schaute, Christof hörte. Er biß die Zähne zusammen, um keine Ungeheuerlichkeit über seine Lippen zu lassen. Den ganzen Abend blieb er krampfhaft angespannt. Er konnte weder reden noch schweigen. Zu reden ohne Freude oder inneren Drang, rein aus Höflichkeit und weil nun einmal geredet werden mußte, schien ihm demütigend und schmachvoll. Seine innersten Gedanken mitzuteilen, war ihm nicht gestattet. Plattheiten zu sagen, war nicht seine Art. Und er besaß auch nicht das Talent, im Nichtssagen höflich zu sein. Sah er seinen Nachbarn an, so tat er es zu fest und durchdringend: er studierte ihn wider Willen und der andere fühlte sich dadurch verletzt. Wenn er sprach, dann glaubte er allzusehr an das, was er sagte. Alle Welt wurde dadurch vor den Kopf gestoßen und sogar er selber. Er fühlte wohl, daß er nicht an seinem Platze sei. Er besaß Sinn und Verstand genug, um zu empfinden, daß seine Anwesenheit die Harmonie des Ortes störte; daher verletzte sein Benehmen ihn selber ebensosehr wie seine Gastgeber. Er grollte sich und ihnen.

Wenn er sich endlich mitten in der Nacht auf der Straße wiederfand, drückte ihn der Überdruß derart nieder, daß er nicht die Kraft fand, zu Fuß nach Haus zu gehen; er hatte Lust, sich mitten auf der Straße hinzuwerfen, wie er schon zwanzigmal dran gewesen war, es zu tun, wenn er als kleiner Virtuose aus dem Großherzoglichen Schloß vom Vorspielen kam. Manchmal, wenn er nur noch fünf oder sechs Franken für die ganze Woche besaß, gab er zwei für einen Wagen aus. Hastig warf er sich hinein, um nur schneller zu entfliehen. Während er so davongetragen wurde, stöhnte er vor innerer Erregung. Zu Hause, in seinem Bett, mitten im Schlaf, stöhnte er noch ... Und dann brach er wieder plötzlich in Lachen aus, wenn er an ein lächerliches Wort zurückdachte. Er überraschte sich dabei, wie er es wiederholte und die Gebärden nachahmte. Am nächsten Morgen und noch mehrere Tage nachher kam es vor, daß er während eines einsamen Spaziergangs wie ein Tier knurrte ... Warum besuchte er diese Leute? Warum ging er immer wieder zu ihnen hin? Warum zwang er sich dazu, die Grimassen und Bewegungen der anderen mitzumachen und zu tun, als ob er an etwas Anteil nähme, das ihn langweilte?   Langweilte es ihn wirklich?   Noch vor einem Jahr hätte er solche Gesellschaft nicht ertragen können. Jetzt machte sie ihm trotz allem eigentlich Spaß. Schlich sich etwas von der Pariser Gleichgültigkeit in ihn ein? Manchmal fragte er sich voller Besorgnis, ob er denn nicht mehr so stark wie früher sei? Aber im Gegenteil: er war stärker. In einer fremden Umgebung war er freieren Geistes. Wider Willen öffneten sich seine Augen für die große Komödie der Welt.

Übrigens mußte er wohl oder übel dies Leben fortsetzen, wenn er wollte, daß seine Kunst in der Pariser Gesellschaft bekannt werde, da sich diese für die Werke nur so weit interessiert, als sie die Künstler kennt. Und er mußte danach trachten, bekannt zu werden, wenn er unter diesen Philistern Stunden geben wollte. Das aber brauchte er zum Leben.

Und dann hat man auch ein Herz; und wider Willen bindet sich das Herz; es findet Anschluß, in welcher Umgebung es auch sei; und fände es keinen, so könnte es nicht leben.

 

Unter den wenigen jungen Mädchen der Gesellschaft, die Christof zu Schülerinnen hatte, befand sich die Tochter eines reichen Automobilfabrikanten, Colette Stevens. Ihr Vater war Belgier, naturalisierter Franzose, der Sohn eines in Antwerpen lebenden Anglo-Amerikaners und einer Holländerin; ihre Mutter war Italienerin. Es war eine echte Pariser Familie. Christof erblickte   wie viele andere   in Colette Stevens den Typus des jungen französischen Mädchens.

Sie war achtzehn Jahre alt, hatte schwarze samtene Augen, mit denen sie die jungen Leute sanft anschaute, eine Iris, die wie bei einer Spanierin mit ihrem feuchten Glanz die ganze Augenhöhle erfüllte, ein etwas langes und phantastisches Näschen, das sie beim Sprechen leicht rümpfte und bewegte, indem sie das Mäulchen eigenwillig verzog, wuschelige Haare, ein unregelmäßiges Gesichtchen, eine nicht eben feine, mit Puder bedeckte Haut, etwas gedunsene, breite Züge; sie sah wie eine kleine rundliche Katze aus. Ihre Gestalt besaß geradezu winzige Proportionen; sie war sehr gut angezogen, verführerisch, aufreizend, und sie hatte ein geziertes, gespreiztes, albernes Benehmen; sie spielte das kleine Mädchen, wiegte sich zwei Stunden lang in ihrem Schaukelstuhl und gab nur kurze Ausrufe von sich, wie: »Wirklich? Nicht möglich! ...« Bei Tisch, wenn es ein Gericht gab, das sie mochte, klatschte sie in die Hände; im Salon paffte sie Zigaretten, trug vor Männern eine übertriebene Zärtlichkeit für ihre Freundinnen zur Schau, warf sich ihnen an den Hals, streichelte ihnen die Hände, flüsterte ihnen ins Ohr, plapperte Naivitäten, verstand es auch wundervoll, mit sanfter, zarter Stimme Bosheiten zu sagen, wußte sogar gelegentlich sehr gewagte Dinge zu sagen, ohne sich den Anschein zu geben, daran zu rühren und verstand es noch besser, sich welche sagen zu lassen. Sie hatte die unschuldige Miene eines kleinen artigen Mädchens und glänzende Augen unter schweren Lidern, listige und wollüstige Augen, die schräge, boshafte Seitenblicke warfen, auf allen Klatsch in der Unterhaltung lauerten, alle Unanständigkeiten gierig erspähten und hier und da irgendein Herz zu erangeln suchten.

Christof gefielen alle diese Albernheiten, diese Kätzchen-Kunststücke, diese geheuchelte Kindlichkeit ganz und gar nicht. Er hatte anderes zu tun, als auf die Kniffe eines kleinen frivolen Mädchens einzugehen oder sie auch nur vergnügt zu betrachten. Er hatte sein Brot zu verdienen, sein Leben und sein Denken vor dem Tod zu bewahren. Diese Salonpapageien interessierten ihn einzig, damit sie ihm hierzu die Mittel verschafften. Für ihr Geld gab er ihnen mit krauser Stirn gewissenhaft seine Stunden und war mit gespanntem Sinn bei seiner Pflicht, damit er weder durch die Langeweile, die sie ihm verursachte, noch durch die Neckereien seiner Schülerinnen zerstreut werde, falls diese ebenso kokett wie Colette Stevens waren. Er schenkte ihr kaum mehr Aufmerksamkeit als Colettes kleiner Kusine, einem schweigsamen, schüchternen Kind von zwölf Jahren, das die Stevens bei sich aufgenommen hatten und das Christof gleichfalls im Klavierspiel unterrichtete.

Colette aber war zu klug, um nicht zu empfinden, daß Christof gegenüber alle ihre Reize vergebens verschwendet waren, und zu geschmeidig, um sich nicht sofort seiner Art und Weise anzupassen. Sie brauchte sich dazu nicht einmal Mühe zu geben. Es war ein Instinkt ihrer Natur. Sie war ein Weib. Sie war wie eine Welle ohne Form; alle Seelen, die ihr begegneten, waren für sie Gefäße, deren Formen sie sogleich aus Neugierde, aus Bedürfnis annahm. Um zu sein, bedurfte sie beständig eines anderen. Ihre ganze Persönlichkeit bestand darin, daß sie nie dieselbe blieb. Sie wechselte die Gefäße oft.

Christof reizte sie aus sehr vielen Gründen, vor allem, weil sie merkte, daß sie ihn nicht anzog; dann auch, weil er anders war als alle jungen Leute, die sie kannte. Noch niemals hatte sie eine Schale von solcher Form und solcher Härte erprobt. Schließlich zog er sie auch an, weil sie als gewiegte Kennerin, die beim ersten Blick den wahren Wert von Porzellangefäßen und von Leuten erkannte, sich dessen vollkommen bewußt war, daß Christof wenngleich keine Eleganz, so doch eine Solidität besaß, die ihr keine ihrer Pariser Nippsachen zu bieten hatte.   Wie die meisten müßigen jungen Mädchen heutzutage trieb sie Musik, und zwar viel und wenig. Das heißt, sie war fast immer damit beschäftigt und kannte doch fast nichts davon. Den ganzen Tag klimperte sie auf dem Klavier, aus Langerweile, aus Pose, aus Sinnlichkeit. Manchmal machte sie Musik, als ob sie radelte. Ein andermal spielte sie gut, sehr gut, mit Geschmack, mit Seele (fast hätte man meinen können, sie hätte eine: dazu genügte, daß sie sich in jemanden hineinversetzte, der eine Seele hatte).   Ehe sie Christof kennen lernte, hatte sie es fertig gebracht, Massenet, Grieg, Thomé zu lieben. Aber seitdem sie Christof kannte, brachte sie es auch fertig, sie nicht mehr zu lieben. Jetzt spielte sie Bach und Beethoven recht ordentlich (was wirklich nicht viel sagen will); das Stärkste jedoch war, daß sie sie liebte. Im Grunde war es freilich weder Beethoven noch Thomé, weder Bach noch Grieg, die sie liebte, sondern es waren die Noten, die Töne, ihre Finger, die über die Tasten liefen, die Saitenschwingungen, die über ihre Nerven strichen, als wären diese ebenfalls Saiten, und ihre gekitzelte Haut.

Christof fand Colette immer vor ihrem Klavier sitzen, wenn er in den mit etwas verblaßten Gobelins geschmückten Salon des aristokratischen Hauses trat, wo auf einer Staffelei in der Mitte des Raumes das Bildnis der robusten Frau Stevens prangte; ein Modemaler hatte sie schmachtend, wie eine Blume ohne Wasser, mit ersterbenden Augen, den Körper zur Spirale verdreht, dargestellt, um die Erlesenheit ihrer Millionärsseele auszudrücken; die Glastüren dieses großen Salons schauten auf alte, schneebepuderte Bäume. Hier saß Colette, wiederholte bis in die Unendlichkeit dieselben Stellen und ließ sich die Ohren von weichlichen Dissonanzen umschmeicheln.

»Ach!« rief Christof beim Eintreten. »Da sitzt ja die Katze immer noch und schnurrt!«

»Unhöflicher Mensch,« sagte sie lachend ...

Und sie reichte ihm ihre etwas feuchte Hand.

»… Hören Sie das. Ist das nicht hübsch?«

»Sehr hübsch,« sagte er in gleichgültigem Ton.

»Sie hören nicht zu ... Wollen Sie wohl zuhören!«

»Ich höre ... Es ist ja immer dasselbe.«

»Ach! Sie sind nicht musikalisch!« rief sie geärgert.

»Als ob es sich um Musik handelte.«

»Wie? Ist das nicht Musik? ... Und was sonst, bitte?«

»Sie wissen es sehr gut; und ich werde es Ihnen nicht sagen, weil das unschicklich wäre.«

»Ein Grund mehr, es zu sagen.«

»Sie wünschen es? ... Um so schlimmer für Sie ... Nun also, wissen Sie, was Sie mit Ihrem Klavier anstellen? ... Sie flirten mit ihm.«

»Warum nicht gar!«

»Allerdings. Sie sagen zu ihm: Liebes Klavier, liebes Klavier, sage mir ein paar nette Worte und noch ein paar, streichle mich doch, gib mir ein Küßchen!«

»Wollen Sie wohl schweigen!« sagte Colette halb lachend, halb böse. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung von Respekt.«

»Nicht die leiseste.«

»Sie sind wirklich unverschämt ... Und übrigens, wenn es auch so wäre, ist das etwa nicht die rechte Art, Musik zu lieben?«

»Oh! Ich bitte Sie, lassen Sie die Musik aus dem Spiel!«

»Aber so ist die Musik ja! Ein schöner Akkord ist wie ein Kuß.«

»Ich habe Ihnen das nicht vorgesagt.«

»Ist es nicht wahr? ... Warum zucken Sie die Achseln, warum schneiden Sie ein Gesicht?«

»Weil mich das anwidert.«

»Immer besser!«

»Es widert mich an, von Musik wie von etwas Liederlichem reden zu hören ... Oh! Sie sind nicht schuld daran. Ihre Kreise sind schuld daran. Diese ganze abgeschmackte Gesellschaft, die um Sie herum lebt, betrachtet ja die Kunst wie eine Art erlaubter Ausschweifung ... Na, genug davon! Spielen Sie mir Ihre Sonate vor.«

»Ach nein, plaudern wir noch ein wenig.«

»Ich bin nicht zum Plaudern hier, sondern um Ihnen Klavierstunden zu geben ... Also los, marsch!« ...

»Sie sind ja sehr höflich,« meinte Colette empört; im Grunde war sie jedoch entzückt über diese grobe Art.

Sie spielte ihr Stück und gab sich dabei alle Mühe; da sie geschickt war, gelang ihr das ganz nett, manchmal sogar recht gut. Christof fiel darauf nicht hinein und lachte bei sich selbst über die Gewandtheit dieses »verdammten Frauenzimmers, das spielte, als ob es empfände, was es spielte, obgleich es natürlich gar nichts dabei fühlte«. Er konnte aber doch nicht umhin, deswegen eine belustigte Zuneigung für sie zu empfinden. Colette ergriff ihrerseits jeden Vorwand, die Unterhaltung wieder aufzunehmen, die sie weit mehr fesselte als ihre Klavierstunde. Christof konnte sich noch so sehr sträuben und vorgeben, daß er nicht sagen könne, was er denke, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verletzen: es gelang ihr immer, ihn zum Reden zu bringen, und je verletzender er war, um so weniger zeigte sie sich gekränkt: es machte ihr Spaß. Da die Schlaue aber fühlte, daß Christof nichts mehr liebte als Aufrichtigkeit, so bot sie ihm kühn Trotz und stritt auf Tod und Leben mit ihm herum. Sie trennten sich stets als gute Freunde.

 

Dennoch hätte sich Christof niemals die geringste Illusion über diese Salonfreundschaft gemacht, niemals wäre die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen aufgekommen, hätte ihm Colette nicht eines Tages etwas anvertraut, was ihr ebenso der Augenblick wie ihr Verführungsinstinkt eingab.

Am Abend vorher war bei ihren Eltern Empfang gewesen. Sie hatte wie toll gelacht, geschwatzt, geflirtet; am folgenden Morgen aber, als Christof kam, um ihr Stunde zu geben, war sie matt, hatte erschöpfte Züge, graue Haut und ein ganz zusammengefallenes Gesicht. Sie redete kaum ein paar Worte, sah aus wie erloschen. Sie setzte sich ans Klavier, spielte schlaff, verdarb ihre Läufe, versuchte es noch einmal, verpatzte sie wieder, unterbrach sich mit einem Ruck und sagte: »Ich kann nicht ... Bitte, entschuldigen Sie ... Wenn Sie erlauben, warten wir ein wenig ...«

Er fragte sie, ob sie krank sei. Sie verneinte: Sie sei nicht sehr gut aufgelegt ... Manchmal komme das so über sie ... Es sei lächerlich, man dürfe ihr deswegen nicht böse sein.

Er schlug ihr vor, er wolle an einem andern Tag wiederkommen; aber sie drang in ihn, zu bleiben:

»Nur einen Augenblick ... vielleicht wird es gleich besser sein ... Wie dumm ich bin, nicht wahr?«

Er fühlte wohl, daß sie nicht in ihrer gewohnten Verfassung sei; aber er wollte sie nicht ausfragen; um von etwas anderem zu reden, sagte er:

»Das haben Sie davon, daß Sie gestern abend so glänzend waren! Sie haben Ihre Kräfte zu sehr vergeudet.«

Sie zeigte ein kleines ironisches Lächeln:

»Man kann von Ihnen nicht dasselbe sagen,« antwortete sie.

Er lachte freimütig.

»Ich glaube. Sie haben nicht ein Wort geredet.«

»Nicht eins.«

»Und doch waren interessante Leute da.«

»Ja, herrliche Schwätzer, geistreiche Leute. Ich fühle mich wie verloren unter Ihren marklosen Franzosen, die alles verstehen, alles erklären, alles entschuldigen und nichts, fühlen. Leute, die stundenlang von Liebe und Kunst reden! Ist das nicht widerlich?«

»Die Kunst dürfte Sie doch immerhin interessieren, wenn auch nicht gerade die Liebe.«

»Man redet von solchen Dingen nicht, man tut sie.«

»Aber wenn man sie nicht tun kann?« sagte Colette mit einer kleinen Grimasse.

Christof antwortete lachend:

»Dann überlassen Sie's anderen. Nicht jeder ist für die Kunst geschaffen.«

»Auch nicht für die Liebe?«

»Auch nicht für die Liebe.«

»Gott erbarme sich! Und was bleibt uns dann übrig?«

»Euer Haushalt.«

»Danke,« sagte Colette gekränkt.

Sie legte ihre Hände wieder auf das Klavier, versuchte von neuem, verdarb wieder ihre Läufe, schlug auf die Tasten und seufzte:

»Ich kann nicht! ... Es ist klar, ich bin zu nichts nutz. Ich glaube. Sie haben recht. Die Frauen taugen zu gar nichts.«

»Es ist immer schon etwas, wenn sie es eingestehen,« meinte Christof gutmütig.

Sie sah ihn mit der Miene eines kleinen gescholtenen Mädchens an und sagte:

»Seien Sie nicht so hart!«

»Ich sage von den guten Frauen nichts Böses,« erwiderte Christof fröhlich. »Eine gute Frau ist das Paradies auf Erden. Nur eben, das Paradies auf Erden ...«

»Ja, das hat noch niemand gesehen.«

»Ich bin nicht so pessimistisch. Ich sage: ich persönlich habe es nicht gesehen; aber es ist sehr möglich, daß es vorhanden ist. Ich bin sogar entschlossen, es zu finden, falls es eines gibt. Nur ist das nicht leicht. Eine gute Frau und ein genialer Mann sind beide gleich selten.«

»Und alle übrigen Männer und Frauen zählen nicht?«

»Im Gegenteil! Nur die übrigen zählen ... für die Welt.«

»Aber für Sie?«

»Für mich sind sie nicht vorhanden.«

»Wie hart Sie sind!« wiederholte Colette.

»Ein wenig. Ein paar Leute müssen es wohl sein. Wenn es auch nur im Interesse der anderen wäre! ... Wenn es nicht hier und dort in der Welt ein paar Kiesel gäbe, so würde sie zu Brei zerfließen.«

»Ja, Sie haben recht, Sie sind glücklich, weil Sie so stark sind,« sagte Colette traurig. »Aber seien Sie nicht zu streng gegen die, welche es nicht sind ... Sie wissen nicht, wie sehr unsere Schwachheit auf uns lastet. Weil Sie uns lachen, flirten, Albernheiten begehen sehen, glauben Sie, wir hätten nichts anderes im Kopf, und Sie verachten uns. Ach! Wenn Sie wüßten, was sich alles im Kopf der Weibchen von fünfzehn bis achtzehn Jahren abspielt, die in Gesellschaften gehen und die Art Erfolg haben, die ihr überströmendes Leben zuläßt,   könnten Sie sie nur nachher sehen, wenn sie reichlich getanzt und geschwatzt haben, Nichtigkeiten, paradoxe und bittere Dinge, über die man lacht, weil die andern lachen; wenn sie den Dummköpfen ein wenig von sich selbst preisgegeben und in den Augen eines jeden nach dem Licht gesucht haben, das man niemals darin findet,   könnten Sie sie nur sehen, wenn sie nachts heimkehren und sich in ihr stilles Zimmer einschließen und sich in Todesqualen der Verlassenheit auf die Kniee werfen! ...«

»Ist das möglich?« sagte Christof betroffen. »Wie? Sie leiden? So sehr leiden sie?«

Colette antwortete nicht; aber die Tränen traten ihr in die Augen. Sie versuchte zu lächeln und streckte Christof die Hand hin: er ergriff sie bewegt.

»Arme Kleine!« sagte er. »Wenn Sie so unglücklich sind, warum tun Sie nichts, um aus diesem Leben herauszukommen?«

»Was sollen wir denn tun? Da ist nichts zu machen. Ihr Männer, ihr könnt euch frei machen, ihr könnt tun, was ihr wollt. Wir aber, wir sind für immer in den Kreis der gesellschaftlichen Pflichten und Vergnügungen eingeschlossen. Wir können nicht heraus.«

»Wer hindert Sie, sich loszumachen wie wir, einen Beruf zu ergreifen, der Ihnen gefällt und Ihnen die Unabhängigkeit ebenso sichert wie uns?«

»Wie Ihnen? Armer Herr Krafft! Er sichert sie Ihnen nicht allzusehr! ... Nun, er gefällt Ihnen wenigstens. Für welchen Beruf aber sind wir geschaffen? Nicht einer interessiert uns.   Ja, ich weiß wohl, wir befassen uns jetzt mit allem, wir tun, als ob wir uns für eine Menge Dinge begeisterten, die uns nichts angehen: wir möchten uns so gern für etwas erwärmen! Ich mache es wie die anderen. Ich betätige mich bei wohltätigen Stiftungen, in Wohlfahrts-Komitees. Ich besuche die Vorlesungen in der Sorbonne, die Vorträge von Bergson und Jules Lemaître, historische Konzerte, klassische Matineen, und ich mache mir Notizen, Notizen ... Ich weiß nicht, was ich schreibe! ... Und ich suche mir einzureden, daß mich das fesselt oder daß es doch wenigstens von Nutzen ist. Ach! Wie gut ich das Gegenteil weiß, wie gleichgültig mir das alles ist und wie ich mich langweile! ... Fangen Sie nicht wieder an, mich zu verachten, weil ich Ihnen offen sage, was jedermann denkt. Ich bin keine größere Gans als die anderen. Was aber können mir Philosophie und Geschichte und Wissenschaft wohl bedeuten? Und die Kunst! ... Sie sehen ja, ich klimpere, ich pinsele, ich mache kleine Aquarellpfuschereien; aber füllt das ein Leben aus? Das unsere hat nur einen einzigen Zweck: das ist die Ehe. Aber glauben Sie, es sei ein Vergnügen für uns, sich mit einem dieser Individuen zu verheiraten, die ich eben so gut kenne wie Sie. Ich sehe sie, wie sie sind. Ich bin leider nicht wie eure deutschen Gretchen, die es verstehen, sich immer Illusionen zu machen ... Ist es nicht schrecklich? Man blickt um sich, sieht welche, die sich verheiratet haben und die, mit denen sie sich verheiratet haben, und man weiß, einst wird man es wie sie machen müssen, sich Körper und Geist entstellen und gewöhnlich werden wie sie! ... Ich versichere Sie, man braucht Selbstverleugnung, um ein solches Leben und seine Pflichten auf sich zu nehmen. Nicht alle Frauen bringen es fertig ... Und die Zeit verstreicht, die Jahre gehen dahin, die Jugend vergeht; und doch war viel Hübsches, viel Gutes in uns, das zu nichts nütze ist, täglich zugrunde gehen muß und das man, ob man will oder nicht, an Dummköpfe wird verschwenden müssen, an Geschöpfe, die man verachtet, und die einen verachten werden! ... Und niemand versteht uns! Man behauptet, daß wir den Leuten ein Rätsel seien. Das geht noch an für die Männer, die uns abgeschmackt und absonderlich finden. Aber die Frauen sollten uns verstehen; sie waren einmal wie wir; sie brauchten nur zurückzudenken ... Aber nein. Von ihnen kommt keine Hilfe. Selbst unsere Mütter haben keine Ahnung von uns und bemühen sich auch nicht, uns wirklich zu kennen. Sie trachten einzig danach, uns zu verheiraten. Im übrigen: lebe, stirb, richte dich ein, wie du magst! Die Gesellschaft überläßt uns der völligen Verlassenheit.«

»Verlieren Sie den Mut nicht,« sagte Christof. »Jeder muß das Leben an sich selber erfahren. Wenn Sie tapfer sind, wird alles gut gehen. Suchen Sie außerhalb Ihrer Welt. Es muß doch immerhin noch ein paar anständige Männer in Frankreich geben.«

»Gewiß. Ich kenne welche. Aber sie sind so langweilig! ... Und dann will ich Ihnen etwas sagen: die Welt, in der ich lebe, mißfällt mir; aber ich glaube nicht, daß ich jetzt noch irgendwo anders leben könnte. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich brauche ein gewisses Wohlleben, eine gewisse Verfeinerung im Luxus und in der Gesellschaft, die das Geld allein allerdings nicht geben kann, zu der es aber unerläßlich ist. Das ist nicht gerade hervorragend, ich weiß es. Aber ich kenne mich, ich bin schwach ... Ich bitte Sie, wenden Sie sich nicht von mir, weil ich Ihnen meine kleinen Feigheiten eingestehe. Hören Sie mich mit Güte an. Es tut mir so wohl, mit Ihnen zu reden. Ich fühle, wie stark, wie gesund Sie sind: ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Seien Sie ein wenig mein Freund, wollen Sie?«

»Ich will sehr gern,« sagte Christof, »was aber könnte ich tun?«

»Mich anhören, mir raten, mir Mut machen. Ich bin oft in einer solchen Verzweiflung! Dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich sage mir: wozu kämpfen? wozu mich quälen? Dies oder das, was liegt daran? Ganz gleich wer! Ganz gleich was! Das ist ein entsetzlicher Zustand. Ich will ihm nicht gänzlich verfallen. Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!«

Sie sah niedergedrückt, um zehn Jahre gealtert aus; sie blickte Christof mit guten Augen unterwürfig und flehend an. Er versprach alles, was sie wollte. Da belebte sie sich, lächelte, wurde wieder heiter.

Und am Abend lachte und flirtete sie wie gewöhnlich.

 

Von diesem Tag an führten sie regelmäßig vertraute Gespräche. Sie waren miteinander allein: sie konnte ihm anvertrauen, was sie wollte; er gab sich sehr viel Mühe, sie zu verstehen, ihr zu raten; sie hörte die Ratschläge, wenn nötig die Ermahnungen, ernsthaft, aufmerksam wie ein artiges kleines Mädchen an: das zerstreute sie, interessierte sie, gab ihr sogar Halt; sie dankte mit einem gerührten und koketten Augenaufschlag. Aber an ihrem Leben wurde dadurch nichts geändert, es war nur um eine neue Zerstreuung bereichert.

Ihr Tagewerk war eine Folge von Verwandlungen. Äußerst spät, gegen Mittag, stand sie auf. Sie hatte schlaflos gelegen; vor dem Morgengrauen pflegte sie kaum einzuschlafen. Den ganzen Tag über tat sie nichts. Immer wieder kam sie auf einen Vers zurück, einen Gedanken, einen Gedankenbrocken, eine Unterhaltungserinnerung, eine Musikstelle, die Vorstellung eines Gesichtes, das ihr gefallen hatte. Völlig wach wurde sie erst von vier oder fünf Uhr nachmittags an. Bis dahin hatte sie schwere Lider, ein aufgedunsenes Gesicht, eine brummige, verschlafene Miene. Kamen aber ein paar gute Freundinnen, die ebenso schwatzlustig und auf alle Pariser Klatschereien ebenso erpicht waren wie sie, dann wurde sie munter. Sie stritten miteinander ins Blaue hinein über die Liebe. Die Psychologie der Liebe: das war neben der Toilette, dem Klatsch, den Lästereien der ewige Gesprächsstoff. Sie hatte auch ihren Kreis von jungen Nichtstuern, die zwei oder drei Stunden täglich bei Weiberröcken zubringen mußten und denen Weiberröcke gut angestanden hätten. Denn sie hatten Weibchen-Seelen, und entsprechend waren auch ihre Unterhaltungen. Christof hatte seine besondere Stunde: die Beichtstunde. Dann wurde Colette sofort ernst und gesammelt. Sie war wie die junge Französin, von der Bodley erzählt, die im Beichtstuhl »ein ruhig vorbereitetes Thema entwickelte, ein wahres Musterbeispiel von durchsichtiger Ordnung und Klarheit, in dem alles, was gesagt werden mußte, in schöner Reihenfolge aufgesetzt und in deutliche Kategorien abgeteilt war.«   Nachdem das geschehen war, tollte sie um so ärger. Je mehr der Tag sich neigte, desto mehr verjüngte sie sich. Am Abend ging man ins Theater; und da war es ein stets sich wiederholendes Vergnügen, immer dieselben Gestalten wiederzuerkennen; das Vergnügen galt nicht dem aufgeführten Stück, sondern den Schauspielern, die man kannte und deren bekannte Privatgeschichten man wieder einmal durchhechelte. Mit den Bekannten, die einen in der Loge besuchten, tauschte man Bosheiten über die Leute in den anderen Logen aus oder auch über die Schauspielerinnen. Man fand, die Naive habe ein Stimmchen »wie eine geronnene Majonnaise« oder die Tragödin habe ein Kleid »wie ein Lampenschirm« oder man besuchte wohl auch eine Abendgesellschaft, wo das Vergnügen darin bestand, sich zu zeigen, wenn man hübsch war (das hing von den Tagen ab: nichts ist unbeständiger als Pariser Hübschheit); man erneuerte seinen Vorrat an Kritiken über die Leute, über ihre Toiletten und körperlichen Fehler. Von wirklicher Unterhaltung war keine Rede. Spät kehrte man heim. Es wurde einem schwer, schlafen zu gehen: es war die Zeit, wo man sich am muntersten fühlte. Man trödelte an seinem Tisch herum. Man blätterte in einem Buch. Man lachte vor sich hin in der Erinnerung an ein Wort oder eine Gebärde. Man langweilte sich. Man war sehr unglücklich. Man konnte nicht einschlafen. Und in der Nacht hatte man plötzlich Anfälle von Verzweiflung.   Christof, der Colette nur von Zeit zu Zeit ein paar Stunden sah und nur einigen ihrer Verwandlungen beiwohnen konnte, hatte es schon recht schwer, sich auszukennen. Er fragte sich, in welchem Augenblick sie aufrichtig sei, ob sie es immer sei oder nie. Colette selber aber hätte es nicht sagen können. Sie war wie die meisten jungen Mädchen, die nur müßiges, gefaseltes Begehren sind. Sie wußte nicht, was sie war, weil sie nicht wußte, was sie wollte, und weil sie es nicht wissen konnte, bevor sie es erprobt hatte. Also erprobte sie es denn in ihrer Art mit möglichst viel Freiheit und möglichst wenig Gefahr, wobei sie versuchte, sich den Umrissen ihrer Umgebung anzupassen und deren sittlichen Maßstab anzunehmen. Es lag ihr nichts daran, eine Auswahl zu treffen. Am liebsten hätte sie es allen recht gemacht, um aus allen etwas herauszuschlagen.   Doch bei einem Freund wie Christof war das nicht so leicht. Er ließ wohl zu, daß man ihm Menschen vorzog, die er nicht achtete oder sogar verachtete. Aber er wollte nicht, daß man ihn auf gleiche Stufe stellte. Jeder nach seinem Geschmack; aber man sollte wenigstens einen haben.

