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Zweites Buch
Antoinette

Die Jeannins waren eine jener alten französischen Familien, die, seit Jahrhunderten in demselben Provinzwinkel ansässig, sich von jeder Vermischung mit Fremden rein erhalten. Trotz aller Veränderungen, die sich in den Gesellschaftsschichten vollziehen, gibt es solcher Familien in Frankreich doch mehr, als man glaubt. Es bedarf einer bedeutenden Umwälzung, um sie dem Boden zu entreißen, in dem sie, ohne es selbst zu wissen, tief verwurzelt sind. Die Vernunft hat an dieser Anhänglichkeit gar keinen, der persönliche Vorteil nur einen sehr geringen Anteil, und was die gelehrte Sentimentalität für historische Erinnerungen betrifft, so kommt die nur für ein paar Literaten in Betracht. Was mit unüberwindlicher Umklammerung fesselt, das ist die den gewöhnlichsten und den bedeutendsten Menschen gemeinsame dunkle und mächtige Empfindung, seit Jahrhunderten ein Stück dieser Erde zu sein, ihr Leben zu leben, ihre Luft zu atmen, ihr Herz an dem eigenen schlagen zu hören, gleich zwei Seite an Seite schlafenden Wesen, ihre unmerklichen Schauer wahrzunehmen, die tausend Nuancen der Stunden, der Jahreszeiten, der Hellen oder verhängten Tage, die Stimmen und das Schweigen der Dinge. Und zwar sind es weder die schönsten Gegenden, noch die, in denen das Leben am mildesten ist, die das Herz vor allem gefangen nehmen, sondern jene, wo die Erde am schlichtesten, am bescheidensten, dem Menschen am nächsten ist und in einer innigen und vertrauten Sprache zu ihm redet.  

So war der kleine Ort im Herzen Frankreichs, wo die Jeannins lebten. Ein ebener, feuchter Landstrich, eine alte, verschlafene kleine Stadt, die ihr gelangweiltes Gesicht im trüben Wasser eines regungslosen Kanals spiegelt. Rings umher gleichförmige Felder, beackerter Boden, Wiesenstreifen, kleine Wasserläufe, große Wälder und wieder Felder, Felder ... Nichts Malerisches, kein Denkmal, keine Erinnerung. Nichts ist dazu angetan, anzuziehen   alles dazu angetan, festzuhalten.

Gerade in dieser Verschlafenheit und Benommenheit liegt eine geheime Kraft. Der, dessen Geist sie zum ersten Mal verspürt, leidet darunter und setzt sich zur Wehr; wer aber seit Menschenaltern ihre Wirkung erfahren hat, kann sie nicht mehr loswerden; er ist bis ins Mark davon erfüllt. Und gerade diese Reglosigkeit der Dinge, diese stimmungsvolle Langeweile, diese Einförmigkeit hat für ihn einen Reiz, eine Süße, über die er sich keine Rechenschaft gibt, die er verlästert, die er aber liebt und nicht zu vergessen vermöchte. Die Jeannins hatten immer dort gelebt. Man konnte die Spuren der Familie in der Stadt und in der Umgebung bis zum 16. Jahrhundert zurückverfolgen; denn natürlich gab es einen Großonkel, der sein Leben damit verbracht hatte, den Stammbaum dieser unbekannten und arbeitsamen kleinen Leute nachzuzeichnen: Bauern, Landleute, Handwerker in der Stadt waren sie gewesen; dann: Geistliche, Landnotare; schließlich hatten sie es dahin gebracht, sich in der Unterpräfektur des Kreises festzusetzen. Dort war Augustin Jeannin, der Vater des jetzigen Jeannin, ein sehr geschickter Bankier: ein gewandter Mann, durchtrieben und starrsinnig wie ein Bauer   im Grunde anständig, doch ohne übertriebene Skrupel, ein tüchtiger Arbeiter und Genußmensch, der zehn Meilen in der Runde wegen seiner gewitzten Biederkeit, seiner derben Gradheit und seines Vermögens geachtet und gefürchtet war. Untersetzt, stark, kräftig, mit lebhaften Äuglein in einem großen, roten, blatternarbigen Gesicht, hatte er einst als Schürzenjäger von sich reden gemacht, und die Neigung dazu war ihm noch nicht ganz abhanden gekommen. Große Worte und gute Mahlzeiten mochte er gern. Man mußte ihn bei Tisch sehen, wo ihm sein Sohn Anton mit ein paar alten Freunden desselben Schlages, dem Friedensrichter, dem Notar, dem Oberkirchenvorsteher stand hielt. (Der alte Jeannin war zwar ein großer Pfaffenfresser, aber er verstand sich auch zu einer gemeinsamen Fresserei mit einem Pfaffen, falls der Pfaffe tüchtig dabei war.) Es waren handfeste Kerle, aus dem gleichen Holze geschnitzt wie das Modell des Rabelais. Wenn sie beisammen waren, gab es ein Feuerwerk von ungeheuerlichen Späßen, Faustschläge auf den Tisch, brüllendes Gelächter. Die Ausbrüche dieser Heiterkeit steckten die Dienstboten und die Nachbarn auf der Straße an.   Dann hatte sich der alte Jeannin eine Lungenentzündung zugezogen, als es ihm an einem sehr heißen Sommertage in den Sinn gekommen war, in Hemdsärmeln in den Keller hinab zu steigen, um seinen Wein auf Flaschen zu ziehen. Binnen vierundzwanzig Stunden war er in die andere Welt, an die er keineswegs glaubte, abgereist, natürlich mit allen Sakramenten der Kirche versehen, wie es sich für einen guten Bürger und Provinzvoltairianer ziemt, der sich im letzten Augenblick bereden läßt, damit die Frauen ihn in Frieden lassen und weil es ja nicht darauf ankommt   und dann, weil man doch niemals weiß ...

Sein Sohn Anton war ihm in seinem Geschäft gefolgt. Er war ein dickes, rotwangiges, blühend aussehendes Männchen mit glattem Gesicht und englischem Backenbart; er redete hastig und undeutlich, vollführte viel Lärm und fuhr mit lebhaften und ruckartigen Gebärden hin und her. Er besaß nicht die finanztechnische Klugheit seines Vaters, war aber ein recht guter Verwalter. Er brauchte bloß gemächlich die angefangenen Unternehmungen fortzuführen und sie gewannen jeden Tag durch die einfache Tatsache ihrer Dauer an Umfang. In der Gegend genoß er den Ruf eines guten Geschäftsmannes, obgleich ihm selber am Erfolg seiner Angelegenheiten nur wenig Verdienst zukam; denn er verwendete darauf nur Regelmäßigkeit und Fleiß, übrigens war er durchaus ehrenhaft und flößte überall verdiente Achtung ein. Sein umgängliches, offenes Wesen hatte ihm (war es einigen vielleicht auch etwas zu vertraulich, ein wenig zu ausladend, zu volkstümlich) in der kleinen Stadt und der Umgegend einen gediegenen Ruf geschaffen. Mit Geld war er nicht verschwenderisch, dafür aber mit Gefühlen; die Träne hatte er schnell im Auge, und der Anblick eines Elends rührte ihn aufrichtig und in einer Art, die nicht verfehlte, auf das Opfer dieses Elends Eindruck zu machen.

Die Politik nahm, wie bei den meisten Kleinstädtern, einen großen Raum in seinem Denken ein. Er war Republikaner, glühend und gemäßigt, liberal und unduldsam, patriotisch und nach dem Vorbild seines Vaters äußerst antiklerikal. Er gehörte zum Stadtvorstande und es war ihm wie seinen Kollegen ein Vergnügen, dem Pfarrer des Kirchspiels oder dem Fastenprediger, der unter den Damen der Stadt so viel Begeisterung erregte, irgend ein Schnippchen zu schlagen. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, daß der Antiklerikalismus der französischen Provinzstädtchen immer mehr oder weniger eine Episode der Ehekriege bedeutet   eine versteckte Form jenes dumpfen und erbitterten Kampfes zwischen Ehemännern und Frauen, der sich in fast allen Häusern findet.

Anton Jeannin besaß auch literarischen Ehrgeiz. Wie die Provinzler seiner Generation war er mit lateinischen Klassikern großgezogen worden, von denen er ein paar Seiten auswendig wußte, sowie eine Menge Sprichwörter von La Fontaine, von Boileau   dem Boileau der » Art poétique« und vor allem des » Lutrin«   von dem Verfasser der » Pucelle« und den poetae minores des 18. Jahrhunderts, in deren Geschmack er sich bemühte, ein paar Stücke zusammenzureimen. Er war nicht der einzige in seinem Bekanntenkreis, der solchen Hang hatte; übrigens erhöhte das nur Jeannins Ruf. Man zitierte von ihm Schwänke in Versen, Vierzeiler, Knittelverse, Akrostichen, Epigramme und Lieder, von denen einige sogar ziemlich gewagt und nicht ohne eine gewisse Sinnlichkeit waren. Die Mysterien der Verdauung waren dabei nicht vergessen: die Muse der Loire-Länder benutzt ihre Trompete gern nach dem Vorbild des berühmten Danteschen Teufels:

» Ed egli avea del cul fatto trombetta«

Dieser kleine, robuste, joviale und tatkräftige Mann hatte eine Frau von ganz anderem Schlag genommen: die Tochter eines Magistratsbeamten des Ortes, Lucie de Villiers.   Die »de Villiers« hießen eigentlich »Devilliers«; ihr Name hatte sich mit der Zeit nur gespalten wie ein Kiesel, der, einen Abhang hinunterrollend, in zwei Teile zerschlägt. Bei ihnen wurde der Sohn Magistratsbeamter wie der Vater; sie gehörten zu jenem alten französischen Parlamentarierschlag, der einen hohen Begriff von Gesetz und Pflicht hatte, von gesellschaftlichen Regeln, von persönlicher und besonders beruflicher Würde, die durch untadelige Anständigkeit   mit einer kleinen philiströsen Färbung   gestützt wurde. Im vergangenen Jahrhundert hatten sie sich mit der Jansenistischen Fronde eingelassen, und es war an ihnen von dieser Zeit her mit der Verachtung jesuitischen Geistes irgend etwas Pessimistisches, ein etwas brummiges Wesen haften geblieben. Sie sahen das Leben nicht in rosigem Licht; und weit davon entfernt, die Schwierigkeiten, die es ihnen entgegenstellte, zu ebnen, hätten sie sich vielmehr am liebsten noch welche angehäuft, nur um aus gutem Grunde darüber jammern zu können.

Lucie de Villiers zeigte einige dieser Züge, die dem nicht sehr verfeinerten Optimismus ihres Mannes entgegengesetzt waren. Sie war groß, einen ganzen Kopf größer als er, mager, gut gebaut, verstand es, sich anzuziehen, doch mit einer etwas steifen Eleganz, durch die sie stets, als wäre es ihre Absicht, älter erschien als sie war. Sie stand moralisch sehr hoch, war aber gegen andere streng; sie duldete keinerlei Fehler, man könnte sagen: nicht einmal Eigenheiten; sie galt für kalt und hochmütig; zudem war sie sehr fromm, was der ewige Streitpunkt zwischen den Eheleuten blieb. Übrigens liebten sie sich sehr und hätten einander, obgleich sie sich oft stritten, nicht entbehren können. Sie waren beide recht unpraktisch: er, aus Mangel an Psychologie (es geschah ihm immer wieder, daß er auf gutmütige Gesichter und schöne Worte hineinfiel), sie, aus vollkommener Unerfahrenheit in Geschäftsdingen (sie verstand davon nichts; und da sie stets davon fern gehalten wurde, interessierte sie sich nicht dafür).

 

Sie hatten zwei Kinder: ein Mädchen, Antoinette, und einen um fünf Jahre jüngeren Knaben, Olivier. Antoinette war eine hübsche Brünette, die ein anmutiges und braves, echt französisches Gesichtchen mit lebhaften Augen, gewölbter Stirn, feinem Kinn, einem geraden Näschen hatte   »eine jener feinen edlen Nasen » au plus joly«, wie ein alter französischer Porträtist es recht hübsch bezeichnete, »in welcher ein gewisses, unmerkbares Spiel vor sich ging, das die Physiognomie belebte und, je nachdem sie sprach oder lauschte, die Zartheit der inneren Regungen verriet«. Von ihrem Vater hatte sie die Heiterkeit und Sorglosigkeit geerbt. Olivier war ein zarter Blondkopf; wie sein Vater von kleiner Gestalt, aber von ganz anderer Natur. Während seiner Kindheit war seine Gesundheit durch fortgesetzte Krankheiten schwer erschüttert worden; und war er auch deswegen um so mehr von all den Seinen verwöhnt worden, so war er durch seine körperliche Schwäche doch frühzeitig ein melancholischer kleiner Junge geworden, ein Träumer, der Furcht vor dem Tode hatte und der für das Leben sehr schlecht gewappnet war. Er blieb einsam, ebenso sehr aus Schüchternheit wie aus Neigung; die Gesellschaft anderer Kinder floh er: er fühlte sich unter ihnen nicht wohl; ihr Spiel, ihre Schlachten waren ihm zuwider; ihre Gewalttätigkeit flößte ihm Abscheu ein. Er ließ sich von ihnen schlagen, wenn auch nicht aus Mangel an Mut, so doch aus Schüchternheit, weil er fürchtete, bei der Verteidigung den anderen wehe zu tun. Hätte die Stellung seines Vaters ihn nicht geschützt, so würden sie ihm das Leben zur Qual gemacht haben. Er war weichherzig und in seiner Feinfühligkeit fast krankhaft. Ein Wort, ein Zeichen der Zuneigung, ein Vorwurf löste bei ihm Ströme von Tränen aus. Seine Schwester, die viel gesünder war, machte sich über ihn lustig und nannte ihn »kleiner Springbrunnen«.  

Die beiden Kinder liebten einander von ganzem Herzen; aber sie waren zu verschieden, um ihre Tage miteinander zu verbringen. Jedes ging für sich und hing seinen Träumen nach. Mit dem Heranwachsen wurde Antoinette immer hübscher. Man sagte es ihr und sie wußte es wohl: sie war froh darüber und erdichtete schon Zukunftsromane. Der kränkliche und trübsinnige Olivier fühlte sich durch alle Berührungen mit der Außenwelt beständig verwundet, und er flüchtete sich in seine eigene sonderbare kleine Gedankenwelt: er erzählte sich Geschichten. Ein glühendes und weibliches Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, erfüllte ihn; und da er immer für sich, fern von allen Altersgenossen lebte, hatte er sich zwei oder drei erträumte Freunde geschaffen: der eine hieß Johann, der andere Stephan und der dritte Franz. Immer war er mit ihnen zusammen. So kam es, daß er niemals mit denen zusammen war, die um ihn lebten. Er schlief nicht viel und träumte doch unaufhörlich. Morgens, wenn man ihn aus seinem Bett gezogen hatte, vergaß er, träumend, wo er war, während seine beiden Beinchen nackt über den Bettrand hingen oder auch, was oft genug vorkam, mit zwei Strümpfen über demselben Bein. Beide Hände in der Waschschüssel träumte er immer noch weiter; er träumte an seinem Arbeitstisch, wenn er eine Zeile schrieb, wenn er seine Aufgabe lernte; er träumte Stunden lang   und hinterher merkte er plötzlich voller Schrecken, daß er nichts gelernt hatte. Bei Tisch fuhr er zusammen, sobald man das Wort an ihn richtete; ein paar Minuten dauerte es, bis er auf eine Frage antwortete. Mitten im Satz vergaß er, was er sagen wollte. Er vertiefte sich in das Geraun seiner Gedankenwelt und ließ die vertrauten Eindrücke des gleichförmigen Provinzlebens, das gemächlich dahinfloß, auf sich wirken. Da war das große, halbleerstehende Haus, das man nur zum Teil bewohnte, die riesenhaften, Furcht erregenden Keller und Böden; die geheimnisvoll verschlossenen Zimmer mit den herabgelassenen Läden, den überzogenen Möbeln, den verhängten Spiegeln, den verhüllten Lüstern; die alten Familienportraits mit dem ewig aufdringlichen Lächeln; die Stiche aus der Empire-Zeit mit ihrem tugendsamen und schelmischen Heldentum: »Alcibiades und Sokrates bei der Courtisane«, »Antiochus und Stratonice«, »die Geschichte des Epaminondas«, »Belisar als Bettler« ... Von draußen herein drang das Gelärm des Hufschmiedes in der gegenüberliegenden Schmiede, der hinkende Takt der Hämmer auf dem Amboß, das Schnaufen des Blasebalges, der Geruch des verbrannten Horns, das Klatschen der Waschbläuel von den am Uferrand gebückten Wäscherinnen, die dumpfen Schläge des Hackmessers, das der Fleischer im Nachbarhause führte, der Schritt eines Pferdes, der auf dem Straßenpflaster klang, das Quietschen einer Pumpe; man sah die Drehscheibe auf der Kanalbrücke, die langsam von einem Tau gezogenen, schweren Schiffe, die, mit Holzstößen beladen, am Garten vorüberfuhren, den kleinen gepflasterten Hof mit einem Fleckchen Erde, wo inmitten eines Geranien- und Petunienteppichs zwei Fliedersträuche emporwuchsen, und auf der Terrasse über dem Kanal die Kübel mit den blühenden Lorbeer- und Granatbäumen; manchmal erklang der Lärm eines nahen Jahrmarkts, und Bauern kamen in leuchtend blauen Blusen und grunzende Schweine ... Und Sonntags in der Kirche: der Kantor, der so falsch sang, der alte Pfarrer, der beim Messe-Lesen einschlief; der Familienspaziergang auf der Bahnhofallee, wo man seine Zeit damit verbrachte, vor anderen Unglücklichen, die sich ebenfalls verpflichtet fühlten, zusammen spazieren zu gehen, feierlich den Hut zu ziehen   bis man endlich in die übersonnten Felder gelangte, über denen sich die unsichtbaren Lerchen wiegten; oder es ging am spiegelnden, toten Kanal entlang, an dessen beiden Ufern die schlanken Pappeln erschauerten ... Und dann kamen die großen Provinz-Essen, die endlosen Abfütterungen, bei denen man sachverständig und genußstrahlend vom Essen sprach: denn es waren lauter Kenner, die daran teilnahmen; und die Feinschmeckerei ist in der Provinz die Hauptbeschäftigung, die Kunst der Künste. Dann sprach man auch von Geschäften und erzählte sich Späße aus der guten, alten Zeit, und hin und wieder redete man von Krankheiten und das mit endlosen Einzelheiten ... Und der kleine Junge, der da an seiner Tischecke saß, verhielt sich still wie ein Mäuschen, er aß kaum, knabberte nur ein wenig und spitzte seine Ohren, so sehr er konnte. Nichts entging ihm; und was er schlecht verstand, ergänzte ihm seine Einbildungskraft. Er besaß jene eigenartige Gabe, die man oft bei Kindern alter Familien und alter Rassen findet, in denen der Niederschlag der Jahrhunderte allzu ausgeprägt ist: Gedanken, die er noch niemals gedacht hatte und kaum verstehen konnte, erriet er.   Da war auch noch die Küche, in der blutige und saftige Mysterien vollzogen wurden; und die alte Dienstmagd, die närrische und schreckliche Geschichten erzählte ... Und schließlich der Abend, der stille Flug der Fledermäuse, das Grauen vor den gespenstischen Lebewesen, die man in den Eingeweiden des alten Hauses spuken fühlte; große Ratten, riesenhafte und behaarte Spinnen. Und dann kam das Abendgebet am Bettende, bei dem man kaum wußte, was man sagte; der abgerissene Klang des Glöckchens vom nachbarlichen Hospiz, das den Nonnen zur Nacht läutete   das Bett, die Trauminsel.  

Die schönste Zeit des Jahres war die, die man im Frühling oder Herbst auf einer Familienbesitzung, ein paar Meilen von der Stadt entfernt, verbrachte. Dort konnte man träumen, soviel man wollte; man sah niemanden. Wie die meisten kleinen Bürgersprößlinge wurden die zwei Kinder von Leuten aus dem Volke, von Dienstboten und Gutsleuten ferngehalten, und sie flößten ihnen im Grunde auch ein wenig Furcht und Widerwillen ein. Sie hatten von ihrer Mutter eine aristokratische (oder vielmehr höchst bürgerliche) Verachtung für alle, die von ihrer Hände Arbeit lebten, geerbt.   Olivier verbrachte seine Tage, indem er sich in einer Eschenkrone einnistete und dort wunderbare Geschichten las: die köstlichen mythologischen Erzählungen, die Märchen des Musäus oder der Madame d'Aulnoy oder Tausend und eine Nacht oder Reisegeschichten; denn er hatte eine sonderbare Sehnsucht nach fremden Ländern, »ozeanische Träume«, die manchmal junge Burschen aus französischen Provinzstädtchen quälen. Ein Gebüsch verbarg ihm das Haus; so konnte er sich einbilden, weit fort zu sein. Aber er wußte, daß er ganz nahe war; und das war ihm sehr angenehm: denn es lag ihm nicht allzu viel daran, mutterseelenallein weit fortzugehen. Er fühlte sich in der steten Natur wie verloren. Die Bäume wogten rings um ihn her. Durch die Gucklöcher seines Blätternestes sah er in der Ferne die gilbenden Weinberge, die Felder, auf denen buntscheckige Kühe weideten, deren träges und klagendes Brüllen die Stille des verschlafenen Landes erfüllte. Der Hähne durchdringende Stimmen riefen einander von verschiedenen Gutshöfen zu. Man vernahm den ungleichmäßigen Takt der Dreschflegel in den Scheunen. Mitten in diesem Frieden der Dinge flutete immer weiter das fiebernde Leben der Myriaden von Geschöpfen. Olivier beobachtete beunruhigt die immer eiligen Ameisenreihen und die mit Beute beladenen Bienen, die wie Orgelpfeifen summen, und die hochmütigen und dummen Wespen, die nicht wissen, was sie wollen   diese ganze Welt geschäftiger Tiere, die wie vom Wunsch verzehrt scheinen, irgend wohin zu gelangen ... Wohin? Sie wissen es nicht. Ganz gleich, wohin. Irgend wohin.

Olivier überrieselte es, wenn er bedachte, daß er mitten in diesem blinden und feindlichen Universum lebte. Beim Geräusch eines fallenden Tannenzapfens oder eines Tannenzweiges, der niederbrach, fuhr er wie ein Häschen zusammen ... Hörte er dann vom anderen Ende des Gartens, wo Antoinette sich leidenschaftlich schaukelte, das Knirschen der Ringe im Brett, so fühlte er sich wieder ruhig.

Auch sie träumte; aber nach ihrer Art. Sie verbrachte ihren Tag damit, leckermäulig, neugierig und lachlustig durch den Garten zu streifen, wie eine Drossel die Weinbeeren abzupicken, heimlich einen Pfirsich vom Spalier zu pflücken, auf einen Pflaumenbaum zu klettern oder ihm beim Vorübergehen heimlich kleine Stöße zu versetzen, um den Regen der Gold-Mirabellen zu bewirken, die im Munde wie ein duftiger Honig schmelzen. Oder sie pflückte Blumen, obgleich ihr das verboten war; schnell brach sie eine Rose ab, die sie vom frühen Morgen an beliebäugelt hatte und floh mit ihr in den Laubengang hinten im Garten. Dann wühlte sie ihr Näschen wollüstig in die berauschende Blume, küßte sie, biß sie, sog an ihr; und schließlich verbarg sie ihren Raub, ließ ihn durch den Halsausschnitt bis zum Busen hinabgleiten, bis zu ihren beiden kleinen Brüsten, die sie neugierig über dem halboffenen Mieder schwellen sah.   Eine köstliche und verbotene Lust war es auch, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und mit bloßen Füßen auf dem frischen feinen Sand der Alleen auf und ab zu gehen, auf dem feuchten Rasen, auf den schattenkalten oder sonnenheißen Steinen, oder in dem Bächlein, das am Waldrande plätscherte, und mit Füßen, Beinen und Knieen Wasser, Erde und Licht zu küssen. In den Schatten der Tannen hingestreckt, betrachtete sie ihre in der Sonne durchscheinenden Hände und ließ ihre Lippen mechanisch auf dem seidenen Gewebe ihrer feinen rundlichen Arme auf- und abgleiten. Sie machte sich Kränze, Halsketten, Kleider aus Efeu- und Eichenblättern; steckte blaue Distelblüten daran, Rotdorn und Tannenzweiglein mit ihren grünen Früchten: wie eine kleine Barbaren-Prinzessin sah sie aus. Und sie tanzte ganz allein um den Springbrunnen herum; mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich, drehte sich, bis ihr der Kopf schwindelte, bis sie sich auf den Rasen sinken ließ und, das Gesicht ins Gras gewühlt, minutenlang laut lachte, ohne aufhören zu können und ohne zu wissen, warum.

So rannen die Tage der beiden Kinder dahin, die ein paar Schritte voneinander entfernt lebten, ohne sich umeinander zu kümmern   außer wenn es Antoinette in den Sinn kam, ihrem Bruder im Vorübergehen einen Streich zu spielen, ihm eine Handvoll Tannennadeln an die Nase zu werfen oder den Baum, auf dem er saß, zu schütteln und dem Erschrockenen zu drohen, daß sie ihn herunterfallen lassen werde; oder sie machte ihm Angst, indem sie sich auf ihn stürzte und plötzlich: Huh! Huh! schrie. Manchmal überkam sie eine wahre Neckwut ihm gegenüber. Damit er von seinem Baum herunterklettere, behauptete sie, die Mutter suche ihn. War er dann unten, stieg sie zu seinem Platz hinauf und wollte nicht mehr weichen. Dann greinte Olivier und drohte, sie zu verklagen. Aber es bestand keine Gefahr, daß Antoinette ewig auf dem Baum blieb; sie konnte nicht zwei Minuten ruhig sitzen. Wenn sie sich von ihrer Höhe herab lange genug über Olivier lustig gemacht, wenn sie ihn nach Herzenslust in Zorn gebracht hatte und er nahe daran war, in Tränen auszubrechen, ließ sie sich Hals über Kopf hinunter, stürzte sich auf ihn, schüttelte ihn lachend, nannte ihn »Kleiner Einfaltspinsel« und wälzte ihn auf dem Boden herum, wobei sie ihm die Nase mit einer Handvoll Gras rieb. Er versuchte wohl, gegen sie anzukämpfen, aber er war ihr nicht gewachsen; also rührte er sich schließlich nicht mehr, blieb wie ein Maikäfer auf dem Rücken liegen und ließ seine mageren Arme von Antoinettes kräftigen Patschen an den Rasen nageln; er schaute dazu jämmerlich und ergebungsvoll drein; dem widerstand Antoinette nicht: sie schaute ihn sich an, wie er besiegt und unterworfen dalag; sie brach in Lachen aus, küßte ihn stürmisch und ließ ihn los   nicht ohne ihm zuvor als Lebewohl einen kleinen Pfropfen frischen Grases in den Mund gestopft zu haben: das war ihm greulicher als alles andere, denn er war in dergleichen sehr zimperlich; und er spie aus, wischte sich den Mund, schimpfte empört, während sie bereits in großen Sprüngen lachend davonlief. Sie lachte immer. Noch nachts im Schlaf lachte sie. Olivier, der im Nebenzimmer lag und nicht schlief, schreckte mitten in den Geschichten, die er sich erzählte, auf, wenn er das tolle Gelächter und die abgerissenen Worte, die sie in die Nachtstille hineinwarf, vernahm. Draußen krachten die Bäume unter den Windstößen, ein Käuzchen wimmerte, die Hunde heulten in den fernen Dörfern und in den Gehöften tief im Walde. Olivier sah im unbestimmten, bleichen Schein der Nacht die schweren dunklen Fichtenzweige sich gleich Gespenstern bewegen; und dann war ihm Antoinettes Lachen eine Befreiung.

 

Die beiden Kinder waren sehr fromm, besonders Olivier. Ihr Vater entsetzte sie durch seine antiklerikalen Äußerungen; aber er ließ ihnen freie Hand, und im Grunde war er wie viele, die nichts glauben, keineswegs böse darüber, daß die Seinen sich für ihn damit befaßten: denn es ist immer gut, Verbündete im anderen Lager zu haben, und man weiß niemals, nach welcher Seite sich das Glück wenden wird. Alles in allem war er gottesgläubig und behielt es sich vor, im gegebenen Moment den Pfarrer kommen zu lassen, wie es sein Vater auch getan hatte. Wenn es nichts nützt, so kann es doch nicht schaden; man braucht nicht vorauszusetzen, daß man abbrennen wird, um sich gegen Feuersbrunst zu versichern.

Der kränkliche Olivier hatte eine Neigung zum Mystizismus. Manchmal war es ihm, als lebe er nicht mehr. Leichtgläubig und weichherzig, wie er war, bedurfte er einer Stütze; er genoß in der Beichte eine Art schmerzhafte Lust, das wohltuende Gefühl, sich dem unsichtbaren Freunde, dessen Arme immer geöffnet sind, anzuvertrauen, ihm alles sagen zu können, ihm, der alles versieht und alles entschuldigt. Er genoß dieses Bad von Demut und Liebe als etwas Wundersames, aus dem die Seele ganz rein, frisch gewaschen und ausgeruht emporsteigt. Zu glauben war ihm so natürlich, daß er nicht verstand, wie man zweifeln könne. Er dachte, es wäre nur aus böser Absicht möglich oder Gott strafe einen damit. Heimlich betete er, Gottes Huld möge seinen Vater erleuchten, und es war ihm eine große Freude, als er eines Tages beim Besuch einer Dorfkirche ihn mechanisch das Kreuz schlagen sah. Die Begebenheiten der heiligen Geschichte vermischten sich in ihm mit den Märchen von Rübezahl, Gracieuse und Percinet und dem Kalifen Harun al Raschid. Als er klein war, zweifelte er weder an der Wahrheit der einen noch der anderen. Und gleichermaßen, wie er nicht ganz sicher war, Schacabac mit den gespaltenen Lippen und dem geschwätzigen Barbier und dem kleinen Buckligen von Casgar nicht schon begegnet zu sein, suchten seine Augen beim Spaziergang in den Feldern den Schwarzspecht, der in seinem Schnabel die Wunderwurzel der Schatzsucher trägt; Kanaan und das verheißene Land wurden dank seiner Kinderphantasie Bourguignonsche oder Berrichonsche Örtlichkeiten. Ein runder Hügel in der Umgebung, mit einem Bäumchen darauf, das wie ein alter, ausgefranster Flederwisch aussah, schien ihm der Berg, auf dem Abraham seinen Holzstoß errichtet hatte. Und ein großes dürres Gestrüpp am Rande der Stoppelfelder war der brennende Busch, dessen Glut die Jahrhunderte gelöscht hatten. Selbst als er nicht mehr ganz klein war und sein kritischer Sinn zu erwachen begann, mochte er sich noch gern in den Volkssagen wiegen, die den Glauben umkränzen; und das machte ihm so viel Freude, daß er, ohne doch wirklich getäuscht zu werden, sich gern täuschen ließ. So suchte er lange Zeit am Ostersamstag die Heimkehr der Osterglocken zu erspähen, die am Gründonnerstag nach Rom reisen und mit Fähnchen geschmückt, durch die Lüfte wieder zurückkommen. Schließlich hatte er sich klar gemacht, daß die Geschichte erfunden sei, aber nichtsdestoweniger hob er die Nase zum Himmel, wenn er die Glocken läuten hörte. Und einmal bildete er sich ein   obgleich er ganz genau wußte, daß es unmöglich sei   eine mit blauen Bändern über dem Hause verschwinden zu sehen.

Er hatte ein unbezwingliches Bedürfnis, sich in jene Welt der Sage und des Glaubens zurückzuziehen. Das Leben floh er; er floh sich selbst. Mager, bleich, schmächtig, litt er darunter, so beschaffen zu sein, und konnte es nicht leiden, wenn man es aussprach. Er schleppte einen angeborenen Pessimismus mit sich herum, den ihm sicher seine Mutter vererbt hatte und der in dem kränklichen Knaben günstigen Boden gefunden hatte. Bewußt war er sich dessen nicht und meinte, alle Welt sei wie er. Und so brachte das kleine zehnjährige Kerlchen es fertig, anstatt in der Erholungszeit im Garten zu spielen, sich in sein Zimmer einzuschließen und, während er sein Vesperbrot knabberte, sein Testament zu schreiben.

Er schrieb viel. Jeden Abend machte er sich mit viel Eifer daran, heimlich sein Tagebuch zu schreiben   warum, wußte er nicht, denn er hatte nichts zu sagen und sagte nichts als Albernheiten. Schreiben war bei ihm ein ererbter Hang, jenes jahrhundertealte Bedürfnis des französischen Provinzlers   in dem die alte unzerstörbare Rasse lebt  , täglich, bis zu seinem Tode, ganz für sich allein, mit einer blödsinnigen und fast heroischen Geduld in ausführlichen Eintragungen niederzuschreiben, was er jeden Tag gesehen, gesagt, getan, gehört, gegessen und getrunken hat. Ganz für sich allein. Für niemand anderen. Niemand liest es jemals: er weiß das, und er selbst überliest es niemals wieder.

 

Die Musik war für Olivier, ähnlich wie der Glaube, eine Zuflucht gegen das zu grelle Tageslicht. Beide, Bruder und Schwester, waren musikalisch aus Herzensbedürfnis, besonders Olivier, der diese Gabe von seiner Mutter mitbekommen hatte. Im übrigen fehlte ihnen noch viel zum guten Geschmack. Niemand wäre in jenem Provinzwinkel fähig gewesen, diesen zu bilden, denn man hörte dort keine andere Musik als die der Stadtkapelle, die Märsche spielte oder (an Sonn- und Festtagen) Potpourris von Adolphe Adam; dann gab es noch die Kirchenorgel, die Romanzen hören ließ, und die Klavierübungen der jungen Damen der Gesellschaft, die auf ihren schlecht gestimmten Instrumenten irgend welche Walzer oder Polkas klimperten, das Vorspiel zum »Kalifen von Bagdad« oder die »Jagd des jungen Heinrich« und zwei oder drei Mozartsche Sonaten   natürlich immer dieselben und immer mit denselben falschen Tönen. Das gehörte zum unveränderlichen Programm der Abendgesellschaften, wenn man Besuch bei sich sah. Wer Talent hatte, wurde nach Tisch gebeten, es glänzen zu lassen; zuerst weigerte man sich errötend und schließlich gab man auf die inständigen Bitten der Versammelten hin nach; und man spielte sein großes Musikstück auswendig herunter. Jeder bewunderte darauf das Gedächtnis des Künstlers und das »perlende Spiel«. Diese feierliche Handlung, die sich fast bei jeder Abendgesellschaft wiederholte, verdarb den beiden Kindern das ganze Vergnügen am Essen. Hatten sie vierhändig ihre »Chinesische Reise« von Bazin oder ihre beiden Stücke von Weber zu spielen, so ging es noch, denn sie konnten sich aufeinander verlassen und hatten nicht allzu viel Angst; hieß es aber allein spielen, dann bedeutete das für sie eine Höllenpein. Antoinette war, wie immer, die Tapfere. Zwar langweilte sie das Ganze zum Sterben. Aber da sie keinerlei Möglichkeit wußte, zu entwischen, so ergab sie sich darein, setzte sich mit entschlossenem Gesichtchen vor das Klavier und galoppierte ihr Rondo, so gut es eben ging, herunter, verhaspelte sich an gewissen Stellen, saß wohl auch plötzlich fest, hörte dann auf, wandte sich um und sagte lächelnd:

»Ach, das weiß ich nicht mehr so genau ...«

Dann fing sie wacker ein paar Takte weiter wieder an und spielte bis zu Ende. Hierauf verbarg sie nicht ihre Befriedigung, fertig zu sein; und, während sie unter allgemeinen Schmeicheleien an ihren Platz zurückkehrte, sagte sie lachend:

»Na, falsche Noten hab ich genug gespielt.«

Olivier dagegen war weniger leichtherzig. Er konnte es nicht ausstehen, sich öffentlich vorführen zu lassen, der Mittelpunkt einer ganzen Gesellschaft zu sein. Es war schon eine Qual für ihn, nur zu reden, wenn Gesellschaft da war. Vorspielen müssen und gar Leuten, die Musik nicht liebten (er durchschaute das sehr wohl), die Musik sogar langweilte und die einen nur aus Gewohnheit spielen ließen, schien ihm eine Tyrannei, gegen die er sich, allerdings vergeblich, auflehnte. Er weigerte sich hartnäckig. Manchmal rannte er davon; er versteckte sich in einer dunklen Kammer, im Flur und sogar auf dem Boden, trotz seiner schrecklichen Furcht vor den Spinnen. Sein Trotz machte das Bitten und Drängen nur stärker und abgefeimter. Die Verweise der Eltern kamen hinzu, die, falls der Geist des Widerspruchs sich zu unverschämt zeigte, von einigen Klapsen begleitet waren   und zuguterletzt mußte man natürlich doch spielen, aller Vernunft zum Hohn. Hinterher, nachts, war er unglücklich, weil er schlecht gespielt hatte, denn er besaß Eitelkeit und liebte die Musik wirklich.

Der Geschmack der Kleinstadt war nicht immer so mittelmäßig gewesen. Man erinnerte sich einer Zeit, in der bei zwei oder drei Mitbürgern recht gute Kammermusik gemacht worden war. Frau Jeannin sprach oft von ihrem Großvater, der mit Leidenschaft auf dem Cello gekratzt und Melodien von Gluck, Dalayrac und Berton gesungen hatte. Im Hause befand sich noch ein dickes Heft Noten von damals, ebenso ein Stoß italienischer Lieder. Denn der liebenswürdige Greis war wie Herr Andrieux gewesen, von dem Berlioz sagte: »Er hatte Gluck sehr gern.« Und er fügte voller Bitterkeit hinzu: »Er hatte auch Piccini sehr gern.« Vielleicht hatte er sogar Piccini lieber. Jedenfalls überwogen in Großvaters Sammlung die italienischen Lieder bei weitem an Zahl. Sie wurden dem kleinen Olivier das musikalische tägliche Brot. Eine nicht sehr gehaltvolle Nahrung, die ein wenig den Zuckerbäckereien der Provinz glich, mit denen man die Kinder vollstopft; sie lassen einen faden Geschmack zurück, verderben den Magen und bringen die Gefahr mit sich, den Appetit auf solidere Nahrung für immer zu vertreiben. Leckermäuligkeit aber konnte bei Olivier nicht mitsprechen. Solidere Nahrung bot man ihm nicht an. Er hatte kein Brot   also aß er Kuchen. So wurden durch den Zwang der Umstände Cimarosa, Paesiello und Rossini die Ammen dieses kleinen melancholischen und schwärmerischen Jungen, dem ein wenig schwindelte, wenn er den Asti Spumante trank, den, anstatt der Milch, jene ausgelassenen und frechen Silene ihm boten, sie und die beiden tänzelnden Bacchanten aus Neapel und Catania mit dem harmlosen und sinnlichen Lächeln: Pergolese und Bellini.

Er trieb viel Musik, doch nur zu seinem eigenen Vergnügen, wenn er allein war. Er war von ihr ganz durchtränkt. Zu verstehen suchte er nicht, was er spielte; er ließ es auf sich wirken und freute sich daran. Niemand verfiel darauf, ihm die Harmonielehre beizubringen, und er selbst kümmerte sich nicht darum. Alles, was Wissenschaft und wissenschaftlicher Geist hieß, war der Familie fremd, besonders von mütterlicher Seite her. Alle diese Rechtsgelehrten, Schöngeister und Humanisten waren, vor ein Problem gestellt, verloren. Wie von einem Wundertier erzählte man von einem Familienmitglied, einem entfernten Vetter, der zum Schiffahrtsamt gehört hatte. Und man setzte hinzu, er sei deshalb auch verrückt geworden. Die alte Bürgerschaft der Provinz mit ihrem robusten und wirklichkeitsbejahenden, wenn auch durch lange Verdauungsübungen und die Eintönigkeit der Tage verschlafenen Geist ist von ihrem gesunden Menschenverstand durchdrungen. In diesen setzt sie solches Vertrauen, daß es sie dünkt, es gäbe überhaupt keine Schwierigkeiten, die zu überwinden er nicht ausreichte; und beinahe betrachtet sie die Wissenschafter als eine Art Künstler, zwar nützlicher als diese, freilich weniger hochstehend, denn die Künstler haben ja überhaupt keinen Zweck; und solche Nichtstuerei hat eine gewisse Vornehmheit. (Übrigens schmeichelt sich jeder Bürger, daß er, wenn er nur gewollt hätte, ein Künstler hätte werden können.) Im Gegensatz zu ihnen sind die Gelehrten fast nur Handwerker (was entehrend ist), Werkmeister, nur etwas gebildeter und ein wenig verrückt; auf dem Papier sind sie sehr bedeutend, aber kommen sie aus ihrer Buchstabenfabrik heraus, dann taugen sie nichts! Sie würden nichts Gescheites ausrichten, wenn nicht die Leute mit gesundem Menschenverstand, die Erfahrung im Leben und in Geschäften haben, ihnen die Wege zeigten.

Unglücklicherweise ist es nicht erwiesen, daß diese Erfahrung im Leben und in den Geschäften so sicher leitet, wie die Leute von gesundem Menschenverstand es sich gern einreden möchten. Sie ist viel eher eine Fertigkeit, die sich auf eine sehr kleine Anzahl von sehr leichten Fällen beschränkt. Tritt ein unvorhergesehener Fall ein, in dem man schnell und tatkräftig handeln muß, so stehen solche Leute waffenlos da.

Von dieser Art war der Banquier Jeannin. Für alles war so gut vorgesorgt, alles wiederholte sich im Rhythmus des Provinzlebens so genau, daß ihm niemals ernstliche Schwierigkeiten in seinen geschäftlichen Angelegenheiten begegnet waren. Er war der Nachfolger seines Vaters geworden, ohne ein besonderes Talent für dessen Beruf zu haben; und da seitdem alles gut gegangen war, schob er das seinen natürlichen Gaben zu. Er sagte gern, daß man nur anständig, fleißig sein und gesunden Menschenverstand haben müsse, und er gedachte sein Amt dereinst seinem Sohn zu übertragen, ohne sich viel mehr um dessen Neigungen zu kümmern, als es sein Vater ihm, Jeannin, gegenüber getan hatte. Er bereitete ihn in keiner Weise vor. Er ließ seine Kinder nach ihrem Gefallen aufwachsen, vorausgesetzt, daß sie brave Kinder waren und vor allem glücklich: denn er liebte sie über alles. So waren denn die beiden Kleinen so schlecht als nur möglich für den Lebenskampf vorbereitet: sie waren Treibhausblumen. Aber sollten sie nicht immer so weiter leben? In ihrer schläfrigen Provinz, in ihrer reichen geachteten Familie, bei ihrem liebenswürdigen, heiteren, wohlwollenden Vater, von Freunden umgeben und im Genuß einer der ersten gesellschaftlichen Stellungen der Umgegend war das Leben ja so leicht und heiter!

 

Antoinette war sechzehn Jahre alt, Olivier stand vor seiner ersten Kommunion. Er lebte vertieft in das Raunen seiner mystischen Träume. Antoinette indes vernahm das betörende, berauschende Gezwitscher der Hoffnung, die, gleich dem Gesang der Nachtigall im April, die frühlingsfrohen Herzen erfüllt. Sie freute sich ihres blühenden Körpers, ihrer blühenden Seele, freute sich, daß sie hübsch war und daß man es ihr sagte. Die Schmeicheleien ihres Vaters, seine unvorsichtigen Worte hätten allein genügt, ihr den Kopf zu verdrehen.