Er war um so weniger zur Geduld geneigt, als Colette Vergnügen daran zu finden schien, alle jene jungen Leute um sich zu versammeln, die Christof am meisten in Harnisch bringen konnten: widerliche kleine Snobs, meist reich und jedenfalls Müßiggänger, oder solche, die bei irgendeinem Ministerium irgendeine Sinekure hatten, was auf dasselbe hinauskam. Alle schrieben oder behaupteten doch zu schreiben. Das war unter der dritten Republik eine wahre Geisteskrankheit. Vor allem aber eine Form der Eitelkeit von Nichtstuern, da die geistige Arbeit am schwersten zu beurteilen war und den meisten Bluff erlaubte. Sie sprachen von ihren großen Arbeiten nur mit ein paar zurückhaltenden, aber ehrfurchtsvollen Worten. Sie schienen von der Bedeutung ihrer Aufgabe durchdrungen und wie von ihrer Bürde zu Boden gedrückt. In der ersten Zeit empfand Christof einige Verlegenheit, weil er über ihre Werke und ihre Namen so gar nichts wußte. Schüchtern suchte er sich zu unterrichten; vor allem hätte er gern gewußt, was der eine von ihnen geschrieben hatte, der, aus ihren Reden zu schließen, ein Meister der dramatischen Kunst sein mußte. Er war höchst überrascht, zu erfahren, daß dieser große Dramatiker einen einzigen Akt geschaffen hatte, und das war ein Auszug aus einem Roman, der seinerseits aus einer Reihe von Novellen oder vielmehr Stimmungsbildern zusammengesetzt war, die im Lauf der letzten zehn Jahre in einer ihrer Zeitschriften erschienen waren. Die andern trugen kein schwereres Gepäck: ein paar Akte, einige Erzählungen, einige Verse. Manche waren wegen eines Aufsatzes berühmt. Andere wegen eines Buches, »das sie vorhatten«. Für langatmige Werke hegten sie Verachtung. Die größte Bedeutung schienen sie der Wortanordnung in einem Satz beizumessen. Indessen kehrte das Wort »Gedanke« in ihren Reden immer wieder; aber es schien nicht denselben Sinn wie in der Umgangssprache zu haben: sie wandten es auf Einzelheiten des Stils an. Dennoch gab es auch unter ihnen große Denker und große Ironiker, die, wenn sie schrieben, ihre tiefen und feinen Worte in Kursivschrift setzten, damit man deren Wichtigkeit ja nicht übersehe.

Alle trieben sie den Kultus des Ich: den einzigen, den sie kannten. Sie suchten, die anderen daran teilnehmen zu lassen. Unglücklicherweise aber waren die anderen schon versehen. In ihrer Art zu sprechen, zu gehen, zu rauchen, eine Zeitung zu lesen, einander zu grüßen, in der Haltung von Kopf und Augen, kurz in allem waren sie beständig auf ein Publikum bedacht.   Schauspielerei ist bei jungen Leuten natürlich, und das um so mehr, je unbedeutender, das heißt unbeschäftigter sie sind. Der Weiblichkeit gegenüber stürzen sie sich besonders in Unkosten: denn sie begehren sie und noch mehr als das, sie wünschen, von ihr begehrt zu werden. Doch sie schlagen auch für den ersten besten ihr Rad: für einen Fremden, dessen Weg sie kreuzen und von dem sie nicht mehr als einen verdutzten Blick erwarten können. Christof begegnete häufig solchen kleinen Pfauen: Farbenklecksern, Virtuosen, jungen Komödianten, die sich ihren Kopf nach einem bekannten Porträt zurechtmachten: van Dyck, Rembrandt, Velasquez, Beethoven, oder auch nach einer zu spielenden Rolle: der begabte Maler, der tüchtige Musiker, der wackere Arbeiter, der tiefe Denker, der lustige Kerl, der ungehobelte Mensch, der Naturbursche ... Sie warfen im Vorübergehen einen Seitenblick, um zu sehen, ob man sie auch bemerke. Wenn Christof sie kommen sah, und sie sich ihm genähert hatten, wandte er boshaft die Augen mit gleichgültigem Blick nach der anderen Seite. Aber ihre Enttäuschung hielt nicht lange an: zwei Schritte weiter spreizten sie sich für den nächsten Vorübergehenden.   Die Leutchen in Colettes Salon waren gerissener; sie verstellten sich mehr geistig: sie kopierten zwei oder drei Vorbilder, die selber keine Originale waren. Oder sie mimten auch eine Idee: die Kraft, die Freude, das Mitleid, die Kameradschaftlichkeit, den Sozialismus, den Anarchismus, den Glauben, die Freiheit: alles gab Rollen für sie ab. Sie besaßen ein Talent, die wertvollsten Gedanken zu einer literarischen Angelegenheit zu machen und die heldenmütigste Regung des menschlichen Herzens zu einer Salondekoration, einer modischen Krawatte.

Ganz und gar in ihrem Element aber waren sie bei der Liebe. Die Kasuistik der Lust barg keinerlei Geheimnis für sie; dank ihrer Gewandtheit ersannen sie neue Fälle, um dann die Ehre zu haben, sie zu bewältigen. Das ist von jeher die Beschäftigung derer gewesen, die keine andere haben: da sie nicht lieben, »liebeln« sie; vor allem aber erklären sie die Liebe. Die Kommentare waren ausgiebiger als der bei ihnen recht dürftige Text. Die Soziologie mußte die heikelsten Gedanken würzen: alles benutzte damals den Deckmantel der Soziologie; welches Vergnügen man auch an der Befriedigung seiner Laster fand, es hätte doch etwas gefehlt, wenn man sich dabei nicht eingeredet hätte, man arbeite für die neue Zeit. Diese Art von Sozialismus, der erotische Sozialismus, war höchst pariserisch.

Eins der Probleme, die zurzeit jenen kleinen Liebeshof begeisterten, war die Gleichheit von Frau und Mann in der Ehe und in ihrem Recht auf Liebe. Ein paar Skandinavier oder Schweizer, brave junge Leutchen, die ehrsam, protestantisch, auch ein wenig lächerlich waren, hatten die Gleichstellung in der Tugend verlangt: die Männer sollten unberührt wie die Frauen in die Ehe treten. Die Pariser Kasuistiker verlangten eine Gleichstellung anderer Art, Gleichstellung in der Unanständigkeit: die Frauen sollten beschmutzt wie die Männer in die Ehe treten dürfen   das Recht auf Liebhaber besitzen. Die Pariser hatten die Ehebrecherin in der Phantasie wie in der Praxis dermaßen verbraucht, daß sie ihnen abgeschmackt zu erscheinen begann: man suchte sie in der literarischen Welt durch eine eigenartige Erfindung zu ersetzen: die Prostitution der jungen Mädchen, versteht sich: die ordnungsgemäße, allgemeine, tugendsame, schickliche, gemütliche und obendrein soziale Prostitution. Ein talentvolles Buch, das soeben erschienen war, beanspruchte in dieser Frage Autorität: es untersuchte auf 400 Seiten mit geschwätziger Pedanterie »nach allen Regeln der Baconschen Methode« »die beste Art, die Lust zu betreiben«. Es war ein Lehrkursus der freien Liebe, in dem beständig von Eleganz, von Schicklichkeit, von gutem Geschmack, Vornehmheit, Schönheit, Wahrheit, Schamhaftigkeit, Sittlichkeit geredet wurde   eine Fibel für die jungen Damen der Gesellschaft, die sich schlecht aufführen wollten.   Das war augenblicklich das Evangelium, an dem sich der kleine Hof Colettes entzückte und das man dort erläuterte. Selbstverständlich ließen die Beteiligten nach gewohnter Schüler-Art alles beiseite, was hinter diesen Paradoxen an Richtigem, an verhältnismäßig Menschlichem und guter Beobachtung zu finden sein mochte, und behielten nur das Schlimmste. Sie säumten nie, sich aus diesem Beete voll kleiner süßer Blumen die giftigsten herauszupflücken, Aphorismen in der Art wie: »der Reiz der Wollust könne den Geschmack an der Arbeit nur steigern«;   »es sei ungeheuerlich, wenn eine Jungfrau Mutter werde, ohne den Genuß gekannt zu haben«;   »der Besitz eines reinen Mannes sei für die Frau die natürliche Vorbereitung für eine überlegt bewirkte Mutterschaft«;   es sei die Aufgabe der Mütter, »die Freiheit der Töchter mit demselben Zartgefühl und Schicklichkeitsempfinden ins Werk zu setzen, das sie darauf verwendeten, die Freiheit ihrer Söhne zu schützen«;   und die Zeit werde kommen, »da die jungen Mädchen mit ebensoviel Selbstverständlichkeit von ihrem Geliebten nach Hause kämen, wie jetzt aus der Stunde oder vom Tee ihrer Freundinnen.«

Colette erklärte lachend solche Vorschriften für höchst vernünftig. Christof waren dergleichen Vorschläge entsetzlich. Er übertrieb ihre Bedeutung und das Unheil, das sie anrichten konnten. Die Franzosen haben zuviel Geist, um ihre Literatur in Anwendung zu bringen. Diese Diderots im kleinen sind im gewöhnlichen Leben, wie ihr geniales Urbild, ebenso anständige, sogar ebenso gottesfürchtige Bürgersleute wie die andern. Gerade weil sie im Handeln so schüchtern sind, macht es ihnen Spaß, in Gedanken ihre Handlungen bis an die Grenzen des Möglichen zu treiben. Das ist ein Spiel, bei dem man nichts zu befürchten braucht.

Christof aber war kein französischer Dilettant.

 

Unter allen jungen Leuten, die Colette umgaben, war einer, den sie vorzuziehen schien. Natürlich war gerade er Christof unter allen am unerträglichsten.

Er war einer jener Söhne reichgewordener Kleinbürger, die aristokratische Literatur machen und die Patrizier der dritten Republik spielen. Er hieß Lucien Lévy-Cœur. Er hatte weit auseinander liegende Augen mit lebhaftem Blick, eine gebogene Nase, starke Lippen, einen blonden Spitzbart in der Art des van Dyck, einen Ansatz zu einer frühen Glatze, die ihm nicht schlecht stand, eine sanfte Sprechart, elegante Manieren, feine weiche Hände, die einem förmlich in der Hand zerflossen. Er beobachtete stets die größte Höflichkeit, eine überfeine Ritterlichkeit, selbst denen gegenüber, die er nicht leiden konnte und die er über Bord zu werfen trachtete.

Christof hatte ihn bereits bei dem ersten Literatendiner getroffen, zu dem ihn Sylvain Kohn mitgenommen hatte; und obgleich sie kein Wort gewechselt hatten, genügte doch der Ton seiner Stimme, um Christof eine Antipathie gegen ihn einzuflößen, die er sich selber nicht erklären konnte; erst später sollte er ihre tiefen Gründe verstehen lernen. Es gibt eine Liebe auf den ersten Blick. Es gibt auch einen solchen Haß, oder   um zarte Seelen nicht zu verletzen, denen dies Wort, wie alle Leidenschaften, Furcht einflößt   einen Instinkt des gesunden Geschöpfes, das den Feind wittert und sich verteidigt.

Christof gegenüber vertrat Lévy-Cœur den Geist der Ironie und der Zersetzung, der sich leise, höflich, schleichend an alles Große in der absterbenden alten Gesellschaft macht: die Familie, die Ehe, die Religion, das Vaterland; in der Kunst an alles Männliche, Reine, Gesunde, Volkstümliche; der jeden Glauben an eine Idee, an Gefühle, an große Männer, an den Menschen benagt. Im Grunde dieses ganzen Denkens saß weiter nichts als ein mechanisches Vergnügen an der Zersetzung, der Zersetzung bis zum Äußersten, ein tierisches Bedürfnis, das Denken zu benagen, der Instinkt eines Wurms. Und neben diesem Ideal eines geistigen Nagetieres die Sinnlichkeit einer Dirne, aber einer schriftstellernden Dirne: denn bei ihm war oder wurde alles Literatur. Alles war ihm literarischer Stoff: sein Glück bei Frauen, seine Laster und die Laster seiner Freunde. Er hatte Romane und Stücke geschrieben, in denen er mit viel Talent das Privatleben seiner Eltern ausbreitete, die intimsten Angelegenheiten ihres Lebens, die Abenteuer seiner Freunde und seine eigenen erzählte und von seinen Liebschaften, darunter einer, die er mit der Frau seines besten Freundes gehabt hatte. Die Porträts waren mit großer Kunst gezeichnet; jeder lobte ihre Ähnlichkeit: das Publikum, die Frau und der Freund. Er konnte das Vertrauen oder die Gunst einer Frau nicht genießen, ohne in einem Buch darüber zu berichten. Man sollte annehmen, daß solche Indiskretionen ihn und die »Teilhaber« auseinander gebracht hätten. Aber davon war nicht die Rede: es war ihnen kaum ein wenig unangenehm; der Form halber widersprachen sie: im Grunde waren sie entzückt, daß man sie ganz nackt der Öffentlichkeit zeigte; wenn man ihnen nur eine Maske vor dem Gesicht ließ, war ihr Schamgefühl nicht beleidigt. Von seiner Seite lag in solchen Klatschereien keinerlei Rache, vielleicht nicht einmal Skandalsucht. Er war kein schlechterer Sohn, kein schlechterer Liebhaber als der Durchschnittsmensch. In denselben Kapiteln, in denen er seinen Vater, seine Mutter und seine Geliebte frech entblößte, standen Seiten, auf denen er von ihnen mit Zärtlichkeit und poetischer Anmut sprach. Er hatte auch wirklich einen ausgeprägten Familiensinn; er gehörte aber zu den Leuten, die nicht zu achten brauchen, wen sie lieben; im Gegenteil, wo sie ein wenig verachten können, lieben sie um so mehr; der Gegenstand ihrer Zuneigung scheint ihnen dann näher, menschlicher. Solche Gesellschaftsmenschen sind am wenigsten fähig, das Heldentum und vor allem die Reinheit zu begreifen. Beinahe halten sie beides für eine Lüge oder eine geistige Schwäche. Im übrigen sind sie selbstverständlich überzeugt, daß sie die Großen der Kunst besser als irgend jemand verstehen, und urteilen über sie mit gönnerhafter Vertraulichkeit.

Lévy-Coeur verstand sich trefflich mit der verdorbenen Jugend der reichen nichtstuerischen Bürgerkreise. Er war für sie ein Gefährte, eine Art verderbter Kammerzofe, nur freier und aufgeklärter; sie ließen sich von ihm bilden und beneideten ihn. Sie legten sich ihm gegenüber keinen Zwang an; und die Lampe der Psyche in der Hand studierten sie neugierig den nackten Hermaphroditen, der sie gewähren ließ. Christof konnte es nicht begreifen, daß ein junges Mädchen wie Colette, die eine zarte Natur und den rührenden Wunsch zu haben schien, der erniedrigenden Abnutzung des Lebens zu entfliehen, sich in solcher Gesellschaft wohlfühlen konnte. Christof war indes kein Seelenkenner. Lucien Lévy-Coeur war es hundertmal mehr als er. Christof war der Vertraute Colettes, Colette aber die Vertraute von Lucien Lévy-Coeur. Das verschaffte diesem ein großes Übergewicht. Es ist süß für eine Frau, zu glauben, daß sie es mit einem Mann zu tun hat, der schwächer ist als sie. Das befriedigt ihre niedrigsten Triebe und gleichzeitig auch ihr Bestes: den mütterlichen Instinkt. Lucien Lévy-Coeur wußte es genau: eins der sichersten Mittel, ein Frauenherz zu rühren, besteht darin, diese geheimnisvolle Saite zum Schwingen zu bringen. Andrerseits aber fühlte sich Colette mit ihren Instinkten, auf die sie nicht sehr stolz war, die sie sich aber wohl hütete zu unterdrücken, auch schwach und ziemlich feige. Es paßte ihr daher, sich durch die kühn berechneten Beichten ihres Freundes überzeugen zu lassen, daß die anderen ebenso seien und daß man die menschliche Natur nehmen müsse, wie sie ist. Sie erlaubte sich dann die Genugtuung, die ihr angenehmen Neigungen nicht zu bekämpfen, und den Luxus, sich zu sagen, daß es so sein müsse, daß die Weisheit gebiete, sich nicht dagegen aufzulehnen, sondern dem gegenüber, was man   »leider!«   nicht verhindern könne, nachsichtig zu sein. Das war eine Weisheit, deren Ausübung durchaus nicht unbehaglich war.

Auf den, der das Leben mit heiterer Ruhe zu betrachten weiß, übt einen starken Reiz der beständige Gegensatz, der im Schoße der Gesellschaft zwischen der äußersten Verfeinerung der anscheinenden Zivilisation und der tiefen Animalität vorhanden ist. Jeder Salon, der sich nicht nur aus Fossilen und versteinerten Seelen zusammensetzt, zeigt, gleich zwei Erdschichten, zwei übereinanderliegende Gesprächsschichten: die eine, aller Welt verständlich, verläuft zwischen den Intelligenzen; die andere, die wenigen bewußt wird und doch die stärkere ist, zwischen den Instinkten, zwischen dem Tierischen. Diese beiden Gesprächsschichten stehen oft in einem Widerspruch zueinander. Während die Geister laut Übereinkunft das Kleingeld tauschen, reden die Leiber von Begehren, Widerwillen oder noch öfter von Neugierde, Überdruß, Ekel. Das Tier, ob es auch durch jahrhundertlange Zivilisation gebändigt und ebenso abgestumpft ist wie die elenden Löwen in ihrem Käfig, träumt ständig von seinem Fraß. Christof aber war noch nicht zu diesem geistigen Gleichmut gelangt, den nur das Alter und der Tod der Leidenschaften mit sich bringt. Er hatte Colette gegenüber seine Beichtigerrolle sehr ernst genommen. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten und er sah, wie sie sich mutwillig der Gefahr aussetzte. So verbarg er denn seine Feindseligkeit gegen Lucien Lévy-Coeur nicht länger. Dieser hatte Christof gegenüber zunächst eine untadelhafte und ironische Höflichkeit gewahrt. Auch er witterte den Feind; aber er hielt ihn für nicht gefährlich: ohne es scheinbar zu beabsichtigen, machte er ihn lächerlich. Übrigens hätte er sich nichts Besseres gewünscht, als daß Christof ihn bewunderte, um im guten Einvernehmen mit ihm zu bleiben: das aber konnte er niemals erreichen; und er fühlte es genau, denn Christof konnte sich nicht verstellen. Daraufhin war Lucien Lévy-Coeur unmerklich aus einem ganz abstrakten Gedankenwiderstand zu einem persönlichen, sorgfältig verschleierten, kleinen Krieg übergegangen, dessen Kampfpreis Colette sein sollte.

Diese hielt zwischen beiden Freunden die Waage. Christofs Talent und sittliches Übergewicht gefielen ihr; aber die amüsante Unmoral und der Geist Lucien Lévy-Coeurs gefielen ihr ebenfalls; und im Grunde machten sie ihr mehr Spaß. Christof sparte nicht mit Vorwürfen: sie hörte sie mit einer rührenden Demut an, die ihn entwaffnete. Sie war recht gutmütig, aber aus Schwäche, ja sogar aus Güte mangelte es ihr an Freimut. Halb spielte sie Komödie; sie tat, als dächte sie wie Christof. Sie erkannte sehr wohl den Wert eines Freundes, wie er einer war, aber sie wollte einer Freundschaft keinerlei Opfer bringen; nichts und niemandem wollte sie ein Opfer bringen; was ihr am bequemsten und am angenehmsten war, das wollte sie. So verbarg sie denn vor Christof, daß sie Lucien Lévy-Coeur stets empfing; sie log mit der reizenden Natürlichkeit junger Damen von Welt, die von Kindheit an in dieser Kunst erfahren sind, die für jeden höchst notwendig ist, der es fertig bringen muß, alle seine Freunde zu behalten und alle zufrieden zu stellen. Als Entschuldigung sagte sie sich, sie wolle Christof nicht wehetun; in Wahrheit aber fühlte sie, daß er recht habe und daß sie nichtsdestoweniger zu tun suche, was ihr gefiele, ohne sich dabei mit ihm zu überwerfen. Christof hatte sie manchmal im Verdacht, daß sie solche Kniffe anwende; er grollte dann und war barsch zu ihr. Sie aber fuhr fort, das bekümmerte, zärtliche, etwas traurige kleine Mädchen zu spielen; sie machte ihm sanfte Augen   feminae ultima ratio.   Der Gedanke, daß sie Christofs Freundschaft verlieren könnte, betrübte sie wirklich; also war sie verführerisch und voller Ernst; und es gelang ihr in der Tat, Christof für einige Zeit zu entwaffnen. Früher oder später jedoch mußte es zur Auseinandersetzung kommen. In Christofs Ärger mischte sich, ihm unbewußt, ein klein wenig Eifersucht. Und in Colettes schmeichlerisches Gehaben mischte sich ebenfalls ein wenig, ein ganz klein wenig Liebe. Der Bruch mußte dadurch nur um so heftiger werden.

Eines Tages, als Christof Colette auf frischer Tat bei einer Lüge ertappt hatte, setzte er ihr die Pistole auf die Brust: zwischen Lucien Lévy-Coeur und ihm zu wählen. Sie versuchte auszuweichen; und schließlich pochte sie auf ihr Recht, so viele Freunde zu haben, wie es ihr gefiele. Sie hatte vollkommen recht; und Christof sagte sich, daß er sich lächerlich mache; aber er wußte auch, daß er sich nicht aus Egoismus so anspruchsvoll zeigte: er hatte für Colette eine aufrichtige Zuneigung gefaßt: er wollte sie retten und sollte es selbst gegen ihren Willen geschehen. So drängte er sie denn, in ungeschickter Weise. Sie verweigerte die Antwort. Er sagte zu ihr:

»Colette, wollen Sie denn, daß wir nicht mehr Freunde sein sollen?«

Sie meinte:

»Aber nein, bitte, reden Sie nicht so. Es würde mir sehr viel Kummer machen, wenn Sie nicht mehr mein Freund wären.«

»Aber Sie würden unserer Freundschaft nicht das geringste Opfer bringen?«

»Opfer! Was für ein unsinniges Wort,« sagte sie, »warum muß man denn immer eins dem andern opfern? Das sind dumme christliche Ideen. Im Grunde sind Sie, ohne daß Sie's wissen, ein alter Klerikaler.«

»Das ist schon möglich,« sagte er, »für mich heißt es: ganz das Eine oder ganz das Andere. Zwischen Gut und Schlecht finde ich keinen Weg, auch nicht von Haaresbreite.«

»Ja, ich weiß,« sagte sie. »Grade deswegen habe ich Sie gern. Ich habe Sie wirklich sehr gern: aber ...«

»Aber Sie haben auch den andern sehr gern?«

Sie lachte, schaute ihn mit ihren schmeichelndsten Augen an und sagte mit ihrer sanftesten Stimme:

»Bleiben Sie!«

Er war nahe daran, noch einmal nachzugeben. Aber Lucien Lévy-Coeur trat grade ein, und dieselben Schmeichelaugen und dieselbe sanfte Stimme wurden auch ihm bei seinem Empfang. Christof sah einige Zeit schweigend zu, wie Colette ihre kleinen Schauspielereien trieb; dann ging er fort, entschlossen, mit ihr zu brechen. Sein Herz war schwer. Es war so dumm, sich immer wieder anzuschließen, immer wieder in die Falle zu gehen.

Als er daheim mechanisch seine Bücher ordnete, öffnete er zufällig seine Bibel und las:

… Und der Herr spricht: Darum, daß die Töchter Zions stolz sind und gehen mit aufgerichtetem Hals, mit geschminkten Angesichtern, treten einher und schwänzeln und haben köstliche Schuhe an ihren Füßen,

So wird der Herr die Scheitel der Töchter Zions kahl machen und der Herr wird ihr Geschmeide wegnehmen ...

Er lachte hell auf, als er dabei an Colettes Treiben dachte; und er begab sich in guter Laune zur Ruhe. Dann dachte er, daß doch auch er durch Paris recht angesteckt sein müsse, wenn die Bibel ihm eine komische Lektüre geworden war. Nichtsdestoweniger aber wiederholte er sich in seinem Bett noch einmal den Ausspruch des spaßhaften großen Richters; und er suchte sich die Wirkung auf den Kopf seiner jungen Freundin vorzustellen. Lachend, wie ein Kind, schlief er ein. Er dachte schon nicht mehr an seinen neuen Kummer. Einen mehr, einen weniger ... Er begann, sich daran zu gewöhnen.

 

Er hörte nicht auf, Colette Klavierstunden zu geben, aber er vermied von nun an die Gelegenheiten, die sie ihm bot, ihre freundschaftlichen Gespräche fortzusetzen. Sie mochte sich noch so sehr betrüben, ärgern und alle ihre kleinen Komödien aufführen: er blieb hart. Sie schmollten miteinander; schließlich fand sie selbst Vorwände, Stunden ausfallen zu lassen, und er fand ebenfalls welche, um den Einladungen zu den Abendgesellschaften der Stevens zu entgehen.

Er hatte genug von der Pariser Gesellschaft; er konnte diese Leere, diesen Müßiggang, diese sittliche Ohnmacht, diese Neurasthenie, diese grund- und ziellos sich selbst verzehrende Hyperkritik nicht mehr vertragen. Er fragte sich, wie ein Volk in dieser toten Atmosphäre von Kunst um der Kunst willen und von Vergnügen um des Vergnügens willen leben könne. Indessen lebte dieses Volk; es war groß gewesen, es spielte noch immer eine ziemlich gute Rolle in der Welt; wenigstens dem, der es von weitem sah, mochte es noch immer so scheinen. Woher nahm es nur seine Lebenskraft? Es glaubte ja an nichts, an nichts als ans Vergnügen ...

Als Christof in seinen Betrachtungen so weit gekommen war, stieß er in der Straße auf einen brüllenden Haufen junger Männer und Frauen, die einen Wagen zogen; ein alter Priester saß darin und teilte nach rechts und links seinen Segen aus. Etwas weiter sah er, wie französische Soldaten sich mit Beilhieben durch die Türen einer Kirche Bahn brachen, und drinnen besternte Herren mit erhobenen Stühlen auf sie losgingen. Er wurde gewahr, daß die Franzosen dennoch an irgendetwas glaubten   wenn er auch noch nicht begriff, woran. Man setzte ihm auseinander, daß sich, nach einem Jahrhundert der Gemeinschaft, der Staat von der Kirche trenne und daß der Staat die Kirche, da sie nicht gutwillig gehen wolle, kraft seines Rechtes und seiner Gewalt vor die Tür setze. Christof fand diese Handlungsweise nicht sehr höflich, aber er war des anarchistischen Dilettantismus der Pariser Künstler so überdrüssig, daß es ihm Spaß machte, Leute zu treffen, die bereit waren, sich den Schädel wegen irgendeiner noch so albernen Sache einschlagen zu lassen.

Er merkte bald, daß es viele solcher Leute in Frankreich gab. Die politischen Zeitungen lieferten sich Schlachten wie die homerischen Helden; täglich veröffentlichten sie ihren Aufruf zum Bürgerkrieg.

Allerdings blieb es meist bei Worten, und es kam selten zu Schlägen. Doch fehlte es nicht an naiven Gemütern, die eine Moral, die andere schrieben, in die Tat umsetzten. Man konnte dann sonderbare Schauspiele erleben: Verwaltungsbezirke, die sich von Frankreich zu trennen gedachten, desertierende Regimenter, niedergebrannte Präfekturgebäude, Steuereinnehmer zu Pferde, die Kompanien von Gendarmen führten, sensenbewaffnete Bauern, die Kessel mit siedendem Wasser bereit hielten, um die von den Freidenkern im Namen der Freiheit berannten Kirchen zu verteidigen, Volkserlöser, die auf Bäume stiegen, um zu den Winzern des Südens zu reden, die sich gegen die nördlichen Alkoholprovinzen erhoben hatten. Bald hier, bald dort Tausende von Menschen, die sich, ganz erhitzt vom Schreien, die Fäuste zeigten und sich schließlich ordentlich verprügelten. Die Republik schmeichelte dem Volk   und ließ es darauf niedersäbeln. Das Volk schlug seinerseits einigen Kindern des Volkes   Offizieren und Soldaten   die Köpfe ein. So bewies einer dem anderen die Güte seiner Sache und seiner Fäuste. Wenn man das von fern durch die Brille: Zeitung hindurch mitansah, glaubte man sich um mehrere Jahrhunderte zurückversetzt. Christof entdeckte, daß Frankreich, das skeptische Frankreich, ein Volk von Fanatikern war. Aber es war ihm unmöglich zu erkennen, in welchem Sinne. Für oder gegen die Religion? Für oder gegen die Vernunft? Für oder gegen das Vaterland?   Sie waren fanatisch in jedem Sinne. Sie schienen es aus reiner Freude am Fanatismus zu sein.

 

Eines Abends kam er über diese Frage in ein Gespräch mit einem sozialistischen Abgeordneten, den er manchmal in dem Salon der Stevens traf. Obgleich er schon mit ihm gesprochen hatte, ahnte er nichts von den Eigenschaften seines Gegenüber; bis dahin hatten sie sich immer nur über Musik unterhalten. Er war sehr erstaunt, zu erfahren, daß dieser Weltmann der Führer einer hitzigen Partei war.

Achilles Roussin war ein schöner blondbärtiger Mann mit blühendem Gesicht; er sprach etwas schnarrend, sein Benehmen war zwanglos, zugänglich; hinter seinem recht weltmännischen Auftreten barg sich ein Rest von Gewöhnlichkeit; von Zeit zu Zeit entschlüpften ihm bäurische Bewegungen:   er hatte eine gewisse Art, sich in Gesellschaft die Nägel zu bearbeiten, eine höchst volkstümliche Gewohnheit, mit niemandem sprechen zu können, ohne ihn am Rock zu fassen, nach seiner Hand zu greifen, ihm die Arme zu tätscheln;   er war ein starker Esser, ein tüchtiger Zecher, ein Lebemann, ein lachlustiger Kerl; er hatte die Triebe eines Mannes aus dem Volke, der die Macht an sich reißen will; er war geschmeidig, wechselte je nach Umgebung und Gegenüber geschickt sein Benehmen, war mit Überlegung überschwänglich, wußte zuzuhören und paßte sich sofort allem, was er hörte, an; übrigens war er sympathisch, intelligent und interessierte sich, teils aus angeborenem wie aus erworbenem Geschmack, teils auch aus Eitelkeit für alles; er war anständig, soweit sein Vorteil ihm nicht das Entgegengesetzte befahl, und wo es nicht zu sein gefährlich gewesen wäre.

Er hatte eine recht hübsche Frau, groß, wohlgestaltet, fest gebaut, von eleganter Figur, die nur in ihren kostbaren Toiletten etwas eingepreßt schien, wodurch die kräftigen Rundungen ihres Körpers allzu stark hervortraten; das Gesicht war von krausem, schwarzem Haar umrahmt, die Augen waren groß und schwarz, das Kinn ein wenig aufwärts gebogen; das Gesicht war breit, im ganzen jedoch recht anmutig, nur entstellten es die kleinen Grimassen der kurzsichtig blinzelnden Augen und des sich zuspitzenden Mundes. Ihr Gang war gespreizt, ruckend, wie bei gewissen Vögeln, und ihre Sprache geziert; aber sie war gutmütig und voller Liebenswürdigkeit. Sie stammte aus einer reichen bürgerlichen Kaufmannsfamilie von offenem Geist und biederm Schlag, und sie hing an den unzähligen Pflichten der Gesellschaft wie an einer Religion, ganz zu schweigen von den künstlerischen und sozialen Pflichten, die sie sich außerdem noch auferlegte, als da sind: einen Salon halten; die Kunst in den Volkshochschulen verbreiten; sich um philanthropische Werke und um Kinderpflege bekümmern   und zwar ohne große Herzenswärme, ohne tieferes Interesse, aus einem Gemisch von angeborner Güte, aus Snobismus und aus unschuldiger Pedanterie der jungen gebildeten Frau, die beständig eine Lektion herzusagen scheint und ihre Eitelkeit darein setzt, sie gut zu können. Es war ihr ein Bedürfnis, sich zu beschäftigen, aber keines, innerlich an dem teilzunehmen, womit sie sich beschäftigte. Das alles ähnelte der fieberhaften Arbeit jener Frauen, die immer ein Strickzeug zwischen den Fingern halten und ohne Unterlaß die Nadeln bewegen, als hinge das Heil der Welt von dieser Arbeit ab, von der sie selber nicht einmal Nutzen haben. Und dann spielte auch bei ihr   wie bei den Strickerinnen   die kleine Eitelkeit der anständigen Frau mit, die durch ihr Beispiel den anderen Frauen Moral predigt.