Er war entzückt von ihr; ihre Koketterie, ihre schmachtenden Blicke vor dem Spiegel, ihre unschuldigen und listigen Kniffe machten ihm Spaß. Er zog sie auf seine Kniee, er neckte sie mit ihrem Herzchen, den Eroberungen, die sie machte, den Heiratsanträgen, die er angeblich für sie entgegengenommen hätte; er zählte sie ihr auf: hochachtbare Bürger, von denen der eine immer älter und häßlicher war als der andere. Mit hellem Gelächter wehrte sie entsetzt ab, während ihre Arme um des Vaters Hals lagen und ihr Gesicht an seine Wange gelehnt war. Und er fragte sie, wer der glückliche Erwählte sei: der Herr Staatsanwalt, von dem das alte Dienstmädchen der Jeannins sagte, daß er so häßlich wie die sieben Todsünden sei, oder vielleicht der dicke Notar? Sie verabfolgte ihm kleine Klapse, um ihn zum Schweigen zu bringen, oder sie verschloß ihm den Mund mit ihren Händen. Er küßte ihre Patschhände und sang, indes er sie auf seinen Knieen schaukelte, das bekannte Lied:

» Que voulez-vous, la belle?
Est-ce un mari bien laid?
«

Unter hellem Gelächter antwortete sie mit dem Refrain:

» Plutôt joli que laid,
Madame, s'il vous plaît
«

und band ihm dabei den Backenbart unterm Kinn zusammen. Sie hatte im Sinn, ihre Wahl ganz allein zu treffen. Sie wußte, daß sie sehr reich sei oder sein würde (ihr Vater wiederholte es in allen Tonarten): sie war eine »gute Partie«.   Die vornehmen Familien der Stadt, die Söhne hatten, machten ihr bereits den Hof, warfen ein Netz kleiner Schmeicheleien und erprobter Listen nach ihr aus, das aufs feinste gesponnen war, um den hübschen Goldfisch zu fangen. Aber der Goldfisch liebte es sehr, sie in den April zu schicken; denn der klugen Antoinette entging nichts von ihren Machenschaften und sie machte sich darüber lustig. Sie wollte sich wohl fangen lassen, aber sie wollte nicht, daß man sie finge. In ihrem Köpfchen war es bereits beschlossene Sache, wen sie heiraten würde.

Sie dachte an die Adelsfamilie der Stadt (meistens gibt es in einem Landstrich nur eine: sie behauptet, von den alten Lehnsherren der Provinz abzustammen; und meistens stammt sie nur von irgend einem Domänen-Käufer, einem Bezirksaufseher des XVIII. Jahrhunderts oder einem Armeelieferanten Napoleons)   die Bonnivets. Sie besaßen, zwei Meilen von der Stadt entfernt, ein Schloß mit spitzen, mit blinkendem Schiefer gedeckten Türmen, inmitten großer Wälder und Teiche, die von Fischen wimmelten. Sie kamen selber als Erste den Jeannins entgegen. Der junge Bonnivet bemühte sich sehr eifrig um Antoinette. Er war ein hübscher Bursche, ziemlich stark und beleibt für sein Alter, der den ganzen lieben Tag nichts anderes tat als jagen, essen, trinken und schlafen; er ritt, er tanzte gut, hatte recht gute Manieren und war nicht viel dümmer als irgend ein anderer. Von Zeit zu Zeit kam er vom Schloß in die Stadt und machte, gestiefelt und gespornt, zu Pferde oder in seinem Rumpelwagen dem Banquier unter irgend einem geschäftlichen Vorwand Besuch; und manchmal brachte er einen Korb mit erlegtem Kleinwild oder einen großen Blumenstrauß für die Damen mit. Er benützte die Gelegenheit, um dem Fräulein den Hof zu machen. Sie gingen miteinander im Garten spazieren. Er sagte ihr faustdicke Schmeicheleien, schwatzte ganz unterhaltsam, zwirbelte seinen Schnurrbart und ließ seine Sporen auf den Fliesen der Terrasse klirren. Antoinette fand ihn bezaubernd. Ihr Stolz und ihr Herz fühlten sich köstlich geschmeichelt. Mit ganzer Seele gab sie sich diesen ersten so holden Stunden einer kindlichen Liebe hin. Olivier konnte den Krautjunker nicht ausstehen, weil er stark, schwerfällig, brutal war; weil er lärmend lachte, weil er Hände hatte, die wie Schraubstöcke preßten, eine hochmütige Art, ihn immer »Kleiner« zu nennen und ihn dabei in die Backe zu kneifen. Vor allem war er ihm zuwider   ohne daß Olivier sich dessen bewußt ward  , weil dieser Fremde seine Schwester liebte ... seine Schwester, sein Eigen, das ihm gehörte   ihm und keinem andern.

 

Indessen brach das Verhängnis herein. In das Leben dieser alten Bürgerfamilien, die seit Jahrhunderten mit demselben Erdenwinkel verwachsen sind und alle Säfte aus ihm herausgesogen haben, kommt früher oder später immer eines. Sie duseln ruhig dahin und halten sich für ebenso unvergänglich wie der Boden, der sie trägt. Aber der Boden ist unter ihnen erstorben und hält keine Wurzeln mehr: ein einziger Schlag der Hacke genügt, um alles auszureißen. Dann spricht man von Mißgeschick, von unvorhergesehenem Unglück. Wäre der Baum widerstandsfähiger gewesen, so hätte es kein Mißgeschick gegeben oder das Unglück wäre, wie ein Ungewitter, vorbeigezogen, hätte wohl einige Zweige abgerissen, aber den Baum nicht zum Wanken gebracht.

Der Bankier Jeannin war schwach, vertrauensselig, etwas eitel. Er imponierte gern und verwechselte gern Sein mit Schein. Er gab das Geld unbesonnen mit vollen Händen aus, wenn auch allerdings seine Verschwendungen seine Vermögenslage nicht ernstlich in Gefahr brachten. Außerdem hielt ihn die durch Jahrhunderte geerbte Gewohnheit des Sparens manchmal durch Anfälle von Gewissensbissen zurück (er verbrauchte einen Klafter Holz und knauserte mit einem Streichholz). In seinen Geschäften war er nicht viel vorsichtiger. Freunden, die Geld von ihm leihen wollten, schlug er es niemals ab. Und es war nicht besonders schwer, zu seinen Freunden zu gehören. Er nahm sich sogar nicht immer die Mühe, sich eine Empfangsbescheinigung geben zu lassen; nur nachlässig schrieb er alles auf, was man ihm schuldete, und er verlangte niemals etwas zurück, falls man es ihm nicht anbot. Er verließ sich auf die anständige Gesinnung der anderen, wie es ihm selbstverständlich war, daß man sich auf die seine verließ. Übrigens war er schüchterner, als sein sicheres und zwangloses Wesen es hätte glauben lassen. Niemals hätte er es fertig gebracht, gewisse unbequeme Bittsteller hinaus zu komplimentieren, noch Befürchtungen wegen ihrer Zahlungsfähigkeit laut werden zu lassen. Güte sprach dabei mit und Ängstlichkeit; er wollte niemanden verletzen und fürchtete eine Szene. Also gab er stets nach, und um sich selbst darüber hinwegzutäuschen, tat er es mit einer Wärme, einem Eifer, als erweise man ihm einen Dienst, wenn man sein Geld nehme ... Beinahe glaubte er das selbst: seine Eitelkeit und sein Optimismus überzeugten ihn leicht, daß jedes von ihm gemachte Geschäft ein gutes Geschäft sei. Seine Handlungsweise war nicht dazu angetan, ihm die Zuneigung der Borger zu entfremden. Die Bauern liebten ihn über alles, denn sie wußten, daß sie immer auf sein Entgegenkommen zählen konnten   und sie nützten das reichlich aus. Aber die Dankbarkeit der Leute (d. h. der anständigen Leute) ist eine Frucht, die man rechtzeitig pflücken muß. Läßt man sie auf dem Baum alt werden, dann schimmelt sie bald. Wenn einige Monate verstrichen waren, gewöhnten sich die Schuldner des Herrn Jeannin an den Gedanken, daß sie es gewesen seien, die diesem Herrn eine Gefälligkeit erwiesen hatten, und sie neigten sogar zu dem Glauben, Herr Jeannin, der so viel Vergnügen bezeugt hatte, ihnen helfen zu können, müsse wohl seinen Vorteil dabei gefunden haben. Die zartsinnigsten glaubten sich   wenn auch nicht ihrer Schuld   so doch ihrer Dankbarkeit ledig, wenn sie einen erlegten Hasen oder einen Korb Eier aus ihrem Hühnerhof am Jahrmarktstag ihres Dorfes dem Bankier überreichten. Da es sich bisher wirklich nur um kleine Summen gehandelt und Herr Jeannin es mit verhältnismäßig anständigen Leuten zu tun gehabt hatte, so war bei alledem nichts Schlimmes: die Geldverluste (von denen der Bankier kein Wort, zu wem es auch sei, verlauten ließ) waren sehr gering. Etwas anderes aber wurde es, als Herr Jeannin eines Tages auf seinem Wege einem gewissen Intriganten begegnete, der ein großes industrielles Unternehmen einleitete und von der Gefälligkeit und den Geldmitteln des Bankiers Wind bekommen hatte. Dieser Mensch, den der Orden der Ehrenlegion schmückte, der mit ein paar Ministern, einem Erzbischof, einer Reihe Senatoren und allerlei Spitzen der literarischen und der Finanzwelt befreundet zu sein vorgab, und behauptete, Einfluß auf eine höchst bedeutende Zeitung zu besitzen, hatte eine großartige Art des Auftretens und verstand vortrefflich, den selbstherrlichen und vertraulichen Ton anzuschlagen, der seinem Gegenüber Vertrauen einflößte. Als Empfehlungen zeigte er mit einer Plumpheit, die einen Gewitzigteren als Herrn Jeannin stutzig gemacht haben würde, Briefe seiner hohen Bekannten vor, die ihm mit banalen Redensarten für eine Diner-Einladung dankten oder ihn ihrerseits einluden: denn bekanntlich knausern die Franzosen mit diesem brieflichen Kleingeld niemals, noch zögern sie, den Händedruck und die Diners eines Menschen anzunehmen, den sie erst seit einer Stunde kennen   vorausgesetzt, daß er sie unterhält und ihnen kein Geld abverlangt. Ja, es gibt sogar genug solche, die selbst das ihrem neuen Freunde nicht abschlagen würden, wenn sie die anderen das Gleiche tun sähen. Und ein intelligenter Mensch, der seinen Nachbarn um das lästige Geld erleichtern will, müßte wirklich Pech haben, wenn er nicht schließlich einen Leithammel fände, der zum Springen bereit ist und der die übrigen dann nach sich zieht. Wären nicht andere vor ihm gewesen, so hätte Herr Jeannin diesen Leithammel gespielt. Er hatte die rechte Art Wolle und war ganz für die Schere geschaffen, wie dazu gemacht, geschoren zu werden. Er fiel auf die guten Beziehungen, auf die schönen Redensarten seines Besuchers hinein, auf dessen Schmeicheleien und wohl auch auf die ersten guten Erfolge, die die neuen Ratschläge eingetragen hatten. Zuerst setzte er wenig aufs Spiel und dieses mit Erfolg; dann setzte er viel aufs Spiel   und schließlich alles: nicht nur sein eigenes Geld, sondern auch das seiner Klienten. Er hütete sich wohl, sie etwas davon wissen zu lassen: er war des Gewinnes ja sicher; er wollte sie durch seine guten Dienste verblüffen.

Das Unternehmen schlug fehl. Er erfuhr es auf Umwegen durch einen seiner Pariser Korrespondenten, der ihm beiläufig in einigen Worten von dem neuen Krach erzählte, ohne zu ahnen, daß Herr Jeannin eines der Opfer sei; denn der Bankier hatte zu niemandem das Geringste verlauten lassen; mit unglaublichem Leichtsinn hatte er verabsäumt   scheinbar vermieden  , Rat bei denen einzuholen, die ihn hätten aufklären können; vernarrt in seinen unfehlbaren gesunden Menschenverstand hatte er alles heimlich erledigt und sich mit den unbestimmtesten Auskünften begnügt. Es gibt im Leben solche Verirrungen: man könnte sagen, in einem gewissen Augenblick muß man unfehlbar zugrunde gehen; es ist, als fürchte man sich, daß irgend jemand einem zu Hilfe komme. Man flieht jeden Ratschlag, der einen retten könnte, man versteckt sich, man betreibt alles mit Fiebereifer   nur um den Kopfsprung ganz ungehindert ausführen zu können.

Herr Jeannin lief zum Bahnhof und nahm, das Herz von Angst zermalmt, den Zug nach Paris. Er machte sich auf die Suche nach seinem Mann. Noch wiegte er sich in der Hoffnung, daß die Nachrichten falsch oder doch zum mindesten übertrieben seien. Natürlich fand er den Menschen nicht, dafür aber die Bestätigung des Zusammenbruchs, der so vollständig wie nur irgend möglich war. Verstört kehrte er nach Hause zurück und hielt alles geheim. Noch ahnte niemand etwas. Er versuchte, ein paar Wochen, ein paar Tage zu gewinnen. In seinem unheilbaren Optimismus zwang er sich zu glauben, daß er ein Mittel finden würde, um, wenn auch nicht seine eigenen Verluste, so doch die seiner Klienten wieder gut zu machen. Er versuchte verschiedene verzweifelte Mittel, doch mit so ungeschickter Hast, daß sie ihm jede Möglichkeit des Gelingens verdorben hätten   wäre überhaupt eine vorhanden gewesen. Die erbetenen Anleihen wurden ihm überall versagt. Die gewagten Spekulationen, in die er, in Ermangelung anderer Mittel, das Wenige, was ihm geblieben war, hineinsteckte, richteten ihn vollends zugrunde. Von diesem Augenblick an vollzog sich in seinem Charakter eine völlige Umwandlung. Er verfiel in einen Zustand fürchterlicher Angst: er redete nicht über seine Sorgen, aber er war finster, heftig, hart, grauenhaft trübsinnig. War er mit Fremden zusammen, so spielte er noch weiter den Heiteren; aber niemandem entging sein verändertes Wesen: man schrieb es seiner Gesundheit zu. Den Seinigen gegenüber aber nahm er sich weniger zusammen und sie erkannten gleich, daß er irgend etwas Ernstes verberge. Er war nicht wiederzuerkennen. Manchmal stürzte er plötzlich in ein Zimmer, durchstöberte ein Möbelstück, warf alle Papiere durcheinander auf den Boden und geriet in rasende Wut, weil er nichts fand, oder weil man ihm helfen wollte. Dann blieb er ratlos in der Unordnung sitzen; und wenn man ihn fragte, was er suche, so wußte er es selbst nicht mehr. Die Seinen schienen ihn nicht mehr zu interessieren; oder aber er umarmte sie mit tränenden Augen. Er schlief nicht mehr. Er aß nicht mehr. Frau Jeannin merkte wohl, daß man kurz vor einer Katastrophe stünde; aber sie hatte an den geschäftlichen Angelegenheiten ihres Mannes niemals teilgenommen und verstand nichts davon. Sie fragte ihn aus: er wies sie brutal zurück, und in ihrem Stolz verletzt, drang sie nicht weiter in ihn   aber sie zitterte, wußte sie auch nicht, warum.

Die Kinder konnten die Gefahr nicht ahnen. Antoinette war allerdings zu intelligent, um nicht, wie ihre Mutter das Vorgefühl irgend eines Unglücks zu haben; aber sie lebte so ganz dem Vergnügen ihrer knospenden Liebe: sie wollte an keine Sorgen denken; sie redete sich ein, daß die Wolken sich von selbst zerstreuen würden oder daß es noch Zeit genug sein würde, sie zu sehen, wenn einem nichts anderes übrig bliebe. Was in der Seele des unglücklichen Bankiers vor sich ging, verstand vielleicht noch am ehesten der kleine Olivier. Er fühlte, daß sein Vater litt, und er litt heimlich mit ihm. Aber er wagte nichts zu sagen: natürlich vermochte er nichts, verstand er nichts. Und schließlich wies auch er den Gedanken an die traurigen Dinge, die sich seinem Blick entzogen, zurück; gleich seiner Mutter und seiner Schwester neigte er abergläubisch zu der Einbildung, daß ein Unglück, dessen Kommen man nicht sehen will, vielleicht nicht komme. Arme Menschen, die sich bedroht fühlen, handeln gern wie der Vogel Strauß; sie stecken den Kopf in den Sand und meinen, das Unglück sehe sie nicht.

 

Dunkle Gerüchte begannen sich zu verbreiten. Es hieß, der Kredit der Bank sei untergraben. Der Bankier konnte seinen Klienten gegenüber eine noch so große Sicherheit zur Schau tragen, einige Mißtrauische forderten unter diesem oder jenem Vorwand ihre Gelder zurück. Herr Jeannin fühlte sich verloren; er wehrte sich wie ein Verzweifelter, spielte den Empörten, beschwerte sich voller Hoheit, voller Bitterkeit, daß man ihm mißtraue. Er ging so weit, seinen alten Klienten heftige Auftritte zu bereiten, die ihn in der öffentlichen Meinung vollends sinken ließen. Die Zahlungsforderungen strömten heran. In die Enge getrieben, zum Äußersten gebracht, verlor er vollständig den Kopf. Er unternahm eine kurze Reise, verspielte seine letzten Banknoten in einem benachbarten Badeorte, ließ sich innerhalb einer Viertelstunde alles abnehmen   und kehrte heim.

Seine unvermutete Abreise hatte die Kleinstädter vollends in Aufruhr gebracht, und man sprach bereits von seiner Flucht. Frau Jeannin hatte die größte Mühe, der wütenden Erregung der Leute standzuhalten; sie flehte sie an, Geduld zu haben, sie schwor ihnen, daß ihr Mann zurückkommen werde. Sie schenkten ihr kaum Glauben, wenn sie auch noch so gern glauben wollten. So verbreitete es denn allgemeine Erleichterung, als man erfuhr, daß er heimgekehrt sei: viele glaubten schon beinahe, daß sie sich grundlos beunruhigt hätten und daß die Jeannins viel zu schlau seien, um sich nicht stets wieder aus einer Schlinge zu helfen   sollten sie wirklich hineingefallen sein. Das Verhalten des Bankiers bestätigte diesen Eindruck. Jetzt, da zweifellos für ihn feststand, was ihm zu tun übrig blieb, schien er abgespannt, aber sehr ruhig. Kurz nach der Ankunft unterhielt er sich gelassen in der Bahnhofsallee mit ein paar ihm begegnenden Freunden über das Land, das seit Wochen an Wassermangel litt, über die Weinberge, die prächtig ständen, und den Sturz des Ministeriums, den die Abendzeitungen meldeten.

Nach Hause zurückgekehrt, tat er, als ließe ihn die Erregtheit seiner Frau ganz kalt, die ihm, als sie ihn kommen hörte, entgegenstürzte und mit einem verworrenen Wortschwall erzählte, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Sie versuchte, in seinen Zügen zu lesen, ob es ihm gelungen sei, die unbekannte Gefahr abzuwenden. Doch sie fragte ihn aus Stolz nach keiner Einzelheit: sie wartete darauf, daß er sich ihr eröffne. Aber er sagte kein Wort von dem, was sie beide bedrückte. Schweigend wich er ihrem Wunsche aus, sich ihr anzuvertrauen und damit auch sein Geheimnis zu erschließen. Er redete von der Hitze, von seiner Abspannung, er klagte über rasenden Kopfschmerz; und wie gewöhnlich setzte man sich zu Tisch.

Er unterhielt sich wenig, matt, wie abwesend, die Stirn gefurcht; seine Finger trommelten auf dem Tischtuch; da er sich beobachtet fühlte, zwang er sich zum Essen und betrachtete mit unbestimmten, gleichsam aus der Ferne kommenden Blicken seine durch das Schweigen eingeschüchterten Kinder und seine Frau, die in verletztem Selbstgefühl trotzend, ihn nicht ansah, wenn sie auch alle seine Bewegungen ängstlich verfolgte. Gegen Ende des Mahles schien er aufzuwachen; er versuchte mit Antoinette und mit Olivier zu plaudern; er fragte, was sie während seiner Reise getan hätten; aber er hörte nicht auf ihre Antworten; er lauschte nur dem Klang ihrer Stimmen. Und ruhten seine Augen auch auf ihnen, so war sein Blick doch anderswo. Olivier fühlte es: mitten in seinen Geschichtchen hielt er inne und verlor die Lust am Weitererzählen. Bei Antoinette aber gewann nach einem Augenblick des Unbehagens die Heiterkeit wieder die Oberhand: sie schwatzte wie eine fröhliche Elster und legte dabei ihre Hand auf die ihres Vaters oder faßte seinen Arm, damit er genau auf das höre, was sie erzählte. Herr Jeannin schwieg. Seine Augen wanderten von Antoinette zu Olivier und seine Stirn furchte sich immer tiefer. Mitten in einer Erzählung des jungen Mädchens konnte er sich nicht mehr beherrschen, stand vom Tisch auf und ging ans Fenster, um seine Bewegtheit zu verbergen. Die Kinder falteten ihre Mundtücher zusammen und standen ebenfalls auf. Frau Jeannin schickte sie in den Garten spielen; gleich darauf hörte man sie in den Alleen mit durchdringendem Geschrei sich jagen. Frau Jeannin sah auf ihren Mann, der ihr den Rücken zukehrte, und sie ging um den Tisch herum, als wollte sie etwas ordnen. Plötzlich eilte sie auf ihn zu und sagte mit einer Stimme, die durch ihre Besorgnis, von den Dienstboten gehört zu werden, und durch ihre eigne Angst erstickte:

»Ja, also, Anton, was hast du eigentlich? Dir fehlt irgend etwas ... Doch ... Du verheimlichst etwas ... Ist ein Unglück geschehen? ... Bist du krank? ...«

Aber Herr Jeannin wich ihr noch einmal aus und sagte, ungeduldig mit den Schultern zuckend und in hartem Tone:

»Nein! ... Nein! sag' ich dir! Laß mich zufrieden!«

Verletzt zog sie sich zurück; in ihrem blinden Zorn sagte sie sich, nun möge ihrem Manne geschehen, was da wolle, sie würde sich nicht mehr darum kümmern.