Der Abgeordnete hegte für sie eine zärtliche Verachtung. Er hatte sich seine Frau außerordentlich gut ausgesucht   für sein Vergnügen wie für seine Seelenruhe. Er freute sich ihrer Schönheit und verlangte von ihr nicht mehr; und sie verlangte von ihm nicht mehr. Er liebte sie und betrog sie. Sie ließ es sich gefallen, vorausgesetzt, daß auch sie ihr Teil erhielt. Vielleicht hatte sie sogar in gewissem Sinn Vergnügen daran. Sie war ruhig und sinnlich, hatte die Seelenverfassung einer Haremsdame.

Um ihre zwei hübschen Kinder zwischen vier und fünf Jahren kümmerte sie sich als gute Familienmutter mit demselben liebenswürdigen und kalten Fleiß, den sie auch auf die Politik ihres Mannes und die letzten Erscheinungen in Kunst und Mode verwandte. Und so zeigte ihr Heim ein sonderbares Gemisch von fortschrittlichen Theorien, von ultra-dekadenter Kunst, von gesellschaftlicher Regsamkeit und bürgerlichem Empfinden.

Sie luden Christof zu sich ein. Frau Roussin war sehr musikalisch und spielte reizend Klavier; sie hatte einen zarten festen Anschlag; mit ihrem kleinen Kopf, ihrem fest auf die Tasten gerichteten Blick und den hüpfenden Fingern sah sie wie eine pickende Henne aus. Obgleich sie recht begabt und in der Musik gebildeter als die meisten Französinnen war, ließ sie der tiefe innere Sinn der Musik doch so kalt wie einen Karpfen: Musik war für sie eine Folge von Noten, von Rhythmen und Abstufungen, die sie gewissenhaft anhörte oder wiedergab; Seele suchte sie darin nicht, da sie selber keiner bedurfte. Diese liebenswürdige, kluge, schlichte Frau, die immer geneigt war, anderen nützlich zu sein, kam Christof mit der Freundlichkeit, die sie für alle hegte, entgegen. Christof wußte ihr dafür wenig Dank; er fühlte für sie nicht sehr viel Sympathie: er fand sie leer. Vielleicht verzieh er ihr auch nicht, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß sie so entgegenkommend den Besitz ihres Mannes, dessen Abenteuer ihr nicht unbekannt waren, mit seiner Geliebten teilte. Gleichgültiges Hinnehmen aber entschuldigte er von allen Sünden am wenigsten.

Enger schloß er sich Achilles Roussin an. Roussin liebte Musik wie die anderen Künste, in derber Weise, aber aufrichtig. Wenn er an einer Symphonie Wohlgefallen hatte, machte er ein Gesicht, als schliefe er mit ihr. Er hatte nur oberflächliche Bildung, verstand indes, sie zur Geltung zu bringen; seine Frau war ihm dabei nicht unnützlich gewesen. Für Christof interessierte er sich, weil er in ihm einen kraftvollen Plebejer, gleich sich selber, sah. Übrigens war er darauf gespannt, ein Original dieser Art aus der Nähe zu beobachten (in der Menschenbeobachtung ermüdete seine Wißbegierde niemals) und dessen Eindrücke von Paris kennen zu lernen. Christofs Offenheit und die Derbheit seiner Bemerkungen machten ihm Spaß. Er war skeptisch genug, ihre Richtigkeit anzuerkennen. Daß Christof Deutscher war, kümmerte ihn nicht; im Gegenteil. Er rühmte sich seiner Erhabenheit über vaterländische Vorurteile. Alles in allem war er aufrichtig »menschlich« (das war seine beste Eigenschaft); mit allem, was Mensch war, fühlte er mit. Das hinderte ihn jedoch nicht, an seiner begründeten Überzeugung von der Überlegenheit des Franzosen gegenüber dem Deutschen   alte Rasse, alte Kultur   festzuhalten und sich über den Deutschen lustig zu machen.

Christof sah bei Achilles Roussin andere Politiker und Minister von gestern oder morgen. Mit jedem einzelnen würde er sich gern unterhalten haben, wenn ihn diese hohen Standespersonen nur dessen würdig erachtet hätten. Im Gegensatz zu der allgemeinen Ansicht fand er ihre Gesellschaft interessanter als die der anderen ihm bekannten Franzosen. Ihre Intelligenz war lebendiger, den Leidenschaften und den großen Fragen der Menschheit zugänglicher. Meist aus dem Süden Frankreichs stammend, waren sie glänzende Gesellschafter, dabei aber erstaunlich dilettantisch; für sich betrachtet, waren sie es fast ebensosehr wie die Schriftsteller. Selbstverständlich waren sie in allem, was Kunst, besonders fremde Kunst betraf, höchst unwissend; aber alle behaupteten mehr oder weniger, etwas davon zu verstehen, und oft liebten sie sie wirklich. Es gab Ministerien, die den Cliquen der kleinen Zeitschriften glichen. Einer schrieb Theaterstücke, ein anderer kratzte auf der Geige und war wütender Wagnerianer. Ein dritter schmierte Bilder. Und alle sammelten impressionistische Gemälde, lasen dekadente Bücher und setzten ihre Eitelkeit darein, einer überaristokratischen Kunst Geschmack abzugewinnen, die fast immer der Todfeind ihrer Überzeugungen war. Christof fühlte sich unangenehm berührt, wenn er diese sozialistischen oder radikalsozialistischen Minister, diese Apostel der Elenden und Hungrigen, sich als Kenner in raffinierten Genüssen aufspielen sah. Sicher war das ihr Recht; aber sehr anständig wollte es ihm nicht scheinen.

Ganz merkwürdig wurde es, wenn diese Leute, die in ihrer Privatunterhaltung Skeptiker, Sensualisten, Nihilisten, Anarchisten waren, ans Handeln gingen: sofort wurden sie Fanatiker. Die größten Dilettanten unter ihnen, kaum daß sie zur Macht gelangt waren, gebärdeten sich wie kleine orientalische Despoten; sie hatten die Manie, alles nach ihrem Kopf zu leiten und nichts ungeschoren zu lassen: ihr Geist war skeptisch und ihr Temperament tyrannisch. Sie hatten die Macht, den großartigen Mechanismus der Zentralverwaltung, den einst der größte aller Despoten geschaffen hatte, zu gebrauchen, und die Versuchung, ihn zu mißbrauchen, war zu groß. Daraus ergab sich eine Art republikanischen Kaisertums, dem sich zum Überfluß in den letzten Jahren noch ein atheistischer Katholizismus aufgepfropft hatte.

Eine Zeitlang hatten die Politiker kaum etwas anderes als die Herrschaft über die Leiber   lies: Vermögen   beansprucht; die Seelen ließen sie ziemlich ungestört, da diese sich nicht zu Geld machen ließen. Und die Seelen kümmerten sich ihrerseits nicht um Politik; sie ging unter ihnen oder über ihnen weiter; die Politik wurde in Frankreich als eine einträgliche, wenn auch nicht viel höherstehende Abart von Handel und Industrie angesehen. Die geistigen Arbeiter verachteten die Politiker und umgekehrt. Seit kurzem aber war eine Annäherung und bald darauf ein Bündnis zwischen den Politikern und der schlimmsten Klasse der Intellektuellen zustande gekommen. Eine neue Macht war aufgetreten, die sich die unbeschränkte Herrschaft über die Gedanken anmaßte: es waren die Freidenker. Sie hatten mit der anderen Macht angebandelt, die in ihnen ein vervollkommnetes Triebwerk des politischen Despotismus sah. Es lag ihnen viel weniger daran, die Kirche zu zerstören, als sie zu ersetzen; und wirklich bildeten sie eine Kirche des freien Gedankens, die ihre Katechismen und Zeremonien besaß, ihre Taufen, Einsegnungen, Hochzeiten, ihre regionalen, nationalen, ja sogar ökumenischen Konzilien in Rom. Ein unglaublicher Witz war es, daß sich diese Tausende von armen unwissenden Tieren zu Herden zusammenschließen mußten, um »freiheitlich« zu denken. Allerdings bestand ihre Gedankenfreiheit darin, die der anderen im Namen der Vernunft zu untersagen: denn sie glaubten an die Vernunft wie die Katholiken an die heilige Jungfrau; die einen wie die anderen ohne zu ahnen, daß die Vernunft ebenso wie die Heilige Jungfrau nichts aus sich selber ist und daß beider Quellen wo anders liegen. Und ebenso wie die katholische Kirche über ihre Heere von Mönchen und Ordensgesellschaften verfügte, die heimlich durch die Adern der Nation schlichen, ihr Gift verbreiteten und jedes gegnerische Leben vernichteten, so hatte die antikatholische Kirche ihre Freimaurer, deren Mutterhaus, die Großloge, ein genaues Register aller Geheimberichte führte, die ihr aus allen Winkeln Frankreichs täglich ihre treuen Angeber zusandten. Der republikanische Staat förderte unter der Hand die geheiligte Spionage dieser Bettelmönche und Jesuiten der Vernunft, die über die Armee, die Universität, über alle Staatskörper eine Schreckensherrschaft ausübten; und er merkte nicht, daß sie, während sie ihm scheinbar dienten, es darauf anlegten, sich nach und nach an seine Stelle zu setzen, und daß er ganz allmählich einer atheistischen Priesterherrschaft entgegenging, welche die der Jesuiten von Paraguay um nichts zu beneiden brauchte.

Einige dieser Pfaffen sah Christof bei Roussin; einer immer götzendienerischer als der andere. Augenblicklich frohlockten sie, weil sie das Kruzifix von den Richtertischen fortgeschafft hatten. Sie meinten, durch das Zerbrechen einiger Holz- oder Elfenbeinstücke die Religion vernichtet zu haben. Andere nahmen die Jungfrau von Orleans und ihre Marienfahne, die sie soeben den Katholiken entrissen hatten, für sich in Anspruch. Einer der neuen Kirchenväter, ein General, der die Franzosen der anderen Kirche bekriegte, hatte soeben eine antiklerikale Rede zu Ehren des Vercingetorix gehalten: er feierte in dem gallischen Brennus, dem das Freidenkertum ein Standbild errichtet hatte, ein Kind des Volkes und den ersten Vorkämpfer Frankreichs gegen Rom (das heißt: die Kirche). Die Marineminister nannten, um die Flotte zu veredeln und ihren Abscheu vor dem Kriege auszudrücken, ihre Panzerschiffe Descartes und Ernest Renan. Andere Freigeister machten sich an die Läuterung der Kunst. Sie reinigten die Klassiker des 17. Jahrhunderts aufs gründlichste und erlaubten nicht, daß der Name Gottes die Fabeln von La Fontaine besudele. Ebensowenig ließen sie ihn in der alten Musik stehen; und Christof hörte, wie einer von ihnen, ein alter Radikaler, sich empörte   »in seinem Alter so radikal zu sein«, sagt Goethe, »ist der Gipfel aller Tollheit«   daß man es wagte, in einem Volkskonzert die »geistlichen Lieder« Beethovens aufzuführen. Er verlangte, daß man andere Worte an ihre Stelle setze.

»Was?« fragte Christof außer sich. »Die Republik?«

Andere, die noch radikaler waren, gingen nicht auf solche Kompromisse ein und wollten, daß man ganz einfach und reinlich jede religiöse Musik abschaffe, sowie die Schulen, in denen man sie lehrte. Vergeblich erklärte ein Direktor der schönen Künste, der in diesem Böotien für einen Athener galt, man müsse die Musiker immerhin Musik lehren: »denn«, sagte er, mit großem Gedankenschwung, »wenn ihr einen Soldaten in die Kaserne schickt, lehrt ihr ihn stufenweise, sein Gewehr benutzen und zu schießen. Genau so ist es mit dem jungen Komponisten: der Kopf wimmelt von Ideen; aber sie sind noch nicht geordnet.« Und da ihn sein Mut selber etwas erschreckte, versicherte er bei jedem Satz: »Ich bin ein alter Freidenker ... ich bin ein alter Republikaner ...« Kühn verkündete er, daß es ihm ganz gleich sei, ob die Kompositionen von Pergolese Opern oder Messen wären; es handle sich darum, ob sie Werke der Menschheitskunst seien.   Doch mit unerbittlicher Logik erwiderte dem »alten Freidenker«, dem »alten Republikaner«, sein Gegner, es gäbe zweierlei Musik: solche, die man in den Kirchen sänge, und solche, die man anderswo sänge. Die erste sei die Feindin der Vernunft und des Staates; und die Staatsvernunft müsse sie unterdrücken.

Alle diese Tröpfe wären eher lächerlich als gefährlich gewesen, hätten nicht hinter ihnen Männer von wirklichem Wert gestanden, auf die sie sich stützten und die ebenso wie sie   vielleicht noch mehr   Fanatiker der Vernunft waren. Tolstoi spricht irgendwo von jenen »epidemischen Einflüssen«, die in der Religion, der Philosophie, der Politik, der Kunst, der Wissenschaft herrschen, von jenen unsinnigen Einflüssen, deren Torheit die Menschen erst erkennen, wenn sie sich von ihnen befreit haben, die ihnen aber, solange sie in ihrem Bann stehen, so wahr erscheinen, daß sie es nicht einmal für nötig halten, über sie zu streiten. So die Tulpenliebhaberei, der Hexenglauben, die Verirrungen literarischer Moden. Eine dieser Tollheiten war die Religion der Vernunft. Sie war den Dümmsten und den Gescheitesten gemeinsam, den »Unter-Roßärzten« der Kammer und gewissen erleuchtetsten Köpfen der Universität. Bei letzteren war sie noch gefährlicher als bei jenen; denn dort ging sie mit einem frommen und dummen Optimismus zusammen, der ihre Spannkraft lähmte; bei diesen hingegen war alle Kraft dadurch gespannt und durch einen fanatischen Pessimismus geschärft, der sich keinerlei Illusion über den tief eingewurzelten Gegensatz von Natur und Vernunft machte, und der dadurch nur um so heftiger den Kampf der abstrakten Freiheit, der abstrakten Gerechtigkeit, der abstrakten Wahrheit gegen die schlechte Natur unterstützte. Alledem zugrunde lag etwas von calvinistischem, jansenistischem, jakobinischem Idealismus, von altem Glauben an die unverbesserliche Sündhaftigkeit des Menschen, die einzig der unbeugsame Stolz der Erwählten brechen kann und muß, die der Atem der Vernunft   der Geist Gottes umweht. Das war ein echt französischer Typus, der Typus des intelligenten Franzosen, der nicht »menschlich« ist. Ein Kiesel, hart wie Eisen; nichts dringt in ihn ein, und alles, was mit ihm in Berührung kommt, zerschlägt er.

Christof war von den Unterhaltungen, die er bei Achilles Roussin mit einigen von diesen verrückten Vernünftlern führte, gänzlich niedergeschmettert. Sie warfen seine Ansichten über Frankreich völlig um. Er hatte nach der üblichen Meinung die Franzosen für ein ausgeglichenes, geselliges, duldsames, freiheitsliebendes Volk gehalten. Und er fand Abstraktions-Fanatiker, an Logik Erkrankte, die immer bereit waren, die anderen wie sich selbst einem ihrer Syllogismen zu opfern. Beständig redeten sie von Freiheit; dabei war niemand weniger dazu geschaffen, sie zu verstehen und sie zu ertragen. Nirgendswo gab es Charaktere, die aus geistiger oder rechthaberischer Leidenschaft kältere und grausamere Despoten waren.

Und dies war nicht nur bei einer Partei der Fall: so waren alle Parteien. Sie konnten, sie wollten nichts außerhalb, überhalb ihrer politischen oder religiösen Formel, ihres Vaterlandes, ihrer Provinz, ihrer Gruppe, ihres engen Hirns sehen. Da gab es Antisemiten, die alle Kraft ihres Wesens in einem wütenden und ohnmächtigen Haß gegen alle mit Glücksgütern Gesegneten verausgabten: denn sie haßten alle Juden und nannten Juden alle, die sie haßten. Nationalisten gab es, die alle andern Nationen haßten (waren sie sehr gutmütig, so begnügten sie sich mit Verachtung) und die sogar in der eigenen Nation alle, die nicht ebenso wie sie dachten, Ausländer oder Abtrünnige oder Verräter nannten. Es gab ferner Antiprotestanten, die sich einredeten, alle Protestanten seien Engländer oder Deutsche, und sie am liebsten sämtlich aus Frankreich verbannt hätten. Es gab die Leute des Westens, die östlich vom Rhein nichts gelten ließen; und die Leute des Nordens, die von allem südlich der Loire nichts wissen wollten; und die Leute des Südens, die alle nördlich der Loire Barbaren nannten; und es gab welche, die sich ihrer germanischen Abstammung berühmten; und solche, die sich ihrer gallischen Abstammung berühmten; und die allerverrücktesten von allen, die »Römer«, die auf die Niederlage ihrer Väter stolz waren; und die Bretonen und die Lothringer und die Provençalen und die Albigenser; und die aus Carpentras, aus Pontoise und aus Quimper-Corentin. Und jeder erkannte nur sich an, schuf sich ein Adelsprädikat daraus, er selbst zu sein, und gab nicht zu, daß man auch anders sein könne. Gegen diese Art Menschen ist nichts auszurichten: sie hören auf keinerlei Vernunftgründe als auf die ihren; und sie sind dafür geschaffen, die übrige Welt zu verbrennen oder selber verbrannt zu werden.

Christof dachte, welch Glück es sei, daß ein solches Volk die Republik habe; denn alle diese kleinen Tyrannen rieben sich wenigstens gegenseitig auf. Wäre aber einer von ihnen Kaiser oder König gewesen, so hätte man infolgedessen lebensüberdrüssig werden mögen.

 

Christof wußte nicht, daß den vernunftbesessenen Völkern eine Tugend bleibt, die sie rettet:   die Inkonsequenz. Und den französischen Politikern fehlte sie nicht. Ihre Herrschsucht wurde durch den Anarchismus gemildert; unaufhörlich pendelten sie von einem zum anderen Pol. Stützten sie sich das eine Mal links auf die Fanatiker des Gedankens, so das andere Mal rechts auf die Anarchisten des Gedankens. Ihnen zur Seite sah man einen ganzen Haufen dilettantischer Sozialisten und kleiner Streber, die sich wohl hüteten, am Kampf teilzunehmen, bevor er gewonnen war, aber Schritt für Schritt dem Heer des Freidenkertums folgten und sich nach jedem seiner Siege auf die Beute stürzten. Für die Vernunft arbeiteten die Vorkämpfer der Vernunft wahrhaftig nicht ... sic vos non vobis ..., sondern für die kosmopolitischen Kleinbürger, die die Überlieferungen des Landes fröhlich mit Füßen traten und die den einen Glauben zerstörten, nicht um ihn durch einen andern zu ersetzen, sondern um sich selbst einzunisten und durch nichts gestört zu werden.

In jener Gesellschaft fand Christof Lucien Lévy-Coeur wieder. Er war nicht allzu erstaunt zu erfahren, daß Lucien Lévy-Coeur Sozialist sei. Er dachte nur, der Sozialismus müsse seines Sieges sehr sicher sein, da Lucien Lévy-Coeur sich zu ihm schlage. Aber er wußte nicht, daß Lucien Lévy-Coeur Mittel und Wege gefunden hatte, im gegnerischen Lager ganz ebenso gern gesehen zu werden, und daß es ihm sogar gelungen war, sich dort mit den antiliberalsten Persönlichkeiten der Politik und Kunst anzufreunden, ja sogar mit Antisemiten. Er fragte Achilles Roussin:

»Wie können Sie solche Menschen um sich behalten?«

Roussin antwortete:

»Er ist so talentvoll! Und dann arbeitet er für uns, er reißt die alte Welt nieder.«

»Ich sehe wohl, daß er niederreißt,« sagte Christof. »Er reißt so gut nieder, daß ich nicht weiß, womit Sie wieder aufbauen wollen. Sind Sie sicher, daß Ihnen noch genug Bauholz für Ihr neues Haus bleibt? Ja, sind Sie sicher, daß die Würmer sich nicht schon auf Ihrem Zimmerplatz niedergelassen haben?«

Lucien Lévy-Coeur war nicht der einzige, der den Sozialismus benagte. Die sozialistischen Blätter waren voll von diesen kleinen Literaten der »Kunst um der Kunst willen«, diesen Luxusanarchisten, die sich aller Straßen, die zum Erfolg führen konnten, bemächtigt hatten. Sie versperrten den anderen alle Wege und füllten die Zeitungen, die sich Volksorgane nannten, mit ihrem verkommenen Dilettantismus und ihren Phrasen vom Kampf ums Dasein. Sie begnügten sich nicht mit Stellen; sie brauchten Ruhm. Zu keiner Zeit hatte man soviel eilfertig errichtete Statuen gesehen, soviel Reden vor den gipsernen Genies vernommen. Das Drolligste waren die Bankette, die regelmäßig zu Ehren eines der großen Männer aus der Sippschaft von den gewohnheitsmäßigen Tellerleckern des Ruhms veranstaltet wurden, und zwar nicht aus Anlaß einer seiner Leistungen, sondern einer seiner Dekorierungen: denn das war ihnen das wichtigste. Ästheten, Übermenschen, Metöken, sozialistische Minister, alle fanden sich zusammen, um eine Beförderung in die Ehrenlegion zu feiern, die jener korsische Offizier geschaffen hatte.

Roussin machte Christofs Erstaunen Spaß. Er fand keineswegs, daß der Deutsche seine Partner allzu schlecht beurteilte. Er selber redete von ihnen, wenn sie beide unter sich waren, ohne Schonung. Er kannte besser als irgend jemand ihre Dummheit und ihre Schliche; aber das hinderte ihn nicht, sie zu stützen, damit auch sie ihn hielten. Und wenn er sich im vertrauten Gespräch auch keinen Zwang auferlegte und vom Volke in verächtlichen Ausdrücken sprach, so war er auf der Rednerbühne doch ein anderer Mann. Da sprach er mit Kopfstimme, schlug scharfe, näselnde, donnernde, feierliche Töne an, tremolierte und blökte, machte große ausholende und zitternde Gebärden wie Flügelschläge: er spielte Mounet-Sully.

Christof bemühte sich, zu durchschauen, wieweit Roussin an seinen Sozialismus glaubte. Es war klar, daß er im Grunde nicht daran glaubte: er war allzu skeptisch. Und doch glaubte er mit einem Teil seines Denkens daran; und obgleich er ganz genau wußte, daß es nur ein Teil (und vielleicht nicht der bedeutendste) war, hatte er sein Leben und Betragen danach eingerichtet, weil es ihm so am bequemsten war. Nicht nur sein praktisches Interesse kam in Frage, sondern auch sein Lebensinteresse, der Zweck seines Daseins und Tuns. Seine sozialistische Glaubenslehre war für ihn selbst eine Art Staatsreligion.   Die meisten Leute leben so. Ihr Leben beruht auf religiösen oder sittlichen oder sozialen oder rein praktischen Glaubenssätzen   Glauben an ihren Beruf, an ihre Arbeit, an die Nützlichkeit ihrer Rolle im Leben  , an die sie im Grunde nicht glauben. Aber sie wollen es nicht wissen, denn sie bedürfen, um zu leben, dieses Scheinglaubens,   dieser »Staatsreligion«, deren Priester ein jeder ist.

 

Roussin war keiner der Schlimmsten. Wieviele andere in der Partei trieben Sozialismus oder Radikalismus,   man konnte nicht einmal sagen, aus Ehrgeiz, denn dieser Ehrgeiz war so kurzsichtig, daß er nicht weiter als bis zum unverzüglichen Beutezug und zu ihrer Wiederwahl ging. Diese Leute erweckten den Anschein, als glaubten sie an eine neue Gesellschaft. Vielleicht hatten sie früher einmal daran geglaubt und markierten nun den Glauben weiter; in Wirklichkeit aber war es ihnen um nichts anderes zu tun, als von den Überbleibseln der absterbenden Gesellschaft zu leben. Eine kurzsichtige Zweckdienlichkeitstheorie stand im Dienste dieses genießerischen Nihilismus. Die großen Zukunftsinteressen wurden dem Eigennutz der Stunde geopfert. Man zerstückelte die Armee, ja man hätte das Vaterland zerstückelt, nur um den Wählern zu gefallen. An Verstand fehlte es nicht: man war sich ganz klar über das, was man hätte tun sollen; aber man tat es nicht, weil es zuviel Anstrengungen gekostet hätte und man zu Anstrengungen nicht mehr fähig war. Man wollte sein Leben und das der Nation möglichst mit den geringsten Mühen und Opfern einrichten. Von der obersten bis zur untersten Sprosse der Leiter herrschte die gleiche Moral: möglichst viel Vergnügen mit möglichst wenig Anstrengung. Diese unmoralische Moral war der einzige Leitfaden inmitten des politischen Wirrwarrs, wo die Führer das Beispiel der Anarchie gaben, wo man eine zusammenhanglose Politik trieb, die zehn Hasen auf einmal jagte und sie unterwegs alle nacheinander laufen ließ, wo eine kriegerische Diplomatie neben einem friedliebenden Kriegsministerium bestand, wo Kriegsminister das Heer zerstörten, um es zu veredeln, Marineminister die Arsenalarbeiter aufwiegelten, Kriegsinstrukteure die Schrecken des Krieges predigten, wo es dilettantische Offiziere, dilettantische Richter, dilettantische Revolutionäre, dilettantische Patrioten gab. Eine allgemeine politische Sittenverderbnis herrschte. Jeder erwartete vom Staat, mit Stellen, mit Orden, mit Pensionen, mit Diäten versorgt zu werden, und der Staat versäumte wirklich nicht, seine Klientel damit zu überschütten. Das war das Jägerrecht an Ehren und Ämtern, das den Söhnen, den Neffen, Großneffen und Lakaien der Macht zuteil wurde; die Abgeordneten bewilligten einander Gehaltzulagen; es herrschte eine zügellose Vergeudung der Geldmittel, Stellen, Titel und aller Kräfte des Staates.   Und als ein unheilvolles Echo des von oben gegebenen Beispiels kam die Zerstörungsarbeit von unten: Lehrer, die Verachtung der Autorität und Auflehnung gegen das Vaterland lehrten, Postbeamte, die Briefe und Depeschen verbrannten, Fabrikarbeiter, die Sand oder Schmirgel in die Triebwerke der Maschinen warfen, Arsenalarbeiter, die die Arsenale zerstörten, die Einäscherung von Schiffen, eine ungeheuerliche Entwertung von Arbeit durch die Arbeiter selbst   die Vernichtung nicht nur der Reichen, sondern des Reichtums der Welt. Um das Werk zu krönen, gefiel sich eine geistige Elite darin, solchen Selbstmord des Volkes durch Vernunft und Recht zu begründen, indem sie des Menschen heiliges Recht auf Glück verkündete. Eine krankhafte Humanitätsschwärmerei untergrub die Fähigkeit zum Unterscheiden von Gut und Böse und bejammerte mit greisenhafter Sentimentalität die »verantwortungslose und geheiligte Person« der Verbrecher:   man streckte vor dem Verbrechen die Waffen und lieferte ihm die Gesellschaft aus.

Christof dachte:

»Frankreich ist von Freiheit besoffen. Wenn es gehörig phantasiert hat, wird es toll und voll hinschlagen. Und wenn es aufwacht, wird es im Loch sitzen.«

 

Am meisten verletzte Christof an diesem Demagogentum, daß die schlimmsten politischen Gewalttaten kaltblütig von Männern ausgeführt wurden, deren unzuverlässigen Charakter er kannte. Das Mißverhältnis zwischen diesen schwankenden Geschöpfen und der schroffen Tat, die sie entfesselten oder guthießen, war zu empörend. Es schien, als lebten in ihnen zwei sich widersprechende Dinge: ein haltloser Charakter, der an nichts glaubte, und ein klügelnder Verstand, der das Leben zerschnitt, niedermähte, plünderte, ohne etwas dabei zu beobachten. Christof fragte sich, wie es möglich sei, daß das friedfertige Bürgertum, die Katholiken, die in jeder Art geplagten Offiziere, sie nicht allesamt zum Teufel jagten. Er wagte nicht, das Roussin zu sagen; da er aber nichts verbergen konnte, war es Roussin nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Er begann zu lachen und sagte:

»Sie oder ich würden das sicherlich tun, nicht wahr? Aber bei denen besteht keine Gefahr. Das sind arme Teufel, die nicht fähig sind, auch nur im geringsten energisch Partei zu ergreifen; sie können nur Beschwerden vorbringen. Eine abgewirtschaftete marklose Aristokratie, die vom Klub- und Sportleben abgestumpft, sich an Amerikaner und Juden wegwirft und ihren modernen Geist dadurch beweist, daß sie an der beleidigenden Rolle, die man sie in den Modestücken spielen läßt, Vergnügen zeigt und die Beleidiger feiert. Das Bürgertum ist apathisch und nörglerisch, liest nichts, versteht nichts, will nichts verstehen und kann nichts anderes als lästern, beißend, ohne jeden Zweck ins Leere hinein lästern;   es kennt nur eine Leidenschaft: schlafen, schlafend auf seinem Geldsack verfaulen und dabei alle hassen, die es stören wollen, oder auch nur es anders machen wollen: denn es fühlt sich schon gestört, wenn andere arbeiten, während es duselt ... Wenn Sie diese Leute kennten, so fänden Sie uns zuletzt noch sympathisch.«

Christof aber empfand vor den einen wie vor den andern nur großen Ekel: denn er war nicht der Ansicht, daß die Gemeinheit der Verfolgten die der Verfolger entschuldige. Er hatte bei den Stevens nur allzu oft Typen dieses reichen mürrischen Bürgertums getroffen, das ihm Roussin schilderte:

… l'anima triste di coloro,
Che visser senza infamia e senza lodo ...

Er sah nur allzu sehr die Gründe ein, die Roussin und seine Freunde hatten, nicht allein ihrer Macht über die Leute sicher zu sein, sondern auch ihres Rechtes, sie zu mißbrauchen. An Werkzeugen zur Unterdrückung fehlte es ihnen nicht. Tausende von willenlosen Beamten, die jede Persönlichkeit abgeschworen hatten, gehorchten blind. Höfische Sitten herrschten in dieser Republik ohne Republikaner; es gab sozialistische Zeitungen, sozialistische Abgeordnete, die vor durchreisenden Königen auf dem Bauch lagen, Bedientenseelen, die vor Titeln, Tressen, Orden stillstanden; um sie an der Leine zu halten, brauchte man ihnen nur ein paar Knochen zum Fraß oder die Ehrenlegion hinzuwerfen. Hätten die Könige alle Bürger Frankreichs geadelt, so wären alle Bürger Frankreichs königstreu gewesen. Die Politiker hatten freies Spiel. Von den drei Ständen von 89 war der erste vernichtet; der zweite geächtet, ausgewandert oder verdächtig; der dritte schlief siegessatt. Und was den vierten Stand betraf, der sich seitdem drohend und eifersüchtig erhoben hatte, so war es nicht schwierig, seiner Herr zu werden. Die entartete Republik behandelte ihn wie das entartete Rom die Barbarenhorden behandelte, die aus seinen Grenzen zu vertreiben es nicht mehr die Kraft hatte: es verleibte sie sich ein. Bald werden sie seine besten Wachhunde. Die bürgerlichen Minister, die sich Sozialisten nannten, zogen heimtückisch die Intelligentesten und Kräftigsten der Arbeiter-Elite an sich und reihten sie dem Bürgertum ein; sie trennten die Häupter der Proletarier von der Partei ab, flößten sich ihr frisches Blut ein und stopften sie als Gegengabe voll mit unverdauter Wissenschaft und bürgerlicher Ideologie.

 

Eine der merkwürdigsten Proben solcher Versuche zur Beschlagnahme des Volkes durch das Bürgertum waren die Volkshochschulen. Sie waren kleine Bazare verworrener Kenntnisse aus allen Zeiten und allen Ländern. Man behauptete dort, laut einem Programm, »alle Zweige des physischen, biologischen, soziologischen Wissens zu lehren: Astronomie, Kosmologie, Anthropologie, Ethnologie, Physiologie, Psychologie, Psychiatrie, Geographie, Linguistik, Ästhetik, Logik usw.«   Das Gehirn des Pico de la Mirandola hätte davon platzen können.

Gewiß lag darin im Anfang, lag auch noch heute in manchen dieser Bestrebungen eine idealistische Größe, ein Bedürfnis, Wahrheit, Schönheit, geistiges Leben an alle auszuteilen, wirklich etwas Wundervolles. Diese Arbeiter, die nach harter Tagesmühe kamen, um sich in die Stickluft enger Vortragssäle zu pferchen und deren Wissensdurst stärker war als Müdigkeit und Hunger, boten ein bewundernswertes und rührendes Schauspiel. Wie sehr aber hatte man die armen Leute mißbraucht! Wieviel Dummköpfe, Schwätzer, Intriganten, ungelesene Schriftsteller, zuhörerlose Redner, Lehrer, Pastoren, Rezitatoren, Pianisten, Kritiker, Anarchisten, die das Volk mit ihren Erzeugnissen überschwemmten, kamen auf ein paar wahre, kluge und menschliche Apostel, auf ein paar ausgezeichnete Herzen, die allerdings mehr gute Absichten als Gewandtheit besaßen. Von den andern suchte nur jeder seine Ware loszuwerden. Am gesuchtesten waren natürlich die Marktschreier, die philosophischen Schönredner, welche scheffelweise Gemeinplätze austeilten, mit wenigen hier und da eingestreuten Tatsachen, wissenschaftlichen Aufschlüssen, kosmologischen Folgerungen.

Die Volkshochschulen waren daneben auch ein Absatzgebiet für ultra-aristokratische Kunstwerke: dekadente Graphik, Dichtung und Musik. Man wollte den Aufstieg des Volkes, damit das Denken verjüngt, die Rasse erneuert werde. Und man begann damit, ihm alle überfeinerten Genüsse des Bürgertums einzuimpfen. Voller Gier nahm das Volk sie auf, nicht, weil sie ihm gefielen, sondern weil sie bürgerlich waren. Christof wurde von Frau Roussin in eine solche Volkshochschule geführt und hörte dort Sachen von Debussy, neben der » Bonne chanson« von Gabriel Fauré und einem der letzten Quartette von Beethoven dem Volke vorspielen. Er war selber nur nach vielen Jahren, durch eine langsame Entwicklung seines Geschmackes und Denkens zum Verständnis der letzten Werke Beethovens vorgedrungen und fragte daher voller Mitleid einen seiner Nachbarn:

»Aber verstehn Sie denn das?«

Der andere blähte sich wie ein gereizter Hahn und sagte:

»Na natürlich. Warum soll ich das nicht ebenso gut wie Sie verstehen?«

Und zum Beweis, daß er's verstanden habe, schrie er nach einer Fuge: da capo!, wobei er Christof herausfordernd ansah.

Christof machte sich bestürzt davon; es wurde ihm klar, daß es diesen Kerlen gelungen sei, die Nation bis zu ihren lebendigen Quellen zu vergiften: es gab kein Volk mehr.

»Selber Volk!« sagte einmal ein Arbeiter zu einem jener braven Menschen, die Volksbühnen zu gründen suchten. »Ich bin ebenso gut Bürger wie Sie!«

 

An einem schönen Abend, als der weiche Himmel sich gleich einem Perserteppich mit warmen, ein wenig verblaßten Farben über die dunkelnde Stadt spannte, ging Christof von Notre-Dame bis zum Invalidendom die Quais entlang. Die Türme der Kathedrale hoben sich in die sinkende Nacht, wie die Arme Mosis sich während der Schlacht emporreckten. Aus dem Dickicht der Häuser blitzte die ziselierte Goldspitze der Sainte-Chapelle auf   ein blühender heiliger Dorn. Am andern Ufer des Flusses erschien das königliche Antlitz des Louvre, in dessen matten Augen der Widerschein des Sonnenuntergangs einen letzten Schimmer von Leben vortäuschte. In der Ferne des Invalidenfeldes, hinter Gräben und stolzen Mauern, schwebte in majestätischer Einsamkeit die dunkelgoldene Kuppel gleich einer Symphonie ferner Siege. Der Triumphbogen spannte sich über den Hügel, ein Symbol des übermenschlichen Heldenschritts der kaiserlichen Legionen.

Und Christof hatte plötzlich den Eindruck von einem toten Riesen, dessen ungeheure Glieder die Ebene bedeckten. Das Herz vom Grauen zusammengekrampft, stand er still und betrachtete die gigantischen versteinten Reste einer von der Erde verschwundenen Fabelrasse, deren Schritt die ganze Erde vernommen hatte,   jener Rasse, die vom Invalidendom behelmt, vom Louvre gegürtet, den Himmel mit den tausend Armen ihrer Kathedralen umarmte und die Welt mit dem Napoleonischen Bogen überspannte, unter dem heute Liliput wimmelte.

 

Ohne daß er danach getrachtet hätte, war Christof in den Pariser Kreisen, in die ihn Sylvain Kohn und Goujart eingeführt hatten, zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Das Eigenartige seiner Erscheinung, die man bei den Erstaufführungen der Theater und Konzerte stets mit dem einen oder dem andern seiner beiden Freunde bemerkte, seine kraftvolle Häßlichkeit, ja selbst die Lächerlichkeiten seiner Persönlichkeit, seiner Haltung, seines heftigen und linkischen Benehmens, die wunderlich widerspruchsvollen Einfälle, die er manchmal vorbrachte, sein grob zugehauener, aber umfassender und kräftiger Verstand und die romanhaften Berichte, die Sylvain Kohn über seine Streiche in Deutschland, seine Händel mit der Polizei und seine Flucht nach Frankreich verbreitete, hatten die müßige und geschäftige Neugier des großen internationalen Hotelsalons, zu dem Tout-Paris nun einmal geworden ist, auf ihn gelenkt. Solange er sich im Hintergrund hielt, beobachtete, zuhörte, und bevor er sich näher aussprach, zu verstehen suchte, solange man seine Werke und seine tieferen Gedanken nicht kannte, war er ziemlich gern gesehen. Die Franzosen wußten ihm Dank, daß er es in Deutschland nicht ausgehalten hatte. Vor allem berührten Christofs ungerechte Urteile über die deutsche Musik die französischen Musiker wie eine persönliche Ehrung. (In Wahrheit handelte es sich um schon veraltete Urteile, von denen er die meisten heute nicht mehr unterschrieben hätte: um ein paar Aufsätze, die er einmal in einer deutschen Zeitschrift veröffentlicht hatte und um deren durch Sylvain Kohn aufgebauschte und herumgetragene Paradoxe.)

Christof erregte Aufmerksamkeit und störte nicht; niemandem nahm er den Platz weg. Es hätte nur an ihm gelegen, ein großer Mann in der Klique zu werden. Er brauchte nur nichts oder so wenig wie möglich zu schreiben, vor allem nichts von sich aufführen zu lassen und einen Teil seiner Gedanken den Goujarts und ihresgleichen, wie jener ganzen Sippschaft zu überlassen, die sich mit einiger Veränderung das berühmte Wort zum Wahlspruch genommen hat:

»Mein Glas ist nicht groß; aber ich trinke   aus dem der anderen.«

Eine starke Persönlichkeit wirkt mit ihrer Ausstrahlung vor allem auf junge Leute, die zumeist mehr fühlen als handeln. An ihnen fehlte es in Christofs Umgebung nicht. Im allgemeinen gehörten sie zu jenen Müßiggängern, die ohne Willen, ohne Ziel, ohne Daseinszweck dahinleben, die Furcht haben vor ihrem Arbeitstisch, Furcht, mit sich selber allein zu sein, die ewig in einem Sessel herumliegen, aus dem Café ins Theater irren und nach jedem Vorwand haschen, nicht nach Haus zu gehen, damit sie sich selber nicht ins Gesicht zu schauen brauchen. Sie kamen, ließen sich nieder, schleppten ganze Stunden mit jenen nichtssagenden Gesprächen hin, die man mit einem Empfinden von Magenerweiterung aufgibt, angewidert, übersättigt und doch hungrig, mit dem Bedürfnis, weiter zu schwatzen und doch voller Ekel davor. Sie umkreisten Christof wie Fausts Pudel. Wie »lauernde Nachtmahre«, die eine Seele erhaschen möchten, um sich am Leben festzuklammern. Ein eitler Tropf hätte an diesem Parasitenhof Vergnügen gefunden; aber Christof liebte es nicht, den Götzen zu spielen. Übrigens schreckte ihn die idiotische Feinsinnigkeit seiner Bewunderer ab, die in dem, was er tat, die abgeschmacktesten Renan-artigen, Nietzsche-artigen, hermaphroditischen Intentionen fanden. Er setzte sie vor die Tür. Für eine passive Rolle war er nicht geschaffen. Bei ihm zielte alles auf die Tat ab. Er beobachtete, um zu verstehen; und er wollte verstehen, um zu handeln. Er war frei von jedem Schulzwang und allen Vorurteilen, erkundigte sich nach allem, las alles und studierte in seiner Kunst alle Gedankenformen und Ausdrucksmöglichkeiten anderer Länder und anderer Zeiten. Jede, die ihm wirksam und wahr schien, beutete er aus. Im Gegensatz zu jenen französischen Künstlern, die er studierte, gewandten Erfindern neuer Formen, die sich in unaufhörlichem Erfinden erschöpften und das Erfundene unterwegs verloren, suchte er die musikalische Sprache weit weniger zu erneuern, als sie mit größerer Energie zu sprechen; er ging nicht darauf aus, ungewöhnlich, sondern stark zu sein. Solche leidenschaftliche Kraft widerstrebte dem französischen Genius der Feinheit und des Maßes und verachtete den Stil um des Stiles willen und die Kunst um der Kunst willen. Die besten französischen Künstler machten Christof den Eindruck von Luxusarbeitern. Einer der vorzüglichsten Pariser Dichter hatte sich sogar damit vergnügt, selber »die Gewerbeliste der französischen zeitgenössischen Dichtung aufzustellen, in der jeder mit seinen Waren, seinen Erzeugnissen oder Restern« genannt war, und er zählte auf: »die Kristalleuchter, die Perserteppiche, die goldenen und bronzenen Medaillen, die Spitzen für Witwen von Stande, die vielfarbigen Skulpturen, die geblümten Fayencen«, die aus der Werkstätte dieses oder jenes seiner Berufsgenossen stammten. Er selbst stellte sich vor, als einen, der »in einem Winkel der großen literarischen Arbeitsstube alte Dekorationsstoffe ausbessert oder außer Gebrauch gestellte Partisanen putzt.« Diese Auffassung des Künstlers als eines guten Arbeiters, der einzig auf die Vervollkommnung seines Handwerks bedacht ist, war nicht ohne Größe. Aber sie genügte Christof nicht; erkannte er darin auch eine gewisse berufsmäßige Würde, so verachtete er doch die Ärmlichkeit der Lebensauffassung, die sie gewöhnlich verdeckte. Er begriff es nicht, daß man schrieb, um zu schreiben, redete, um zu reden. Er sagte nicht Worte, er sagte Dinge   oder wollte Dinge sagen.

Ei dice cose, e voi dite parole ...

 

Nach einer Zeit der Ruhe, in der Christof nur damit beschäftigt gewesen war, eine neue Welt in sich zu verarbeiten, überkam seinen Geist ein plötzlicher Schaffensdrang. Der Gegensatz, den er zwischen sich und Paris empfand und der seine Persönlichkeit bedrängte, verhundertfachte seine Kraft. Die überströmenden Leidenschaften verlangten gebieterisch nach Ausdruck. Sie waren alle verschiedener Art; alle aber befeuerten ihn mit derselben Glut. Er mußte Werke schmieden, mußte in ihnen entladen, was ihm das Herz schwellte: die Liebe wie den Haß, den Willen wie den Verzicht, mußte alle Dämonen seines Innern aufeinander loslassen, da allen ein gleiches Lebensrecht zukam. Kaum hatte er sich in einem Werk von einer Leidenschaft befreit,   manchmal fand er nicht einmal die Geduld, das Werk zu Ende zu führen   so stürzte er sich bereits in eine entgegengesetzte Leidenschaft; aber der Widerspruch war nur scheinbar: wandelte er sich auch beständig, er blieb doch stets derselbe. Alle seine Werke waren verschiedene Wege zum selben Ziel; seine Seele war ein Berg: er stieg auf allen Pfaden hinauf. Die einen schlängelten sich weich und trugen im Schatten dahin, die anderen stiegen uneben und von der Sonne ausgedörrt empor; alle aber führten zu Gott, der auf dem Gipfel thronte. Liebe, Haß, Wille, Verzicht, alle menschlichen Kräfte rühren in ihrer höchsten Steigerung an die Ewigkeit, haben schon Anteil an ihr. Ein jeder trägt sie in sich: der Fromme und der Gottesleugner, wer das Leben überall sieht, wer es überall verneint, und wer an allem, sei es Leben oder Verneinung, zweifelt.   Also auch Christof, dessen Seele alle diese Gegensätze gleichzeitig umfaßte. Alle Gegensätze lösen sich auf in der ewigen Kraft. Das Wesentliche für Christof war, diese Kraft in sich und andern zu erwecken, Scheite auf den Holzstoß zu werfen, damit die Glut der Ewigkeit aufflamme. Eine große Flamme war aus seinem Herzen aufgelodert, inmitten der wollüstigen Nacht von Paris. Von jedem Glauben wähnte er sich frei und war doch ganz und gar nur eine Glaubensfackel.

Nichts konnte der französischen Ironie eine breitere Angriffsfläche bieten. Der Glaube ist eines der Gefühle, die eine überfeinerte Gesellschaft am wenigsten verzeiht; denn sie hat ihn verloren und sie will nicht, daß andere ihn besitzen. An der dumpfen oder höhnischen Feindseligkeit, die die meisten Leute den Träumen junger Menschen gegenüber zeigen, hat sehr oft der bittere Gedanke Anteil, daß sie selber einstmals so waren, daß sie den gleichen Ehrgeiz besaßen und ihn nicht verwirklichten. Alle, die ihre Seele verleugnet haben, alle, die ein Werk in sich trugen und es nicht vollbrachten, um die Sicherheit eines leichten und angesehenen Lebens dafür einzutauschen, denken:

»Warum sollen die anderen etwas tun, was auch ich erträumte und nicht ausführen konnte? Das will ich nicht!« Wie manche Hedda Gabler gibt es unter den Menschen! Welch hartnäckiger Kampf wird gegen neue und freie Kräfte geführt, wieviel Wissenschaft wird darauf verwandt, sie durch Schweigen, durch Ironie, durch Mißbrauch, durch Entmutigung,   und durch irgend eine heimtückische Verführung im rechten Augenblick zu vernichten! ...

Der Typus ist in allen Ländern der gleiche. Christof kannte ihn, weil er ihm schon in Deutschland begegnet war. Gegen diese Art Leute war er gewappnet. Sein Verteidigungssystem war einfach: er griff als erster an; sobald sie gegen ihn loszogen, erklärte er den Krieg; er zwang solche gefährlichen Freunde, seine Feinde zu werden. Aber war diese freimütige Politik zur Wahrung seiner Persönlichkeit auch die wirksamste, so war sie weit weniger geeignet, ihm seine Künstlerlaufbahn zu erleichtern. Christof verfiel von neuem in seine deutschen Irrtümer. Seine Natur brach immer durch. Nur etwas hatte sich geändert: seine Laune; denn sie war äußerst heiter.

Jedem, der es hören wollte, setzte er fröhlich seine wenig maßvollen Kritiken der französischen Künstler auseinander: so zog er sich viele Feindschaften zu. Er übte nicht einmal die Vorsicht, sich den Stützpunkt einer kleinen Klique zu erhalten, wie es doch alle vernünftigen Leute tun. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, in seiner Umgebung Künstler zu finden, die gern bereit waren, ihn zu bewundern, falls auch er ihnen Bewunderung zollte. Manche bewunderten ihn sogar als erste in der Erwartung auf Rückzahlung. Sie betrachteten den, welchen sie lobten, als einen Schuldner, bei dem sie im gegebenen Augenblick stets ihre Außenstände einfordern konnten. Es war gut angelegtes Geld.   Es war aber bei Christof sehr schlecht angelegtes Geld. Er zahlte nichts zurück. Im Gegenteil, er hatte die Unverschämtheit, die Werke derer, die die seinen gut fanden, minderwertig zu nennen. Sie trugen ihm das, ohne es auszusprechen, aufs schwerste nach und nahmen sich vor, ihm bei der ersten Gelegenheit mit ganz derselben Münze heimzuzahlen.

Eine der vielen Ungeschicklichkeiten, die Christof beging, war, daß er gegen Lucien Lévy-Coeur zu Felde zog. Überall auf seinem Wege fand er ihn; und er konnte eine ungewöhnliche Abneigung gegen dieses sanfte höfliche Geschöpf nicht verbergen, das scheinbar nichts Böses tat, sogar mehr Güte als er selber zu besitzen schien und auf jeden Fall sehr viel mehr Maß zeigte. Er forderte Lévy-Coeur zu Auseinandersetzungen heraus; und so unbedeutend auch der Gegenstand der Erörterung sein mochte, jedesmal nahm sie durch Christofs Zutun unversehens eine Schärfe an, die die Zuhörerschaft überraschte. Es war, als suche Christof beständig einen Vorwand, um mit gesenktem Kopfe auf Lucien Lévy-Coeur loszugehen; niemals aber konnte er ihn wirklich fassen. Selbst wenn Lucien Lévy-Coeur offensichtlich unrecht hatte, verstand er dank seiner überlegenen Gewandtheit doch stets die bessere Rolle zu spielen; er verteidigte sich mit einer Höflichkeit, die den Mangel an guten Formen bei Christof ersichtlich machte. Dieser sprach nicht nur ein sehr schlechtes Französisch, durchsetzt mit Straßenausdrücken, ja sogar mir ziemlich gewöhnlichen Worten, die er sofort erfaßt hatte, um sie dann, wie viele Fremde, zur Unzeit anzuwenden   er war überhaupt unfähig, der Taktik von Lucien Lévy-Coeur entgegenzuwirken; wütend focht er gegen dessen ironische Sanftheit an. Alle Welt gab ihm unrecht, denn man sah nicht, was Christof dunkel fühlte: die Heuchelei dieser Sanftheit, die an eine Kraft prallte, die sie nicht verwunden konnte, und diese ohne Aufsehn, in der Stille zu ersticken suchte. Er hatte es nicht eilig, denn er gehörte zu denen, die gleich Christof sich auf die Zeit verlassen; ihm aber war dabei um die Vernichtung zu tun, Christof um den Aufbau. Es kostete ihn keine Mühe, Sylvain Kohn und Goujart von Christof abwendig zu machen, so wie er ihn auch nach und nach aus dem Salon der Stevens verdrängt hatte. Rings um ihn schuf er Leere.

Christof ließ sich das selber angelegen sein. Da er keiner Partei angehörte, oder besser gesagt gegen alle Parteien war, machte er es niemandem recht. Er liebte die Juden nicht; aber die Antisemiten liebte er noch weniger. Diese Massenfeigheit, die gegen eine mächtige Minderheit aufstand, nicht weil sie schlecht, sondern weil sie mächtig war, diese Herausforderung aller niederen Instinkte der Eifersucht und des Hasses stieß ihn ab. So hielten ihn schließlich die Juden für einen Antisemiten, die Antisemiten für einen Juden. Und die Künstler witterten in ihm den Feind. In der Kunst gab sich Christof instinktiv deutscher als er war. Aus Auflehnung gegen die wollüstige Seelenschlaffheit einer gewissen Pariser Musik feierte er den gewalttätigen Willen, einen männlichen und gesunden Pessimismus. Wenn die Freude erschien, so geschah dies mit einem Mangel an Geschmack, einer plebejischen Begeisterung, die ganz danach angetan war, alle bis zu den aristokratischen Patronen der Volkskunst zu empören. Es war eine gelehrte und ungeschliffene Form. Ja, er war aus Widerspruch nicht weit davon entfernt, eine scheinbare Nachlässigkeit des Stils und völlige Gleichgültigkeit gegen äußerliche Originalität zu betonen, die für französische Musiker sehr empfindlich sein mußten. So begruben denn die, denen er einige seiner Werke unterbreitete, ihn ohne nähere Prüfung mit unter der Verachtung, die sie für das verspätete Wagnertum der zeitgenössischen deutschen Schule empfanden. Christof bekümmerte das kaum; er lachte innerlich und wiederholte sich die Verse eines entzückenden Musikers der französischen Renaissance, die er zu seinem Gebrauch zurechtmachte:

Va, va, ne t'esbahy de ceux la qui diront:
Ce Christophe n'a pas d'un tel le contrepoint,
Il n'a pas de cestuy la pareille harmonie.
J'ai quelque chose aussi que les autres n'ont point.

Aber als er den Versuch machen wollte, seine Werke in Konzerten spielen zu lassen, fand er verschlossene Türen. Man hatte schon gerade genug damit zu tun, die Werke junger französischer Musiker aufführen   oder nicht aufführen   zu lassen und konnte sich nicht noch um die eines unbekannten Deutschen kümmern.

Christof versteifte sich nicht auf weitere Anstrengungen. Er schloß sich zu Hause ein und vergrub sich von neuem in die Arbeit. Ihm lag wenig daran, ob die Leute in Paris ihn hörten oder nicht, er schrieb zu seinem Vergnügen und nicht um des Erfolges willen. Der wahre Künstler bekümmert sich nicht um die Zukunft seines Werkes. Er ist wie die Maler der Renaissance, die freudig Hausfassaden bemalten, wenn sie auch wußten, daß in zehn Jahren nichts mehr davon geblieben sein würde. Christof arbeitete also in Frieden und war guten Muts darauf gefaßt, bessere Feiten abwarten zu müssen, als ihm von unerwarteter Seite Hilfe kam.

 

Christof stand damals im Banne der dramatischen Form. Noch wagte er nicht, sich der Flut seines inneren Lyrismus frei hinzugeben. Er fühlte das Bedürfnis, ihn in bestimmte Themen zu leiten. Und zweifellos ist es für ein junges Genie, das seiner selbst noch nicht Herr, ja, sich noch nicht einmal über seine Wesensart klar ist, gut, daß es sich freiwillige Grenzen ziehe, in die es seine Seele, die ihm entgleiten will, verschließen kann. Da sind Schleusen und Deiche notwendig, die erlauben, den Gedankenlauf zu leiten.   Leider fehlte Christof ein Dichter; er war genötigt, sich seine Vorwürfe aus der Legende oder der Geschichte selbst zurechtzuzimmern.

Unter den Visionen, die seit einigen Monaten in ihm wogten, waren auch biblische Bilder.   Die Bibel, die ihm seine Mutter als Gefährtin in die Verbannung mitgegeben hatte, war ihm eine Quelle von Träumen geworden. Obgleich er sie nicht im religiösen Sinne las, war ihm die sittliche, oder besser gesagt: Lebensenergie dieser hebräischen Ilias ein Bronnen, in dem er abends seine nackte Seele badete, die der Dunst und der Unrat von Paris beschmutzt hatten. Um den geheiligten Sinn des Buches kümmerte er sich nicht; aber es war ihm ein heiliges Buch durch den Hauch wilder Natur und ursprünglicher Persönlichkeiten, den er daraus spürte. Er sog in sich die Hymnen der vom Glauben verzehrten Erde, der bebenden Berge, der frohlockenden Himmel und der menschlichen Löwen.

Eine der Gestalten des Buches, für die er eine besondere Zärtlichkeit empfand, war der junge David. Er lieh ihm nicht das ironische Lächeln eines Florentiner Buben, noch die tragische Spannung, die Verrocchio und Michel-Angelo ihren erhabenen Werken gegeben hatten: er kannte sie nicht. Er schaute seinen David wie einen kleinen poetischen Hirten mit jungfräulichem Herzen, in dem das Heldentum schlummert, einen Siegfried des Südens von verfeinerter, schönerer Rasse, harmonischer an Leib und Seele. Denn er mochte sich noch so sehr gegen den lateinischen Geist auflehnen: ihm unbewußt, hatte dieser Geist begonnen, ihn zu durchdringen. Nicht die Kunst allein wirkt auf die Kunst ein, nicht der Gedanke allein, sondern alles was einen umgibt:   die Menschen, die Dinge, die Gebärden, die Bewegungen, die Linien, das Licht einer jeden Stadt. Die Atmosphäre von Paris ist sehr kraftvoll: sie formt die widerspenstigsten Seelen. Und eine germanische Seele ist weniger als jede andere fähig zu widerstehen: vergeblich hüllt sie sich in ihren Nationalstolz; sie verliert von allen europäischen Seelen am schnellsten ihre Nationalität. Christofs Seele hatte, ohne daß er es ahnte, bereits begonnen, aus der lateinischen Kunst eine Klarheit und Besonnenheit, ein Verständnis für Empfindungen und sogar in gewissem Maße eine plastische Schönheit anzunehmen, die sie sonst niemals erhalten hätte. Sein David war der Beweis dafür. Er gedachte, mehrere Episoden dieser Jugend nachzuzeichnen: die Begegnung mit Saul, den Kampf mit Goliath; und er hatte zunächst die erste dieser Szenen geschrieben und sie als ein symphonisches Bild mit zwei Personen aufgefaßt.

Auf einer einsamen Hochebene, inmitten blühenden Heidelandes, liegt der kleine Hirt ausgestreckt und träumt in der Sonne. Das heitere Licht, das Gesumm der Insekten, das sanfte Erschauern schwankender Gräser, das Silbergeläute weidender Herden, der kraftvolle Hauch der Erde wiegen die Träumereien des seiner göttlichen Bestimmung unbewußten Kindes. Lässig mischt es seine Stimme und die Töne seiner Flöte in die harmonische Stille; und dieser Gesang ist von so ruhevoller Freude, so durchsichtiger Klarheit, daß man bei ihm weder an Schmerz noch Freude denkt, sondern meint, es sei eben so, es könne gar nicht anders sein.   Plötzlich breiten sich große Wolken über die Ebene; die Luft ist stille; das Leben scheint in die Adern der Erde zurückzuströmen. Nur der Flötensang geht ruhevoll weiter. Da naht Saul, von Gesichtern gejagt. Der wahnsinnige König, ein Spielball des Nichts, tobt wie eine wütende, sich selbst verzehrende Flamme, die im Sturme flackert. Er fleht die Leere an, die ihn umgibt und ihn erfüllt, er flucht ihr, bietet ihr Trotz. Und wie er dann außer Atem auf die Heide niederfällt, ertönt in der Stille wiederum, gleich einem friedlichen Lächeln, das nicht unterbrochene Hirtenlied. Da bezwingt Saul sein wildklopfendes Herz, und nähert sich schweigend dem hingestreckten Kinde, und schweigend betrachtet er es; dann setzt er sich neben den Knaben und legt seine fiebernde Hand auf das Haupt des Hirten. David wendet sich um, ohne sich stören zu lassen, und schaut den König an. Er lehnt seinen Kopf an Sauls Kniee und beginnt sein Lied von neuem. Der Abend dämmert; David entschlummert im Singen, und Saul weint. Und in der Sternennacht erhebt sich wieder der Freudenhymnus der neu belebten Natur und das Danklied der genesenden Seele.

Als Christof diese Szene schrieb, hatte er sich nur um seine eigene Freude gekümmert; an die Mittel der Ausführung hatte er nicht gedacht; und vor allem war ihm nie der Gedanke gekommen, daß man sie aufführen könnte. Er bestimmte sie für Konzerte, für den Tag, da die Konzerte geruhen würden sie anzunehmen.

Eines Abends sprach er mit Achilles Roussin darüber und versuchte auf dessen Bitte hin, ihm am Klavier einen Begriff der Komposition zu geben; zu seinem großen Erstaunen war Roussin Feuer und Flamme für das Werk und erklärte, es müsse um jeden Preis auf einer Pariser Bühne aufgeführt werden; er wolle dafür sorgen. Noch viel erstaunter war er, als er nach einigen Tagen merkte, daß Roussin die Geschichte ernst nahm; und seine Verwunderung grenzte an Verblüffung, als er erfuhr, daß Sylvain Kohn, Goujart und sogar Lucien Lévy-Coeur sich dafür einsetzten. Er mußte zugeben, daß der persönliche Groll dieser Leute vor der Liebe zur Kunst verstummte; dies überraschte ihn sehr. Er selbst drängte am wenigsten zur Aufführung seines Werkes. Für das Theater eignete es sich durchaus nicht, es dort zu spielen war Unsinn und fast entweihend. Roussin aber war so hartnäckig, Sylvain Kohn so überzeugend und Goujart so bestimmt, daß Christof sich verführen ließ. Er wurde schwach. Er hatte so große Lust seine Musik zu hören!

Roussin wurde alles leicht. Direktoren und Künstler strengten sich an, um ihm gefällig zu sein. Eine Zeitung veranstaltete eben eine Gala-Matinee zu einem wohltätigen Zweck. Es wurde beschlossen, bei der Gelegenheit den David aufzuführen. Man brachte ein gutes Orchester zusammen. Roussin behauptete, unter den Sängerinnen einen idealen David gefunden zu haben. Die Proben begannen. Das Orchester machte sich beim ersten Male ganz leidlich, obgleich es nach französischer Art wenig an Zucht gewöhnt war. Der Saul hatte eine etwas abgenutzte, aber ansehnliche Stimme; und er verstand etwas von seiner Kunst. Die Sängerin des David war eine schöne, große, fette, wohlgestaltete Person mit einer sentimentalen und gewöhnlichen Stimme, die sich schwerfällig in melodramatischen Tremoli erging und Tingeltangelmanieren hatte. Christof verzog das Gesicht. Von den ersten Takten an, die sie sang, war es ihm klar, daß sie ihre Rolle nicht behalten könne. Bei der ersten Orchesterpause suchte er den Impresario auf, der die geschäftliche Leitung des Konzertes hatte und mit Sylvain Kohn der Probe beiwohnte. Als der Impresario ihn kommen sah, richtete er mit strahlendem Gesicht das Wort an ihn:

»Nun, sind Sie zufrieden?«

»Ja,« sagte Christof, »ich glaube, es wird sich machen. Nur etwas geht nicht: die Sängerin. Das muß geändert werden. Bringen Sie es ihr in netter Art bei, Sie sind das ja gewohnt ... Es wird Ihnen ein Leichtes sein, eine andere für mich zu finden.«

Der Impresario schien verblüfft; er sah Christof an, als wisse er nicht, ob dieser im Ernst rede; dann sagte er:

»Aber das ist ja unmöglich!«

»Warum soll das unmöglich sein?« fragte Christof.

Der Impresario wechselte mit Sylvain Kohn einen raschen, verständnisinnigen Blick und fing wieder an:

»Sie hat doch soviel Talent.«

»Gar keins hat sie,« sagte Christof.

»Wie denn! ... Eine so schöne Stimme.«

»Sie hat überhaupt keine.«

»Und dann, diese schöne Figur ...«

»Ich pfeife darauf.«

»Immerhin schadet das doch nicht,« meinte Sylvain Kohn lachend.

»Ich brauche einen David, und zwar einen David, der singen kann; eine schöne Helena kann ich nicht brauchen,« sagte Christof.