Herr Jeannin ging in den Garten hinab. Antoinette trieb noch immer ihre Tollheiten und reizte ihren Bruder, daß er gehörig liefe. Aber das Kind erklärte plötzlich, daß es nicht mehr spielen wolle. Und es stellte sich, die Arme auf die Terrassenbrüstung lehnend, einige Schritte vom Vater entfernt. Antoinette wollte ihre Neckereien weitertreiben, aber Olivier stieß sie schmollend zurück: darauf warf sie ihm ein paar Grobheiten an den Kopf; und weil es nun nichts Belustigendes mehr zu tun gab, ging sie ins Haus und setzte sich ans Klavier. Herr Jeannin und Olivier blieben allein.

»Was ist dir, Kleiner? Warum magst du nicht spielen?« fragte der Vater sanft.

»Ich bin müde, Papa.«

»Gut, dann wollen wir uns beide ein wenig auf die Bank setzen.«

Sie setzten sich. Es war eine schöne Septembernacht, der Himmel durchsichtig und dunkel. Der süße Duft der Petunien mischte sich mit dem faden und ein wenig fauligen Geruch des düsteren Kanals, der zu Füßen der Terrassenwand schlummerte. Abendschmetterlinge, große rötliche Schwärmer, umkreisten mit schwirrenden Flügelschlägen die Blumen. Vom anderen Kanalufer klangen die ruhigen Stimmen der vor ihren Türen sitzenden Nachbarn in das Schweigen. Im Hause spielte Antoinette an ihrem Klavier koloraturenreiche italienische Cavatinen.   Herr Jeannin hielt Oliviers Hand in der seinen. Er rauchte. Die Dunkelheit entzog dem Kind nach und nach die Züge seines Vaters, bis es schließlich nur noch das kleine Pfeifenlicht sah, das aufglühte, stoßweise erlosch, von neuem aufglühte und schließlich ganz und gar erlosch.   Sie unterhielten sich nicht. Olivier fragte nach dem Namen einiger Sterne. Herr Jeannin, der, wie fast alle Provinzler, in Naturgeschichte wenig beschlagen war, kannte keinen einzigen außer den großen Sternbildern, die allen geläufig sind; aber er tat, als habe das Kind ihn nach diesen gefragt, und nannte sie. Olivier fragte nicht weiter; es war ihm stets eine Freude, sie nennen zu hören, und halblaut wiederholte er ihre schönen und geheimnisvollen Namen. Im übrigen lag ihm weniger daran, etwas zu erfahren, als instinktiv seinem Vater näher zu kommen.   Sie schwiegen.   Olivier hatte den Kopf an die Bank zurückgelehnt; mit offenem Mund schaute er zu den Sternen hinauf und verlor sich in Träumereien: die laue Wärme der väterlichen Hand durchdrang ihn. Plötzlich begann diese Hand zu zittern. Olivier fand das drollig und er sagte mit halb lachender, halb traumverlorener Stimme: »Oh, wie deine Hand zittert, Papa.«

Jeannin zog die Hand zurück.

Einen Augenblick darauf sagte Olivier, dessen kleiner Kopf selbständig weiter arbeitete:

»Bist du auch so müde, Papa?«

»Ja, mein Kleiner.«  

Die zutrauliche Stimme des Kindes fing wieder an: »Du mußt dich nicht so plagen, Papa.«  

Jeannin zog Oliviers Kopf an sich, drückte ihn an seine Brust und murmelte: »Mein armer Kleiner ...«

Aber schon hatten Oliviers Gedanken einen anderen Weg genommen. Die Turmuhr schlug acht. Er machte sich los und sagte:

»Ich gehe jetzt lesen.«

Donnerstags durfte er nach Tisch bis zum Schlafengehen eine Stunde lang lesen: das war sein höchstes Glück, und nichts auf der Welt hätte ihn bestimmen können, eine Minute davon zu opfern.

Jeannin ließ ihn gehen. Er wanderte noch einige Male auf der Terrasse auf und ab; dann ging auch er ins Haus.

Im Wohnzimmer saßen Mutter und Kinder um die Lampe versammelt. Antoinette nähte ein Band an eine Bluse und hörte dabei keinen Augenblick auf, zu sprechen oder zu trällern, was Olivier durchaus nicht recht war: er saß mit zusammengezogenen Brauen und aufgestützten Ellenbogen am Tisch und bohrte sich die Fäuste in die Ohren, um nichts zu hören ... Frau Jeannin besserte Strümpfe aus und unterhielt sich mit der alten Dienstmagd, die neben ihr stand, ihr die Tagesausgaben vorrechnete und die Gelegenheit wahrnahm, ein wenig zu schwatzen. Sie hatte immer etwas Spaßiges zu erzählen und sie tat es in einem unbezahlbaren Dialekt, der die anderen zum Lachen brachte und den Antoinette nachzuahmen suchte. Jeannin schaute sie schweigend an. Niemand achtete auf ihn. Einen Augenblick stand er unentschlossen, setzte sich nieder, nahm ein Buch, öffnete es aufs Geratewohl, schloß es wieder und stand auf: es war entschieden   er konnte nicht bleiben; er zündete eine Kerze an und sagte ihnen »Gute Nacht«. Er ging auf die Kinder zu und umarmte sie voller Rührung; Antoinette in ihre Arbeit, Olivier in sein Buch vertieft, erwiderten seinen Kuß zerstreut, ohne zu ihm aufzuschauen. Olivier nahm nicht einmal die Hand von seinen Ohren und brummte zerstreut »Gute Nacht«, ohne sich im Lesen stören zu lassen (wenn er las, hätte eins der Seinen ins Feuer fallen können, ohne daß er sich hätte stören lassen). Jeannin verließ das Zimmer. Nebenan hielt er sich noch ein wenig auf. Kurze Zeit darauf kam seine Frau, um Tischtücher in einem Schrank zu ordnen, da das Mädchen schon zu Bett gegangen war. Sie tat, als sähe sie ihn nicht. Nach einigem Zögern kam er auf sie zu und sagte:

»Verzeih mir; ich war vorhin etwas heftig gegen dich.«

Sie fühlte sich versucht, ihm zu antworten: »Mein armer Mann, ich bin dir nicht böse; aber was hast du nur? Sage mir doch, was dir fehlt.«

Allzu glücklich aber, es ihm heimzahlen zu können, sagte sie: »Laß mich zufrieden! Du bist abscheulich brutal gegen mich: du behandelst mich in einer Weise, wie du es keinem Dienstboten gegenüber tun würdest.« Und in diesem Ton redete sie weiter und zählte mit herber und grollender Redseligkeit alles auf, was sie erduldete.

Er antwortete mit einer müden Bewegung, lächelte bitter und ließ sie allein.

 

Niemand hörte den Revolverschuß. Erst am nächsten Morgen, als man erfuhr, was geschehen war, erinnerten sich einige Nachbarn, gegen Mitternacht einen kurzen Schlag, gleich einem Peitschenknall, in der Stille der Straßen gehört zu haben. Sie hatten darauf nicht acht. Der Friede der Nacht sank sofort wieder auf die Stadt und hüllte Lebende und Tote in seine schweren Falten ein.

Die schlafende Frau Jeannin wachte erst eine oder zwei Stunden später auf. Da sie ihren Mann nicht neben sich sah, stand sie beunruhigt auf, lief durch alle Zimmer, ging in das untere Stockwerk hinab, in das Bankgeschäft, das sich in einem zum Haus gehörenden Flügel befand; und dort, in Jeannins Arbeitszimmer, fand sie ihn in seinem Sessel, über seinem Schreibtisch niedergebrochen, in seinem Blut, das noch auf den Boden tropfte. Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus, ließ ihre Kerze fallen und verlor das Bewußtsein. Man hörte sie vom Hause aus. Die Dienstboten liefen herbei, hoben sie auf, bemühten sich um sie und trugen den Körper Jeannins auf ein Bett. Das Kinderzimmer war geschlossen. Antoinette schlief den Schlaf der Glücklichen. Olivier hörte Stimmenlärm und Schritte; er hätte gern die Ursache gewußt, aber er wollte seine Schwester nicht wecken und schlief wieder ein.

Bevor sie am nächsten Morgen noch irgend etwas wußten, lief die Nachricht schon durch die ganze Stadt. Die alte Dienstmagd brachte sie ihnen als erste jammernd bei. Ihre Mutter war außer Stande, an irgend etwas zu denken; ihre eigene Gesundheit gab zu Besorgnissen Anlaß. Die beiden Kinder standen allein dem Tode gegenüber. In den ersten Augenblicken war ihr Entsetzen noch stärker als ihr Schmerz. Im übrigen ließ man ihnen nicht die Zeit, in Frieden zu weinen. Vom frühen Morgen an begannen die grausamen juristischen Formalitäten. Antoinette, die sich in ihr Zimmer geflüchtet hatte, klammerte sich mit allen Kräften ihres jugendlichen Egoismus an einen einzigen Gedanken, den einzigen, der ihr helfen konnte, die entsetzliche, sie zu ersticken drohende Wirklichkeit von sich abzudrängen: den Gedanken an ihren Freund; sie erwartete von Stunde zu Stunde seinen Besuch. Niemals hatte er sich mehr um sie bemüht, als beim letzten Male, da sie ihn gesehen hatte; sie zweifelte nicht, daß er, sobald er von der Katastrophe erführe, herbeieilen würde, um an ihrem Kummer teilzunehmen. Aber niemand kam. Auch nicht irgend ein Wort von irgend jemand. Kein Zeichen der Anteilnahme. Dagegen kamen sofort, kaum daß der Selbstmord bekannt geworden, Leute, die dem Bankier ihr Geld anvertraut hatten, nun zu den Jeannins gestürzt, drangen mit Gewalt ein und machten in mitleidsloser Raserei der Frau und den Kindern furchtbare Auftritte. In wenigen Tagen stürzte alles in Trümmer, verloren sie alles: ein teures Wesen, ihr ganzes Vermögen, ihre ganze Stellung, die öffentliche Achtung, die Freunde. Es war ein vollständiger Zusammenbruch. Nichts von allem, was ihr Leben ausmachte, blieb bestehen. Da sie alle drei ein unbestechliches Gefühl für moralische Reinheit besaßen, litten sie jetzt doppelt unter einer Entehrung, an der sie unschuldig waren. Am meisten durchwühlt vom Schmerz war Antoinette, denn ihr war er fast unbekannt gewesen. Frau Jeannin und Olivier standen, so zerrissen sie innerlich auch waren, jener Welt der Leiden nicht so fremd gegenüber. Pessimisten aus Instinkt, waren sie weniger überrascht als niedergeschmettert. Der Todesgedanke war ihnen immer eine Zuflucht gewesen. Jetzt war er es mehr denn je; sie wünschten den Tod herbei. Gewiß, ein jammervolles Sich-Ergeben und dennoch weniger schrecklich als die Auflehnung eines jungen, vertrauensvollen, unglücklichen, liebenden Geschöpfes, das sich plötzlich zu unheilbarer, abgrundtiefer Trübsal verdammt sieht oder zum Sterben, das ihm Entsetzen einflößt ... Antoinette entdeckte mit einem Schlag die Häßlichkeit der Welt; die Augen wurden ihr geöffnet: sie sah das Leben, die Menschen; sie bildete sich ein Urteil über ihren Vater, ihre Mutter, ihren Bruder. Während Frau Jeannin und Olivier gemeinsam weinten, verschloß sie sich in ihrem Schmerz. Ihr verzweifeltes kleines Gehirn besann sich auf die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft; und sie sah, daß alles für sie aus war, daß es keine Hoffnung, keine Stütze mehr für sie gab. Sie konnte auf niemanden mehr zählen.

Die Beerdigung fand statt; sie war düster, schmachvoll. Die Kirche verweigerte dem Leib des Selbstmörders die Ehren. Die Witwe und die Waisen folgten allein dem Sarge, denn die alten Freunde waren zu feige dazu. Kaum zwei oder drei ließen sich einen Augenblick sehen; und ihre verlegene Haltung war noch peinlicher als das Fernbleiben der anderen. Ihr Kommen schien ein Gnadengeschenk und ihr Schweigen war schwer von Anklagen und verachtungsvollem Mitleid. Von Seiten der Familie war es noch schlimmer; von ihr kamen keine Trostworte, vielmehr bittere Vorwürfe. Der Selbstmord des Bankiers besänftigte nicht etwa den Groll, sondern schien fast ebenso verbrecherisch wie sein Bankerott. Die bürgerliche Gesellschaft verzeiht denen nicht, die sich das Leben nehmen. Ihr scheint es ungeheuerlich, daß man den Tod einem noch so schmachvollen Leben vorzieht; und sie fordert gern die ganze Strenge des Gesetzes für den, der zu sagen scheint: »Kein Unglück wiegt das auf, mit euch zusammen leben zu müssen.«

Die größten Feiglinge sind meist am schnellsten bei der Hand, solche Tat als Feigheit zu bezeichnen. Und verletzt der Selbstmörder obendrein durch das Auslöschen seines Lebens ihre Interessen und ihre Rachegelüste, so werden sie wie toll.   Nicht einen Augenblick dachten sie an all das, was der unglückliche Jeannin hatte leiden müssen, um so weit zu kommen. Sie hätten ihn gern tausendmal mehr gequält. Und nun, da er ihnen entronnen war, übertrugen sie ihr Verdammungsurteil auf die Seinen. Sie gestanden sich das nicht ein: denn sie wußten, daß es ungerecht war; aber sie taten es trotzdem, denn sie brauchten ein Opfer.

Frau Jeannin, die scheinbar nur noch seufzen konnte, fand ihre ganze Energie wieder, wenn man ihren Mann angriff. Sie merkte jetzt, wie sehr sie ihn geliebt hatte; und die drei Wesen, die ohne jede Ahnung waren, was am nächsten Tag aus ihnen werden sollte, verzichteten in völliger Übereinstimmung auf das mütterliche Erbteil, auf ihr ganzes persönliches Vermögen, um so weit als irgend möglich die Schulden des Vaters zurückzuzahlen. Dann beschlossen sie, nach Paris zu ziehen, denn in der Heimat konnten sie nicht mehr bleiben.

 

Die Reise glich einer Flucht. Am Abend vorher gingen sie dem Kirchhof gemeinsam Lebewohl sagen. Es war ein trauriger Abend, Ende September; die Felder verschwammen unter dem Schleier dichter weißer Nebel, aus denen zu beiden Seiten des Weges, je mehr man vorwärts schritt, die Skelette der schlotternden, tropfenden Sträucher, wie Aquariumspflanzen, auftauchten. Alle drei knieten sie auf der schmalen Steinumfassung nieder, die den frisch aufgeworfenen Hügel umgab. Schweigend rannen ihre Tränen. Olivier schluchzte stoßweise; Frau Jeannin brauchte verzweifelt ihr Taschentuch. Sie steigerte ihren Schmerz, sie marterte sich, indem sie sich unaufhörlich die Worte wiederholte, die sie ihrem Mann das letzte Mal, als sie ihm lebend gegenüberstand, gesagt hatte. Olivier dachte an das Gespräch auf der Terrassenbank. Antoinette dachte daran, was aus ihnen werden sollte. Keiner trug den Schatten eines Vorwurfs gegen den Unglücklichen im Herzen, der sich selbst und sie ins Unglück gestürzt hatte. Aber Antoinette dachte: »Ach, lieber Papa, wie viel werden wir zu leiden haben!«

Der Nebel wurde dichter, die Feuchtigkeit durchdrang sie, aber Frau Jeannin konnte sich nicht zum Fortgehen entschließen. Antoinette sah, wie Olivier schauerte, und sie sagte zu ihrer Mutter: »Mama, mir ist kalt.«

Sie standen auf. Im Augenblick des Weggehens wandte sich Frau Jeannin ein letztes Mal nach dem Grab um:

»Mein armer Freund!« sagte sie.

Bei sinkender Nacht verließen sie den Kirchhof. Antoinette hielt Oliviers erstarrte Hand in der ihren. Sie kehrten in das alte Haus zurück. Es war ihre letzte Nacht in dem Nest, in dem sie immer geschlafen hatten, in dem sich ihr Leben und das Leben ihrer Vorväter abgespielt hatte, die letzte Nacht zwischen diesen Wänden, in diesem Heim, diesem kleinen Fleck Erde, an den alle Freuden und Schmerzen der Familie so unlösbar gebunden waren, daß es war, als gehörte er mit zur Familie, als wäre er ein Stück ihres Lebens, das man nur lassen konnte, um zu sterben. Ihre Koffer waren gepackt. Sie mußten den ersten Morgenzug nehmen, bevor die Läden der Nachbarn sich öffneten: sie wollten der Neugierde und den böswilligen Glossen entgehen.   Sie hätten sich am liebsten eines an das andere gepreßt; und doch ging jedes instinktmäßig in sein Zimmer und blieb dort. Sie setzten sich nicht, rührten sich nicht; es kam ihnen nicht einmal in den Sinn, Hut und Mantel abzulegen; sie befühlten die Wände, die Möbel, alles, was sie verlassen sollten, lehnten ihre Stirn gegen die Fensterscheiben und suchten den Zusammenschluß mit den geliebten Dingen in sich aufzunehmen und zu bewahren. Endlich entriß sich jedes mit Anstrengung der Selbstsucht seiner schmerzlichen Gedanken und sie trafen sich in Frau Jeannins Zimmer, dem Familienzimmer, das einen großen Alkoven im Hintergrund hatte; dort hatten sie früher am Abend nach dem Essen beisammen gesessen, wenn kein Besuch gekommen war ... Früher! Alles dies schien ihnen schon so fern. Ohne zu reden, blieben sie dort um das dürftige Feuer sitzen; dann knieten sie vor dem Bett hin und verrichteten gemeinsam das Gebet; sehr früh legten sie sich nieder, denn sie mußten vor Sonnenaufgang aufstehen. Doch es dauerte lange, bevor ihnen der Schlaf kam.

Frau Jeannin, die von Stunde zu Stunde auf die Uhr gesehen hatte, ob es noch nicht Zeit sei, sich fertig zu machen, zündete ihre Kerze gegen vier Uhr morgens an und stand auf. Antoinette, die kaum geschlafen hatte, hörte sie und erhob sich ebenfalls. Olivier lag in tiefem Schlummer. Frau Jeannin betrachtete ihn voller Rührung und konnte sich nicht entschließen, ihn zu wecken. Sie entfernte sich auf den Fußspitzen und sagte zu Antoinette: »Wir wollen keinen Lärm machen; mag der arme Kleine die letzten Augenblicke hier genießen.«

Die beiden Frauen zogen sich fertig an und packten die letzten Habseligkeiten zusammen. Rings um das Haus dehnte sich das große Schweigen der kalten Nächte, in denen alles was lebt, Mensch und Tier, sich begieriger in den wärmenden Schlaf wühlt. Antoinette klapperte mit den Zähnen, ihre Seele und Leib waren erstarrt.

Die Haustür klang in der vereisten Luft. Die alte Dienstmagd, die den Schlüssel zum Hause hatte, kam ein letztes Mal ihre Herrschaft bedienen. Klein, dick, kurzatmig und durch ihre Wohlbeleibtheit behindert, aber für ihr Alter erstaunlich flink, kam sie mit ihrem gutmütigen, eingemummelten Gesicht mit roter Nase und tränenden Augen zum Vorschein. Sie war außer sich, daß Frau Jeannin vor ihr aufgestanden war und das Feuer in der Küche angezündet hatte. Als sie hereinkam, wachte Olivier auf. Seine erste Regung war, die Augen wieder zu schließen, sich auf die andere Seite zu drehen und weiter zu schlafen. Antoinette legte ihre Hand sanft auf die Schulter ihres Bruders und rief ihn leise an: »Olivier, mein Kleiner, es ist Zeit.« Er seufzte, öffnete die Augen, sah seiner Schwester Gesicht über das seine geneigt: sie lächelte ihm traurig zu, streichelte seine Stirn und wiederholte: »Komm.« Er stand auf.

Leise wie Diebe verließen sie das Haus. Jeder trug Gepäckstücke in der Hand. Das alte Dienstmädchen ging ihnen, den Koffer auf einem Handwagen fahrend, voran. Fast alles, was sie besaßen, ließen sie zurück; sie nahmen eigentlich nur mit, was sie auf dem Körper trugen, und ein paar Kleidungsstücke. Einige armselige Andenken sollten ihnen als Frachtgut nachgeschickt werden: ein paar Bücher, Familienbilder, die alte Standuhr, deren Schlag ihnen wie der Schlag ihres eigenen Lebens schien.   Die Luft war scharf. Noch niemand in der Stadt war auf; die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Sie schwiegen. Nur die Dienstmagd redete. Ein letztes Mal suchte sich Frau Jeannin die Bilder einzuprägen, die ihr die ganze Vergangenheit zurückriefen.

Auf dem Bahnhof nahm Frau Jeannin aus Eitelkeit Plätze zweiter Klasse, obgleich sie sich vorgenommen hatte, die dritte zu nehmen. Doch sie fand in Gegenwart der zwei oder drei Bahnhofsangestellten, die sie kannten, nicht den Mut zu solcher Erniedrigung. Sie flüchtete sich eilig in ein leeres Wagenabteil und schloß sich dort mit den Kindern ein. Hinter den Vorhängen verborgen, zitterten sie davor, ein Gesicht aus der Bekanntschaft auftauchen zu sehen. Doch niemand zeigte sich; zur Zeit, da sie abreisten, erwachte die Stadt eben erst; der Zug war fast leer; nur drei oder vier Bauern fuhren mit und Ochsen, die ihren Kopf über die Wagenlatte streckten und klagend brüllten. Nach langer Wartezeit gab die Lokomotive ihren langgezogenen Pfiff von sich, und der Zug fuhr in den Nebel hinein. Die drei Flüchtlinge zogen die Vorhänge auf und betrachteten, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, ein letztes Mal die kleine Stadt, deren gotischer Turm sich kaum in dem Nebelschleier abzeichnete, den mit Stoppeln bedeckten Hügel, die dampfenden, reifbedeckten Felder; das alles war schon eine Traumlandschaft geworden, fern und beinahe unwirklich. Und als sie bei einer zwischen Abhängen hinführenden Wegbiegung verschwand und sie nun vor jeder Beobachtung sicher waren, konnten sie sich nicht mehr beherrschen. Frau Jeannin drückte ihr Taschentuch an den Mund und schluchzte. Olivier hatte sich an sie gedrängt und, den Kopf im Schoß der Mutter, bedeckte er ihre Hände mit Küssen und Tränen. Antoinette saß in der anderen Ecke des Wagenabteils, dem Fenster zugewandt, und weinte schweigend. Sie weinten nicht alle drei aus demselben Grunde. Frau Jeannin und Olivier dachten an das, was sie hinter sich ließen. Antoinette dachte weit mehr an alles, was sie finden würden: sie machte sich deswegen Vorwürfe; sie hätte sich gern ganz in ihre Erinnerungen versenkt ... Sie hatte allen Grund, an die Zukunft zu denken; sie sah die Dinge klarer als ihre Mutter und ihr Bruder. Diese machten sich Illusionen über Paris. Antoinette selbst war es keinen Augenblick zweifelhaft, was sie erwartete. Sie waren noch niemals dort gewesen. Frau Jeannin meinte, daß ihre Lage   so traurig sie immer sei   nichts Beängstigendes habe. Sie hatte in Paris eine Schwester, die an einen reichen Magistratsbeamten verheiratet war, und sie rechnete auf deren Hilfe. Außerdem war sie überzeugt, ihre Kinder würden bei der Erziehung, die sie genossen hatten, und bei ihren natürlichen Anlagen, die sie   wie alle Mütter   überschätzte, keinerlei Mühe haben, ihren Lebensunterhalt anständig zu verdienen.