Der Impresario rieb sich verlegen die Nase:

»Das ist sehr unangenehm, sehr unangenehm ...« meinte er. »Es ist doch eine ausgezeichnete Künstlerin ... Wirklich! Vielleicht ist sie heute nicht gut bei Stimme. Sie sollten es noch einmal versuchen.«

»Ich will gern,« sagte Christof, »aber es ist verlorene Zeit.«

Die Probe ging weiter. Es wurde noch schlimmer. Christof hatte Mühe, zu Ende zu kommen; er wurde nervös; erst machte er der Sängerin kalt, doch höflich Einwände; schließlich aber wurden diese trocken und schneidend, trotz der ersichtlichen Mühe, die sie sich gab, um ihn zufrieden zu stellen, und der liebäugelnden Blicke, die sie ihm zuwarf, um seine Gunst zu erobern. Der Impresario unterbrach die Probe klugerweise in dem Augenblick, wo die Sache eine bedenkliche Wendung zu nehmen drohte. Um den schlechten Eindruck von Christofs Bemerkungen zu beschönigen, bemühte er sich um die Sängerin und überschüttete sie mit faustdicken Schmeicheleien. Christof, der mit schlecht verhehlter Ungeduld unweit stand, winkte ihn schließlich herrisch heran und sagte:

»Alles Reden ist überflüssig. Ich will diese Person nicht. Ich weiß, es ist unangenehm; aber ich habe sie ja nicht ausgesucht. Richten Sie das ein, wie Sie wollen.«

Der Impresario verbeugte sich mit verärgerter Miene und sagte gleichgültig:

»Ich kann da nichts machen. Wenden Sie sich an Herrn Roussin.«

»Was geht das Herrn Roussin an?« fragte Christof. »Ich will ihn mit diesen Geschichten nicht langweilen.«

»Das wird ihn nicht langweilen,« sagte Sylvain Kohn ironisch. Und er zeigte auf Roussin, der gerade hereinkam.

Christof ging sofort auf ihn los. Roussin rief ihm in vorzüglicher Laune zu:

»Ja was denn! Schon zu Ende? Ich hoffte noch einen Teil mitanzuhören. Nun also, mein lieber Meister, was sagen Sie dazu? Sind Sie zufrieden?«

»Alles geht sehr gut,« sagte Christof. »Ich habe Ihnen unendlich viel zu danken ...«

»Aber nein, nein!«

»Nur eines kann so nicht weiter gehn.«

»Reden Sie, reden Sie. Wir machen das schon. Mir liegt daran, daß Sie zufrieden sind.«

»Nun also, es handelt sich um die Sängerin. Unter uns gesagt, sie ist greulich.«

Das strahlende Gesicht Roussins erstarrte plötzlich. Mit strenger Miene sagte er:

»Sie setzen mich in Erstaunen, mein Bester.«

»Sie taugt nichts, nicht das Geringste,« fuhr Christof fort; »sie hat weder Stimme, noch Geschmack, kann nichts und hat nicht einen Schatten von Talent. Seien Sie froh, daß Sie sie eben nicht gehört haben ...«

Der immer mehr verletzte Roussin schnitt Christof das Wort ab und sagte in schneidendem Ton:

»Ich kenne Fräulein von Sainte-Ygraine. Sie ist eine sehr talentvolle Künstlerin. Ich hege die größte Verehrung für sie. Alle geschmackvollen Leute in Paris denken wie ich.«

Und er wandte Christof den Rücken. Christof sah, wie er der Schauspielerin den Arm bot und mit ihr hinausging. Da er verdutzt stehen blieb, kam Sylvain Kohn, der den Auftritt mit Wonne verfolgt hatte, nahm seinen Arm und sagte, während sie zusammen die Theatertreppe hinabstiegen, lachend zu ihm:

»Aber wissen Sie denn nicht, daß sie seine Geliebte ist?«

Christof begriff. Für sie also und nicht für ihn setzte man das Werk in Szene! Nun erklärten sich Roussins Begeisterung, seine Ausgaben, der Eifer seiner Helfershelfer. Von Sylvain Kohn erfuhr er jetzt die Geschichte der Sainte-Ygraine: sie war eine Tingeltangel-Sängerin, die in verschiedenen kleinen Theatern erfolgreich aufgetreten war und die nun der vielen ihresgleichen eigene Ehrgeiz gepackt hatte, sich auf einer ihres Talentes würdigeren Bühne hören zu lassen. Sie rechnete darauf, daß sie durch Roussin an die Oper oder an die Opéra-Comique gelangen würde; und Roussin, der sich nichts Besseres wünschte, hatte in der Aufführung des David eine Gelegenheit entdeckt, um die lyrischen Talente der neuen Tragödin in einer Rolle, die fast keinerlei dramatische Handlung erforderte und die Schönheit ihrer Formen ins beste Licht setzte, dem Pariser Publikum ohne Risiko zu offenbaren.

Christof hörte die Geschichte bis zu Ende an; dann machte er sich von Sylvain Kohns Arm los und brach in Lachen aus. Er lachte, lachte lange. Nachdem er genug gelacht hatte, sagte er:

»Ihr widert mich an. Alle widert ihr mich an. Die Kunst zählt bei euch nicht. Immer dreht es sich um Weibergeschichten. Eine Oper setzt man für eine Tänzerin, für eine Sängerin, für die Geliebte des Herrn Soundso oder der Frau Soundso in Szene. Ihr denkt nur an Eure Schweinereien. Wissen Sie, ich bin Ihnen deswegen nicht böse: ihr seid nun einmal so, bleibt ruhig so, wenn es euch gefällt, und manscht in eurem Trog herum. Aber wir müssen uns trennen: wir sind nicht dazu geschaffen, zusammen zu leben. Guten Abend.«

Er ließ ihn stehen; und heimgekehrt schrieb er an Roussin, daß er sein Stück zurückziehe; die Gründe hierfür verbarg er ihm nicht.

Das war der Bruch mit Roussin und seiner ganzen Sippschaft. Die Folgen machten sich sofort fühlbar. Die Zeitungen hatten einen gewissen Lärm für die geplante Aufführung geschlagen, und die Geschichte von dem Zwist des Komponisten mit seiner Sängerin gab Anlaß zu vielen Klatschereien. Ein Konzertdirektor war vorwitzig genug, das Werk in einer seiner Sonntag-Matineen aufzuführen. Dieser Glückszufall wurde Christof unheilvoll. Das Werk wurde gespielt   und ausgepfiffen. Alle Freunde der Sängerin hatten sich das Wort gegeben, dem unverschämten Musiker eine Lektion zu erteilen; und das übrige Publikum, von dem symphonischen Gedicht gelangweilt, schloß sich willfährig dem Wahrspruch der sachverständigen Leute an. Das Unglück voll zu machen, war Christof unklugerweise auf den Vorschlag eingegangen, sich im selben Konzert in einer Phantasie für Klavier und Orchester hören zu lassen, um auch sein Virtuosentalent einmal zu zeigen. Die böswillige Gesinnung der Hörer, die während des David nur durch den Wunsch, die Vortragenden zu schonen, etwas zurückgehalten worden war, ließ sich nun, da ihnen der Komponist in Person gegenüberstand, freien Lauf; sein Spiel war übrigens nicht allzu korrekt. Christof, den der Lärm im Saal reizte, hörte brüsk mitten im Stück auf; mit spöttischer Miene blickte er auf das jäh verstummte Publikum; dann spielte er: » Marlbrough s'en va-t-en guerre«   und sagte unverschämt:

»Da habt ihr, was ihr braucht.«

Dann stand er auf und ging fort.

Das gab einen Tumult! Man schrie, er habe das Publikum beleidigt; er solle zurückkommen und sich entschuldigen. Die Zeitungen am nächsten Morgen sprachen in voller Übereinstimmung die Verdammung über den grotesken Deutschen aus, dem der Pariser »gute Geschmack« das Urteil gesprochen habe.

Und daraufhin wurde es wieder leer, von neuem gänzlich und vollständig leer. Christof sah sich wiederum einsam, in der fremden, feindlichen großen Stadt, einsamer als je. Er machte sich nichts daraus. Er begann zu glauben, daß dies sein Schicksal sei, daß es sein ganzes Leben so bleiben würde.

Er wußte nicht, daß eine große Seele niemals einsam ist, daß sie, vom Geschick noch so sehr der Freunde beraubt, sich schließlich welche schafft, denn sie strahlt die sie erfüllende Liebe rings um sich aus; und so war er auch zu dieser Stunde, in der er sich für immer vereinsamt glaubte, reicher an Liebe als die Glücklichsten der Welt.

 

Bei den Stevens lebte ein kleines Mädchen von dreizehn, vierzehn Jahren, der Christof zugleich mit Colette Stunden gegeben hatte. Sie war eine Cousine Colettes und sie hieß Grazia Buontempi. Sie war ein Mädelchen mit goldschimmernder Haut, zart geröteten Bäckchen, vollen, ländlich gesunden Wangen, einem etwas hochstrebenden Näschen, großem gutgeschnittenem Mund, der immer leicht geöffnet stand, rundem, sehr weißem Kinn, ruhigen sanft lächelnden Augen, einer runden Stirn, von einer Fülle langen seidigen Haars umrahmt, das ohne Locken in leichten ruhigen Wellen die Wangen entlang fiel: eine kleine Madonna von Andrea del Sarto mit großem Gesicht und einem schönen, stillen Blick.

Sie war Italienerin. Ihre Eltern wohnten fast das ganze Jahr auf dem Lande, auf einem großen Gut in Norditalien, inmitten weiter Ebenen, Felder, kleiner Kanäle. Von der Dachterrasse sah man zu seinen Füßen die Wogen goldener Reben, aus denen hier und dort die schwarzen Spindeln der Zypressen auftauchten. Weiterhin Felder auf Felder. Und Schweigen. Man hörte die pflügenden Rinder brüllen und den gellenden Ruf der Bauern am Pflug:

» Ihi! ... Fat' innanz' ...«

Die Zikaden geigten in den Bäumen und die Frösche quarrten längs des Wassers. Und des Nachts unter den Silberströmen des Mondes nichts als unendliche Stille. In der Ferne feuerten von Zeit zu Zeit die Erntewächter, die in den Reiserhütten schlummerten, ihre Gewehre ab, um den Dieben zu zeigen, daß sie wachten. Für den, der halb entschlummert das Geräusch hörte, hatte es keine andere Bedeutung als der Schlag einer friedlichen Uhr, die in der Ferne die Stunden der Nacht verkündet. Und wieder breitete sich die Stille der Nacht über die Seele gleich einem weitfaltigen samtenen Mantel.

Das Leben schien rings um die kleine Grazia entschlummert. Man kümmerte sich wenig um sie. Ruhig wuchs sie in der schönen Stille, die sie umhüllte, heran, ohne Fieber, ohne Hast. Sie war träge, liebte herumzuschlendern und lange zu schlafen. Stundenlang konnte sie ausgestreckt im Garten liegen. Sie ließ sich auf der Stille treiben gleich einer Mücke auf einem sommerlichen Bach. Und manchmal, plötzlich und grundlos, begann sie zu laufen. Geschmeidig, ohne Steifheit, lief sie wie ein kleines Tier, Kopf und Brust leicht nach rechts geneigt. Wie ein Zicklein, das aus Freude am Springen zwischen den Steinen umherklettert und gleitet. Sie plauderte mit Hunden und Fröschen, mit Gräsern und Bäumen, mit den Bauern und den Tieren des Wirtschaftshofes. Alle kleinen Geschöpfe um sie herum liebte sie unsäglich, auch die großen; denen gegenüber aber gab sie sich nicht so frei. Sie sah sehr wenig Menschen. Das Gut lag einsam, fern von der Stadt. Selten ertönte auf dem staubigen Weg der schleppende Tritt irgend eines ernsthaften Bauern oder der Schritt einer schönen Bäuerin, die mit leuchtenden Augen im gebräunten Gesicht, mit erhobenem Kopf und vorgewölbter Brust in wiegendem Rhythmus dahinwanderte. Tagelang lebte Grazia allein in dem schweigenden Park; sie sah niemanden; sie langweilte sich niemals; sie fürchtete sich vor nichts.

Einmal kam ein Vagabund herein, um in dem verlassenen Hof ein Huhn zu stehlen. Er blieb bestürzt vor dem kleinen, im Gras hingestreckten Mädchen stehen, das eine große Butterschnitte aß und ein Lied summte. Sie sah ihn ruhig an und fragte, was er wolle. Er sagte:

»Gib mir etwas oder ich werde böse.«

Sie streckte ihm ihre Butterschnitte hin und sagte mit ihren lächelnden Augen:

»Man darf nicht böse werden.«

Darauf ging er fort.

Ihre Mutter starb. Ihr sehr guter und sehr schwacher Vater war ein alter Italiener echten Schlages, derb, vertrauenerweckend, herzlich, aber etwas kindlich und ganz und gar unfähig, die Erziehung der Kleinen zu leiten. Frau Stevens, die Schwester des alten Buontempi, die zum Begräbnis gekommen war, hatte die Vereinsamung des Kindes betroffen gemacht. Sie beschloß, es für einige Zeit nach Paris mitzunehmen, um es von seiner Trauer abzulenken. Grazia weinte und der alte Papa auch; doch wenn Frau Stevens etwas beschlossen hatte, so blieb einem nur übrig, sich zu fügen. Sie war der stärkste Wille in der Familie; und in ihrem Pariser Hause leitete sie alles, beherrschte sie alle: ihren Mann, ihre Tochter und ihre Liebhaber   denn sie gestattete es sich, solche zu haben. Sie widmete sich gleichzeitig ihren Pflichten und ihrem Vergnügen: eine praktische und leidenschaftliche Frau,   im übrigen ganz Weltdame und sehr geschäftig.

Die nach Paris verpflanzte stille Grazia faßte eine bewundernde Liebe zu ihrer schönen Cousine Colette, der das Spaß machte. Man führte den holden kleinen Wildling in die Welt ein, man nahm sie ins Theater mit. Man behandelte sie weiter als Kind und sie selbst hielt sich für ein Kind, als sie es schon nicht mehr war. Sie hatte Gefühle, die sie verbarg und die sie ängstigten: unendliche Zärtlichkeitsausbrüche für einen Gegenstand oder für ein Wesen. In Colette war sie heimlich verliebt: sie stahl ihr ein Band, ein Taschentuch; oft konnte sie in ihrer Gegenwart nicht ein einziges Wort herausbringen; und wenn sie sie erwartete, wenn sie wußte, daß sie sie sehen würde, zitterte sie vor Ungeduld und Glück. Wenn sie im Theater ihre hübsche Cousine im ausgeschnittenen Kleid in die Loge treten und aller Augen auf sie gerichtet sah, ging ein demütiges, zärtliches, von Liebe überströmendes Lächeln über ihr Gesicht; ihr Herz schmolz förmlich, wenn Colette das Wort an sie richtete. Sie saß in ihrem weißen Kleid mit ihren schönen schwarzen Haaren, die sich ungefesselt um ihre braunen Schultern bauschten, und knabberte an der Spitze ihrer langen Zwirnhandschuhe oder bohrte aus Langerweile den Finger in die Handschuhöffnung;   und jeden Augenblick wandte sie sich während des Schauspiels zu Colette hin, um einen freundschaftlichen Blick zu erhaschen, ihr Vergnügen zu teilen, mit ihren braunen klaren Augen zu sagen:

»Ich habe dich so lieb.«

Ging man in der Umgebung von Paris in den Wäldern spazieren, so wandelte sie in Colettes Schatten, setzte sich zu ihren Füßen nieder, lief ihr voraus und brach die Zweige, die sie hätten stören können, legte ihr Steine über die Pfützen. Und als Colette sie eines Abends im Garten fröstelnd um ihr Schultertuch bat, stieß sie vor Vergnügen einen kleinen Schrei aus,   nachher schämte sie sich deswegen   einen Glücksschrei, weil die Vielgeliebte sich in etwas von ihrem Eigen hüllte und es dann, ganz durchtränkt von dem Duft ihres Körpers, ihr wiedergab.

Auch Bücher gab es, manche Stellen bei Dichtern, die sie im Verborgenen las, (denn man gab ihr immer weiter Kinderbücher), die ihr köstliche Erregungen verursachten. Noch mehr geschah das bei gewisser Musik, obgleich man ihr sagte, daß sie noch nichts davon verstehen könne; sie selber redete sich ein, daß sie nichts davon verstehe,   doch sie war ganz bleich und feucht vor Bewegung. Was in diesen Augenblicken in ihr vorging, wußte niemand.

Sonst war sie stets ein gefügiges Mädelchen, verträumt, träge, ein bißchen leckermäulig; sie errötete wegen eines Nichts, schwieg manchmal stundenlang, schwatzte dann wieder voller Redseligkeit, lachte und weinte leicht, brach plötzlich in Schluchzen aus oder stimmte unvermittelt ein Kindergelächter an. Sie lachte gern und freute sich an den geringsten Kleinigkeiten. Niemals versuchte sie die Dame zu spielen. Sie blieb Kind. Vor allem war sie gut, sie konnte es nicht über sich bringen, jemandem weh zu tun, und sie selber schmerzte das leiseste böse Wort, das man ihr gab. Sie war sehr bescheiden, blieb immer im Hintergrund, war stets bereit, alles, was sie Schönes und Gutes zu sehen glaubte, zu lieben und zu bewundern und schob dabei den andern Eigenschaften unter, die diese nicht besaßen.

Man kümmerte sich um ihre Erziehung, die sehr im Rückstand war. So kam es, daß sie von Christof Klavierstunden erhielt.

Das erste Mal sah sie ihn bei einer großen Abendgesellschaft ihrer Tante. Christof, unfähig, sich irgend einem Publikum anzupassen, spielte ein endloses Adagio, bei dem alle Welt gähnte: wenn es zu Ende schien, fing es wieder von vorne an; man fragte sich, ob es jemals enden würde. Frau Stevens kochte vor Ungeduld. Colette amüsierte sich wie toll: sie kostete die ganze Lächerlichkeit der Sache aus und war Christof nicht böse, daß er in diesem Punkt kein Gefühl hatte; sie empfand ihn als eine Kraft, und das war ihr sympathisch; aber es war zugleich komisch, und sie hätte sich wohl gehütet, ihn zu verteidigen. Einzig die kleine Grazia war von der Musik bis zu Tränen gerührt. Sie verbarg sich in einem Winkel des Salons. Zum Schluß eilte sie weg, um ihre Bewegung zu verbergen, dann aber auch, weil es sie schmerzte mit anzusehn, daß man sich über Christof lustig machte.

Einige Tage später kam Frau Stevens bei Tisch darauf zu reden, daß sie bei Christof Klavierunterricht nehmen solle. Grazia wurde so verstört, daß sie den Löffel in den Suppenteller zurückfallen ließ und sich sowie ihre Cousine bespritzte. Colette meinte, sie brauche wohl zunächst Unterricht im guten Betragen bei Tisch. Frau Stevens fügte hinzu, in diesem Fall werde man sich nicht gerade an Christof wenden müssen. Grazia war glücklich, weil man sie gleichzeitig mit Christof schalt.

Christof begann seine Stunden. Sie war ganz steif und starr, ihre Arme schienen an den Körper festgeklebt, sie konnte sich nicht rühren; und wenn Christof seine Hand auf ihr Händchen legte, um die Haltung ihrer Finger zu verbessern und sie auf den Tasten zurecht zu breiten, meinte sie ohnmächtig zu werden. Sie zitterte davor, in seiner Gegenwart schlecht zu spielen; aber sie mochte bis zum Krankwerden üben, und bis ihre Cousine vor Ungeduld aufschrie,   war Christof da, so spielte sie immer schlecht; der Atem ging ihr aus, ihre Finger waren steif wie Holz oder weich wie Watte. Sie stockte bei jeder Note und betonte widersinnig; Christof schalt sie und ging ärgerlich fort: dann hätte sie sterben mögen.

Er schenkte ihr keinerlei Beachtung; denn nur Colette beschäftigte ihn. Grazia beneidete ihre Cousine um ihre Vertrautheit mit Christof; aber obgleich sie darunter litt, freute sich ihr gutes kleines Herz, für Colette wie für Christof; sie fand Colette sich selbst so überlegen, daß es ihr natürlich vorkam, wenn diese alle Ehren einheimste.   Erst als sie zwischen ihrer Cousine und Christof wählen mußte, fühlte sie ihr Herz gegen jene Partei nehmen. Mit weiblichem Ahnungsvermögen erkannte sie sehr wohl, daß Christof unter den Koketterien Colettes litt, wie darunter, daß Lévy-Coeur ihr beharrlich den Hof machen durfte. Lévy-Coeur mochte sie rein instinktiv nicht leiden, und er war ihr zuwider von dem Augenblick an, als sie merkte, daß Christof ihn nicht ausstehen konnte. Sie begriff nicht, wie es Colette Spaß machen konnte, ihn Christof als Nebenbuhler gegenüberzustellen. Sie begann insgeheim, streng über sie zu urteilen; sie kam hinter manche ihrer kleinen Lügen, und unvermittelt änderte sie das Benehmen ihr gegenüber. Colette merkte es, ohne die Ursache zu ahnen. Sie tat, als hielte sie es für Kleine-Mädchen-Launen. Sicher aber war, daß sie ihre Macht über Grazia verloren hatte: eine unbedeutende Tatsache zeigte es ihr. Eines Abends, als sie beide im Garten spazieren gingen, wollte Colette mit koketter Zärtlichkeit Grazia unter ihrem Mantel gegen einen beginnenden kleinen Platzregen schützen. Grazia aber, für die es wenige Wochen zuvor ein unaussprechliches Glück bedeutet hätte, sich an der Brust ihrer lieben Cousine zu bergen, wich kalt zur Seite und hielt sich schweigend einige Schritte entfernt. Und als Colette sagte, daß sie ein Musikstück, das Grazia spielte, häßlich fände, hinderte das Grazia nicht, es zu spielen und zu lieben.

Sie achtete nur noch auf Christof. Mit zärtlichem Ahnungsvermögen durchschaute sie, woran er litt, ohne daß er es aussprach. Allerdings übertrieb sie bei sich in ihrem besorgten und kindlichen Aufmerken das Ganze sehr. Sie glaubte, Christof liebe Colette, während er für sie doch nur eine anspruchsvolle Freundschaft hegte. Sie dachte, er sei unglücklich und war um seinetwillen gleichfalls unglücklich. Die arme Kleine wurde für ihr Mitgefühl nicht sehr belohnt: sie mußte es entgelten, wenn Colette Christof außer sich gebracht hatte. Seine schlechte Laune ließ er an seiner kleinen Schülerin aus, indem er ungeduldig die Fehler in ihrem Spiel tadelte. Eines Morgens, als Colette ihn noch mehr als gewöhnlich aufgeregt hatte, setzte er sich mit solchem Ungestüm ans Klavier, daß Grazia ihr weniges Können vollends verlor: sie patschte drauf los. Voller Zorn warf er ihr die falschen Noten vor; nun aber ging alles drunter und drüber. Er wurde wütend, schüttelte ihre Hände und schrie, daß sie niemals etwas Ordentliches zustande bringen werde; sie möge sich mit Kochen, mit Nähen, mit allem, was sie wolle, abgeben, aber um Himmels willen nicht Musik machen! Es lohne sich nicht der Mühe, andere Leute mit ihren falschen Noten zu martern. Darauf ließ er sie mitten in der Stunde sitzen und ging wütend davon. Und die arme Grazia weinte heiße Tränen, weniger über den Kummer, den ihr solche demütigenden Worte bereiteten, als aus Kummer darüber, daß sie, trotz ihres Wunsches, Christof keine Freude machen konnte und sogar die Pein dessen, den sie liebte, durch ihre Dummheit noch vergrößerte.

Weit mehr noch litt sie, als Christof aufhörte, die Stevens zu besuchen. Am liebsten wäre sie heimgekehrt. Dieses bis in seine Träume gesunde Kind, dessen innerste Seele sich eine ländlich stille Heiterkeit bewahrt hatte, fühlte sich in der Stadt, mitten unter den neurasthenischen und geschäftigen Pariserinnen nicht wohl. Sie hatte schließlich die Menschen ihrer Umgebung ziemlich richtig beurteilen gelernt, wagte sie auch nicht, dem Ausdruck zu geben. Aus Güte, aus Bescheidenheit, aus Mangel an Selbstvertrauen war sie schüchtern und schwach wie ihr Vater. Sie ließ sich von ihrer selbstherrlichen Tante und von ihrer ans Tyrannisieren gewöhnten Cousine beherrschen. Ihrem alten Papa, dem sie regelmäßig lange zärtliche Briefe schickte, wagte sie nicht zu schreiben:

»Bitte, nimm mich zurück.«

Und der alte Papa wagte nicht, sie trotz seines Wunsches zurückzuholen, denn Frau Stevens hatte auf seine schüchternen Andeutungen geantwortet, Grazia sei gut aufgehoben, wo sie sei, ja weit besser, als wenn sie mit ihm zusammenlebe, und ihre Erziehung erfordere es, daß sie bleibe.

Aber es kam ein Augenblick, wo die Verbannung für die kleine Seele des Südens allzu schmerzvoll wurde und wo sie dem Lichte wieder zufliegen mußte.

Das war nach Christofs Konzert. Sie war mit den Stevens hingegangen, und es war furchtbar für sie, dieses garstige Schauspiel einer Menge, der es Spaß machte, einen Künstler zu beschimpfen ... Einen Künstler? Den, der in Grazias Augen das Bild der Kunst selber war, die Verkörperung alles Göttlichen im Leben. Sie hätte weinen und davonlaufen mögen. Und sie mußte bis zuletzt den Lärm mit anhören. Das Pfeifen und Zischen und später bei ihrer Tante die unfreundlichen Bemerkungen, das reizende Lachen Colettes, die mit Lucien Lévy-Coeur mitleidige Reden tauschte. Sie flüchtete sich in ihr Zimmer, in ihr Bett und schluchzte bis in die Nacht hinein. Sie sprach zu Christof, tröstete ihn, sie hätte ihr Leben für ihn hergeben wollen, sie war verzweifelt, nichts, garnichts tun zu können, um ihn glücklich zu machen. Von nun an wurde es ihr unmöglich, in Paris zu bleiben. Sie flehte ihren Vater an, sie zurückkommen zu lassen. Sie schrieb:

»Ich kann hier nicht mehr leben, ich kann nicht mehr, ich sterbe, wenn Du mich länger hier läßt.«

Ihr Vater kam sofort; und so peinlich es ihnen beiden war, der schrecklichen Frau Trotz zu bieten, sie fanden in einer verzweifelten Willensaufbietung doch die Kraft dazu.

Grazia kehrte in den großen verschlafenen Park zurück. Beglückt fand sie die teure Natur und die Geschöpfe, die sie lieb hatte, wieder. Ihr schmerzbewegtes Herz, das nun mit jedem Tage froher wurde, hatte etwas von der Schwermut des Nordens aufgenommen und bewahrte es einige Zeit, bis die Sonne den Nebelschleier nach und nach zerstreute. Manches Mal dachte sie an den unglücklichen Christof. Wenn sie im Grase lag und den vertrauten Fröschen und Zikaden lauschte oder am Klavier saß, mit dem sie sich öfter als früher unterhielt, träumte sie von dem Freund, den sie sich erwählt hatte. Ganz leise plauderte sie stundenlang mit ihm, und es wäre ihr nicht unmöglich erschienen, daß er eines Tages die Tür öffnen und hereinkommen könnte. Sie schrieb ihm, und nach langem Zögern sandte sie ihm einen nicht unterzeichneten Brief, den sie eines Morgens heimlich, mit klopfendem Herzen in den Kasten des drei Kilometer entfernten Dorfes, an der andern Seite der großen bestellten Felder warf,   einen guten, rührenden Brief, der ihm sagte, daß er nicht allein sei, daß er den Mut nicht verlieren dürfe, daß man seiner gedenke, daß man ihn liebe, daß man zu Gott für ihn bete,   einen armen Brief, der sich unterwegs töricht verirrte und den er niemals empfing.

Dann rannen die einförmigen und heiteren Tage im Leben der fernen Freundin weiter. Und der italienische Friede, der Genius der Ruhe, des stillen Glückes, der stummen Beschaulichkeit kehrten in das reine, stille Herz zurück, auf dessen Grunde, gleich einer kleinen reglosen Flamme, das Andenken Christofs weiterbrannte.

 

Christof indes wußte nichts von der kindlichen Zuneigung, die von fern über ihm wachte und die später in seinem Leben so viel Raum einnehmen sollte. Und ebenso ahnte er nicht, daß demselben Konzert, in dem man ihn beschimpft hatte, der beiwohnte, der sein Freund werden sollte, sein lieber Gefährte, der Seite an Seite und Hand in Hand mit ihm wandern sollte.

Er war allein, er glaubte sich allein. Übrigens war er dadurch in keiner Weise niedergedrückt. Er empfand deswegen nicht mehr die bittere Traurigkeit, die ihn einst in Deutschland bedrängt hatte. Er war stärker, reifer: er wußte, daß es so sein müsse. Seine Illusionen über Paris waren geschwunden, die Menschen waren überall die gleichen. Man mußte sehen, sich damit abzufinden und durfte sich nicht auf einen kindlichen Kampf gegen die Welt versteifen; es galt zu sein was man war, voller Ruhe. Wie Beethoven sagte: »Wenn wir an das Leben die Kräfte unseres Lebens verausgaben, was bleibt uns da noch für das Edelste, für das Beste?« Kraftvoll war er sich seiner Natur und seiner Rasse bewußt worden, die er einst so hart beurteilt hatte. Je mehr ihn die Pariser Atmosphäre bedrückte, um so mehr fühlte er das Bedürfnis, sich zu seinem Vaterland zu flüchten, zu den Dichtern und Musikern, in denen das Beste der Heimat sich verdichtet hatte. Sobald er ihre Werke öffnete, wurde sein Zimmer vom Rauschen des besonnten Rheins erfüllt und von dem warmen Lächeln der alten zurückgelassenen Freunde.

 

Wie undankbar war er gegen sie gewesen! Wie hatte er nur früher den Schatz ihrer treuherzigen Güte verkennen können? Voller Scham dachte er an all die Übertreibungen und Ungerechtigkeiten, die er, als er noch in Deutschland war, über sie geäußert hatte. Damals sah er nur ihre Fehler, ihr feierliches und linkisches Wesen, ihren tränenvollen Idealismus, ihre kleinen Gedankenlügen, ihre kleinen Feigheiten. Ach! wie wenig bedeutete das gegenüber ihren großen Tugenden! Wie hatte er nur so grausam gegen Schwächen sein können, die sie ihm in diesem Augenblick fast noch rührender machten: denn sie wurden dadurch menschlicher! Infolge der Reaktion wurde er jetzt am meisten von denen angezogen, gegen die er am ungerechtesten gewesen war. Was hatte er nicht alles gegen Schubert und gegen Bach gesagt! Und wie fühlte er sich ihnen jetzt so nahe! Jetzt, da er fern den Seinen, in der Verbannung war, neigten sich diese großen Seelen, deren Lächerlichkeiten er ungeduldig hervorgezerrt hatte, ihm zu und sagten zu ihm mit gütigem Lächeln: »Bruder, wir sind da. Mut! Auch wir haben ein Übermaß von Elend gehabt ... bah! man wird doch damit fertig ...«

Er hörte den Ozean der Seele Johann Sebastian Bachs tosen: die Stürme, die wehenden Winde; sah die fliehenden Lebenswolken,   die Völker, trunken von Freude, von Schmerz, von Wut, und den sanftmütigen Christus, den Friedensfürsten über ihnen schweben,   die von Wächterrufen erweckten Städte, die sich mit Freudengeschrei dem himmlischen Bräutigam entgegendrängen, während seine Schritte die Welt erschüttern ... Welch wunderbare Schatzkammer an Gedanken, Leidenschaften, musikalischen Formen, heldenhaftem Leben, Gesichten eines Shakespeare, Prophezeiungen eines Savonarola, Pastoralen, epischen, apokalyptischen Visionen. Und alles das eingeschlossen in dem engen Körper des kleinen thüringischen Kantors mit dem Doppelkinn, mit den kleinen glänzenden Augen unter faltigen Lidern und hochgezogenen Brauen ... Er sah ihn so gut vor sich: schwermütig, offenherzig, ein wenig lächerlich, das Hirn mit Allegorien und Symbolen der Gotik und des Rokoko vollgestopft, hitzig, starrköpfig, heiter, voller Lebensleidenschaft und Todessehnsucht ... Er sah ihn in seiner Schule: genialer Pedant, inmitten seiner schmutzigen, rohen, bettelhaften, räudigen Schüler mit den kreischenden Stimmen, dieser Nichtsnutze, mit denen er sich herumzankte, sich manchmal wie ein Packträger herumschlug und von denen ihn einer einmal prügelte ... Er sah ihn in seiner Familie, inmitten seiner einundzwanzig Kinder, von denen dreizehn vor ihm starben und eines idiotisch war; die andern als gute Musiker spielten vor ihm kleine Konzerte ... Krankheiten, Begräbnisse, heftige Auseinandersetzungen, Geldverlegenheiten, sein verkanntes Genie. Doch über allem seine Musik, sein Glaube, für ihn Befreiung und Licht, geahnte, vorgefühlte, gewollte, erfaßte Seligkeit,   Gott, der Atem Gottes, der seine Gebeine verbrannte, sein Haar sträubte, aus seinem Munde blitzte ... o Kraft, Kraft, glückseliger Donner von Kraft! ...

Christof trank diese Kraft in langen Zügen in sich hinein. Er fühlte das Wohltätige dieser musikalischen Gewalt, die deutsche Seelen durchströmt. Was tat es, daß sie manchmal mittelmäßig oder selbst plump war? Das Wesentliche: sie war da, sie strömte breit und voll. In Frankreich war die Musik Tropfen für Tropfen durch Pasteursche Filter in sorgfältig verschlossene Flaschen gefüllt. Und diese faden Wassertrinker spielten die von den Strömen deutscher Musik Angeekelten. Sie klaubten die Fehler der deutschen Genies heraus.

»Arme Kerlchen,« dachte Christof, ohne sich zu entsinnen, daß er selbst einst fast ebenso lächerlich gewesen war,   »sie finden Fehler in Wagner und Beethoven! Sie möchten Genies ohne Fehl und Tadel! Als ob sich der Sturmwind darum kümmerte, ob sein Atem die schöne Ordnung der Dinge zerstört! ...«

Seiner Kraft froh lief er in Paris umher. War er unverstanden,   nun, um so besser! Desto freier würde er sein. Um, wie es die Aufgabe des Genies ist, eine Welt zu schaffen, die in allen ihren Teilen sich nach inneren Gesetzen organisch aufbaut, muß man ganz und gar in ihr leben. Ein Künstler ist niemals zu einsam. Gefährlich nur ist es, wenn er seine Gedankenwelt in einem entstellenden oder verkleinernden Spiegel sieht. Andern darf man nichts von dem sagen, was man vorhat, bevor es getan ist: sonst findet man den Mut nicht mehr, es zu Ende zu führen; denn es wäre der eigene Gedanke nicht mehr, den man in sich sähe, sondern der erbärmliche Gedanke der andern.

Jetzt, da ihn nichts mehr in seinen Träumen störte, sprudelten sie gleich Quellen aus allen Winkeln seiner Seele und zwischen allen Steinen seines Weges hervor. Er lebte in einem visionären Zustande. Alles, was er sah und hörte, beschwor Geschöpfe in ihm herauf und Dinge, anders als das, was er sah und hörte. Er brauchte sich nur vom Leben treiben lassen, um überall, rings um sich her das Leben seiner Helden wiederzufinden. Die Eindrücke suchten ihn von selber auf. Die Augen der Vorübergehenden, der Ton einer vom Wind herangetragenen Stimme, das Licht auf einer Rasenfläche, die singenden Vögel in den Bäumen des Luxembourg, eine ferne klingende Klosterglocke, der blasse Himmel, das kleine Himmelsstückchen, das er von der Tiefe seines Zimmers aus sah, die Geräusche und Nüancen der verschiedenen Tagesstunden,   er nahm sie nicht in sich wahr, sondern in den Wesen, die er träumte.   Christof war glücklich.

Indessen war seine Lage schwieriger als je. Die wenigen Klavierstunden, seine einzige Hilfsquelle, hatte er verloren. Man war im September, die Pariser Gesellschaft war abwesend; und es war nicht leicht, neue Schüler zu finden. Der einzige, den er hatte, war ein intelligenter, etwas verdrehter Ingenieur, der sich mit vierzig Jahren in den Kopf gesetzt hatte, ein großer Geiger zu werden. Christof spielte zwar Geige nicht hervorragend, aber er verstand sich immerhin besser darauf als sein Schüler; und einige Zeit lang gab er ihm drei Stunden wöchentlich, zu zwei Franken die Stunde. Aber nach anderthalb Monaten wurde der Ingenieur der Sache überdrüssig und entdeckte plötzlich als seine Hauptbegabung die Malerei. Am Tage, als er Christof von dieser Entdeckung Mitteilung machte, lachte dieser sehr; doch als er ausgelacht hatte, überschlug er seine Finanzen und stellte fest, daß er gerade noch die zwölf Franken, die sein Schüler ihm eben für seine letzten Stunden bezahlt hatte, in der Tasche trug. Das regte ihn nicht weiter auf, er sagte sich nur, daß er sich entschieden auf die Suche nach anderen Unterhaltsmitteln machen müsse: es hieß also, von neuem bei Verlegern herumlaufen. Das war nicht eben vergnüglich ... Bah! ... Es war überflüssig, sich deswegen im voraus zu quälen. Heute war so schönes Wetter. Und er ging nach Meudon.

Er hatte einen wahren Heißhunger nach Bewegung. Der Marsch ließ ganze Saaten von Musik in ihm aufkeimen. Wie eine Honigwabe war er davon erfüllt; und er lachte dem goldenen Gesumm seiner Bienen zu. Meistens war es sehr wechselvolle Musik: sich aufbäumende, immer wiederkehrende, halluzinierende Musik ... Versucht doch Rhythmen zu schaffen, wenn ihr in eurem Zimmer eingesperrt seid! Da werden dann so feine gequälte Harmonien zusammengebraut wie von diesen Parisern.

Als er vom Wandern müde war, streckte er sich im Walde aus. Die Bäume waren halb entblättert, der Himmel grünlich blau. Christof versank in eine Träumerei, die bald die Färbung des sanften Lichtes annahm, das durch Oktoberwolken sinkt. Sein Blut pochte. Er hörte die drängenden Fluten seiner Gedanken vorbeirauschen. Von allen Seiten des Horizontes kamen sie heran: junge und alte Welten, die miteinander kämpften, Teilchen vergangener Seelen, alte Gäste, Schmarotzer, die in ihm lebten, gleich dem Volk einer Stadt. Das alte Wort Gottfrieds vor Melchiors Grab kam ihm wieder in den Sinn: er war ein lebendes Grab, voll von sich regenden Toten,   voll seines ganzen unbekannten Geschlechtes. Er lauschte jener Schar von Lebenden, es machte ihm Freude, die Orgel dieses vielhundertjährigen Waldes brausen zu lassen, der gleich dem Walde Dantes von Ungeheuern erfüllt war. Jetzt fürchtete er sie nicht mehr, wie in seiner ersten Jugend. Denn der Meister war jetzt da: sein Wille. Er empfand helle Freude daran, die Peitsche knallen zu lassen, damit die Tiere aufheulten und er besser den Reichtum seiner inneren Menagerie fühle. Er war nicht einsam. Es bestand keine Gefahr, daß er jemals einsam wäre. Er ganz allein war ein ganzes Heer, Jahrhunderte von frohen und gesunden Kraffts. Dem feindlichen Paris, einem Volk gegenüber, stand ein ganzes Volk: der Kampf war gleich.

 

Er hatte das bescheidene,   allzu teure   Zimmer, das er bewohnte, verlassen, um im Stadtviertel von Montrouge eine Mansarde zu beziehen, die, mangels sonstiger Vorzüge, sehr luftig war. Es herrschte ständig Zugluft drin. Aber er mußte atmen können. Von seinem Fenster hatte er eine weite Aussicht über die Schornsteine von Paris und auf Montmartre im Hintergrund. Der Umzug hatte nicht lange gedauert: ein Handwagen, den Christof selber zog, hatte genügt. Von seiner ganzen Einrichtung war außer seinem alten Koffer der ihm wertvollste Gegenstand einer jener Gipsabgüsse nach Beethovens Totenmaske, die in letzter Zeit so verbreitet worden sind. Er hatte sie mit einer Sorgfalt eingepackt, als handle es sich um das kostbarste Kunstwerk. Er trennte sich nicht davon. Inmitten von Paris war sie seine Insel. Und auch sein moralisches Barometer war sie. Klarer als sein eigenes Gewissen zeigte ihm die Maske die Temperatur seiner Seele, seine geheimsten Gedanken: bald den wolkenbeladenen Himmel, bald den Windstoß der Leidenschaften, bald die machtvolle Ruhe.

Mit dem Essen hatte er sich sehr einschränken müssen. Er aß täglich einmal um ein Uhr mittags. Er hatte sich eine dicke Wurst gekauft und sie an seinem Fenster aufgehängt; mit einer ordentlichen Scheibe, einem tüchtigen Stück Brot und einer Tasse Kaffee, die er sich selbst braute, bereitete er sich ein Göttermahl. Aber er hätte deren wohl zwei vertragen können. Ganz ärgerlich war er über seinen guten Appetit. Er fuhr sich hart an und schalt sich einen Vielfraß, der nur an seinen Bauch denke. Von Bauch freilich hatte er kaum eine Spur; er war ausgemergelter als ein magerer Hund. Im übrigen zäh, mit einer eisernen Konstitution und immer freiem Kopf. Um den nächsten Tag kümmerte er sich nicht allzu sehr, obgleich er gute Gründe dazu gehabt hätte. Solange das Geld für den Tag genügte, machte er sich keine Sorgen. Endlich, als er nichts mehr hatte, entschloß er sich, seinen Rundgang bei den Verlegern wieder anzutreten. Nirgends fand er Arbeit. Unverrichteter Sache kehrte er heim, als er bei dem Musikladen vorbeikam, wo er früher einmal durch Sylvain Kohn Daniel Hecht vorgestellt worden war; er ging hinein, ohne sich daran zu erinnern, daß er schon einmal unter wenig angenehmen Umständen dort gewesen war. Die erste Person, die er sah, war Hecht. Er wollte sofort kehrt machen; aber es war zu spät: Hecht hatte ihn gesehen. Christof wollte sich nicht den Anschein geben, als wiche er zurück; er ging auf Hecht zu, wußte nicht recht, was er sagen sollte und machte sich bereit, ihm mit soviel Selbstbewußtsein Trotz zu bieten, als nötig sei: denn er war überzeugt, Hecht werde nicht mit Unverschämtheiten ihm gegenüber sparen. Nichts dergleichen geschah. Hecht reichte ihm kühl die Hand: nach einer banalen Höflichkeitsformel erkundigte er sich nach seiner Gesundheit und wies ihm, ohne auch nur darauf zu warten, daß Christof eine Bitte an ihn richte, die Tür zu seinem Arbeitszimmer, indem er, ihn durchlassend, beiseite trat. Insgeheim war er glücklich über diesen Besuch, den sein Hochmut zwar vorausgesehen hatte, den er aber nicht mehr erwartete. Ohne es sich merken zu lassen, hatte er Christof sehr aufmerksam verfolgt und sich keine Gelegenheit entgehen lassen, seine Musik kennen zu lernen; er hatte dem berühmten Konzert des »David« beigewohnt; und die feindselige Haltung des Publikums hatte ihn bei seiner Verachtung für dieses um so weniger in Erstaunen gesetzt, als er die ganze Schönheit des Werkes durchaus empfand. Es waren in Paris vielleicht nicht zwei Personen fähiger als Hecht, die künstlerische Eigenart Christofs zu würdigen. Aber er hätte sich wohl gehütet, ihm etwas davon zu sagen, nicht nur weil er von Christofs Haltung ihm gegenüber verletzt war, sondern weil es ihm überhaupt nicht glückte, liebenswürdig zu sein: das war eine besondere Unbeholfenheit seiner Natur. Er war aufrichtig geneigt, Christof zu helfen; aber er hätte keinen Schritt dazu getan: er wartete, daß Christof ihn darum bitte. Und jetzt war Christof gekommen. Doch anstatt großmütig die Gelegenheit zu ergreifen, die Erinnerung an ihre Mißverständnisse auszulöschen, indem er seinem Besucher jede Demütigung ersparte, verschaffte er sich die Genugtuung, ihn die Absicht seines Besuchs lang und breit auseinander setzen zu lassen, und er bestand darauf, ihm wenigstens für das eine Mal die Arbeiten aufzuzwingen, die Christof früher zurückgewiesen hatte. Er gab ihm auf, für den nächsten Morgen fünfzig Musikseiten für Mandoline und Guitarre umzuarbeiten.

Durch Christofs Unterwerfung befriedigt, fand er für ihn dann weniger unangenehme Beschäftigung, stets aber so ohne alle Freundlichkeit, daß es unmöglich war, ihm Dank zu wissen; Christof mußte schon sehr in Not sein, wenn er sich von neuem an ihn wandte. Jedenfalls mochte er sein Geld noch lieber durch diese Arbeiten verdienen, so ärgerlich sie auch waren, als ein Geschenk von Hecht annehmen, wie Hecht es ihm einmal anbot   sicher mit aufrichtigem Herzen. Christof aber hatte Hechts Absicht gefühlt, ihn zuerst zu demütigen; war er gezwungen, seine Bedingungen anzunehmen, so weigerte er sich wenigstens, seine Wohltaten zu empfangen; für ihn arbeiten wollte er gern:   gebend und immer wieder gebend war er mit Hecht quitt; schulden aber wollte er ihm nichts. Er war nicht wie Wagner, der um seiner Kunst willen zum schamlosen Bettler wurde; er stellte seine Kunst nicht über sich selbst; das Brot, das er sich nicht verdient hätte, würde ihn erstickt haben.   Eines Tages, als er die Arbeit zurücktrug, bei der er die Nacht verbracht hatte, fand er Hecht bei Tisch. Hecht merkte seine Blässe und die Blicke, die er unwillkürlich auf die Gerichte warf, und kam zur Gewißheit, daß er den Tag über noch nichts gegessen habe. Er lud ihn zum Frühstück ein. Die Absicht war gut; aber Hecht ließ so plump fühlen, daß er Christofs Bedrängnis gemerkt habe, daß seine Einladung einem Almosen glich. Christof wäre eher Hungers gestorben, als etwas anzunehmen. Er konnte es nicht ablehnen, sich an den Tisch zu setzen (Hecht sagte, er habe mit ihm zu sprechen), aber er rührte nichts an. Er behauptete, er käme eben vom Frühstück. Sein Magen indes krampfte sich vor Hunger zusammen. Christof wäre gern von Hecht losgekommen; aber die andern Verleger waren noch schlimmer.  

Es gab auch reiche Dilettanten, die einen musikalischen Gedankenfetzen zu Tage förderten, doch nicht einmal fähig waren ihn niederzuschreiben. Sie ließen Christof kommen, sangen ihm das Ergebnis ihrer mühsamen Arbeit vor und fragten: »He! Ist das nicht schön?«

Sie gaben es ihm zu entwickeln (ganz und gar zu schreiben), und es erschien unter ihrem Namen bei einem großen Verleger. Danach waren sie überzeugt, daß das Stück von ihnen sei. Christof kannte einen darunter   einen Edelmann von gutem Namen  , einen langen beweglichen Herrn, der ihn sofort »lieber Freund« nannte, ihn unter den Arm faßte, ihm stürmische Begeisterung bezeigte, ihm Witze ins Ohr sagte, Unsinn und Ungehörigkeiten zusammenfaselte, die er mit verzückten Ausrufen untermischte: Beethoven, Verlaine, Fauré, Yvette Guilbert ... Der ließ ihn arbeiten und versäumte dann, ihn zu bezahlen. Mit Frühstückseinladungen und Händedrücken machte er sich's billig. Zu guterletzt sandte er Christof zwanzig Franken. Christof erlaubte sich den dummen Luxus, sie ihm zurückzuschicken. An jenem Tag hatte er keine zwanzig Sous; und er mußte eine 25 Centimes-Marke kaufen, um an seine Mutter zu schreiben. Es war der Geburtstag der alten Luise, und um nichts in der Welt hätte Christof ihn versäumen mögen: die gute Frau zählte allzu sehr auf den Brief ihres Jungen, sie hätte ihn nicht entbehren können. Seit einigen Wochen schrieb sie ihm, trotz der Mühe, die es ihr kostete, etwas häufiger. Sie litt unter ihrer Einsamkeit. Aber sie hätte sich nicht dazu entschließen können, Christof nach Paris zu folgen: sie war zu ängstlich, hing zu sehr an ihrer kleinen Stadt, an ihrer Kirche, ihrem Haus, und sie hatte Furcht vor dem Reisen. Wenn sie übrigens auch hätte kommen wollen, so würde Christof kein Geld für sie gehabt haben; er hatte für sich selber nicht an allen Tagen genug.

Einmal hatte ihm eine Sendung große Freude gemacht, die von Lore, der jungen Bäuerin, kam, um deretwillen er mit preußischen Soldaten in Händel geraten war: sie hatte ihm geschrieben, daß sie sich verheirate; außerdem gab sie ihm Nachricht über die Mutter und sandte ihm einen Korb Äpfel und eine Portion Brotkuchen, den er ihr zu Ehren essen sollte. Das kam hübsch zur rechten Zeit. An jenem Abend war bei Christof Fasten, Quatember und Aschermittwoch: von der am Fenster aufgehängten Wurst war nur noch die Schnur übrig. Christof verglich sich den heiligen Anachoreten, denen ein Rabe auf ihrem Felsen Nahrung bringt. Aber der Rabe hatte wahrscheinlich viel zu tun, um alle Anachoreten zu nähren, denn er kam nicht wieder.

Trotz aller Kümmernisse bewahrte Christof seine Munterkeit. Aus seiner Waschschüssel machte er die Bütte für die große Wäsche, und wenn er seine Stiefel wichste, pfiff er wie eine Amsel. Er tröstete sich mit den Worten von Berlioz: »Erheben wir uns über die kleinen Ärgernisse des Lebens; singen wir mit leichter Stimme den heiteren wohlbekannten Refrain: Dies irae ...«   Er sang es manchmal, zur Empörung seiner Nachbarn, die besonders verdutzt waren, wenn sie hörten, wie er sich mitten darin mit hellem Gelächter unterbrach.

Er führte ein streng keusches Leben. »Die Liebhaber-Laufbahn ist eine Laufbahn von Müßiggängern und Reichen«. Christofs Elend, seine Jagd nach dem täglichen Brot, seine außergewöhnliche Mäßigkeit, und sein Schaffensfieber ließen ihm weder Zeit noch Lust, an sinnliche Freuden zu denken. Er war in dieser Hinsicht nicht allein gleichgültig; aus Widerspruch gegen Paris hatte er sich in eine Art sittlichen Asketentums gestürzt. Er empfand ein leidenschaftliches Bedürfnis nach Reinheit und einen Abscheu vor jeder Beschmutzung. Nicht etwa, daß er gegen Leidenschaften gefeit war. Zu andern Zeiten wäre er ihnen ausgeliefert gewesen. Aber diese Leidenschaften blieben keusch, selbst wenn er ihnen nachgab: denn er suchte nicht die Wollust, sondern vollständige Selbsthingabe und die Fülle des Seins in ihnen. Und wenn er sah, daß er sich getäuscht hatte, wies er sie voller Zorn von sich. Unzucht war für ihn nicht bloß eine Sünde, wie alle andern. Sie war wirklich die Todsünde, welche die Quellen des Lebens vergiftet. Das zu verstehen, fällt allen solchen nicht schwer, bei denen der alte christliche Untergrund nicht völlig unter fremden Anschwemmungen begraben ist, allen denen, die sich noch heute als Söhne kraftvoller Geschlechter fühlen, die dank ihrer heldenhaften Zucht die Kultur des Okzidents aufbauten. Christof verachtete die kosmopolitische Gesellschaft, deren einziges Ziel, deren Credo das Vergnügen war.   Gewiß ist es gut, das Glück zu suchen, es für die Menschen zu wollen und die durch zwanzig Jahrhunderte gotischen Christentums auf die Menschheit geladenen niederdrückend pessimistischen Glaubensüberzeugungen zu bekämpfen. Aber nur unter der Bedingung, daß es um einen großzügigen Glauben geschieht, der das Wohl der andern will. Um was handelt es sich statt dessen? Um den erbärmlichsten Egoismus. Eine Handvoll Genießer, die ihren Sinnen das Maximum von Lust bei einem Minimum von Gefahr zu verschaffen suchen und es sich gern gefallen lassen, daß die andern dafür büßen.   Ja, freilich, man kennt ihren Salon-Sozialismus! ... Aber wissen sie selber nicht sehr wohl, daß ihre Predigten der Wollust nur für ein Volk von Satten, für eine gemästete »Elite« wie die ihre taugen, und daß sie für die Armen Gift sind? ...

»Der Weg der Lust ist eine Laufbahn für Reiche.«

 

Christof war weder reich, noch dafür geschaffen es zu werden. Hatte er eben etwas Geld verdient, so gab er es schleunigst für Musik wieder aus; er entzog sich das Essen, um ins Konzert zu gehen. Er nahm die letzten Plätze, ganz oben im Theatre du Châtelet, und dann versank er in der Musik: das ersetzte ihm Abendessen und Geliebte. Er brachte einen solchen Glückshunger und soviel natürliche Genußfähigkeit mit, daß die Unvollkommenheiten des Orchesters ihn nicht zu stören vermochten; zwei oder drei Stunden blieb er in einem Zustand der Glückseligkeit erstarrt, ohne daß Geschmacksfehler und falsche Noten etwas anderes in ihm auslösten als ein nachsichtiges Lächeln: seine Kritik hatte er vor der Tür gelassen; er kam um zu lieben und nicht um zu urteilen. Rings um ihn gab sich das Publikum, reglos wie er, mit halb geschlossenen Augen der großen Sturmflut von Träumen hin. Christof hatte den Eindruck eines im Dunkeln zusammengekauerten Volkes, das gleich einer riesenhaften Katze sich in sich selbst vergrub und über Bildern von Wollust und Bluttaten brütete. Geheimnisvoll zeichneten sich aus dem dichten, übergoldeten Halbdunkel gewisse Gesichter ab, deren ungekannter Reiz, deren stumme Begeisterung Christofs Blicke und Herz anzogen; er schloß sich ihnen an; er hörte durch sie hindurch; er verschmolz schließlich Leib und Seele mit ihnen. Es geschah, daß eines von ihnen das gewahr wurde und daß sich von ihm zu Christof während der Dauer des Konzertes eine jener dunklen Zuneigungen webte, die bis zum innersten Wesensgrunde dringen, ohne daß irgend ein bestimmtes Wort unserem eignen Bewußtsein etwas davon verrät, und von denen auch nichts bleibt, wenn das Konzert einmal zu Ende und der Strom unterbrochen ist, der die Seelen einte. Das ist ein Zustand, der allen, die Musik lieben, wohl bekannt ist, vor allem, wenn sie jung sind und sich am meisten hingeben: das Wesen der Musik ist so sehr Liebe, daß man sie ganz nur genießt, wenn man sie in einem andern auskostet und daher im Konzert instinktiv nach Augen in der Menge sucht, nach einem Freund, mit dem man eine Freude teilen kann, die für den einzelnen allein zu groß ist.  

Unter diesen Freunden für eine Stunde, die sich Christof manchmal wählte, um die Wonne der Musik voller einzusaugen, zog ihn ein Gesicht an, das er bei jedem Konzert wiedersah. Es war eine kleine Grisette, die Musik über alles lieben mußte, ohne irgend etwas davon zu verstehen. Sie hatte ein animalisches kleines Profil, ein gerades Näschen, das kaum über die Linie des leicht vorgeschobenen Mundes und des zarten Kinns hervorragte, feine geschwungene Brauen, klare Augen: eines jener unbekümmerten Gesichtchen, unter deren Schleier man Frohsinn, Lachen ahnt, die von gleichmütigem Frieden umhüllt werden. Es sind die kleinen lasterhaften Mädchen, die bubenhaften Arbeiterinnen, die vielleicht noch am ehesten die verschwundene Heiterkeit antiker Statuen und Raffaelscher Gestalten wiederspiegeln. Ihr Leben besteht nur aus einem Augenblick, dem ersten Erwachen der Lust; sie welken rasch. Aber sie haben wenigstens eine holde Stunde gelebt. Christof genoß ihren Anblick: ein nettes Gesicht tat seinem Herzen wohl; er verstand es, sich daran zu freuen, ohne zu begehren; er schöpfte Freude, Kraft, Frieden, fast Tugend daraus. Sie   das versteht sich von selbst   hatte schnell gemerkt, daß er sie anschaute; und es hatte sich unversehens ein magnetischer Strom zwischen ihnen hergestellt. Da sie sich bei fast allen Konzerten auf ungefähr denselben Plätzen wiederfanden, hatte es nicht lange gedauert, bis sie gegenseitig ihren Geschmack kannten. Bei gewissen Stellen tauschten sie einen Blick des Einverständnisses; liebte sie etwas ganz besonders, dann streckte sie leicht die Zunge heraus, als wollte sie sich die Lippen lecken; oder sie schob, um anzudeuten, daß sie dies oder jenes nicht gut fände, ihr hübsches Mäulchen verächtlich vor. Bei ihren kleinen Mienen war auch ein wenig unschuldige Schauspielerei, wovon sich kaum jemand freimachen kann, wenn er sich beobachtet fühlt. Bei ernsten Stücken wollte sie sich manchmal einen bedeutenden Ausdruck geben; ihr Profil war ihm zugewandt, sie schien ganz Hingebung, aber ihre Wange lächelte und sie beobachtete von der Seite, ob er zu ihr hinsehe. Ohne jemals ein Wort miteinander geredet und ohne je versucht zu haben, einander am Ausgang zu begegnen (wenigstens Christof tat es nicht), waren sie sehr gute Freunde geworden.

Schließlich wollte es der Zufall, daß sie bei einem Abendkonzert ihre Plätze nebeneinander fanden. Nach einem Augenblick lächelnden Zögerns, begannen sie sich freundschaftlich miteinander zu unterhalten. Sie hatte eine reizende Stimme und sagte sehr viel Dummheiten über Musik; denn sie verstand nichts davon, wollte sich aber den Anschein geben, als verstände sie etwas; doch sie liebte sie leidenschaftlich. Sie liebte die schlechteste und die beste, Massenet und Wagner; nur die mittelmäßige langweilte sie. Musik war für sie Wollust; sie trank sie durch alle Poren ihres Körpers, wie Danae den Goldregen. Das Vorspiel zu Tristan machte sie halb ohnmächtig. Und in der Eroika genoß sie es, wie eine Beute in der Schlacht davongetragen zu werden. Sie belehrte Christof, daß Beethoven taubstumm gewesen sei und daß sie ihn trotzdem, hätte sie ihn gekannt, sehr geliebt haben würde, obgleich er arg häßlich gewesen sei.

Christof widersprach, Beethoven sei nicht so häßlich gewesen; darauf stritten sie über Schönheit und Häßlichkeit; und sie gab zu, daß alles vom Geschmack abhänge; was für den einen schön wäre, sei es für den andern nicht: man sei eben nicht der Louisd'or, man könne nicht jedermann gefallen.   Es war ihm lieber, wenn sie nicht sprach: dann verstand er sie weit besser. Während Isoldes Liebestod streckte sie ihm die Hand hin; sie war ganz feucht; er behielt sie bis zum Ende des Stückes in der seinen; durch ihre verschlungenen Finger fühlten sie denselben Lebensstrom fließen.

Zusammen verließen sie das Konzert; es war beinahe Mitternacht. Plaudernd stiegen sie ins Quartier Latin hinauf; sie hatte seinen Arm genommen und er begleitete sie beinah bis in ihre Wohnung; aber als sie an der Tür angekommen waren und sie sich anschickte, ihm den Weg zu zeigen, verließ er sie, ohne auf ihr entgegenkommendes Lächeln und ihre auffordernden Blicke zu achten. Im ersten Augenblick war sie verblüfft, dann wütend; dann bog sie sich vor Lachen über seine Dummheit; und dann, als sie in ihrem Zimmer war und sich auszog, wurde sie mitten in ihrer Toilette von neuem böse und schließlich weinte sie still. Als sie ihn im Konzert wiedersah, wollte sie verletzt, gleichgültig, ein wenig spröde tun. Aber er war so jungenhaft gut, daß ihr Entschluß nicht standhielt. Sie begannen wieder miteinander zu plaudern; nur bewahrte sie ihm gegenüber jetzt eine gewisse Zurückhaltung. Er redete vertraut, aber mit großer Höflichkeit zu ihr von Ernstem, Schönem, von der Musik, die sie hörten und was sie ihm bedeute. Sie hörte ihm aufmerksam zu und versuchte, wie er zu denken. Der Sinn seiner Worte entging ihr manchmal; aber sie glaubte ihnen trotzdem. Sie empfand für Christof eine dankbare Hochachtung, die sie ihm jedoch kaum zeigte. In schweigender Übereinstimmung trafen sie sich nur im Konzert. Einmal begegnete er ihr mitten unter Studenten. Sie grüßten sich ernsthaft. Zu niemandem sprach sie von ihm. Im Grunde ihrer Seele besaß sie einen kleinen geheiligten Bezirk, etwas Schönes, Reines, Trostreiches. So begann Christof einzig durch seine Gegenwart, nur durch die Tatsache seines Daseins einen beruhigenden, stärkenden Einfluß auszuüben; überall, wo er vorüberging, hinterließ er unbewußt eine Spur seines innern Lichtes. Er selber ahnte es am wenigsten. In seiner Nähe, in seinem Hause lebten Leute, die er niemals gesehen hatte, die, ohne es selber zu ahnen, nach und nach seine wohltuende Ausstrahlung verspürten.

 

Seit einigen Wochen hatte Christof kein Geld mehr, um ins Konzert zu gehen, selbst wenn er fastete; und in seinem Dachzimmer fühlte er sich, jetzt wo der Winter kam, ganz erstarrt; er konnte nicht bewegungslos an seinem Tisch sitzen bleiben. Also ging er hinunter und wanderte, um zu erwarmen, in Paris umher. Er besaß die Gabe, für Augenblicke die wimmelnde Stadt, die ihn umgab, zu vergessen und sich in die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu flüchten. Es genügte, daß er über der lärmenden Straße den toten eisigen Mond erblickte, der im Schlund des Himmels hing, oder die Sonnenscheibe, die durch den weißen Nebel rollte, und der Straßenlärm verlöschte, Paris sank in grenzenlose Leere, dies ganze Leben erschien ihm nur wie das Gespenst eines Lebens, das vor langer, langer Zeit einmal gewesen war,   vor vielen Jahrhunderten ... Das kleinste, den gewöhnlichen Menschen unbemerkbare Zeichen des großartig wilden Lebens der Natur, das von der Livree der Zivilisation, so gut es eben gehen will, verdeckt wird, genügte, um dieses Leben vor seinen Augen wieder ganz und gar auferstehen zu lassen. Das Gras, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, der Sprößling eines in seinem gußeisernen Kranze erstickten Baumes, der ohne Licht und Erde auf einem dürren Boulevard stand, ein Hund, ein Vogel, der vorbeistrich, diese letzten Spuren einer Fauna, die einst das Urweltall erfüllte und die der Mensch zerstört hat, ein Schwarm Mücken, die unsichtbare Epidemie, die ein Stadtviertel auszehrte:   es genügte, daß Christof mitten in der Stickluft dieses menschlichen Treibhauses den Atem des Erdgeists an sein Gesicht schlagen und seine Kraft aufpeitschen fühlte.

Während seiner langen Spaziergänge, die er oft noch nüchtern machte, und nachdem er tagelang mit niemandem geredet hatte, träumte er unaufhörlich. Die Entbehrungen und das Schweigen steigerten diese krankhafte Anlage noch. Nachts schlief er unruhig, hatte ermattende Träume: andauernd sah er das alte Haus und das Zimmer wieder, in dem er als Kind gelebt hatte; er wurde von musikalischen Einfällen verfolgt. Tagsüber unterhielt er sich unaufhörlich mit den Geschöpfen seines Innern und denen, die er liebte, den Abwesenden und den Toten.

An einem feuchten Dezembernachmittag, als der Reif die erstarrten Rasenflächen bedeckte, als die Dächer der Häuser und der grauen Kirchen sich in Nebel lösten, die schmächtigen und verkrümmten Bäume mit ihren nackten Zweigen im Dunste verschwammen und Meerespflanzen auf dem Grund des Ozeans glichen,   ging Christof, der seit dem vorhergehenden Abend fröstelte und gar nicht warm werden konnte, in den Louvre, den er nur wenig kannte.