 

Der erste Eindruck bei der Ankunft war unglückverheißend. Schon am Bahnhof wurden sie von dem Menschengedränge im Gepäckraum und dem Wagengewimmel beim Ausgang ganz verwirrt. Es regnete. Eine Droschke war nicht zu finden. Sie mußten, die Arme von den allzu schweren Gepäckstücken wie zerschlagen, weit laufen, hielten schließlich gezwungenermaßen mitten auf der Straße inne und liefen Gefahr, von den Wagen überrannt oder mit Schmutz bespritzt zu werden. Kein Kutscher hörte auf ihre Zurufe. Endlich gelang es ihnen, einen anzuhalten, der einen alten, widerlich unsauberen Rumpelkasten führte. Als sie ihre Gepäckstücke aufluden, ließen sie eine Rolle mit Decken in den Kot fallen. Der Bahnhofsträger, der ihren Koffer schleppte, und der Kutscher machten sich ihre Unerfahrenheit zunutze, indem sie das Doppelte verlangten. Frau Jeannin hatte die Adresse eines jener mittelmäßigen und teuren Hotels angegeben, die von den Provinzlern bevorzugt werden; weil irgend einer ihrer Großeltern vor dreißig Jahren dort gewohnt hatte, machen sie es nun trotz aller Übelstände ebenso. Man übervorteilte sie gehörig. Das Hotel sei besetzt, hieß es; so stopfte man sie denn alle miteinander in einen engen Raum und rechnete ihnen den Preis für drei Zimmer. Bei Tisch wollten sie etwas ersparen und verzichteten auf das gemeinsame Essen; sie bestellten sich ein bescheidenes Mahl, das ebenso teuer wurde und sie hungrig ließ. Seit den ersten Minuten ihrer Ankunft waren ihre Hoffnungsträume zerstoben. Und schon in dieser ersten Hotelnacht, in der sie, in ein Zimmer mit schlechter Luft gepfercht, nicht schlafen konnten, bald froren, bald glühten, nicht atmen konnten, bei jedem Schritt im Korridor, dem Türenschlagen, dem unaufhörlichen Klingeln zusammenfuhren, als sie durch das unaufhörliche Wagenrollen und das Gepolter der schweren Lastfuhrwerke ihr Gehirn gemartert fühlten, standen sie in starrem Entsetzen unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Stadt, in die sie sich gestürzt hatten und in der sie sich verloren sahen.

Am nächsten Morgen lief Frau Jeannin zu ihrer Schwester, die eine elegante Wohnung auf dem Boulevard Haußmann innehatte. Ohne es sich einzugestehen, hoffte sie, daß man ihnen anbieten werde, im Hause zu wohnen, bis sie sich zurechtgefunden hätten. Der erste Empfang genügte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die Poyet-Delorme waren wütend über den Bankerott ihres Verwandten. Besonders fürchtete die Frau, daß man sie in die Geschichte verwickeln und daß dies dem Vorwärtskommen ihres Mannes hinderlich sein könnte; so fand sie es unglaublich unzart, daß die ruinierte Familie sich an sie klammern und so noch mehr bloßstellen wolle. Der Stadtrat dachte ebenso; aber er war ein ziemlich anständiger Mensch, er wäre hilfsbereiter gewesen, wenn seine Frau nicht aufgepaßt hätte   was ihm im Grunde genommen ganz recht war. Frau Poyet-Delorme begrüßte also ihre Schwester mit eisiger Kälte. Frau Jeannin fühlte sich durchschauert; aber sie bezwang ihren Stolz: sie gab mit verhüllenden Worten zu verstehen, in welch schwieriger Lage sie sich befand und was sie von den Poyets gewünscht hätte; man tat, als habe man nicht verstanden. Nicht einmal zum Abendessen behielt man sie da; zeremoniell lud man sie für das Ende der Woche ein. Und selbst diese Einladung ging nicht von Frau Poyet aus, sondern vom Stadtrat, der die Art, wie seine Frau ihre Schwester empfing, peinlich empfand und die frostige Aufnahme abzuschwächen suchte: er spielte den Gutherzigen, aber man fühlte, daß er es nicht ganz aufrichtig meinte und daß er im Grunde ein großer Egoist war. Die unglücklichen Jeannins kehrten ins Hotel heim und wagten nicht einmal, ihre Eindrücke über diesen ersten Besuch miteinander auszutauschen.

Sie verbrachten die folgenden Tage damit, eine Wohnung zu suchen, irrten in Paris umher, wurden müde vom Treppensteigen und fühlten sich angewidert vom Anblick dieser mit Menschenleibern vollgestopften Kasernen, dieser schmutzigen Treppen, dieser lichtlosen Zimmer, die nach dem großen Provinzhause so traurig anmuteten. Sie wurden immer niedergeschlagener. Und ihre Betäubtheit in den Straßen, den Magazinen, den Restaurants war stets die gleiche, so daß sie immer wieder überall und von allen betrogen wurden. Was sie auch verlangten, es kostete unglaublich viel; es war, als hätten sie die Gabe, was sie berührten, in Gold zu verwandeln: nur daß sie selbst dieses Gold bezahlen mußten. Sie waren unbeschreiblich ungeschickt und verstanden es in keiner Weise, sich zur Wehr zu setzen.

So wenig Hoffnung Frau Jeannin in Bezug auf ihre Schwester blieb, sie machte sich doch noch ein paar Illusionen über das Diner, zu dem sie eingeladen waren. Mit klopfendem Herzen machten sie sich dafür zurecht. Sie wurden als Gäste behandelt, nicht als Verwandte   ohne daß man sich übrigens, von der Steifheit des Tones abgesehen, besondere Unkosten für das Essen gemacht hätte. Die Kinder sahen ihre ungefähr gleichaltrigen Vettern und Kusinen, die ihnen nicht herzlicher als der Vater und die Mutter entgegenkamen ... Das sehr elegante und sehr kokette Mädchen redete lispelnd mit ihnen, setzte eine höflich überlegene Miene auf und war so geziert und zuckersüß, daß sie dadurch ganz aus der Fassung gebracht wurden. Der Junge fand dies zwangsweise Essen mit armen Verwandten zum Sterben langweilig und er war so brummig wie nur möglich. Frau Poyet-Delorme saß gerade und steif auf ihrem Stuhl und es war, als erteile sie, selbst wenn sie ihrer Schwester ein Gericht anbot, ihr beständig eine Strafpredigt. Herr Poyet-Delorme redete Albernheiten, damit man nicht auf ernste Dinge zu sprechen käme. Die nichtssagende Unterhaltung kam aus Furcht vor jedem vertraulichen und gefährlichen Gespräch nicht über das hinaus, was man über das Essen sprach. Frau Jeannin nahm einen Anlauf, um die Unterhaltung auf das zu lenken, was ihr am Herzen lag; Frau Poyet-Delorme schnitt ihr das Wort mit einer nichtssagenden Bemerkung kurz ab. Noch einmal anzufangen, fand Frau Jeannin nicht den Mut.

Nach Tisch forderte sie ihre Tochter zum Klavierspielen auf, weil sie ihr Talent gern zeigen wollte. Die Kleine war verlegen, mißmutig und spielte entsetzlich. Die gelangweilten Poyets warteten nur darauf, daß sie fertig wäre. Frau Poyet schaute mit ironisch gekräuselten Lippen zu ihrer Tochter hin und als die Musik allzu lange dauerte, fing sie mit Frau Jeannin wieder von gleichgültigen Dingen zu reden an. Antoinette, die schließlich ganz den Faden ihres Stückes verlor, merkte mit Entsetzen, daß sie bei einer gewissen Stelle, anstatt weiter zu spielen, wieder von vorn angefangen hatte, und daß es nun möglicherweise immer so weitergehen könne, daß sie sich niemals herausarbeiten würde; so brach sie kurz ab und endete mit zwei Akkorden, die nicht richtig waren, und einem dritten unreinen. Herr Poyet sagte: »Bravo!«   und befahl den Kaffee.

Frau Poyet erzählte, ihre Tochter nehme bei Pugno Stunden. Die junge Dame, die »bei Pugno Stunden nahm«, sagte: »Sehr nett, Kleine,« und fragte, wo Antoinette studiert habe. Die Unterhaltung zog sich gequält hin. Die Nippsachen im Salon und die Toiletten der Damen Poyet gaben keine Anregung mehr her. Frau Jeannin sagte sich immer wieder: »Jetzt ist der gegebene Augenblick zum Sprechen, jetzt muß ich sprechen ...«

Alles zog sich in ihr zusammen. Als sie schließlich eine große Anstrengung machte und sich zum Reden entschloß, ließ Frau Poyet, wie zufällig und in einem Ton, der nicht einmal nach einer Entschuldigung klang, verlauten, daß es ihnen recht leid täte, daß sie aber gegen halb zehn Uhr ausgehen müßten: sie seien eingeladen und hätten es nicht verschieben können. Die verletzten Jeannins standen sogleich auf, um fortzugehen. Man hielt sie noch etwas zurück. Aber eine Viertelstunde später klingelte jemand an der Tür: der Diener meldete Freunde von Poyets, Nachbarn, die im unteren Stockwerk wohnten. Poyet und seine Frau wechselten verständnisvolle Blicke und man tuschelte eilig mit den Dienstboten. Poyet stotterte irgend eine Entschuldigung und schob die Jeannins in ein Nebenzimmer. (Er wollte seinen Freunden das Dasein und vor allem die Anwesenheit der kompromittierenden Familie verbergen.) Man ließ die Jeannins in dem ungeheizten Zimmer allein. Die Kinder waren außer sich über diese Demütigungen. Antoinette hatte Tränen in den Augen; sie wollte, daß man fortginge. Ihre Mutter suchte sie zunächst davon abzubringen; als sich die Wartezeit dann in die Länge zog, entschloß auch sie sich dazu. Sie verließen das Zimmer. Im Flur holte sie Poyet ein, der von einem Dienstboten benachrichtigt worden war, und entschuldigte sich mit ein paar nichtssagenden Worten; er tat, als wollte er sie zurückhalten, aber man sah, es lag ihm daran, sie so schnell wie möglich los zu werden. Er half ihnen in ihre Mäntel und schob sie mit lächelnder Miene, mit Händedrücken, mit halblauten Liebenswürdigkeiten zur Tür und hinaus.   In ihr Hotel zurückgekehrt, weinten die Kinder vor Wut. Antoinette stampfte mit den Füßen und schwor, daß sie niemals mehr den Fuß zu diesen Leuten setzen würde.

Frau Jeannin nahm eine Wohnung im vierten Stockwerk nahe dem Botanischen Garten. Die Zimmer lagen den schmierigen Mauern eines dunklen Hofes gegenüber; das Eßzimmer und der Salon (denn Frau Jeannin hielt etwas auf einen Salon) gingen auf eine belebte Straße. Den ganzen Tag kamen Dampfstraßenbahnen und Leichenwagen vorbei, deren Zug sich in dem Kirchhof von Ivry verlor. Verlauste Italiener mit einer Lumpenbande von Kindern lungerten auf den Bänken herum oder zankten sich wütend. Man konnte die Fenster des Lärmes wegen nicht offen lassen; und kam man abends nach Hause, so mußte man sich durch die Flut des geschäftigen und stinkenden Volksgewimmels drängen, durch überfüllte Straßen mit schmutzigem Pflaster gehen, an einer widerlichen Kneipe vorbei, die im Parterre des Nachbarhauses lag und an deren Tür dicke, aufgedunsene Weiber mit gelb gefärbten Haaren, geschminkt und gepudert, standen und die Vorübergehenden mit gemeinen Blicken herausforderten.

Der dürftige Geldvorrat der Jeannins ging schnell zu Ende; jeden Abend stellten sie mit gepreßtem Herzen fest, daß sich die Bresche in ihrer Börse wieder verbreitert hatte. Sie suchten sich Entbehrungen aufzulegen; aber sie verstanden es nicht: das ist eine Kunst, die man erst in jahrelangen Kümmernissen erlernen kann, falls man sie nicht von Kindheit an geübt hat. Wer nicht von Natur aus sparsam veranlagt ist, versucht vergeblich, es zu werden: so wie sich eine neue Gelegenheit zum Geldausgeben bietet, gibt er ihr nach. Die Sparsamkeit wird immer auf das nächste Mal verschoben; und hat man zufällig die kleinste Summe verdient oder glaubt, sie verdient zu haben, so verbraucht man das bißchen schleunigst für Ausgaben, die schließlich die Summe zehnmal übersteigen. Nach wenigen Wochen waren die Mittel der Jeannins erschöpft. Frau Jeannin mußte ihr letztes Selbstgefühl opfern und hinter dem Rücken ihrer Kinder Poyet um Geld bitten. Sie richtete es so ein, daß sie ihn allein in seinem Arbeitszimmer traf, und sie flehte ihn an, ihr so lange, bis sie eine Stellung gefunden hätte, die ihnen den Lebensunterhalt ermöglichte, eine kleine Summe vorzustrecken. Da Poyet schwach war und verhältnismäßig menschenfreundlich gesinnt, gab er nach, wenn er auch zuerst versuchte, seine Antwort auf später zu verschieben. In einem Augenblick der Bewegtheit, deren er nicht Herr werden konnte, lieh er ihr zweihundert Franken; gleich darauf bereute er es allerdings, besonders als er es Frau Poyet gestehen mußte, die über die Schwäche ihres Mannes und über ihre hinterlistige Schwester außer sich war.

 

Die Jeannins verbrachten ihre Tage damit, kreuz und quer durch Paris zu laufen, um eine Stellung zu suchen. Frau Jeannin konnte sich mit ihren Vorurteilen, den Vorurteilen einer reichen Provinzlerin, keine andere Beschäftigung für sich selbst und ihre Kinder vorstellen als einen der sogenannten »standesgemäßen« Berufe, wahrscheinlich weil man dabei verhungert. Sie hätte ihrer Tochter nicht einmal erlaubt, als Erzieherin in eine Familie zu gehen. Als einzige nicht entehrende Berufe erschienen ihr die offiziellen im Staatsdienst. Es handelte sich also darum, Mittel zu finden, um Olivier seine Erziehung vollenden und ihn Lehrer werden zu lassen. Für Antoinette hätte Frau Jeannin gern irgend eine Unterrichtsanstalt ausgesucht, damit sie dort Stunden gäbe, oder sie am Konservatorium gesehen, wo sie den Preis für Klavierspiel erringen könnte. Aber die Institute, an die sie sich wendete, waren alle mit Lehrern versorgt, die ganz andere Titel aufzuweisen hatten als ihre Tochter mit ihrem armseligen kleinen Elementarzeugnis; und was die Musik betraf, so mußte sie einsehen, daß Antoinettes Talent zu den alltäglichsten gehörte, verglichen mit so vielen anderen, die trotzdem nicht durchzudringen vermochten. So merkten sie den furchtbaren Lebenskampf und den unsinnigen Verbrauch kleiner und großer Talente, mit denen Paris nichts anzufangen weiß.

Die beiden Kinder wurden ganz und gar entmutigt, verloren das Vertrauen zu sich und hielten sich für minderwertig; mit wahrer Erbitterung wollten sie es sich und ihrer Mutter beweisen. Olivier, dem es in seinem Provinzgymnasium nicht schwer gefallen war, für einen Musterschüler zu gelten, war jetzt wie gelähmt; er schien aller seiner Gaben beraubt. Im Gymnasium, in das man ihn brachte und in dem es ihm gelang, einen Freiplatz zu erringen, waren seine Zeugnisse in der ersten Zeit so jämmerlich, daß man ihm seine Freistelle wieder entzog. Er hielt sich für einen vollständigen Dummkopf; dabei empfand er Grauen vor diesem Paris mit seinem Menschengewimmel, vor der widerlichen Unmoral seiner Kameraden, ihren gemeinen Gesprächen, vor der Bestialität einiger unter ihnen, die ihn nicht mit abscheulichen Vorschlägen verschonten. Er fand nicht einmal Kraft genug, ihnen seine Verachtung auszudrücken. Durch den bloßen Gedanken an ihre Schändlichkeit fühlte er sich selbst geschändet. Gleich seiner Mutter und seiner Schwester flüchtete er sich in leidenschaftliche Gebete, die sie allabendlich gemeinsam verrichteten, wenn sie wieder einen neuen Tag voll heimlicher Enttäuschungen und Demütigungen hinter sich hatten, die diesen unschuldigen Herzen wie eine Besudelung erschienen und die sie einander nicht einmal zu erzählen wagten. Aber durch die Berührung mit dem Geist des verborgenen und allgegenwärtigen Atheismus, den man in Paris einatmet, wurde Oliviers Glaube bereits, ohne daß er es merkte, erschüttert, wie allzu frischer Kalk, der beim Ansturm des Regens von den Mauern fällt. Wohl glaubte er noch, aber rings um ihn her starb Gott.

Seine Mutter und seine Schwester machten weiter ihre vergeblichen Gänge. Frau Jeannin war noch einmal zu den Poyets gegangen, die in ihrem Wunsche, die Verwandten los zu werden, ihnen Stellungen anboten. Es handelte sich für Frau Jeannin darum, als Vorleserin zu einer alten Dame zu gehen, die den Winter im Süden verbrachte. Für Antoinette machte man einen Lehrerinnenposten ausfindig, im Osten Frankreichs bei einer Familie, die das ganze Jahr hindurch auf dem Lande lebte. Die Bedingungen waren nicht allzu schlecht; aber Frau Jeannin lehnte ab. Mehr noch, als sie sich der Demütigung widersetzte, selbst in Stellung zu gehen, war sie dagegen, daß ihre Tochter sich dazu hergebe, und vor allem, daß Antoinette von ihr getrennt werde. So unglücklich sie auch waren, und gerade weil sie unglücklich waren, wollten sie zusammen bleiben.   Frau Poyet nahm das sehr übel, sie sagte, wenn man keine Mittel zum Leben habe, dürfe man nicht die Hochmütigen spielen. Frau Jeannin konnte sich nicht enthalten, ihr Herzlosigkeit vorzuwerfen. Darauf sagte Frau Poyet Verletzendes über den Bankerott und das Geld, das Frau Jeannin ihnen schulde. Als Todfeindinnen gingen sie auseinander. Alle Beziehungen wurden abgebrochen. Frau Jeannin hatte nur noch einen Wunsch, das entliehene Geld zurückzuzahlen: aber sie konnte es nicht.

Die vergeblichen Bemühungen dauerten fort. Frau Jeannin suchte den Deputierten und den Senator ihrer Provinz auf, denen Herr Jeannin unzählige Male nützlich gewesen war. Überall stieß sie auf Undankbarkeit und Selbstsucht. Der Deputierte antwortete nicht einmal auf ihre Briefe, und wenn sie an seiner Tür klingelte, hieß es, er sei ausgegangen. Der Senator redete mit plumpem Mitleid über ihre Lage, für die er diesen elenden Jeannin verantwortlich machte, dessen Selbstmord er hart verdammte. Frau Jeannin verteidigte ihren Mann; der Senator erwiderte, er wüßte ja, daß Jeannin nicht aus Ehrlosigkeit gehandelt habe, sondern aus Dummheit; daß er eine Null, ein armer Strohkopf gewesen sei, der nichts verstand und, ohne irgend einen Rat zu erbitten, noch irgend einer Warnung Gehör zu schenken, immer nur alles nach seinem Kopf habe machen wollen. Wenn er sich allein ins Elend gebracht hätte, würde man ja nichts weiter sagen: das wäre seine eigene Sache gewesen. Aber   ganz abgesehen von den anderen Zugrundegerichteten   daß er seine Frau und seine Kinder ins Elend getrieben und sie dann noch hätte sitzen lassen, damit sie zusähen, wie sie weiterkämen ... das   nun, es wäre ja Frau Jeannins Sache, ihm das zu verzeihen, falls sie eine Heilige wäre; er aber, der Senator, der kein Heiliger sei und sich etwas darauf zugute tue, ein Mann von gesundem Menschenverstand zu sein, ein besonnener und vernünftiger Mensch   er habe keinerlei Grund, Verzeihung zu üben: ein Kerl, der sich in solchem Falle das Leben nehme, sei ein elender Wicht. Der einzige mildernde Umstand, den man bei Jeannin in Betracht ziehen könnte, wäre, daß er nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sei. Darauf entschuldigte er sich bei Frau Jeannin, in Bezug auf ihren Mann etwas heftige Ausdrücke gebraucht zu haben: als Grund dafür bezeichnte er seine Sympathie für sie; und seine Schreibtisch-Schieblade aufziehend, bot er ihr einen Fünfzig-Franken-Schein an   ein Almosen, das Frau Jeannin zurückwies.