Die Malerei hatte ihn bisher wenig angesprochen. Er war zu sehr in sein inneres Universum vertieft, um die Welt der Farben und Formen so recht zu erfassen. Sie wirkten auf ihn nur durch ihre musikalische Resonanz, die ihm bloß ein entstelltes Echo übermittelte. Gewiß erfaßte sein Instinkt es dunkel, daß gleiche Gesetze der Harmonie für die sichtbaren Formen wie für die Klangformen gelten, und er ahnte die tiefen Grundwasser der Seele, aus denen die beiden Ströme der Farben und Töne quellen, um die beiden sich gegenüberliegenden Abhänge des Lebens zu baden. Aber er kannte nur den einen der beiden Abhänge und war im Königreich des Auges, das ihm nicht gehörte, verloren. So entging ihm das Geheimnis des köstlichsten Reizes, vielleicht des natürlichsten an dem klaräugigen Frankreich, der Königin in der Welt des Lichtes.

Wäre er übrigens in Bezug auf die Malerei auch wißbegieriger gewesen, so war Christof doch allzu sehr Deutscher, um sich an ein so ganz verschiedenes Sehen der Dinge zu gewöhnen. Er gehörte nicht zu den allermodernsten Deutschen, welche die Art germanischen Empfindens verleugnen und sich einreden, daß der Impressionismus oder das Dixhuitième sie in Verzückung versetzen,   falls sie nicht zufällig die feste Überzeugung haben, besseres Verständnis dafür zu haben als die Franzosen selbst. Christof war vielleicht ein Barbar. Aber er war es frank und frei. Bouchers rosige kleine Hinterteile, Watteaus feiste Kinne, die gelangweilten Schäfer und die dicken, in ihre Korsetts eingeschnürten Schäferinnen, alle diese Seelen aus Schlagsahne, die tugendhaften Schmachtaugen von Greuze, die hochgezogenen Hemdchen Fragonards, diese poetische Entkleidungskunst flößte ihm nicht viel mehr Interesse ein, als ein elegantes unanständiges Witzblatt. Die reiche und glänzende Harmonie darin verspürte er nicht; die wollüstigen, manchmal melancholischen Träume dieser alten Zivilisation, der verfeinertsten von Europa, waren ihm fremd. Und gar dem französischen siebzehnten Jahrhundert mit seiner formensteifen Frömmigkeit und seinen pomphaften Portraits vermochte er ebenso wenig Geschmack abzugewinnen; die etwas kalte Zurückhaltung unter den ernstesten jener Meister, ein gewisses Grau der Seele, das sich über das stolze Werk des Nicolas Poussin und über die bleichen Gestalten des Philippe de Champaigne breitet, hielten Christof von der alten französischen Kunst fern. Und von der neuen kannte er nichts. Hätte er sie gekannt, würde er sie verkannt haben. Der einzige moderne Maler, dessen Zauber er in Deutschland empfunden hatte, der Basler Böcklin, hatte ihn keineswegs auf die lateinische Kunst vorbereitet. Christof bewahrte in seiner Erinnerung noch den gewaltigen Eindruck dieses brutalen Genies, das den Erdgeruch und den fahlen roten Dunst tierisch heldenhafter Geschlechter atmete, die es heraufbeschworen hatte. Seine Augen, von dem grellen Licht geblendet und an die leidenschaftliche Buntheit dieses trunkenen Wilden gewöhnt, hatten Mühe, sich auf die Halbtöne, die gebrochenen, weichen Harmonien der französischen Kunst einzustellen.

Aber man lebt nicht ungestraft in einer fremden Welt. Unbewußt empfängt man ihre Prägung. Man mag sich noch so sehr in sich selbst verschließen; eines Tages merkt man, daß irgend etwas verändert ist.

Auch in Christof war irgend etwas verändert, als er an jenem Abend durch die Säle des Louvre irrte. Er fühlte sich matt, fror, hatte Hunger, war einsam. Die Dämmerung sank rings um ihn in die leeren Galerien, schlummernde Formen lebten auf. Christof ging still und erstarrt an ägyptischen Sphinxen und assyrischen Ungeheuern, an Stieren aus Persepolis, an glatten Majolika-Schlangen vorbei. Er fühlte sich in einem Märchenreich; sein Herz war geheimnisvoll bewegt. Der Traum der Menschheit umhüllte, die seltsamen Blüten der Seele umdufteten ihn ...

Inmitten des vergoldeten Staubes der Gemäldegalerien, der Gärten voll aufleuchtender, reifer Farben, der gemalten Steppen, denen die Luft fehlt, traf es den fiebernden Christof, der an der Schwelle der Krankheit stand, wie ein Blitzschlag.   Er ging, fast ohne etwas zu sehen, von Hunger und Müdigkeit, von der lauen Luft der Säle und dieser Orgie von Bildern betäubt: ihm schwindelte. Als er am Ende der großen Galerie vor Rembrandts »Samariter« angekommen war, stützte er sich, um nicht hinzufallen, mit beiden Händen auf die Eisenstange vor den Gemälden; einen Augenblick schloß er die Augen. Als er sie zu dem Werke, das sich ihm gegenüber, ganz nahe vor seinem Gesichte befand, wieder aufschlug, stand er wie gebannt ...

Der Tag verlosch. Das Licht war schon fern, schon tot. Die Sonne, fern und unsichtbar, versank in Nacht. Es war die Zauberstunde, in der die Gesichte aus der nach des Tages Arbeit schlummermüden, reglosen und betäubten Seele emportauchen wollen. Alles schweigt, man vernimmt nur das Rauschen des Blutes. Man hat nicht mehr die Kraft sich zu bewegen, kaum zu atmen. Man ist traurig und allem ausgeliefert und hat nur ein einziges, unendliches Bedürfnis, in die Arme eines Freundes zu sinken; man fleht um ein Wunder, man fühlt, daß es kommen muß ... Und da ist es! Ein Strom von Gold flammt in der Dämmerung, sprüht die Mauer des baufälligen Hauses hinauf, über die Schulter des Mannes, der den Sterbenden trägt, badet die schlichten Geräte und die ärmlichen Wesen und taucht alles in göttliche Holdheit und Glorie. Gott selber umfängt mit seinen furchtbaren und zärtlichen Armen diese Elenden, Schwachen, Häßlichen, Ärmsten, Schmutzigen, diesen verlausten Knecht mit nachschleppenden Socken, diese unförmlichen und verschüchterten Gesichter, die sich platt ans Fenster drücken, diese stumpfen Geschöpfe, die vor Schrecken gequält schweigen,   die ganze jammervolle Menschheit Rembrandts, diesen Haufen dunkler gefesselter Seelen, die nichts anderes wissen und können als harren, zittern, weinen, beten. Aber der Herr ist nahe. Er wird kommen, man weiß. Er kommt. Man sieht Ihn selbst nicht; aber man sieht seinen Glorienschein und den geheimnisvollen Schatten, den Er über die Menschen wirft ...

Christof verließ mit unsicherem Schritt den Louvre. Der Kopf schmerzte ihn. Er sah nichts mehr. Auf der Straße, im Regen merkte er kaum noch die Pfützen zwischen den Pflastersteinen und das von seinen Stiefeln rieselnde Wasser. Der gelbliche Himmel über der Seine flammte beim Sinken des Tages wie von einer inneren Leuchte erhellt. Christof trug in seinen Augen den Zauber dieses Bildes mit sich fort. Ihm war, als ob nichts wirklich sei: nein, die Wagen schütterten nicht mit erbarmungslosem Lärm auf dem Pflaster; die Vorübergehenden stießen ihn nicht mehr mit nassen Regenschirmen an; er ging nicht mehr auf der Straße; vielleicht saß er zu Haus bei sich und träumte; vielleicht lebte er gar nicht mehr ... Und plötzlich (er war so schwach!) erfaßte ihn ein Schwindel, er fühlte, wie er, mit dem Kopf nach vorn, wie ein Ballen umfiel ... doch es war nur wie ein Blitz: er ballte die Fäuste, schnellte auf seine Beine empor und stand wieder gerade. Genau in diesem Augenblick, in der Sekunde, wo sein Bewußtsein aus dem Abgrund wieder auftauchte, begegnete sein Blick auf der andern Seite der Straße einem andern, ihm wohl bekannten Blick, der ihn zu rufen schien. Betroffen stand er still und suchte in seinem Gedächtnis, wo er ihn schon gesehen habe. Im ersten Augenblick hatte er diese traurigen sanften Augen nicht gleich wiedererkannt: es war die kleine französische Lehrerin, die ohne sein Zutun seinetwegen in Deutschland aus ihrer Stelle gejagt worden war und die er seither so sehr gesucht hatte, um sie um Verzeihung zu bitten. Auch sie war inmitten der Menge Vorübergehender stehen geblieben und schaute ihn an. Plötzlich sah er, wie sie versuchte, dem Menschenstrom entgegenzuarbeiten und dem Fahrdamm zustrebte, um zu ihm zu gelangen. Er eilte ihr entgegen; aber ein unentwirrbares Wagengewühl trennte sie; er sah noch einen Augenblick, wie sie auf der andern Seite gegen die lebende Mauer ankämpfte; er wollte trotzdem hinüber, wurde von einem Pferd angerannt, glitt aus, fiel auf dem schmierigen Asphalt hin und wäre beinah überfahren worden. Als er mit Schmutz bedeckt wieder aufstand und endlich die andere Seite der Straße erreichte, war sie verschwunden.

Er wollte ihr nachgehen. Aber er mußte darauf verzichten: sein Schwindel wurde immer stärker. Die Krankheit kam: er fühlte es, aber er wollte es nicht mehr wahr haben. Er zwang sich, nicht sofort nach Haus zurückzukehren, sondern den längsten Weg zu nehmen. Unnütze Qual: er mußte sich besiegt erklären; die Beine waren ihm wie zerschlagen, er schleppte sich nur noch, er kam mit Mühe bis nach Hause. Auf der Treppe versagte ihm der Atem, er mußte sich auf die Stufen setzen. In seinem eisigen Zimmer angelangt, wollte er sich durchaus nicht niederlegen; vom Regen durchnäßt, mit schwerem Kopf und nach Atem ringender Brust blieb er betäubt auf seinem Stuhl sitzen und versank in einen Schwall von Klängen, matt und dumpf wie er selbst. Er hörte Sätze aus Schuberts unvollendeter Symphonie vorüberziehen. Armer kleiner Schubert! Als er das schrieb, war er einsam, fieberig und schlafsüchtig, war auch er in dem Zustand halber Erstarrung, die dem großen Schlaf vorangeht; er träumte am Kamin; schwerflüssige Musik umgab ihn rings, wie ein stehendes Gewässer; er verweilte in ihr, wie ein halbentschlafenes Kind, das sich darin gefällt, eine Stelle in der Geschichte, die es sich erzählt, zwanzigmal zu wiederholen: der Schlaf kommt: der Tod kommt ...   Und Christof hörte auch jene andere Musik vorbeiziehen, mit fiebernden Händen, geschlossenen Augen, die ein müdes Lächeln umspielt, das Herz von Seufzern geschwellt, vom Tode träumend, der befreit:   den ersten Chor aus der Kantate von Bach: »Liebster Gott, wann werd' ich sterben?« ... Es tat wohl, in den weichen Melodien zu versinken, die in schweren Wellen daherrollen, das Summen ferner verschleierter Glocken zu hören ... Sterben, im Frieden der Erde versinken! ... »Und dann selber Erde werden ...«

Christof schüttelte die krankhaften Gedanken von sich ab, das mörderische Lächeln der Sirene, die den geschwächten Seelen auflauert. Er stand auf und versuchte in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, aber er vermochte sich nicht aufrecht zu halten. Das Fieber schüttelte ihn. Er mußte sich zu Bett legen. Er fühlte, daß es diesmal ernst sei. Aber er streckte nicht die Waffen; er gehörte nicht zu denen, die, wenn sie krank sind, sich der Krankheit hingeben; er kämpfte, er wollte nicht krank sein, und vor allem war er fest entschlossen, nicht zu sterben. Er hatte seine arme Mutter, die ihn drunten erwartete, und er hatte sein Werk zu schaffen: er ließ sich nicht umbringen. Er biß seine klappernden Zähne aufeinander. Er spannte seinen Willen an, der ihm entglitt: so wie ein guter Schwimmer, der noch mitten in den Wogen, die ihn überspülen, weiterkämpft. Jeden Augenblick sank er unter: seine Gedanken verirrten sich, zusammenhanglose Bilder, Erinnerungen an daheim, an Pariser Salons durchschwirrten ihn, Rhythmen und Melodien, die sich im Kreise drehten, endlos drehten wie Zirkuspferde, kehrten hartnäckig wieder; dann wieder der heftige Eindruck des Goldlichtes von dem »Samariter«, die Schreckensgestalten im Dunkel; und dann Abgründe, Nacht. Dann tauchte er von neuem an die Oberfläche, zerriß die grinsenden Schwärme, er krampfte die Fäuste ineinander, preßte die Kinnbacken zusammen. Er klammerte sich an alle, die er in Gegenwart und Vergangenheit liebte, an das Gesicht der Freundin, das er eben noch flüchtig gesehen, an die liebe Mutter und auch an sein unzerstörbares Selbst, das er wie einen Felsen in sich fühlte: » La mort n'y mord« ...   Aber der Fels wurde von neuem vom Meer überflutet; ein Wogenprall jagte der Seele ihre Beute wieder ab; sie wurde vom Schaum fortgetragen, fortgewälzt. Und Christof stritt sich im Fieberwahn herum, sagte unsinniges Zeug, dirigierte und spielte ein eingebildetes Orchester: Posaunen, Trompeten, Zimbeln, Pauken, Bässe, Kontrabässe ... Er kratzte, blies, schlug wie rasend. Der Unglückliche kochte vor verhaltenem Musikgefühl. Seit Wochen hatte er Musik weder hören noch spielen können, und so war er wie ein Dampfkessel unter Druck, kurz vor dem Zerspringen. Gewisse hartnäckige Melodien drangen gleich Schrauben in sein Gehirn ein, durchbohrten sein Trommelfell und schmerzten ihn so, daß er hätte aufheulen mögen. Waren diese Anfälle vorüber, so fiel er halbtot vor Müdigkeit auf sein Kopfkissen zurück, in Schweiß gebadet, gerädert, nach Atem ringend, dem Ersticken nah. Neben sein Bett hatte er seinen Wasserkrug gestellt, aus dem er in langen gierigen Zügen trank. Die Geräusche aus den Nebenzimmern, das Zuschlagen der Mansardentüren, all das ließ ihn emporfahren. Ein aufs höchste gesteigerter Ekel erfüllte ihn gegen alle diese Wesen, die um ihn herum eingepfercht waren. Aber sein Wille kämpfte weiter, er blies mit kriegerischen Fanfaren zum Kampf gegen die Teufel ... »und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt' uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr ...«

Und auf dem Ozean durchgluteter Finsternisse, der ihn mit sich wälzte, trat plötzlich Ruhe ein ... Lichtblicke, ein beschwichtigtes Murmeln der Geigen und Bratschen, ruhevolle Siegesklänge der Trompeten und Hörner, während fast unbeweglich, groß wie eine Mauer, aus der kranken Seele ein unerschütterlicher Sang emporstieg, gleich einem Choral Johann Sebastian Bachs.

 

Während er sich so gegen die Fiebergespenster wehrte und gegen die Erstickungsanfälle, die seine Brust überfielen, kam es ihm dunkel zum Bewußtsein, daß sich seine Zimmertür öffnete und eine Frau mit einer Kerze in der Hand eintrat. Er glaubte, auch das wäre eine Fiebervorstellung. Er wollte sprechen. Aber er konnte nicht und fiel zurück. Wenn ihn von Zeit zu Zeit eine Bewußtseinswelle aus der Tiefe an die Oberfläche trug, fühlte er, daß man sein Kopfkissen zurechtgeschoben und eine Decke auf seine Füße gelegt hatte, und daß unter seinem Rücken etwas war, das brannte; oder er sah am Fußende des Bettes jene Frau sitzen, deren Gesicht ihm nicht ganz unbekannt war; dann trat eine andere Gestalt auf, ein Arzt, der ihn behorchte. Christof verstand nicht, was man sagte; aber er erriet, daß man davon sprach, ihn ins Hospital zu bringen. Er versuchte zu widersprechen, zu schreien, daß er das nicht wolle, daß er hier ganz allein zu sterben wünsche; aber aus seinem Munde kamen nur unverständliche Laute. Trotzdem verstand ihn die Frau: denn sie trat für ihn ein und beruhigte ihn. Er zermarterte sich, um herauszubekommen, wer sie wäre. Sobald er mit unglaublichen Anstrengungen einen folgerichtigen Satz zustandebringen konnte, fragte er sie danach. Sie antwortete ihm, daß sie seine Mansardennachbarin wäre, daß sie ihn von der andern Seite der Wand hätte stöhnen hören und, weil sie dachte, daß er Hilfe brauche, sich erlaubt hätte, hereinzukommen. Respektvoll bat sie ihn, sich nicht durch Sprechen zu ermüden. Er gehorchte. Übrigens war er von der Anstrengung wie zerschlagen. So blieb er denn reglos liegen und schwieg; aber sein Gehirn arbeitete weiter und suchte mühsam seine zerstreuten Erinnerungen zusammen. Wo hatte er sie doch gesehen? ... Endlich kam es ihm in den Sinn: richtig, er war ihr in dem Mansardenkorridor begegnet. Sie war Dienstmädchen und hieß Sidonie.

Mit halb geschlossenen Augen sah er sie an, ohne daß sie es merkte. Sie war klein, hatte ein ernsthaftes Gesicht, eine gewölbte Stirn; die Haare waren zurückgestrichen und ließen die oberen Wangen und Schläfen frei, die blaß und von starkem Knochenbau waren; sie hatte eine kurze Nase, hellblaue Augen mit sanftem, hartnäckigem Blick, starke, zusammengepreßte Lippen, eine bleichsüchtige Gesichtsfarbe, ein bescheidenes, etwas verschlossenes und etwas steifes Aussehen. Sie bemühte sich mit tätiger, schweigsamer Aufopferung um Christof, ohne Vertraulichkeit, ohne jemals aus der Zurückhaltung eines Dienstboten, der die Klassenunterschiede nicht vergißt, herauszutreten.

Als es jedoch Christof nach und nach besser ging und er mit ihr plaudern konnte, brachte seine herzliche Gutmütigkeit Sidonie zu etwas freierer Aussprache; aber sie nahm sich immer in acht; gewisse Dinge sagte sie nicht; das merkte man. Es war in ihr ein Gemisch aus Stolz und Bescheidenheit. Christof erfuhr, daß sie Bretonin sei. Sie hatte zu Haus ihren Vater zurückgelassen, von dem sie mit großer Zurückhaltung sprach; aber es wurde Christof nicht schwer zu erraten, daß er nichts tat als trinken, sich einen guten Tag machen und seine Tochter ausplündern; sie ließ sich ausnützen und sagte aus Stolz nichts dagegen; niemals versäumte sie, ihm einen Teil ihres Monatsgeldes zu senden, wenn sie sich auch nichts vormachen ließ. Sie hatte auch eine jüngere Schwester, die sich auf das Lehrerinnen-Examen vorbereitete und auf die sie sehr stolz war. Fast alle Kosten ihrer Erziehung bezahlte sie. Mit eigensinnigem Eifer arbeitete sie von früh bis spät.

Christof fragte sie, ob sie eine gute Stelle habe.

Ja; aber sie wolle fortgehen.

Warum? Ob sie sich über ihre Herrschaft zu beklagen habe?

O nein. Sie sei sehr gut zu ihr.

Ob sie nicht genug verdiene?

Doch ...

Er begriff nicht ganz; er versuchte, sie zu verstehen, ermutigte sie zum Sprechen. Aber sie konnte nichts anderes als von ihrem einförmigen Leben erzählen und von der Mühe, die es kostet, sein Brot zu verdienen, was sie aber nicht besonders betonte. Arbeit schreckte sie nicht, sie war ihr ein Bedürfnis, fast eine Lust. Von dem, was am meisten auf ihr lastete: der Langenweile, sprach sie nicht. Er erriet es. Nach und nach las er in ihr mit dem Ahnungsvermögen einer durch die Krankheit gestiegenen großen Zuneigung, die durch die Erinnerung daran verstärkt wurde, daß seine liebe Mutter ein ähnliches Leben, ähnliche Trübsal ertragen hatte. Er sah, als hätte er es selbst durchlebt, dieses trübselige, ungesunde, naturwidrige Dasein vor sich,   das gewöhnliche Dasein, das die bürgerliche Gesellschaft den Dienstboten aufzwingt:   eine nicht schlechte, aber gleichgültige Herrschaft, die oft Tage verstreichen ließ, ohne mit ihr über anderes, als den Dienst betreffendes zu sprechen. Stunden auf Stunden in der stickigen Küche, deren Luke, bis obenhin von einem Vorratsschrank verstellt, sich auf eine schmutzig weiße Mauer öffnete. Alle ihre Freude bestand darin, daß man ihr einmal nachlässig sagte, die Sauce sei schmackhaft oder der Braten gut zubereitet. Ein eingemauertes, lustloses Leben, ohne Zukunft, ohne einen Schimmer von Wunsch oder Hoffnung, ohne irgendein Interesse.   Die schlimmste Zeit für sie war, wenn ihre Herrschaft aufs Land ging. Aus Sparsamkeit nahm man sie nicht mit; man bezahlte ihr den Monat, aber nicht die Reise, um nach Hause zurückzukehren; es war ihr freigestellt, auf ihre Kosten hinzufahren. Sie wollte es nicht, konnte es nicht tun. Also blieb sie allein in dem beinah verlassenen Haus. Auszugehen hatte sie keine Lust, mit den anderen Dienstboten unterhielt sie sich nicht einmal, weil sie sie wegen ihrer Gewöhnlichkeit und ihrer Unsittlichkeit etwas verachtete. Vergnügungen aufsuchen mochte sie auch nicht: sie war von Natur gesetzt und sparsam und hatte Furcht vor unliebsamen Begegnungen. So blieb sie in ihrer Küche oder in ihrem Zimmerchen sitzen, von wo sie über die Schornsteine hinweg den Gipfel eines Baumes in einem Hospitalgarten sehen konnte. Sie las nicht, sie versuchte zu arbeiten, sie dämmerte hin, sie langweilte sich, sie weinte vor Langerweile; sie hatte eine besondere Fähigkeit, unaufhörlich zu weinen: es war ihr Vergnügen. Aber wenn sie sich zu sehr langweilte, konnte sie nicht einmal mehr weinen; sie war wie erstarrt, das Herz tot. Dann rüttelte sie sich auf; oder das Leben kehrte von selbst zurück. Sie dachte an ihre Schwester, sie hörte in der Ferne eine Drehorgel, sie träumte vor sich hin, sie berechnete lange, wieviel Tage sie zu der oder jener Arbeit brauche, oder um eine bestimmte Summe verdient zu haben; sie verrechnete sich, fing von neuem zu rechnen an; sie schlief. Die Tage gingen hin ... Mit solchen Anfällen von Niedergeschlagenheit wechselten Ausbrüche kindlicher und spottlustiger Fröhlichkeit. Sie machte sich über die anderen und sich selbst lustig. Sie wußte ihre Herrschaft gut einzuschätzen: die Sorgen, welche ihnen ihr Müßiggang schuf, die Launen und melancholischen Anwandlungen der gnädigen Frau, die sogenannten Beschäftigungen dieser sogenannten Elitegesellschaft, das Interesse, das sie für ein Bild, ein Musikstück, ein Gedichtbuch hegten. Mit ihrem gesunden, ein wenig derben Verstand, der ebenso weit von dem Snobismus pariserischer Dienstboten als von der dickfelligen Dummheit völlig provinzialen Gesindes entfernt war, das nur bewundert, was es nicht versteht, hegte sie eine Art respektvoller Verachtung für jenes Geklimper, jenes alberne Geschwätz, für alle jene vollkommen unnützen und überdies noch langweiligen geistigen Dinge, die im Leben jener verlogenen Existenzen einen so großen Raum einnehmen. Sie konnte nicht umhin, das wirkliche Leben, wie sie es durchkämpfte, mit den eingebildeten Vergnügungen und Mühsalen jenes Luxuslebens zu vergleichen, in dem alles von der Langenweile geschaffen scheint. Außerdem war sie nicht aufdringlich. Es war nun einmal so: es war eben so. Sie nahm alles hin, die schlechten Menschen und die dummen. Sie sagte:

»Das gehört alles dazu, um eine Welt zu machen.«

Christof bildete sich ein, daß sie Halt in ihrem religiösen Glauben fände; eines Tages aber sagte sie inbezug auf die anderen, die Reicheren und die Glücklicheren:

»Am Schluß der Rechnung, später, werden doch alle gleich sein.«

»Wann denn?« fragte er. »Nach der sozialen Revolution?«

»Die Revolution?« meinte sie. »Oh! Bis dahin wird wohl noch viel Wasser zum Meere laufen. An solche Dummheiten glaube ich nicht. Alles wird immer bleiben, wie's ist.«

»Also wann sollen denn alle gleich sein?«

»Nach dem Tode natürlich. Da bleibt von niemandem etwas übrig.«

Er war über diesen ruhigen Materialismus sehr erstaunt. Er wagte nicht, ihr zu sagen:

»Ist es Ihnen aber dann nicht entsetzlich, nur dies eine Leben zu haben, wenn es so wie das Ihre ist, während es doch andere gibt, die glücklich sind?«

Aber sie schien seine Gedanken erraten zu haben; mit gleichgültigem und etwas ironischem Phlegma fuhr sie fort:

»Man muß doch vernünftig sein. Jedermann kann nicht das große Los ziehen. Man hat es schlecht getroffen: um so schlimmer!«

Sie dachte nicht einmal daran, außerhalb Frankreichs (wie es sich ihr in Amerika geboten hatte) eine einträglichere Stelle zu suchen. Der Gedanke, ihr Vaterland zu verlassen, wollte ihr nicht in den Kopf. Sie sagte:

»Die Steine sind überall hart.«

Im Grunde ihres Herzens lebte ein skeptischer und spöttischer Fatalismus. Sie gehörte zu jener Rasse, die wenig oder gar keinen Glauben, wenige verstandesmäßige Gründe zum Leben hat, und doch eine ungeheure Lebenskraft besitzt,   zu jenem französischen Landvolk, das arbeitsam und apathisch, regierungsfeindlich und zugleich untertänig ist, das Leben nicht besonders liebt, aber daran festhält und keinen künstlichen Zuspruch braucht, um seinen Mut zu bewahren.

Christof kannte dies Volk noch nicht und wunderte sich, bei diesem schlichten Mädchen so jedwede Glaubenslosigkeit zu finden; er bewunderte ihre Anhänglichkeit an ein freude- und zweckloses Dasein und vor allem ihren ausgeprägten moralischen Sinn, der an nichts eine Stütze hatte. Bisher hatte er das französische Volk nur durch die Brille naturalistischer Romane und die Theorien kleiner Zeitschriftsteller gesehen, die im Gegensatz zu denen des Jahrhunderts der Revolution und der Schäferspiele sich den Naturmenschen mit Vorliebe als ein lasterhaftes Tier vorstellten, um ihre eigenen Laster zu rechtfertigen. Er war daher überrascht, die starrsinnige Anständigkeit Sidoniens zu entdecken. Moral hatte damit nichts zu schaffen; ihre Anständigkeit entsprang dem Instinkt und dem Stolz. Sidonie hatte aristokratischen Stolz. Denn es ist eine Torheit, zu glauben: Volk und Plebejer seien dasselbe. Das Volk hat seine Aristokraten, ebenso wie das Bürgertum seine Plebejerseelen hat. Aristokraten sind Geschöpfe mit Instinkten, mit vielleicht reinerem Blut als die anderen Menschen, die es wissen, die das Bewußtsein dessen, was sie sind, besitzen und den Stolz, nicht herunterzusteigen. Sie sind in der Minderheit; doch selbst wenn sie beiseite geschoben werden, merkt man, daß sie die ersten sind; und ihre bloße Gegenwart ist den andern ein Ärgernis. Die andern sind gezwungen, sich nach ihnen zu richten oder wenigstens so zu tun. Jede Provinz, jedes Dorf, jede Menschengruppe ist gewissermaßen das, was ihre Aristokraten sind; und je nach ihrer Art sind hier die Ansichten äußerst streng und dort locker. Die augenblickliche anarchische Überschwemmung der Majoritäten ändert nichts an dieser inneren Herrschaft der stummen Minderheiten. Gefahrvoller wird ihnen ihre Entwurzelung aus dem Heimatboden, ihr Verstreutwerden in der Ferne, in den großen Städten. Doch selbst so, in fremder Umgebung verloren und eins vom andern getrennt, setzen sich die Individuen aus guter Rasse durch und machen sich nicht gemein mit ihrer Umgebung.   Von alledem, was Christof in Paris gesehen hatte, kannte Sidonie so gut wie nichts und suchte nichts kennen zu lernen. Die sentimentale und schmutzige Zeitungsliteratur zog sie ebensowenig an wie die politischen Neuigkeiten. Daß es Volkshochschulen gab, wußte sie nicht einmal; und hätte sie es gewußt, so würde sie sich wahrscheinlich nicht mehr darum gekümmert haben als um das Zurkirchegehen. Sie tat ihre Arbeit und dachte ihre Gedanken, es lag ihr nichts daran, die der andern zu denken. Christof machte ihr deswegen Komplimente.

»Was ist daran verwunderlich?« sagte sie. »Ich bin wie alle. Haben Sie noch keinen Franzosen gesehen?«

»Nun lebe ich ein Jahr mitten unter ihnen,« sagte Christof, »und ich habe noch nicht einen getroffen, der an etwas anderes als an sein Vergnügen zu denken schien oder daran, denen nachzuäffen, die dem Vergnügen leben.«

»Nun ja,« sagte Sidonie. »Sie haben nur Reiche gesehen. Die Reichen sind überall dieselben. In Wahrheit haben Sie noch nichts gesehen.«

»Doch, doch!« sagte Christof. »Ich fange an.«

Zum erstenmal schaute er in das Wesen des Volkes von Frankreich, das den Eindruck ewiger Dauer macht, das mit seiner Erde verwachsen ist, das gleich jener Erde unzählige Eroberer-Geschlechter, unzählige Eintagsherren hat untergehen sehen, und das selbst nicht zugrunde geht.

 

Es ging ihm nun besser, und er begann aufzustehen.

Seine erste Sorge war, Sidonie die Ausgaben zu vergüten, die sie während seiner Krankheit für ihn gemacht hatte. Da es ihm noch unmöglich war, in Paris nach Arbeit zu suchen, mußte er sich dazu entschließen, an Hecht zu schreiben: er bat ihn um die Gefälligkeit, einen Vorschuß auf seine nächste Arbeit zu gewähren. Bei Hechts sonderbarem Gemisch von Gleichgültigkeit und Wohltun ließ die Antwort mehr als vierzehn Tage auf sich warten   vierzehn Tage, während deren Christof sich zerquälte und sich weigerte, das Essen anzurühren, das ihm Sidonie brachte, und nur ein wenig Milch und Brot, wozu sie ihn zwang, annahm, was er sich gleich darauf vorwarf, weil er es nicht verdient hatte:   dann bekam er plötzlich von Hecht ohne ein Wort die erbetene Summe; doch während des ganzen Monats, den seine Krankheit weiter andauerte, erkundigte sich Hecht nicht ein einziges Mal nach seinem Befinden. Er hatte ein wahres Talent, sich selbst im Wohltun nicht beliebt zu machen. Das war übrigens deshalb so, weil er beim Wohltun nicht liebte.