Sie bemühte sich um eine Stelle in den Büros einer großen Verwaltung. Ihre Versuche waren ungeschickt und erfolglos. Sie brauchte ihren ganzen Mut, um einen einzigen Schritt zu tun; dann kam sie so niedergeschlagen zurück, daß sie ein paar Tage lang keine Kraft mehr fand, sich von der Stelle zu rühren; und wenn sie sich wieder auf den Weg machte, war es zu spät. Bei der Geistlichkeit fand sie ebenso wenig Hilfe, da diese entweder keinerlei Vorteile für sich daraus ersah oder für eine ruinierte Familie, deren Vater bekanntermaßen antiklerikal gesinnt gewesen war, keinerlei Interesse übrig hatte. Alles, was Frau Jeannin schließlich nach tausend Anstrengungen fand, war der Platz einer Klavierlehrerin in einem Kloster; ein undankbarer und lächerlich bezahlter Posten. Um nur ein wenig mehr zu verdienen, besorgte sie abends für eine Agentur Abschreibearbeiten. Man war sehr streng gegen sie. Ihre Handschrift und ihre Zerfahrenheit, wegen der sie manchmal, trotz ihrem Fleiße, ein Wort, eine Zeile ausließ (sie dachte an so viele andere Dinge), trugen ihr verletzende Rügen ein. Manchmal kam es vor, daß man ihre Abschrift zurückwies, an der sie sich mit brennenden Augen bis Mitternacht steifgeschrieben hatte. Verstört kehrte sie dann heim. Tagelang ging sie seufzend umher, ohne irgend einen Entschluß fassen zu können. Seit langem verspürte sie ein Herzleiden, das ihre Schicksalsschläge verschlimmert hatten und das ihr düstere Ahnungen einflößte. Manchmal hatte sie Herzbeklemmungen, Erstickungsanfälle, und es war ihr, als müsse sie sterben. Sie ging nicht mehr ohne ihren Namen und ihre Adresse in der Tasche aus, für den Fall, daß sie auf der Straße plötzlich zusammenbrechen würde. Was sollte geschehen, wenn sie nicht mehr war?   Antoinette tröstete sie, so gut sie konnte, erkünstelte eine Ruhe, die sie nicht besaß; sie flehte sie an, sich zu schonen, sie an ihrer Stelle arbeiten zu lassen. Aber Frau Jeannin setzte ihren letzten Stolz darein, ihrer Tochter wenigstens die Demütigungen zu ersparen, unter denen sie selbst zu leiden hatte.

So sehr sie sich auch aufrieb und alle Ausgaben noch einschränkte, so war, was sie verdiente, doch nicht genug, um ihr und der Ihren Leben zu fristen. Die wenigen Schmucksachen, die sie noch zurückbehalten hatten, mußten verkauft werden. Und das Schlimmste war, daß dieses Geld, dessen sie so unendlich bedurften, am selben Tage, als Frau Jeannin es erhielt, ihr gestohlen wurde. Der armen Frau, die stets unüberlegt handelte, war es in den Sinn gekommen, in den »Bon Marché« zu gehen, weil sie doch schon unterwegs war und weil sie da vorüberkam; am nächsten Tage war Antoinettes Geburtstag und sie wollte ihr ein kleines Geschenk kaufen; sie hielt ihren Geldbeutel in der Hand, damit sie ihn nicht verliere. Mechanisch legte sie ihn einen Augenblick auf den Ladentisch, während sie etwas ansah. Als sie ihn wieder an sich nehmen wollte, war er verschwunden.   Das gab ihr den letzten Schlag.

Wenige Tage später, an einem erstickend heißen Augustabend   ein feuchtschwerer Dunst drückte schwül auf die Stadt   kehrte Frau Jeannin heim von ihrer Abschriften-Agentur, wo sie eine eilige Arbeit abzuliefern gehabt hatte. Es war kurz vor dem Abendessen; sie wollte aber trotzdem die fünfzehn Centimes für den Omnibus sparen und hetzte sich lieber ab, um nur schnell heimzukommen, denn sie fürchtete, daß ihre Kinder sonst unruhig würden. In ihrem vierten Stockwerk angelangt, konnte sie weder sprechen, noch Luft bekommen. Es war nicht das erste Mal, daß sie in solchem Zustand heimkehrte; die Kinder regten sich schließlich nicht mehr darüber auf. Sie nahm sich zusammen und setzte sich sofort mit ihnen zu Tisch.   Von der Hitze ermattet, aßen Antoinette und Olivier kaum; mit Anstrengung und Widerwillen schluckten sie ein paar Fleischstücke, ein paar Züge faden Wassers hinunter. Um ihrer Mutter Zeit zur Erholung zu lassen, sprachen sie nicht   sie hatten auch keinerlei Lust zum Gespräch; sie starrten zum Fenster hinaus.

Plötzlich griffen Frau Jeannins Hände in die Luft, sie klammerte sich an den Tisch, schaute ihre Kinder an, stöhnte und sank zusammen. Antoinette und Olivier stürzten noch rechtzeitig hinzu, um sie in ihren Armen aufzufangen. Sie waren wie wahnsinnig, schrieen, flehten:

»Mama! Mamachen!«

Aber sie antwortete nicht mehr. Sie verloren den Kopf. Antoinette umklammerte krampfhaft den Körper ihrer Mutter, küßte sie, rief sie an. Olivier riß die Wohnungstür auf und schrie: »Hilfe!« Die Hausmeisterin kletterte die Treppe hinauf, und als sie sah, was geschehen war, lief sie zu einem Arzt der Nachbarschaft. Doch als der Arzt erschien, konnte er nur noch feststellen, daß alles zu Ende sei.   Der Tod war augenblicklich eingetreten   zum Glück für Frau Jeannin  , wenn man auch nicht wissen konnte, ob sie nicht noch Zeit genug gehabt hatte, in ihren letzten Sekunden zu erkennen, daß sie sterbe, und daran zu denken, daß sie ihre Kinder in so furchtbarem Elend allein zurücklasse.

 

Allein, die Schrecken der Katastrophe zu ertragen, allein in ihren Tränen, allein, die grauenhaften Verrichtungen, die dem Tode folgen, zu überwachen. Die Hausmeisterin, eine gute Frau, half ihnen ein wenig. Und vom Kloster, wo Frau Jeannin Stunden gegeben hatte, kam auch jemand; aber in alledem lag keinerlei wahre Teilnahme.

Die ersten Augenblicke gingen in einer Verzweiflung unter, die nichts auszudrücken vermag. Das Einzige, was die beiden rettete, war das Übermaß dieser Verzweiflung selbst, die sich bei Olivier bis zu Krämpfen steigerte. Dadurch wurde Antoinette von ihrem eigenen Leid abgelenkt; sie dachte nur noch daran, ihren Bruder zu retten; und ihre tiefe Liebe durchdrang Olivier, entriß ihn den gefährlichen Wahnvorstellungen, in die ihn der Schmerz hineingezerrt hatte. Als sie umschlungen im Scheine eines Nachtlichtes an dem Lager saßen, auf dem ihre Mutter ruhte, sagte Olivier immer wieder, sie müßten sterben, alle beide sterben, unverzüglich sterben; und er wies auf das Fenster. Auch Antoinette fühlte denselben finsteren Drang; aber sie kämpfte noch dagegen an: sie wollte leben ...

»Wozu?«

»Um ihretwillen,« sagte Antoinette und deutete auf die Mutter.   »Sie ist immer um uns ... Denke doch ... Nach allem, was sie für uns gelitten hat, müssen wir ihr den schlimmsten Schmerz ersparen, den, uns elend sterben zu sehen ... Ach,«   fuhr sie leidenschaftlich fort   »und dann darf man sich nicht so ergeben! Ich will es nicht! Ich empöre mich endlich dagegen! Ich will, daß du einst glücklich wirst!«

»Niemals!«

»Doch, du wirst glücklich werden. Wir haben allzu viel Unglück erlebt. Der Umschwung wird kommen; er muß kommen. Du wirst dir dein Leben aufbauen;   du wirst eine Familie gründen, du wirst glücklich sein   ich will es ... ich will es!«

»Wie sollen wir leben? Wir werden uns niemals durchsetzen können.«

»Wir werden es können. Um was handelt es sich denn? Wir müssen uns ernähren, bis du dir deinen Lebensunterhalt verdienen kannst. Das laß meine Sorge sein. Du wirst sehen, ich kann es. Ach, hätte Mama mich nur handeln lassen   ich hätte es jetzt schon fertig gebracht ...«

»Was willst du tun? Ich will nicht, daß du erniedrigende Arbeiten tust. Übrigens könntest du es gar nicht.«

»Ich werde es können, und es ist gar nichts Erniedrigendes dabei, wenn man seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdient   vorausgesetzt, daß es anständige Arbeit ist. Bitte, sorge dich nicht. Du sollst sehen, alles wird sich fügen; du wirst glücklich sein, wir werden glücklich sein, mein lieber Olivier, sie wird es in uns sein.«  

Die beiden Kinder folgten allein dem Sarge ihrer Mutter. In völliger Übereinstimmung hatten sie beschlossen, die Poyets nichts wissen zu lassen; die Poyets waren für sie nicht mehr vorhanden, sie waren ihrer Mutter gegenüber allzu grausam gewesen, sie hatten deren Tod mit verschuldet. Und als die Hausmeisterin gefragt hatte, ob sie nicht andere Verwandte besäßen, war ihre Antwort gewesen: »Nein, niemand.«

Hand in Hand beteten sie vor dem kahlen Grabe. Sie trieben sich in ihre Unerschütterlichkeit, in ihren verzweifelten Stolz so sehr hinein, daß sie lieber diese Einsamkeit ertrugen als die Anwesenheit gleichgültiger und heuchlerischer Verwandter. Zu Fuß kehrten sie heim, mitten unter der Menge, die ihrer Trauer fremd war, fremd ihrem ganzen Wesen, fremd ihrem Denken, die nichts mit ihnen gemein hatte als die Sprache, die sie redeten. Antoinette nahm Oliviers Arm.

Sie mieteten im selben Hause im obersten Stockwerk eine kleine Wohnung   zwei Mansardenzimmer, einen winzigen Vorraum, der ihnen als Eßzimmer diente, und eine Küche, so groß wie ein Wandschrank. In einem anderen Stadtviertel hätten sie etwas Besseres finden können, aber ihnen war, als lebten sie hier noch mit ihrer Mutter zusammen. Die Hausmeisterin bewies ihnen einige Anteilnahme; bald aber wurde sie von ihren eigenen Angelegenheiten wieder in Anspruch genommen, und niemand kümmerte sich mehr um die Kinder. Nicht ein einziger Mieter kannte sie; und sie wußten nicht einmal, wer neben ihnen wohnte.

Antoinette erreichte es, ihre Mutter als Musiklehrerin im Kloster ersetzen zu dürfen. Sie suchte andere Stunden. Sie hatte nur einen Gedanken: ihren Bruder zu erziehen, bis er in das Seminar eintreten könne. Sie hatte das nach reiflicher Überlegung ganz allein für sich beschlossen; sie hatte die Vorlesungsverzeichnisse studiert, sie hatte Erkundigungen eingezogen, sie hatte versucht, Oliviers Meinung zu erfragen;   aber da er keine besaß, hatte sie statt seiner gewählt. War er einmal im Seminar, dann war ihm für sein ganzes übriges Leben der Unterhalt gesichert und er konnte über seine Zukunft bestimmen. Dahin mußte er gelangen, bis dahin mußte man sich um jeden Preis durchs Leben schlagen. Es galt fünf oder sechs schreckliche Jahre; doch einmal würden sie zu Ende sein. Dieser Gedanke gewann in Antoinette eine eigenartige Kraft, und schließlich erfüllte er sie ganz und gar. Das Leben in Einsamkeit und Elend, das sie führen sollte und das sie deutlich vor sich sah, war nur zu ertragen dank jenem leidenschaftlichen Wollen, das sich ihrer bemächtigte: ihren Bruder retten, alles tun, damit ihr Bruder glücklich werde, wenn sie selbst es nicht mehr sein konnte! Dieses Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren, das so leichtlebig und weichherzig gewesen war, wurde durch seinen heroischen Entschluß verwandelt: eine Glut der Aufopferung entbrannte in Antoinette, ein Kampfesstolz, den niemand in ihr vermutet hätte, sie selbst am allerwenigsten.   In jenem kritischen Frauenalter, jenen ersten fiebervollen Frühlingstagen, da so viele Liebeskräfte das Wesen schwellen und es umströmen, gleich einer verborgenen, unterirdisch brausenden Quelle, es umspülen, durchtränken, es in einem Zustand beständiger Überspanntheit halten, nimmt die Liebe Formen aller Art an; sie will sich nur hingeben, sich gänzlich hinopfern. Alle Vorwände sind ihr recht, und ihre unschuldige und starke Sinnlichkeit ist bereit, jede Form des Opfers anzunehmen. Die Liebe machte aus Antoinette eine Beute der Freundschaft.  

Ihr weniger leidenschaftlicher Bruder besaß diese Hilfskraft nicht. Im übrigen opferte man sich für ihn, und nicht er war der sich Opfernde   was bei weitem leichter und wohltuender ist, wenn man liebt. So aber fühlte er auf sich die Gewissensqual lasten, daß seine Schwester um seinetwillen sich in Überanstrengung erschöpfte. Er sagte ihr das. Sie antwortete: »Ach, mein armer Kleiner ... siehst du denn nicht, daß mich gerade das am Leben erhält? Welchen Zweck hätte sonst das Leben für mich, ohne die Sorge, die du mir machst?«

Er verstand sie wohl. Auch er hätte an Antoinettes Stelle eifersüchtig über dieser lieben Sorge gewacht; aber die Ursache solcher Sorge sein! ... Darunter litten sein Stolz und sein Herz. Und welch ein zu Boden drückendes Gewicht bedeutete für ein schwaches Geschöpf wie ihn die Verantwortung, die man auf ihn lud: die Verpflichtung, ans Ziel zu gelangen, weil seine Schwester auf diese Karte ihr ganzes Leben als Einsatz gewagt hatte. Unerträglich war ihm dieser Gedanke, und weit entfernt, seine Kräfte zu verdoppeln, schmetterte er ihn in manchen Augenblicken gänzlich nieder. Jedoch zwang er ihn trotz allem auszuhalten, zu arbeiten, zu leben, wozu er ohne diesen Zwang nicht fähig gewesen wäre. Seine Natur neigte viel eher zum Waffenstrecken   zum Selbstmord gar; und vielleicht wäre er der Versuchung erlegen, wenn seine Schwester ihn nicht ehrgeizig und glücklich hätte sehen wollen. Er litt darunter, daß seiner Natur entgegengearbeitet wurde, und doch lag für ihn darin das Heil. Auch er ging durch ein kritisches Alter, jenes gefährliche Alter, in dem Tausende von jungen Menschen, die durch ihre Sinne und ihr Denken auf Abwege gerissen werden, straucheln und um zweier oder dreier toller Jahre willen ihr ganzes übriges Leben unwiederbringlich preisgeben. Hätte er Zeit gehabt, sich seinen Gedanken ganz hinzugeben, so wäre er der Entmutigung oder der Haltlosigkeit verfallen; jedes Mal, wenn es ihn überkam, in sich hineinzuschauen, gewannen seine krankhaften Träumereien wieder Macht über ihn: der Lebensekel, der Ekel vor Paris, der Ekel vor der unreinen Gärung jener Millionen Wesen, die sich miteinander vermischen und miteinander verwesen. Aber der Anblick seiner Schwester zerstreute den Alpdruck, und da sie nur lebte, damit er lebe, so wollte er denn leben; ja, er wollte   sich selbst zum Trotz   glücklich werden.

 

So baute sich ihr Leben auf einem glühenden Glauben auf, der aus Standhaftigkeit, aus Frömmigkeit und aus edlem Ehrgeiz zusammengesetzt war. Das ganze Wesen der beiden Kinder war dem einen Ziel entgegen angespannt: Oliviers Erfolg. Antoinette unterzog sich allen Arbeiten, allen Demütigungen: sie wurde Lehrerin in Häusern, wo man sie fast als Dienstboten behandelte; sie mußte, wie ein Kindermädchen, ihre Schülerinnen spazieren führen, unter dem Vorwande, sie deutsch zu lehren, stundenlang mit ihnen die Straßen auf und ablaufen. Die Liebe zu ihrem Bruder, ja selbst ihr Stolz empfanden solche geistige Leiden, solche Anstrengungen noch wie einen Genuß. Erschöpft kehrte sie heim, um sich Olivier zu widmen, der den Tag als Halbpensionär im Gymnasium verbrachte und erst abends nach Hause kam. Sie bereitete das Essen   ein ärmliches Essen   auf dem Gasherd oder Spirituskocher. Olivier hatte nie Hunger, alle Speisen waren ihm zuwider; vor Fleisch empfand er unbezwinglichen Widerwillen; man mußte ihn zum Essen nötigen oder kleine Gerichte erfinden, die ihm schmeckten;   und die arme Antoinette war doch keine hervorragende Köchin. Nachdem sie sich unendliche Mühe gegeben hatte, erlebte sie die schwere Kränkung, daß er ihr Essen für ungenießbar erklärte. Erst nach mancher Verzweiflung vor dem Kochherde   stummer Verzweiflung, wie sie junge ungeschickte Hausfrauen kennen, deren Leben und Schlaf manchmal dadurch vergiftet wird, ohne daß irgend jemand es weiß   fing sie langsam an, sich darauf zu verstehen.

Nach dem Essen, wenn sie das wenige benutzte Geschirr gewaschen hatte   wobei er ihr helfen wollte, was sie aber nicht zugab  , kümmerte sie sich mütterlich um ihres Bruders Arbeit. Sie ließ ihn seine Aufgaben hersagen, sie las seine Hausarbeiten durch, sie bereitete ihm sogar manches vor, wobei sie immer besorgt war, das empfindliche kleine Wesen nicht zu verletzen. Sie verbrachten den Abend an ihrem einzigen Tisch, der ihnen gleichzeitig zum Essen und Schreiben diente. Er arbeitete an seinen Schularbeiten; sie nähte oder machte Abschriften. War er zu Bett gegangen, so besserte sie seine Kleider aus oder arbeitete für sich.

Trotz der vielen Schwierigkeiten, sich über Wasser zu halten, beschlossen sie in völliger Übereinstimmung, daß sie alles Geld, was sie zu ersparen vermochten, vor allem dazu benutzen wollten, die Schuld abzutragen, die ihre Mutter bei den Poyets auf sich geladen hatte. Nicht daß diese unbequeme Gläubiger gewesen wären: sie hatten kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben; sie dachten nicht einmal mehr an dieses Geld, das sie ein für alle Mal verloren glaubten; im Grunde hielten sie es noch für ein Glück, sich um diesen Preis ihrer Verwandten, die ein so schlechtes Licht auf sie warfen, entledigt zu haben. Aber der Stolz der beiden Kleinen und ihre kindliche Elternverehrung litten darunter, daß ihre Mutter jenen Leuten, die sie verachteten, etwas schuldete. Sie legten sich Entbehrungen auf, sie sparten an ihren kleinsten Vergnügungen, an ihrer Kleidung, an ihrer Nahrung, um nur schließlich die zweihundert Franken zusammenzubringen   etwas Ungeheueres für sie. Antoinette hätte gern allein entbehrt. Als aber ihr Bruder merkte, was sie vorhatte, konnte ihn nichts davon abbringen, es ihr gleich zu tun. Sie setzten ihr Letztes an dieses Ziel und waren glücklich, wenn sie am Tage ein paar Sous beiseite legen konnten.

Kraft jener Entbehrungen gelang es ihnen, in drei Jahren die Summe   Sou für Sou   zusammenzubringen. Ihre Freude darüber war groß. Antoinette ging eines Abends zu den Poyets. Man empfing sie ohne Wohlwollen, denn man glaubte, sie wolle eine Unterstützung erbitten, und so hielten sie es für gut, Antoinette zuvorzukommen, indem sie ihr mit dürren Worten vorwarfen, daß sie keinerlei Nachricht von sich gegeben habe, ja nicht einmal den Tod ihrer Mutter mitgeteilt hätte und nur käme, wenn sie sie brauche. Antoinette unterbrach sie ruhig, indem sie bemerkte, sie habe nicht die Absicht, sie zu belästigen: sie käme nur, um das Geld zurückzubringen, das sie von ihnen geliehen hatte; dabei legte sie die beiden Banknoten auf den Tisch und bat um eine Quittung. Sofort änderten sie das Benehmen und taten, als wollten sie das nicht annehmen: sie bezeigten ihr jenes plötzliche Wohlwollen, das der Gläubiger für einen Schuldner empfindet, der ihm nach Jahren das Geld einer Schuld abträgt, auf das er, der Gläubiger, nicht mehr gerechnet hatte. Sie wollten wissen, wo Antoinette mit ihrem Bruder lebe, wie sie lebten. Sie wich aus, verlangte von neuem die Quittung, sagte, daß sie Eile habe, grüßte kalt und ging. Die Poyets waren empört über den Undank dieses Mädchens.

Obgleich also der Druck von ihr genommen war, fuhr Antoinette fort, sich Entbehrungen aufzuerlegen, nun aber für ihren Bruder. Jedoch verbarg sie es mehr, damit er nichts davon merke. Sie sparte an ihrer Kleidung und manchmal an ihrem Essen, um für die Kleidung des Bruders und für seine Zerstreuungen etwas übrig zu haben, um sein Leben leichter und reicher zu gestalten, um ihm von Zeit zu Zeit zu ermöglichen, in ein Konzert zu gehen oder sogar in die Oper, was für Olivier das größte Glück bedeutete. Er wollte nicht ohne sie gehen; aber sie erfand irgend einen Vorwand, um ihr Fernbleiben zu erklären und ihm gleichzeitig die Gewissensbisse zu nehmen: sie gab vor, daß sie zu müde sei, daß sie keine Lust zum Ausgehen verspüre; sie versicherte sogar, daß es sie langweile. Er wurde durch solche Liebeslügen nicht getäuscht; aber sein kindlicher Egoismus war stärker. Er ging ins Theater; war er aber einmal dort, so gewannen die Gewissensbisse wieder die Oberhand; während des ganzen Schauspiels dachte er daran: sein Glück war gestört. Eines Sonntags, als sie ihn ins Konzert im Chatelet geschickt hatte, kam er nach einer halben Stunde wieder und sagte Antoinette, daß er nur bis zur St. Michel-Brücke gekommen sei und es nicht fertig gebracht habe, weiter zu gehen: das Konzert ziehe ihn nicht mehr an, denn ein Vergnügen ohne sie bereite ihm nur Kummer. Nichts hätte Antoinette süßer klingen können, wenn es sie auch betrübte, daß ihr Bruder um ihretwillen auf seine Sonntagsfreude verzichtet hatte. Doch Olivier kam es nicht in den Sinn, das zu bedauern: als er beim Eintritt das Gesicht seiner Schwester in einer Freude aufstrahlen sah, die zu verbergen sie sich vergeblich bemühte, hatte er ein größeres Glück in sich empfunden, als es die schönste Musik der Welt ihm zu geben vermocht hätte. Sie verbrachten jenen Sonntag-Nachmittag, indem sie sich am Fenster gegenübersaßen, er ein Buch in der Hand, sie mit einer Handarbeit; doch sie nähten und lasen kaum, sprachen von kleinen Nichtigkeiten, die weder für ihn noch für sie besonderes Interesse hatten. Noch niemals war ihnen ein Sonntag so köstlich erschienen. Sie kamen überein, daß sie sich nicht mehr eines Konzertes wegen trennen wollten: sie waren nicht mehr imstande, ein Glück allein zu genießen.

Sie brachte es fertig, heimlich genug zu ersparen, um Olivier mit einem gemieteten Klavier zu überraschen, das ihnen, einem Leihsystem zufolge, nach einer gewissen Zeit ganz und gar gehören sollte. Eine schwere Verpflichtung, die sie damit einging ... Die Termine wurden ihr noch oft ein Alpdruck; sie untergrub ihre Gesundheit bei der Mühe, das nötige Geld zu beschaffen. Aber diese Torheit trug ihnen beiden so viel Glück ein! Die Musik war in ihrem harten Leben das Paradies. Sie bedeutete ihnen unendlich viel. In sie hüllten sie sich ein, um die übrige Welt zu vergessen. Das war nicht ungefährlich. Die Musik ist eines der großen, modernen Auflösungsmittel; sie wirkt ermattend wie ein heißes Bad oder wie ein schwüler Herbst, der die Sinne überreizt und den Willen tötet. Aber für eine Seele, die wie Antoinette im Zwange erdrückender und freudeloser Arbeitslast lebte, war sie eine Entspannung. Das Sonntagskonzert war der einzige Lichtschimmer, der in die erholungslose Arbeitswoche hineinleuchtete. Sie lebten von der Erinnerung an das letzte Konzert und in der Hoffnung auf das nächste, auf die zwei oder drei Stunden, die sie außerhalb von Paris, außerhalb der Zeit verbringen durften. Nach langem Warten unter freiem Himmel, in Regen oder Schnee, in Wind und Kälte, standen sie, eng zusammengepreßt, nur das Eine befürchtend: keine Plätze mehr zu bekommen, drängten sie sich in den Theaterschlund, tauchten sie auf den engen dunklen Plätzen in der Menge unter. Halb erstickt, halb erdrückt, manchmal fast ohnmächtig vor Hitze und Enge, waren sie dennoch glücklich, glücklich im eigenen Glück und in dem des anderen, glücklich, weil sie die Ströme von Güte, von Licht und Kraft durch ihr Herz fluten fühlten, die aus den großen Seelen eines Beethoven, eines Wagner niederrinnen, glücklich, weil sie das liebe geschwisterliche Antlitz sich verklären sahen, das von frühen Anstrengungen und Sorgen gebleichte Gesicht. Antoinette fühlte sich so matt, als läge sie in den Armen einer Mutter, die sie an den Busen drückte. Sie schmiegte sich in das holde, warme Nest und weinte ganz leise. Olivier drückte ihr die Hand; niemand beachtete sie im Dunkel des ungeheuren Saales, in dem sie nicht die einzigen gequälten Seelen waren, die sich unter den mütterlichen Flügel der Musik flüchteten.

Für Antoinette blieb auch die Religion fortdauernd ein Halt. Sie war sehr fromm und unterließ es an keinem Tag, lange und heiße Gebete zu verrichten, noch versäumte sie Sonntags je die Messe. Trotz dem ungerechten Elend ihres Lebens konnte sie nicht anders, als an die Liebe des göttlichen Freundes zu glauben, der mit den Menschen leidet und sie eines Tages trösten wird. Mehr aber noch als mit Gott stand sie in inniger Verbindung mit ihren Toten, und mit ihnen durchlebte sie im geheimen alle ihre Trübsal. Dennoch war sie unabhängigen Geistes und klaren Verstandes; den anderen Katholiken blieb sie fern und war auch bei ihnen nicht besonders gut angeschrieben; sie fanden ihre Gesinnung bedenklich; fast hielten sie sie für eine Freidenkerin oder auf dem besten Wege dazu, es zu werden, weil sie als echte kleine Französin sich nicht dazu verstand, auf ihr freies Urteil zu verzichten: sie glaubte nicht, wie die Herde aus Gehorsam, sondern aus Liebe.

Olivier glaubte nicht mehr. Sein Glaube war seit den ersten Pariser Monaten langsam unterwühlt und schließlich ganz und gar zerstört worden. Er hatte grausam darunter gelitten, denn er gehörte nicht zu denen, die stark oder mittelmäßig genug sind, den Glauben entbehren zu können: so hatte er denn Krisen tödlicher Angst durchlebt. Aber er bewahrte sich den Hang zum Mystischen; und war er auch noch so ungläubig geworden, so stand ihm doch keine Denkart näher als die seiner Schwester. Beide lebten in einer religiösen Atmosphäre. Wenn sie abends, jedes für sich, heimkehrten, nachdem ein ganzer Tag sie getrennt hatte, war ihre kleine Wohnung für sie der Hafen, die unverletzliche Freistatt, dürftig, eiskalt, aber rein. Wie fern fühlten sie sich dort dem Gelärm und den verderbten Gedanken von Paris ...

Sie sprachen nicht viel von dem, was sie getan hatten: wenn man ermüdet heimkommt, hat man kaum die Neigung, einen peinvollen Tag im Erzählen wiederaufleben zu lassen. Instinktiv bemühten sie sich, ihn im Zusammensein zu vergessen. Vor allem während der ersten Stunde, wenn sie beim Abendessen saßen, hüteten sie sich davor, einander auszufragen. Ihre Augen sagten einander »Guten Abend« und manchmal redeten sie während der ganzen Mahlzeit kein Wort. Antoinettes Blicke ruhten auf dem Bruder, der vor seinem Teller hinträumte, ganz wie früher, als er noch klein gewesen war. Sie streichelte ihm sanft die Hand:

»Nur zu!« sagte sie lächelnd, »Mut!«

Auch er lächelte und begann zu essen. So verstrich das Abendbrot, ohne daß sie sich zu einem Gespräch aufgerafft hätten. Sie hungerten nach Stille. Erst zum Schluß, wenn sie sich ausgeruht fühlten und jedes, von der zarten Liebe des andern umgeben, die unreinen Spuren des Tages in seinem Wesen verwischt hatte, löste sich ihre Zunge ein wenig.

Olivier setzte sich ans Klavier. Antoinette entwöhnte sich vom Spielen, damit er spielen könne, denn es war die einzige Zerstreuung, die er hatte, und ihr gab er sich mit ganzer Seele hin. Er war für Musik sehr begabt: seine weibliche Natur, mehr geschaffen zum Lieben als zum Handeln, vermählte sich hingebend den Gedanken der Musiker, deren Werke er spielte, verschmolz mit ihnen, gab ihre leisesten Schattierungen mit leidenschaftlicher Treue wieder,   wenigstens soweit es ihm seine schwachen Arme, sein schwacher Atem erlaubten, die der titanische Ausbruch des Tristan oder der letzten Sonaten Beethovens überwältigte. Daher flüchtete er sich auch am liebsten zu Mozart und zu Gluck; und auch Antoinette bevorzugte diese Musik.

Manchmal sang sie auch, aber nur sehr einfache Lieder, alte Melodien. Sie hatte einen verschleierten Mezzosopran, der ernst und gebrechlich klang. Sie war so schüchtern, daß sie vor niemandem singen konnte   kaum vor Olivier; die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Ein Lied von Beethoven zu einem schottischen Text liebte sie ganz besonders: Der treue Johnie; das war ruhig, so ruhig ... mit einer Zärtlichkeit auf dem Grunde ... Es glich ihr. Olivier konnte es nicht hören, ohne daß ihm die Tränen in die Augen traten.

Aber lieber noch hörte sie ihrem Bruder zu. Sie beeilte sich, ihre Haushaltungsarbeit zu beendigen und ließ die Tür zur Küche offen, damit sie Olivier besser höre. Aber trotz aller ihrer Vorsicht beschwerte er sich ungeduldig, daß sie mit dem Geschirr lärme. Dann schloß sie die Tür; wenn sie schließlich fertig war, setzte sie sich in einem niedrigen Stuhl zurecht, nicht neben dem Klavier   denn er konnte es nicht leiden, daß jemand neben ihm saß, wenn er spielte  , sondern am Kamin; und dort saß sie, mit dem Rücken gegen das Klavier, gleich einer kleinen Katze, in sich zusammengekauert; ihre Augen hingen an den goldenen Augen des Feuers, in dem sich ein Kohlenbrikett langsam verzehrte, und sie versank in die Bilder der Vergangenheit. Wenn es neun Uhr schlug, mußte sie sich einen Ruck geben, um Olivier daran zu mahnen, daß es Zeit sei aufzuhören. Es war schwer, ihn loszureißen, sich selbst aus der Träumerei zu reißen; aber Olivier hatte für den Abend noch eine Arbeit, und er durfte nicht zu spät zu Bett gehen. Er gehorchte nicht sofort; er brauchte immer eine gewisse Zeit, um nach der Musik sich ernsthaft an seine Aufgabe zu setzen. Seine Gedanken wogten durcheinander. Oft schlug es Halb, bevor er sich den Nebeln entrungen hatte. Antoinette, die an der anderen Seite des Tisches über ihre Arbeit geneigt saß, wußte, daß er nichts tat; aber sie wagte nicht, allzuoft nach ihm hinzuschauen, aus Furcht, ihn durch solche Beaufsichtigung zu ärgern.

Er war in dem undankbaren Alter, dem glücklichen Alter, in dem die Tage mit Herumschlendern vergehen. Er hatte eine reine Stirn, mädchenhafte, gewitzigte und unschuldige Augen, die oft umrändert waren, einen großen Mund mit schwellenden, gleichsam saugenden Lippen, mit einem Lächeln, das ein wenig verquer und unbestimmt, zerstreut und schlingelhaft war; einen dicken Schopf von Haaren, die bis zu den Augen herabfielen und im Nacken einen Wulst bildeten, aus dem widerspenstige Strähne hinten emporstanden. Er trug gewöhnlich eine weiche Kravatte, die ihm seine Schwester jeden Morgen sorgfältig knüpfte; ein Jackett, dessen Knöpfe niemals hielten, obgleich sie viele Zeit mit dem Annähen verbrachte, und verschmähte Manschetten. Er hatte große Hände mit knochigen Gelenken. Mit pfiffiger, verträumter, lebenslustiger Miene verbrachte er unendliche Zeit damit Maulaffen feilzuhalten. Seine tändelnden Augen wanderten im Zimmer Antoinettes umher (sein Arbeitstisch war hier aufgestellt); sie glitten über das kleine Eisenbett, über dem ein elfenbeinernes Kruzifix mit einem Buxbaumzweiglein hing, über die Bilder seines Vaters und seiner Mutter, über eine alte Photographie, die das Provinzstädtchen mit seinem Turm und seinem Wasserspiegel darstellte. Wenn sie dann das bläßliche Gesicht seiner Schwester trafen, die schweigend arbeitete, überfiel ihn ein unendliches Mitleid mit ihr und Zorn gegen sich selbst: ärgerlich über sein Nichtstun, riß er sich zusammen und arbeitete dann, um die verlorene Zeit wieder einzuholen, voller Energie. An den freien Tagen las er. Jedes von ihnen las für sich. Trotz ihrer Liebe zueinander waren sie nicht imstande, dasselbe Buch laut miteinander zu lesen, weil sie das, wie ein Mangel an Schamgefühl, verletzt hätte. Ein schönes Buch schien ihnen ein Geheimnis, das man nur in die Stille seines Herzens hineinmurmeln dürfe. Wenn eine Stelle sie besonders entzückte, schoben sie sich das Buch zu, wiesen mit dem Finger auf die Stelle und sagten zueinander:

»Lies«.

Dann verfolgte der, der schon gelesen hatte, mit glänzenden Augen auf dem Gesicht des Freundes die Erregung, die dieser lesend durchlebte; und er genoß sie mit ihm.

Oft aber saßen sie mit aufgestützten Ellenbogen vor ihrem Buch und lasen nicht. Sie plauderten. Besonders wenn die Abendstunde vorrückte, fühlten sie dringender das Bedürfnis, sich einander anzuvertrauen, und es fiel ihnen dann weniger schwer, sich auszusprechen. Olivier litt unter trüben Gedanken; und als schwacher Mensch mußte er seine Qualen stets von sich abwälzen, in die Brust eines anderen schütten. Zweifel nagten an ihm. Antoinette mußte ihm gut zureden, ihn gegen ihn selbst verteidigen: das war ein unaufhörlicher Kampf, der jeden Tag aufs neue begann. Olivier sagte Bitteres und Finsteres; hatte er es ausgesprochen, so war er erleichtert, aber er kümmerte sich nicht darum, ob seine Schwester jetzt davon nicht niedergedrückt sei. Sehr spät erst merkte er, wie sehr er sie erschöpfte: er nahm ihre Kraft ganz für sich in Anspruch und flößte ihr seine eigenen Zweifel ein. Antoinette ließ sich nichts merken. Tapfer und heiter von Natur, zwang sie sich, auch dann noch heiter zu erscheinen, wenn ihre Fröhlichkeit schon längst dahin war. Augenblicke tiefer Ermattung überkamen sie, Augenblicke der Empörung gegen dieses stets Opfer heischende Leben, dem sie sich geweiht hatte. Aber sie verdammte solche Gedanken, sie wollte sie nicht zergliedern; sie drängten sich ihr wider Willen auf, doch sie wollte sie nicht einlassen. Das Gebet kam ihr zu Hilfe, außer wenn das Herz sich nicht fähig fühlte zu beten (das kommt vor)   wenn es wie ausgetrocknet war. Dann konnte sie, fiebernd und voll Scham, nur abwarten, daß die Gnade zurückkehre. Olivier ahnte niemals etwas von diesen Ängsten. In solchen Augenblicken fand Antoinette einen Vorwand, sich zu entfernen oder sich in ihr Zimmer einzuschließen; und sie kam erst wieder zum Vorschein, wenn die Krisis vorüber war; dann war sie lächelnd, schmerzumwittert und zärtlicher als zuvor, als empfände sie Gewissensbisse, daß sie gelitten hatte.

Ihre Zimmer lagen nebeneinander. Ihre Betten standen Wand an Wand: sie konnten mit halber Stimme zueinander sprechen, und wenn sie schlaflos lagen, sagten sie sich durch ein ganz leises Klopfen an die Wand:

»Schläfst du?   Ich schlafe nicht.«

Die Scheidewand war so dünn, daß sie zwei Freunden glichen, die Seite an Seite keusch in demselben Bett liegen. Aber die Tür ihrer beiden Zimmer hielten sie nachts aus einem instinktiven, tief eingewurzelten Schamgefühl   einem geheiligten Empfinden   geschlossen; sie blieb nur offen, wenn Olivier krank war; was allerdings nur allzuoft geschah.

Seine schwankende Gesundheit festigte sich nicht. Sie schien sich vielmehr zu verschlechtern. Immer litt er am Hals, an der Brust, am Kopf, am Herzen; der geringste Schnupfen drohte, bei ihm zur Bronchitis auszuarten. Er bekam Scharlach und starb beinahe daran. Und selbst wenn er nicht krank war, zeigte er sonderbare Symptome gefährlicher Krankheiten, die glücklicherweise nicht ausbrachen; er fühlte Schmerzen und Stiche in der Lunge oder im Herzen. Einmal stellte der untersuchende Arzt bei ihm eine Herzbeutel-Entzündung oder eine Lungenentzündung fest, und der große Spezialist, den man darauf herbeirief, bestätigte diese Besorgnisse. Indessen wurde nichts daraus. Im Grunde waren bei ihm hauptsächlich die Nerven krank, und bekanntlich nimmt diese Art von Leiden ganz unerwartete Formen an; doch man kommt mit ein paar sorgenvollen Tagen davon. Aber wie grausam waren die für Antoinette! Wie viele schlaflose Nächte hatte sie! Oft ergriff sie Entsetzen in ihrem Bett, so daß sie immer wieder aufsprang, um an der Tür die Atemzüge ihres Bruders zu belauschen. Sie meinte, er würde sterben, sie wußte es, sie war dessen gewiß: sie richtete sich zitternd auf, sie preßte die Hände aneinander, sie krampfte sie gegen ihren Mund, um nicht zu schreien:

»Mein Gott, mein Gott,« flehte sie, »nimm ihn mir nicht ... Nein, das nicht ... Dazu hast du nicht das Recht ... Ich bitte dich, ich bitte dich! ... Ach, liebe Mama, komm mir zu Hilfe! Rette ihn, daß er leben bleibt ...!«    

Ihr ganzer Körper spannte sich.

  Ach, nur nicht unterwegs sterben, wenn man schon so viel getan hatte, wenn man beinahe am Ziel war, wenn er nun glücklich sein konnte ... Nein, das war unmöglich: das wäre zu grausam gewesen.

 

Olivier gab ihr aber bald Veranlassung zu noch anderen Besorgnissen. Er war, wie sie, durchdrungen von tiefem Ehrgefühl, hatte aber einen schwachen Willen und sein Verstand war zu frei und zu umfassend, um nicht ein wenig trüb, zweiflerisch, nachsichtig gegen das zu sein, was er als schlecht kannte, und um nicht vom Vergnügen angezogen zu werden. Antoinette war so rein, daß sie lange Zeit brauchte, bis sie begriff, was im Geiste ihres Bruders vorging. Eines Tages entdeckte sie es ganz plötzlich.

Olivier glaubte sie ausgegangen. Gewöhnlich gab sie um diese Zeit Unterricht; im letzten Augenblick aber hatte ihre Schülerin sie benachrichtigt, daß sie heute nicht zu kommen brauche. Es hatte sie heimlich gefreut, wenn es auch bei ihren mageren Einnahmen einen Ausfall von einigen Franken bedeutete; aber sie war sehr müde, und so streckte sie sich auf ihrem Bett aus: sie genoß es, sich einmal ohne Selbstvorwürfe einen Tag ausruhen zu können. Olivier kam vom Gymnasium heim; ein Kamerad begleitete ihn. Sie setzten sich im Zimmer nebenan nieder und begannen zu plaudern. Man verstand alles, was sie sagten: und da sie sich allein glaubten, legten sie sich keinerlei Zwang an. Lächelnd lauschte Antoinette der fröhlichen Stimme ihres Bruders. Bald aber hörte sie auf zu lächeln   und ihr Blut stockte. Sie sprachen von häßlichen Dingen und zwar in abscheulich rohen Ausdrücken: sie schienen Gefallen daran zu finden. Sie hörte Olivier, ihren kleinen Olivier, lachen; und von seinen Lippen, die sie für unschuldig hielt, klangen unanständige Worte, die sie vor Entsetzen erstarren ließen. Ein stechender Schmerz drang bis in ihr tiefstes Innere. Lange Zeit ging es so weiter: sie wurden solcher Reden nicht müde, und Antoinette konnte es nicht unterlassen, zuzuhören. Endlich gingen sie fort, und Antoinette blieb allein. Da weinte sie: irgend etwas war in ihr gestorben; das Idealbild, das sie sich von ihrem Bruder, von ihrem Kinde, gemacht hatte, war besudelt: darunter litt sie tödlich. Als sie sich am Abend wiedersahen, sagte sie ihm nichts davon. Er sah, daß sie geweint hatte, und er konnte sich nicht denken, warum. Er begriff nicht, warum sich ihr Wesen ihm gegenüber geändert hatte. Sie brauchte einige Zeit, bevor sie wieder dieselbe wurde.

Den schmerzlichsten Schlag aber bereitete er ihr, als er eines Abends nicht nach Hause kam. Die ganze Nacht wartete sie auf ihn, ohne sich niederzulegen. Sie litt nicht nur in ihrer sittlichen Reinheit; sie litt bis in die letzten geheimsten Tiefen ihres Herzens hinein   jene abgründigen Tiefen, in denen gefährliche Gefühle schmerzlich schwanken, über die sie, um nichts zu sehen, einen Schleier geworfen hatte, den man nicht fortziehen darf.

Olivier hatte vor allem einen Beweis seiner Freiheit liefern wollen. Er kam morgens heim; er hatte sich sein Auftreten im voraus ausgedacht und war bereit, seiner Schwester sofort unverschämt zu antworten, falls sie ihn etwa zur Rede stellen würde. Er glitt auf den Zehenspitzen in die Wohnung, um Antoinette nicht aufzuwecken. Doch als er sie da aufrecht stehen sah, die bleich, mit roten, verweinten Augen auf ihn gewartet hatte, als er sah, wie sie sich ohne den geringsten Vorwurf schweigend um ihn bemühte, ihm, bevor er sich zum Gymnasium begab, sein Frühstück bereitete, ihm nichts sagte und doch so niedergeschlagen schien, daß ihr ganzes Wesen eine lebendige Anklage war, widerstand er nicht: er warf sich ihr zu Füßen und barg den Kopf in ihrem Kleid   und sie weinten alle beide. Er schämte sich vor sich selbst, war von der Nacht, die er verbracht hatte, angeekelt   fühlte sich beschmutzt. Er wollte sprechen: sie hinderte ihn daran, legte ihm die Hand auf den Mund; und er küßte diese Hand. Mehr sagten sie sich nicht: sie verstanden sich. Olivier schwur sich, Antoinette keinen Kummer mehr zu bereiten und so zu sein, wie sie es von ihm erwartete. Sie aber konnte trotz aller Anstrengungen ihre Wunde nicht so bald vergessen: sie glich einer von langer Krankheit Genesenden. Eine gewisse Verlegenheit war zwischen ihnen. Ihre Liebe war immer gleichmäßig stark; aber Antoinette hatte in ihres Bruders Seele etwas entdeckt, das ihr jetzt fremd war und das sie fürchtete.