Sidonie kam täglich einen Augenblick am Nachmittag und am Abend. Sie bereitete Christof die Mahlzeiten. Ohne viel Geräusch zu machen, kümmerte sie sich unaufdringlich um seine Sachen; und als sie den schlechten Zustand seiner Wäsche sah, nahm sie diese ohne viel zu reden mit sich und besserte sie aus. Unmerklich hatte sich in ihre Beziehungen ein herzlicherer Ton eingeschlichen. Christof sprach oft lange von seiner alten Mutter. Sidonie war gerührt; sie versetzte sich an die Stelle der fernen, einsamen Luise, und sie hegte für Christof ein mütterliches Empfinden. Und er selbst zwang sich in dem Gespräch mit ihr, seinem Bedürfnis nach verwandtschaftlicher Liebe, unter dem man weit mehr leidet, wenn man schwach und krank ist, eine Befriedigung vorzutäuschen. Bei Sidonie fühlte er sich Luisen näher als bei irgendeiner andern. Er vertraute ihr manchmal etwas von seinen Künstlerschmerzen an. Sie bedauerte ihn sanft und mit ein wenig Ironie für seine geistigen Leiden. Auch das erinnerte ihn an seine Mutter und tat ihm wohl.

Er suchte sie zum Vertrauen ihrerseits zu veranlassen; aber sie gab sich weit weniger offen als er. Er fragte sie scherzend, ob sie sich nicht verheiraten würde. Sie antwortete in ihrem gewöhnlichen Ton einer spöttischen Resignation, daß so etwas Dienstboten nicht erlaubt sei: das mache vieles zu schwierig. Und dann müsse man auch auf den Rechten treffen, und das sei nicht so einfach. Die Männer seien ausgemachte Schurken. Wenn man Geld habe, machten sie einem den Hof; dann vertäten sie das Geld und darauf ließen sie einen sitzen. Sie habe davon allzu viele Beispiele rings um sich gesehen: sie fühlte sich nicht versucht, es ebenso zu machen.   Daß sich ihr eine Heirat zerschlagen hatte, sagte sie nicht: als ihr »Zukünftiger« gesehen hatte, daß sie alles Geld, das sie erwarb, den Ihren gab, hatte er sie verlassen.   Christof sah, wie sie im Hof mit den Kindern einer Familie aus dem Hause mütterlich spielte. Wenn sie sie allein auf der Treppe traf, so geschah es wohl, daß sie die Kleinen voller Leidenschaft umarmte. Christof dachte sie sich an die Stelle einer der Damen seiner Bekanntschaft: sie war nicht dümmer, sie war nicht häßlicher als irgendeine andere; er sagte sich, daß sie den Platz jener andern besser ausgefüllt hätte. Wieviel verschüttete Lebenskräfte, um die sich keiner kümmerte! Und als Gegenstück alle jene lebenden Leichname, die die Erde übervölkern und den andern den Platz an der Sonne versperren und das Glück wegnehmen ...

Christof nahm sich nicht in acht, er war sehr herzlich, allzu herzlich zu ihr; wie ein großes Kind ließ er sich hätscheln.

An manchen Tagen sah Sidonie niedergeschlagen aus; aber er schob es auf ihre Arbeit. Einmal stand sie mitten im Gespräch mit einem Ruck auf und verließ Christof unter dem Vorwand, etwas besorgen zu müssen. Schließlich unterbrach sie ihre Besuche eine Zeit lang: nach einem Tage, an dem Christof ihr noch mehr Vertrauen als gewöhnlich bezeigt hatte; und als sie wiederkam, redete sie nur gezwungen mit ihm. Er fragte sich, worin er sie wohl verletzt haben könne. Er fragte sie sogar danach. Sie antwortete lebhaft, er hätte sie durchaus nicht gekränkt; aber sie hielt sich dauernd fern von ihm. Einige Tage später teilte sie ihm mit, daß sie fortzöge. Sie hätte ihre Stelle aufgegeben und verließe das Haus. In kalten, geschraubten Ausdrücken dankte sie ihm für die Freundlichkeiten, die er ihr erwiesen habe, sprach ihm ihre Wünsche für seine Gesundheit und die seiner Mutter aus und sagte ihm Lebewohl. Er war über diesen plötzlichen Fortgang so erstaunt, daß er nicht wußte, was er dazu sagen sollte: er suchte die Gründe, die sie hierzu bestimmten, zu erfahren: sie antwortete ausweichend. Er fragte sie, wo sie in Stellung ginge: sie vermied die Antwort; und um seine Fragen kurz abzuschneiden, brach sie auf. An der Türschwelle reichte er ihr die Hand; sie preßte sie ein wenig stark; aber ihr Gesicht veränderte sich nicht; und bis zuletzt bewahrte sie ihre starre eisige Miene. So ging sie fort.

Warum, konnte er niemals verstehen.

 

Der Winter schien endlos. Ein feuchter, nebliger, schmutziger Winter. Wochenlang keine Sonne. Obgleich es Christof besser ging, war er noch nicht geheilt. In der rechten Lungenspitze fühlte er noch immer einen schmerzhaften Stich, eine wunde Stelle, die langsam vernarbte; und er hatte nervöse Hustenanfälle, die ihn nachts am Schlafen hinderten. Der Arzt hatte ihm verboten, auszugehen. Ebenso gut hätte er ihm verordnen können, an die Riviera oder nach den Kanarischen Inseln zu gehen. Er mußte doch ausgehen! Sein Mittagessen wäre nicht zu ihm gekommen, wenn er es nicht geholt hätte. Man verschrieb ihm auch Medizinen, die er nicht zu bezahlen vermochte. So hatte er es aufgegeben, die Ärzte um Rat zu fragen: es war hinausgeworfenes Geld; und dann fühlte er sich ihnen gegenüber nie wohl; sie und er konnten sich nicht verstehen: es waren zwei entgegengesetzte Welten. Sie empfanden ein ironisches und etwas geringschätziges Mitleid für diesen armen Teufel von Künstler, der sich anmaßte, für sich ganz allein eine Welt zu sein und der vom Strom des Lebens wie ein Strohhalm davongespült wurde. Ihm war es eine Demütigung, von diesen Menschen betrachtet, befühlt, betastet zu werden. Er schämte sich seines kranken Körpers. Er dachte:

»Wie zufrieden wäre ich, wenn er stürbe!«

Trotz Einsamkeit, Krankheit, Elend und soviel Veranlassungen zum Leiden trug Christof sein Schicksal mit Geduld. Niemals war er so voller Geduld gewesen. Er wunderte sich selbst darüber. Krankheit tut oft gut. Sie bricht den Körper und befreit dabei die Seele; sie reinigt sie: in den Nächten und Tagen aufgezwungener Untätigkeit erheben sich Gedanken, die das allzu grelle Licht fürchten und die von der Sonne der Gesundheit verbrannt werden. Wer niemals krank gewesen ist, lernt sich nie ganz kennen.

Die Krankheit hatte Christof eigentümlich besänftigt. Sie hatte die gröbsten Bestandteile seines Wesens von ihm genommen. Mit zarteren Organen fühlte er die Welt geheimnisvoller Kräfte, die in jedem von uns lebt und die der Lärm des Lebens übertönt. Seit dem Besuch, den er dem Louvre in jenen Fieberstunden abgestattet, deren er sich bis ins Kleinste genau erinnerte, lebte er in einer Atmosphäre, die warm, tiefgründig und sanft, der des Gemäldes von Rembrandt ähnelte. Auch er fühlte in seinem Herzen den magischen Widerschein einer unsichtbaren Sonne. Und obgleich er nicht mehr glaubte, wußte er, daß er nicht allein sei: ein Gott hielt ihn bei der Hand, führte ihn, wohin er gehen mußte. Wie ein kleines Kind vertraute er sich ihm an.

Seit Jahren zum erstenmal war er gezwungen, sich auszuruhen. Selbst die Mattigkeit der Genesung bedeutete für ihn ein Ruhen nach der außergewöhnlichen geistigen Anspannung, die der Krankheit vorangegangen war und noch seine Schwäche verursachte. Jetzt endlich fühlte Christof, nachdem er mehrere Monate lang in einem beständigen Spannungszustand gelebt hatte, wie sich die Starrheit seines Blickes allmählich löste. Er war deswegen nicht weniger stark; er war menschlicher. Das mächtige, aber etwas ungeheuerliche Leben des Genies war in den Hintergrund getreten; er fand sich als Mensch wie die andern wieder, von allem geistigen Fanatismus befreit, und von allem Harten und Unerbittlichen, das der Tat anhaftet. Er haßte nichts mehr; er dachte nicht mehr an aufreizende Dinge, oder nur mit einem Achselzucken; er dachte weniger an seine Kümmernisse und mehr an die der andern. Seit Sidonie ihm die schweigenden Leiden schlichter Seelen, die klaglos überall auf der Erde kämpfen, in die Erinnerung zurückgerufen hatte, vergaß er seiner über ihnen. Er, der sonst nicht übermäßig Gefühlvolle, unterlag jetzt manchmal Anfällen jener mystischen Zärtlichkeit, welche die Blüte der Schwäche und Krankheit ist. Abends, wenn er aus seinem Fenster über dem Hof lehnte, den geheimnisvollen Lauten der Nacht lauschte ... einer Stimme, die in einem Nachbarhause sang und die durch die Entfernung herzbewegend schien, oder wenn er ein kleines Mädchen am Klavier kindlich Mozart spielen hörte, ... dachte er:

»Ihr alle, die ich liebe und nicht kenne, ihr, die ihr am Leben nicht welktet, die ihr von großen Dingen träumt und wißt, daß sie unmöglich sind, die ihr gegen die feindliche Welt ankämpft,   wisset: ich will, daß euch das Glück werde   es tut so wohl, glücklich zu sein! ... O meine Freunde, ich weiß, ihr seid nahe, und ich strecke euch die Arme entgegen ... Nur eine Mauer ist zwischen uns. Stein für Stein trage ich sie ab; aber zu gleicher Zeit nütze ich mich selber ab. Werden wir jemals zueinander kommen? Werde ich bis zu euch gelangen, bevor sich eine andere Mauer aufgerichtet hat: der Tod? ...   Gleichviel! Mag ich mein ganzes Leben allein sein, wenn ich nur für euch arbeite, wenn ich euch Gutes erweise und wenn ihr mich nur später, nach meinem Tode, ein wenig liebt ...«

So trank der genesende Christof die Milch der beiden guten Ammen: Liebe und Not.

 

In dieser Gelöstheit seines Willens fühlte er das Bedürfnis, sich andern zu nahen. Und obgleich er noch recht schwach und es gar nicht vorsichtig war, ging er am frühen Morgen zu der Stunde aus, in der sich der Volksstrom zur fernen Arbeitsstätte die belebten Straßen hinunterwälzt, oder auch abends, wenn er zurückflutet. Er wollte in dem erfrischenden Bad menschlicher Sympathie untertauchen. Er sprach nicht etwa zu jemand, trachtete nicht einmal danach. Es war ihm genug, die Leute vorübergehen zu sehen, sie zu erraten und sie zu lieben. Er beobachtete mit herzlichem Mitleid diese eilenden Arbeiter, die alle die Müdigkeit des Tages gleichsam vorweggenommen hatten,   diese Gesichter junger Männer, junger Mädchen mit bleichsüchtiger Haut, herbem Ausdruck, seltsamem Lächeln,   diese durchsichtigen, beweglichen Gesichter, hinter denen man die Flut der Wünsche, der Sorgen, der wechselnden Ironie vorbeiziehen sieht,   dies intelligente, allzu intelligente, etwas kränkliche Großstadtvolk. Alle gingen sie schnell. Die Männer Zeitung lesend, die Frauen an einem Hörnchen knabbernd. Christof hätte gern einen Monat seines Lebens hingegeben, damit die zaushaarige Blondine mit den schlafgedunsenen Zügen, die eben mit einem nervigen, harten kurzen Ziegenschritt an ihm vorbeikam, noch eine oder zwei Stunden länger hätte schlafen können. Oh! sie würde nicht nein gesagt haben, hätte man es ihr angeboten. Er hätte am liebsten alle reichen Müßiggänger, die zu dieser Stunde ihr Wohlleben gelangweilt genossen, aus ihren hermetisch abgeschlossenen Wohnungen herausgeworfen und an ihre Stelle, in ihre Betten, in ihr ruhevolles Leben diese kleinen, feurigen und müden Körper gelegt, diese noch nicht abgestumpften Seelen, die, wenn auch nicht überströmend, doch lebendig und lebensgierig waren. Er fühlte sich voller Nachsicht gegen sie gestimmt und er lächelte über diese wachen und müden Gesichtchen, in denen Schelmerei und Harmlosigkeit lag, eine kecke und naive Vergnügungslust und im Grunde ein tapferes, anständiges und arbeitsames Seelchen. Und es störte ihn nicht, wenn einige ihm ins Gesicht lachten oder sich mit dem Ellbogen anstießen, um sich den großen Burschen mit den brennenden Augen zu zeigen.

Auch auf den Kais schlenderte er lange Zeit träumend umher. Es war sein liebster Spaziergang. Er beruhigte ein wenig sein Heimweh nach dem großen Strom, der seine Kindheit gewiegt hatte. Ach! das war allerdings nicht mehr der Vater Rhein! Nichts von seiner allmächtigen Kraft. Nichts von breiten Horizonten, weiten Ebenen, in denen der Geist schwebend sich verliert. Ein grauäugiger Fluß in blaßgrünem Kleid mit feinen ausgeprägten Zügen, ein anmutiger Fluß mit geschmeidigen Bewegungen, der sich mit geistreicher Lässigkeit dahinschlängelte und im kostbaren, maßvollen Schmuck seiner Stadt mit den Armbändern seiner Brücken, den Halsketten seiner Bauten, gleich einer schönen Spaziergängerin der eigenen Hübschheit zulächelte ... Köstliches Licht von Paris! Das war das Erste gewesen, was Christof an dieser Stadt geliebt hatte; sacht, sacht drang es in ihn ein; nach und nach wandelte es, ohne daß er's merkte, sein Herz. Es war für ihn die schönste Musik, die einzige pariser Musik. Stundenlang genoß er abends, längs der Kais oder in den Gärten des alten Frankreich, die Harmonien des Tageslichts über den großen, von veilchenfarbenem Dunst gebadeten Bäumen, den grauen Bildwerken und Vasen, dem patinierten Stein königlicher Gebäude, der das Licht von Jahrhunderten getrunken hatte,   genoß diese unendlich zarte Luft, die aus feiner Sonne und milchigem Dunst geschaffen ist, darin in einem Silberstaub der lachende Geist der Rasse schwebt.

Eines Abends lehnte er in der Nähe der Brücke Saint-Michel und blätterte, während er auf das Wasser hinabschaute, zerstreut in den Büchern eines kleinen Händlers, der seine Herrlichkeiten auf dem Gestell ausgebreitet hatte. Zufällig öffnete er einen zerfetzten Band von Michelet. Er hatte schon ein paar Seiten dieses Historikers gelesen, der ihm wegen seiner französischen Großsprecherei, seiner Fähigkeit sich an Worten zu berauschen und seines erregten Vortrags nicht allzusehr gefallen wollte. An jenem Abend aber war er von den ersten Zeilen an gepackt: es war das Ende des Prozesses der Jeanne d'Arc. Er kannte durch Schiller die Jungfrau von Orleans; doch sie war für ihn bis dahin nur eine romanhafte Heldin gewesen, der ein großer Dichter ein erträumtes Leben verliehen hatte. Plötzlich stand die Wahrheit vor ihm auf und hielt ihn fest. Er las, las und sein Herz wurde vom tragischen Entsetzen des erhabenen Berichtes zermalmt; und als er dahin kam, wo Jeanne erfährt, daß sie am Abend sterben soll, und sie vor Schreck ohnmächtig wird, begannen seine Hände zu zittern, Tränen übermannten ihn und er mußte aufhören. Die Krankheit hatte ihn geschwächt: er war lächerlich empfindsam geworden, worüber er sich selbst oft ärgerte.   Als er seine Lektüre beenden wollte, war es spät, und der Händler schloß seinen Stand. Er beschloß, das Buch zu kaufen und suchte in seinen Taschen: er fand nur sechs Sous. Es kam nicht selten vor, daß er so aller Mittel bar war. Das bekümmerte ihn nicht; er hatte eben sein Essen gekauft und er zählte darauf, am nächsten Morgen bei Hecht etwas Geld für eine Musikabschrift erheben zu können. Aber bis zum nächsten Morgen warten war hart. Warum mußte er auch eben für sein Essen das Wenige, was ihm geblieben war, ausgeben? Ach, hätte er dem Händler doch das Brot und die Wurst, die er in der Tasche trug, als Bezahlung anbieten können!

Am nächsten Morgen ging er sehr früh zu Hecht, um Geld zu holen; aber als er bei der Brücke vorbeikam, die den Namen des Erzengels der Schlachten trägt   des »paradiesischen Bruders« der Jeanne  , brachte er es nicht übers Herz, vorüberzugehen. Er fand das kostbare Buch in den Kästen des Händlers wieder; er las es ganz und gar; zwei Stunden brauchte er dazu; dadurch verfehlte er die Zusammenkunft mit Hecht; und um ihn später zu treffen, verlor er fast den ganzen Tag. Endlich bekam er seinen neuen Auftrag und wurde bezahlt. Sofort lief er hin, um das Buch zu kaufen, obgleich er es vollständig gelesen hatte. Er befürchtete, ein anderer Käufer möchte es ihm fortgenommen haben. Allerdings wäre das Unglück nicht groß gewesen: er konnte sich leicht andere Exemplare verschaffen; aber Christof wußte nicht, ob das Buch nicht selten war; und außerdem wollte er gerade diesen Band und keinen andern. Wer Bücher liebt, ist meistens Fetischist. Die Blätter, aus denen der Quell der Träume sprudelte, sind, selbst beschmutzt und fleckig, für ihn etwas Geheiligtes.

Zu Hause, in der Stille der Nacht, las Christof noch einmal das Leidensevangelium der Jeanne; und keinerlei Rücksicht auf Menschen zwang ihn mehr, seine Rührung zurückzuhalten. Zärtlichkeit, unendliches Mitleid und unendlicher Schmerz erfüllten ihn für die arme Schäferin; er sah sie vor sich: in ihren derben roten Bauernkleidern, groß, schüchtern, mit sanfter Stimme, beim Klang der Glocken träumend (die liebte sie wie er)  , sah sie mit ihrem schönen Lächeln voller Feinsinn und Güte, stets bereit, Tränen zu vergießen   Tränen der Liebe, Tränen des Mitleids, Tränen der Schwäche: denn sie war gleichzeitig so männlich und so ganz weiblich, die reine, tapfere Jungfrau, die den wilden Willen eines Räuberheeres bändigte und mit ihrem unerschrockenen Sinn, ihrem Frauenzartgefühl und ihrer sanften Stetigkeit, allein und von allen verlassen, Monate hindurch die Drohungen und heuchlerischen Schliche einer Meute von Pfaffen und Richtern vereitelte   von Wölfen und Füchsen, die sie mit blutroten Augen und gefletschten Zähnen umstellten.

Am meisten bewegt war Christof durch ihre Güte, ihre Herzensweichheit, die sie nach den Siegen weinen ließ, weinen über die toten Feinde, über solche, die sie beschimpft hatten, die sie tröstete, wenn sie verwundet waren, und denen sie das Sterben leichter machte; gegen die, welche sie verrieten, hegte sie keine Bitterkeit, und noch auf dem Scheiterhaufen, als die Flammen emporzüngelten, dachte sie nicht an sich, sondern an den Mönch, der sie ermahnte, und den sie zum Fortgehen zwang. »Sanft im bittersten Kampfe, gut unter den Bösen, friedfertig im Kriege selber, trug sie in den Krieg, diesen Triumph des Teufels, den Geist Gottes.«

Und Christof ging in sich und dachte: »Ich habe vom Geist Gottes nicht genug ins Leben getragen.«

Er las von neuem die schönen Worte des Evangelisten der Jeanne:

»Bei der Menschen Ungerechtigkeiten und des Schicksals Härten gut sein, gut bleiben ... Bei allem scharfen Streit Sanftmut und Wohlwollen bewahren, Prüfungen erdulden, ohne ihnen zu erlauben, an den inneren Schatz zu rühren ...«

Und er wiederholte sich:

»Ich habe gesündigt. Ich war nicht gut. Es hat mir an Wohlwollen, gefehlt. Ich war allzu streng.   Verzeiht. Glaubt nicht, daß ich euer Feind bin, ihr, die ich bekämpfe. Ich möchte euch Gutes tun, euch auch ... Aber ich muß euch doch hindern, das Böse zu tun ...«

Und da er kein Heiliger war, genügte es, daß er ihrer nur gedachte, und sein Haß erwachte von neuem. Am wenigsten verzieh er ihnen, daß es, wenn man sie sah, wenn man Frankreich durch sie hindurchsah, unmöglich wurde, sich vorzustellen, daß eine solche Blume von Reinheit und heroischer Poesie jemals auf diesem Boden sprießen konnte. Und doch war es so. Wer durfte sagen, daß sie nicht auch ein zweites Mal aus ihm hervorgehen könne? Das heutige Frankreich konnte nicht schlimmer als das Karls VII. sein, als die entehrte Nation, aus der die Jungfrau hervorging. Der Tempel war jetzt leer, besudelt, halb zerstört. Was machte das? Gott hatte darin gesprochen.

Christof suchte einen Franzosen, den er lieben könnte, um der Liebe zu Frankreich willen.

 

Es war Ende März. Seit Monaten hatte sich Christof mit niemandem unterhalten, noch irgendeinen Brief empfangen, außer ab und zu ein paar Worte von der alten Mutter, die nicht wußte, daß er krank war, der er nicht schrieb, daß er es war. Seine ganzen Beziehungen zur Welt beschränkten sich auf die Gänge in die Musikläden, um Arbeit abzuholen oder hinzubringen. Er ging hin zu Zeiten, da er wußte, daß Hecht nicht dort war,   damit er nicht mit ihm zu reden brauchte. Überflüssige Vorsicht. Das einzige Mal, als er Hecht traf, fragte dieser kaum mit ein paar gleichgültigen Worten nach seiner Gesundheit.

So war er denn in ein Gefängnis des Schweigens gesperrt, als er eines Morgens eine Einladung von Frau Roussin zu einem musikalischen Abend erhielt: ein berühmtes Quartett sollte sich dort hören lassen. Der Brief war äußerst liebenswürdig, und Roussin hatte einige freundschaftliche Zeilen hinzugefügt. Er war auf sein Zerwürfnis mit Christof nicht sehr stolz. Um so weniger, als er sich unterdessen mit seiner Sängerin überworfen hatte und sie ohne zarte Rücksicht beurteilte. Er war ein guter Junge; er war Leuten, denen er unrecht getan hatte, niemals böse. Und wenn seine Opfer mehr Empfindlichkeit als er gezeigt hätten, so wäre ihm das recht lächerlich erschienen. Hatte er also das Vergnügen, sie wiederzusehen, so zögerte er nicht, ihnen die Hand zu reichen.

Christofs erste Regung war, die Achseln zu zucken und sich zu schwören, daß er nicht hingehen würde. Je näher aber der Tag des Konzertes heranrückte, um so schwankender wurde er. Er konnte es nicht mehr ohne ein menschliches Wort aushalten, vor allem aber nicht ohne einen Ton Musik. Doch immer wieder sagte er sich, er werde den Fuß nicht mehr über die Schwelle dieser Leute setzen. Als aber der Abend gekommen war, ging er hin, wenn auch ganz beschämt über seine Feigheit.

Er bekam auch seine Strafe dafür. Kaum befand er sich wieder in jenem Kreise von Politikern und Snobs, als er sich von heftigerem Widerwillen gegen sie ergriffen fühlte als je zuvor: denn in den Monaten seiner Einsamkeit hatte er sich von dieser Menagerie entwöhnt. Unmöglich, hier Musik anzuhören: es war Entweihung. Christof beschloß, sofort nach dem ersten Stück wegzugehen.

Seine Augen durchliefen den ganzen Kreis unsympathischer Gesichter und Gestalten. Da trafen sie am Ende des Salons auf ein paar Augen, die ihn anschauten und sich sofort abwandten. Eine unbestimmbare Aufrichtigkeit lag in ihnen, die ihm unter den abgestumpften Blicken der andern auffiel. Schüchterne Augen waren es, aber klar, scharfblickend, echt französische Augen, die, wenn sie sich einmal auf jemand richten, ihn mit vollkommener Wahrhaftigkeit ansehen, Augen, die nichts vor sich selbst verbergen und denen vielleicht nichts verborgen bleibt. Er kannte diese Augen, doch er kannte nicht das Gesicht, das sie erhellten. Es gehörte einem jungen Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, von kleiner, ein wenig vorgeneigter Gestalt, schwächlichem Aussehen, bartlosem und kränklichem Gesicht, mit kastanienbraunen Haaren und unregelmäßigen und feinen Zügen; jene Unregelmäßigkeit gab dem Ausdruck irgendetwas, wenn auch nicht Beunruhigendes, so doch ein wenig Unruhiges, das nicht ohne Reiz war und der Ruhe der Augen zu widersprechen schien. Er stand aufrecht in einer Türöffnung, und niemand gab auf ihn acht. Von neuem sah Christof ihn an, und jedesmal begegnete er diesen Augen, die sich mit liebenswürdigem Ungeschick schüchtern abwandten; und jedesmal war es bei ihm ein Wiedererkennen: er hatte den Eindruck, als ob er sie schon in einem andern Gesicht gesehen habe.

Da er wie gewöhnlich unfähig war, zu verbergen, was er fühlte, ging Christof auf den jungen Mann zu; aber während er sich ihm näherte, fragte er sich, was er ihm denn sagen sollte; und er zögerte unentschlossen, sah nach rechts und nach links, als ob er nur aufs Geratewohl den Raum durchquere. Der andere ließ sich dadurch nicht täuschen, er begriff, daß Christof auf ihn zukam; bei dem Gedanken, mit ihm sprechen zu sollen, wurde er so eingeschüchtert, daß er sich versucht fühlte, ins Nebenzimmer zu gehen; aber gerade seine Verlegenheit nagelte ihn am Platze fest. Sie standen sich gegenüber. Einige Augenblicke vergingen, bevor es ihnen gelang, ins Gespräch zu kommen. Je mehr sich die Situation ausdehnte, um so lächerlicher glaubte einer in des andern Augen zu erscheinen. Schließlich schaute Christof dem jungen Mann ins Gesicht und sagte, ohne weitere Umschweife, lächelnd und in barschem Ton:

»Sie sind kein Pariser?«

Bei dieser unerwarteten Frage lächelte der junge Mann trotz seiner Verlegenheit und antwortete mit Nein. Seine schwache Stimme war voll verschleierten Wohlklangs und glich einem zerbrechlichen Instrument.

»Ich dachte es mir,« meinte Christof«

Und als er sah, wie diese sonderbare Bemerkung den andern etwas verwirrte, fügte er hinzu:

»Das ist kein Vorwurf.«

Doch die Verlegenheit seines Gegenüber nahm dadurch noch zu.

Erneute Stille trat ein. Der junge Mensch machte Anstrengungen zu sprechen; seine Lippen zitterten; man fühlte, er hatte einen ganz fertigen Satz auf der Zunge, konnte sich aber nicht entschließen, ihn herauszubringen. Christof forschte neugierig in dem beweglichen Gesicht, unter dessen Haut man kleine Schauder hinstreichen sah. Er schien nicht aus derselben Substanz wie die andern ringsum in diesem Salon, gedrungene Gesichter aus schwerem Stoff, die nur wie eine Verlängerung des Halses, ein Stück Körper erschienen. Hier tauchte die Seele an die Oberfläche empor; in jedem kleinsten Teilchen Fleisch war geistiges Leben. Er brachte es nicht fertig zu reden. Christof fuhr gutmütig fort:

»Was tun Sie hier unter dieses Geschöpfen?«

Er sprach ganz laut und mit jener befremdenden Ungebundenheit, um deretwillen man ihn haßte. Der verlegene junge Mann konnte nicht umhin, sich umzuschauen, ob man sie auch nicht hörte, und diese Bewegung mißfiel Christof. Dann fragte er, statt zu antworten mit linkischem und angenehmem Lächeln:

»Und Sie?«

Christof fing an zu lachen, sein etwas schweres Lachen:

»Ja, und ich?« meinte er gutlaunig.

Der junge Mann faßte sich plötzlich ein Herz:

»Wie ich Ihre Musik liebe!« sagte er mit erstickter Stimme.

Dann hielt er inne, machte von neuem vergebliche Versuche, seine Schüchternheit zu besiegen. Er errötete; er fühlte es und sein Erröten wurde daher stärker und überzog Schläfen und Ohren. Christof sah ihn lächelnd an und hatte Lust, ihn zu umarmen. Der junge Mensch schaute mit entmutigten Augen zu ihm auf.

»Nein, wirklich,« sagte er, »ich kann nicht ... Ich kann nicht davon sprechen ... nicht hier ...«

Christof ergriff seine Hand, mit einem stummen Lachen seines großen geschlossenen Mundes. Er fühlte, wie die mageren Finger des Unbekannten leicht an seiner flachen Hand bebten und sie mit unwillkürlicher Zärtlichkeit umfaßten. Und der junge Mann fühlte die starke Hand Christofs, die seine Hand voller Zuneigung zerdrückte. Rings um sie verschwand der Lärm des Salons. Sie waren allein und verstanden, daß sie Freunde waren.

Eine Sekunde später kam Frau Roussin, berührte Christofs Arm leicht mit ihrem Fächer und sagte:

»Ich sehe. Sie haben miteinander Bekanntschaft gemacht, und es ist unnötig, Sie vorzustellen. Dieser große Junge ist heute abend um Ihretwillen gekommen.«

Darauf trennten sie sich etwas verlegen voneinander.

Christof fragte Frau Roussin:

»Wer ist das?«

»Wie,« rief sie aus, »Sie kennen ihn nicht? Es ist ein kleiner Dichter, der sehr hübsch schreibt. Einer Ihrer Verehrer. Er ist recht musikalisch und spielt gut Klavier. Aber es tut nicht gut, vor ihm die Rede auf Sie zu bringen: er ist in Sie verliebt. Neulich wäre er Ihretwegen beinah in Streit mit Lucien Lévy-Coeur geraten.«

»Der tapfere Junge!« sagte Christof.

»Ja, ich weiß, Sie sind gegen diesen armen Lucien ungerecht; und doch liebt auch er Sie.«

»Ach, sagen Sie mir das nicht. Ich würde mich hassen.«

»Wahrhaftig?«

»Niemals! Nie! Ich verbiete es ihm.«

»Genau, was Ihr Verliebter getan hat. Sie sind einer so verrückt wie der andere. Lucien war dabei, uns eins Ihrer Werke zu erklären. Da stand dieser kleine schüchterne Mensch, den Sie eben gesehen haben, vor Zorn bebend auf und verbot ihm, von Ihnen zu sprechen. Haben Sie schon eine solche Anmaßung gesehen! ... Zum Glück war ich da. Ich hielt es für das Beste, zu lachen. Lucien machte es wie ich; und der andere schwieg ganz verwirrt still; und schließlich hat er sich entschuldigt.«

»Armer Kleiner!« meinte Christof.

Er war bewegt.

»Wo ist er hingekommen?« fuhr er fort, ohne auf Frau Roussin zu hören, die von etwas anderem zu ihm sprach.

Er machte sich auf die Suche nach ihm. Aber der unbekannte Freund war verschwunden. Christof kehrte zu Frau Roussin zurück:

»Sagen Sie mir, wie er heißt.«

»Wer?« fragte sie.

»Der, von dem Sie eben zu mir sprachen.«

»Ihr kleiner Dichter?« meinte sie. »Er heißt Olivier Jeannin.«

Das Echo dieses Namens klang in Christofs Ohren wie eine bekannte Musik. Die Silhouette eines jungen Mädchens zog eine Sekunde an seinem inneren Auge vorüber. Aber das neue Bild, das Bild des Freundes, verlöschte sie sofort.

 

Christof kehrte heim. Inmitten der Menge ging er durch die Straßen von Paris. Er sah und hörte nichts. Seine Sinne waren für alles, was ihn umgab, verschlossen. Er war wie ein See, den ein Felsenrund von der übrigen Welt abschließt. Kein Hauch, kein Lärm, keine Unruhe war in ihm, nur Friede. Er sagte sich wieder und wieder:

»Ich habe einen Freund.«


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