 

Sie war von dem, was sie in Oliviers Herzen entdeckt, um so mehr verstört, als sie zur selben Zeit unter den Nachstellungen von ein paar jungen Leuten zu leiden hatte. Wenn sie vor dem Hereinbrechen der Nacht heimkehrte, vor allem, wenn sie nach dem Essen, um irgend etwas zu holen oder eine Abschrift fortzubringen, ausgehen mußte, wurde ihre Befürchtung, daß man sie anreden, verfolgen könne, daß sie, wie es vorgekommen war, gemeine Vorschläge anhören müsse, zu einer unerträglichen Angst. So oft sie konnte, nahm sie ihren Bruder mit, und zwar unter dem Vorwande, ihn zum Spazierengehen zu bringen; aber er gab sich nicht gern dazu her und sie wagte nicht, darauf zu dringen; sie wollte seine Arbeit nicht stören. Ihr jungfräuliches und provinziales Gemüt konnte sich an solche Sittenzustände nicht gewöhnen. Paris bei Nacht war für sie ein dunkler Wald, in dem sie sich von höllischen Tieren verfolgt fühlte; sie zitterte davor, die Hürde zu verlassen. Und doch mußte sie ausgehen. Lange Zeit brauchte sie zum Entschluß; und er blieb ihr immer schrecklich. Malte sie sich dann aus, daß ihr kleiner Olivier einem jener Männer, die ihr nachstellten, gleichen würde   vielleicht gar glich  , so wurde es ihr schwer, dem Heimkehrenden die Hand zum »Guten Abend« zu drücken. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie gegen ihn habe, und sie selbst machte es sich zum Vorwurf.

War sie auch nicht sehr hübsch, so besaß sie doch große Anmut und zog die Blicke, ohne daß sie etwas dafür tat, auf sich. Sie kleidete sich äußerst einfach, ging fast immer in Trauer, war nicht sehr groß, schmächtig, von zartem Aussehen, sprach kaum, glitt still durch die Menge hindurch und scheute sich vor jedem Beobachtetwerden, und erweckte doch die Aufmerksamkeit durch die tiefe Lieblichkeit ihrer sanften müden Augen und ihres kleinen reinen Mundes. Sie bemerkte wohl manchmal, daß sie gefiel: es machte sie verwirrt und doch zufrieden. Wer kann ermessen, was an reizendem, sittigem Gefallenwollen sich in eine stille Seele, ihr selbst unbewußt, einschleichen kann, wenn sie die sympathische Berührung anderer Seelen spürt?   Eine kleine linkische Bewegung verriet es, ein schüchterner Seitenblick; und das war gleichzeitig lieblich und rührend. Diese Verwirrtheit war ein Reiz mehr. Sie erweckte Begehren; und da sie ein armes, schutzloses Mädchen war, sagte man es ihr dreist.

Sie besuchte manchmal das Haus einer reichen israelitischen Familie, der Nathans, die sich für sie interessierten, weil sie sie in einer befreundeten Familie getroffen hatten, wo sie Stunden gab; und sie hatte sogar, trotz ihrer Schüchternheit, nicht umhin gekonnt, ein- oder zweimal an ihren Abendgesellschaften teilzunehmen. Alfred Nathan war ein in Paris sehr bekannter Professor, ein hervorragender Gelehrter, und gleichzeitig sehr gesellschaftlich; er zeigte jene sonderbare Mischung von Gelehrsamkeit und Leichtlebigkeit, die in der jüdischen Gesellschaft so alltäglich ist. In Frau Nathan mischten sich zu gleichen Teilen wahrhafte Wohltätigkeitsliebe und ausgeprägte übertriebene Weltlust. Alle beide waren gegen Antoinette verschwenderisch gewesen mit geräuschvollen, aufrichtigen, übrigens ab und zu aussetzenden Zärtlichkeitsbeweisen.

Im allgemeinen hatte Antoinette unter den Juden mehr Güte gefunden als unter den eigenen Glaubensgenossen. Sie haben zwar viele Fehler, aber sie besitzen eine gute Eigenschaft, vielleicht die beste von allen: sie sind lebendig, sind menschlich; nichts Menschliches ist ihnen fremd; sie nehmen an allem, was lebt, Anteil. Selbst wenn ihnen wahre und warme Zuneigung abgeht, behalten sie doch eine fortwährende Neugier, die sie auf der Suche nach wertvollen Seelen und Gedanken erhält, wären diese von ihren eigenen auch noch so verschieden. Zwar tun sie im allgemeinen nicht viel, um jene zu fördern: denn sie verfolgen zu viele Interessen auf einmal und hängen, trotzdem sie sich für frei halten, mehr als irgend jemand an gesellschaftlichen Eitelkeiten. Aber immerhin, sie tun doch etwas; und das ist sehr viel bei der schlaffen Untätigkeit der zeitgenössischen Gesellschaft. Sie sind ein Gärungsstoff der Tat, ein Sauerteig des Lebens.   Antoinette, die bei den Katholiken an eine Mauer eisiger Gleichgültigkeit gestoßen war, empfand mehr als irgend jemand den Wert der Anteilnahme, die ihr die Nathans bewiesen, war diese auch noch so oberflächlich. Frau Nathan hatte in das pflichterfüllte Leben Antoinettes einen Einblick gewonnen; sie war für die körperliche und seelische Anmut des jungen Mädchens nicht unempfindlich, und es war ihr in den Sinn gekommen, Antoinette unter ihren Schutz zu nehmen. Sie hatte keine Kinder; aber sie liebte die Jugend und brachte oft junge Leute in ihrem Haus zusammen. Sie hatte darauf gedrungen, daß auch Antoinette käme, daß sie aus ihrer Einsamkeit herausginge, daß sie sich ein wenig zerstreue; und da sie leicht erriet, daß Antoinettes Schüchternheit zum Teil in den beschränkten Verhältnissen begründet war, in denen sie lebte, hatte sie ihr sogar hübsche Kleider angeboten, die Antoinette in ihrem Stolz zurückwies; aber die liebenswürdige Gönnerin wußte es so geschickt anzustellen, daß sie sie gewissermaßen zwang, einige ihrer kleinen Geschenke anzunehmen, die der unschuldigen weiblichen Eitelkeit so viel bedeuten. Antoinette fühlte sich gleichzeitig dankbar und beschämt. Sie zwang sich von Zeit zu Zeit, die Gesellschaften der Nathans zu besuchen; und da sie jung war, machte es ihr trotz allem Vergnügen. Jedoch diese Welt, in der sich viele junge Leute trafen, war etwas gemischt, und so hatten bald zwei oder drei Bürschchen den armen und hübschen Schützling Frau Nathans ins Auge gefaßt und warfen voller Selbstvertrauen ihre Netze nach ihm aus. Sie rechneten im voraus auf des Mädchens Schüchternheit. Sie hatten sogar unter sich auf Antoinette gewettet. Sie bekam anonyme   genauer gesagt: mit einem adeligen Pseudonym unterzeichnete   Briefe, in denen ihr Liebeserklärungen gemacht wurden: erst schmeichelhaft dringliche Liebesbriefe, die eine Zusammenkunft festsetzten, dann sehr schnell darauf kühnere, die es mit Drohungen und schließlich mit Beleidigungen, mit niedrigen Verleumdungen versuchten: sie entkleideten Antoinette, rührten mit ihren Worten an jedes Geheimnis ihres Leibes, beschmutzten diesen mit ihrer plumpen Zudringlichkeit; sie versuchten die Kindlichkeit Antoinettes auszunützen, indem sie ihr mit einer öffentlichen Beschimpfung drohten, falls sie nicht zum festgesetzten Stelldichein käme. Sie weinte aus Schmerz darüber, daß sie sich solche Anträge hatte zuziehen können; und jene Beleidigungen waren für ihren körperlichen und seelischen Stolz brennendes Feuer. Sie wußte nicht, wie sie sich helfen sollte. Ihrem Bruder wollte sie nichts davon erzählen: sie war gewiß, daß er allzuviel darunter leiden und der ganzen Geschichte einen noch ernsteren Charakter geben würde. Freunde hatte sie keine. Zur Polizei laufen? Das wies sie aus Furcht vor Skandal von sich. Immerhin mußte sie doch zu einem Ende kommen. Sie fühlte, daß ihr Stillschweigen nicht zu ihrer Verteidigung ausreichen würde, daß der Frechling, der ihr nachstellte, standhaft bleiben, ja, daß er so weit gehen würde, bis er Gefahr für sich befürchten mußte.

Er hatte ihr schließlich eine Art Ultimatum gestellt, indem er ihr einschärfte, sich am nächsten Tag im Luxemburg-Museum einzufinden. Sie ging hin. Nachdem sie sich den Kopf zermartert hatte, war sie schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß ihr Verfolger sie bei Frau Nathan getroffen haben mußte. Ein paar Worte in einem der Briefe spielten auf eine Tatsache an, die sich nur dort zugetragen haben konnte. Sie bat Frau Nathan, ihr einen großen Dienst zu erweisen, sie im Wagen bis zur Museumstür zu begleiten und dort einen Augenblick auf sie zu warten. Sie ging hinein. Der triumphierende Held redete sie vor dem vorherbestimmten Bild an und begann mit erkünstelter Höflichkeit auf sie einzusprechen. Sie starrte ihm schweigend ins Gesicht. Als er fertig war, fragte er sie scherzend, warum sie ihn so anschaue. Sie antwortete:

»Ich sehe mir einen Feigling an.«

Um so Geringes kam er nicht aus der Fassung und versuchte, vertraulich zu werden. Sie sagte:

»Sie haben mir mit einem Skandal gedroht. Sie sollen ihn haben, Ihren Skandal; wollen Sie?«

Sie zitterte am ganzen Körper, sprach laut, schien bereit, die allgemeine Aufmerksamkeit heranzurufen. Man schaute zu ihnen hin. Er fühlte, daß sie vor nichts zurückschrecken würde. So sprach er denn leiser. Ein letztes Mal schleuderte sie ihm entgegen: »Sie sind ein Feigling!«   und drehte ihm den Rücken zu. Da er nicht den Eindruck eines Abgewiesenen machen wollte, ging er ihr nach. Sie verließ das Museum, den Menschen ständig an ihren Fersen. Geradenwegs schritt sie auf den wartenden Wagen zu und öffnete mit einem Ruck die Tür; ihr Verfolger sah sich plötzlich Frau Nathan gegenüber, die ihn erkannte und ihn mit seinem Namen ansprach. Er verlor die Fassung und machte sich davon.

Antoinette mußte ihrer Begleiterin die Geschichte erzählen. Sie tat es nur gezwungen und mit äußerster Zurückhaltung. Es war ihr peinlich, eine Fremde in das Geheimnis ihres Innenlebens und in die Leiden ihres verletzten Schamgefühls einzuweihen. Frau Nathan machte ihr Vorwürfe, sie nicht früher benachrichtigt zu haben. Antoinette flehte sie an, niemand etwas davon zu sagen. Damit war das Abenteuer beendet; und die Freundin Antoinettes brauchte ihren Salon dem Menschen nicht zu verschließen: denn er hütete sich wohl, wieder zu kommen.

 

Ungefähr um dieselbe Zeit hatte Antoinette noch einen Kummer, wenn auch ganz anderer Art.

Ein sehr anständiger Mann von etwa vierzig Jahren, der einen Konsulatsposten im fernen Osten bekleidete und einige Ferienmonate in Frankreich verlebte, traf Antoinette bei den Nathans: er verliebte sich in sie. Das Zusammentreffen war ohne Antoinettes Wissen von Frau Nathan im voraus ein wenig eingerichtet worden, da sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ihre kleine Freundin zu verheiraten. Auch er war Israelit. Er war nicht schön; er war nicht mehr jung, auch etwas kahlköpfig und gebeugt;   aber er hatte gutmütige Augen, ein freundliches Wesen und ein Herz, das, im Leid erfahren, das Leid anderer mitfühlen konnte.   Antoinette war nicht mehr das kleine romantische Mädchen von früher, das verwöhnte Kind, das das Leben wie einen Spaziergang erträumte, den man an einem schönen Tag mit dem Geliebten macht; sie sah es jetzt als einen harten Kampf an, den man rastlos täglich von neuem beginnen muß, in beständiger Gefahr, daß man in einem Augenblick den Boden wieder verliere, den man sich in jahrelangen Anstrengungen Zoll für Zoll erobert hatte; und sie dachte es sich sehr schön, endlich am Arm eines Freundes zu lehnen, die Sorgen mit ihm zu teilen und ein wenig die Augen zu schließen, während er über sie wachte. Sie wußte, es war ein Traum; aber noch hatte sie nicht den Mut gefunden, auf diesen Traum ganz und gar zu verzichten. Im Grunde war sie sich ganz klar darüber, daß ein Mädchen ohne Mitgift in den Kreisen, in denen sie lebte, nichts zu hoffen hatte. Das alte französische Bürgertum ist in der ganzen Welt dafür bekannt, daß es die Ehe von krämerhaften Gesichtspunkten aus betrachtet. Die Juden haben eine so niedrige Geldgier nicht. Nicht selten sieht man unter ihnen einen reichen Mann, der ein armes junges Mädchen will und erwählt, oder ein junges vermögendes Mädchen, das leidenschaftlich einen Mann von geistiger Kultur sucht. Im französischen Bürgertum, besonders dem katholischen und provinziellen, sucht jedoch fast immer der Geldsack den Geldsack. Und was haben die Unseligen davon? Ihre Bedürfnisse reichen nicht weit; sie können nichts anderes als essen, gähnen, schlafen und   sparen. Antoinette kannte sie genau. Von ihrer Kindheit an. Sie hatte sie gesehen, durch die Brille des Reichtums wie durch die der Armut. Sie gab sich keinerlei Illusionen über sie hin, noch auch über das, was sie von ihnen erwarten konnte. So war das Vorgehen des Mannes, der um ihre Hand anhielt, für sie ein unerwarteter Lichtstrahl. War ihr der Gedanke, ihn zu lieben, zunächst auch fremd, so fühlte sie sich doch nach und nach von Dankbarkeit und tiefer Zärtlichkeit für ihn durchdrungen. Sie hätte seinen Antrag angenommen, wenn sie nicht mit ihm in die Kolonien gehen und folglich ihren Bruder hätte verlassen müssen. So wies sie ihn ab. Ihr Freund verzieh ihr das nicht, wenn er auch das Edle ihrer Handlungsweise anerkannte: der Egoismus der Liebe will, daß man dieser alles zum Opfer bringe; selbst die Tugenden, die einem an dem geliebten Wesen am teuersten sind. Er brach den Verkehr mit ihr ab; er schrieb ihr nicht mehr, nachdem er fortgereist war; sie erhielt keinerlei Nachricht mehr von ihm bis zu dem Tage, wo sie   fünf oder sechs Monate später   durch eine gedruckte Anzeige, deren Adresse von seiner Hand war, erfuhr, daß er eine andere geheiratet hatte.

Das war für Antoinette ein großer Schmerz. Noch einmal überwältigt, flüchtete sie mit ihrem Leide zu Gott. Sie wollte sich einreden, ihr sei die gerechte Strafe dafür geworden, daß sie einen Augenblick ihre einzige Aufgabe, für ihren Bruder zu leben, außer acht gelassen habe, und mehr und mehr ging sie nun in ihr auf. Aus der Gesellschaft zog sie sich gänzlich zurück. Sogar zu den Nathans ging sie nicht mehr, deren Benehmen ein wenig abgekühlt war, seit Antoinette die Ehe, die sich ihr bei ihnen geboten, ausgeschlagen hatte; auch sie standen Antoinettes Gründen verständnislos gegenüber. Frau Nathan, bei der es beschlossene Sache gewesen war, daß diese Heirat zustande kommen und vorzüglich ausfallen würde, war in ihrer Eigenliebe verletzt, weil aus der Angelegenheit durch Antoinettes Schuld nichts geworden war. Sie fand Antoinettes Bedenken natürlich sehr achtenswert, aber übertrieben sentimental; und im Handumdrehen erlosch ihre Anteilnahme an dieser kleinen Gans. Ihr Bedürfnis, den Leuten mit oder ohne deren Zustimmung Gutes zu tun, hatte übrigens gerade einen anderen Schützling ausfindig gemacht, der im Augenblick alles, was sie an Interesse und Hingabe aufzubringen fähig war, in Anspruch nahm.

Olivier wußte nichts von den schmerzensreichen Romanen, die sich im Herzen seiner Schwester abspielten. Er war ein weicher und leichtherziger Junge, der in seinen Träumereien lebte. Trotz seiner Lebhaftigkeit und Anmut, trotz seinem Herzen, das gleich dem Antoinettes einen Schatz von Zärtlichkeit barg, tat man doch gut, nicht allzu fest auf ihn zu bauen. Immer wieder machte er Monate von Anstrengungen durch Mangel an Ausdauer, an Spannkraft zunichte, durch Bummeleien, durch Liebeleien, in denen er Zeit und Kraft verausgabte. Er verliebte sich in flüchtig gesehene hübsche Gesichter, in kleine kokette Mädchen, mit denen er einmal in einem Salon geplaudert hatte und die sich nicht im geringsten um ihn kümmerten. Er entflammte blindlings für ein Buch, für ein Gedicht, einen Musiker; monatelang beschäftigte er sich nur mit diesem einen und vernachlässigte seine Studien. Unaufhörlich mußte man ihn überwachen und sich dabei ängstlich in acht nehmen, daß er es nicht merke, damit er nicht verletzt würde ... Immer hatte man bei ihm Unüberlegtheiten zu befürchten. Er besaß jene fiebrige Überreiztheit, jenen Mangel an Gleichgewicht und jenes unruhige innere Beben, das man oft bei Menschen antrifft, denen die Schwindsucht auflauert. Der Arzt hatte Antoinette diese Gefahr nicht verborgen. Die ohnehin kränkelnde Pflanze, die von der Provinz nach Paris gebracht worden war, bedurfte der guten Luft und des Lichtes.   Antoinette konnte ihr das nicht geben. Sie hatten nicht einmal genug Geld, um während der Ferien Paris zu verlassen. Das übrige Jahr hindurch waren sie die ganze Woche durch ihre Arbeit in Anspruch genommen und Sonntags so müde, daß sie keine Lust hatten, auszugehen, es sei denn ins Konzert. An manchen Sommersonntagen machte Antoinette immerhin eine Anstrengung und zog Olivier mit in die Wälder bei Chaville oder St. Cloud. Aber die Wälder waren voll von lauten Pärchen, Tingel-Tangel-Liedern und Butterbrotpapier. Das war nicht die göttliche Einsamkeit, die erfrischt und reinigt. Und am Abend bei der Heimkehr litt man unter dem Gedränge in den Zügen, unter der erstickenden Überfüllung in den jämmerlichen Vorortwagen, die niedrig, eng und dunkel waren, litt man unter der Schlüpfrigkeit mancher Auftritte, dem Lärm, dem Gelächter, dem Gröhlen, der Ausdünstung, dem Tabaksqualm. Antoinette und Olivier, die beide nicht den volkstümlichen Sinn für Vergnügungen hatten, kehrten angewidert, niedergeschlagen heim. Olivier flehte Antoinette an, diese Spaziergänge nicht zu wiederholen, und Antoinette fand dazu auch nicht die Energie, wenigstens dauerte es eine gewisse Zeit. Dann aber drang sie dennoch darauf, waren sie ihr auch noch unangenehmer als Olivier; sie meinte jedoch, daß sie der Gesundheit ihres Bruders notwendig seien. So zwang sie ihn also von neuem zum Spazierengehen. Aber diese neuen Erfahrungen waren nicht glücklicher und Olivier warf sie ihr bitter vor. Schließlich blieben sie ganz in der erstickend schwülen Stadt; und aus ihrem Gefängnishof schmachteten sie nach den freien Feldern.

 

Das letzte Studienjahr war gekommen. Die Prüfungen des Seminars gingen zu Ende. Es war hohe Zeit. Antoinette fühlte sich recht müde. Sie zählte auf den Erfolg: ihr Bruder hatte alle Aussichten für sich. Im Gymnasium hielt man ihn für einen der besten Kandidaten, und alle Lehrer lobten einstimmig seine Arbeit und seinen Verstand, ausgenommen eine gewisse geistige Zuchtlosigkeit, die es ihm schwer machte, sich irgend einer vorgezeichneten Aufgabe zu fügen. Aber die Verantwortung, die auf Olivier lastete, drückte ihn dermaßen nieder, daß er, je näher das Examen kam, um so unfähiger wurde. Eine unsagbare Müdigkeit, die Furcht durchzufallen und krankhafte Verzagtheit lähmten ihn im voraus. Er zitterte bei dem Gedanken, vor seinen Richtern öffentlich aufzutreten. Schon immer hatte er unter seiner Schüchternheit gelitten: wenn er in der Schule sprechen sollte, errötete er, und der Hals war ihm wie zugeschnürt; in der ersten Zeit hatte es schon viel bedeutet, wenn er, mit seinem Namen aufgerufen, antworten konnte. Dann war es ihm auch noch bei weitem leichter, unvorbereitet Rede zu stehen, als wenn er wußte, daß man ihn fragen würde; in solchem Falle war er ganz krank, sein Kopf arbeitete unaufhörlich und malte ihm mit allen Einzelheiten aus, was nun geschehen würde; und je länger er zu warten hatte, um so benommener fühlte er sich. Man konnte sagen, er machte jedes Examen mindestens zweimal durch: denn er durchlebte es in den vorhergehenden Nächten im Traum und verausgabte dabei seine ganze Energie. Auf diese Weise blieb ihm für die wirkliche Prüfung nichts mehr übrig.

Aber es kam nicht einmal zu der schrecklichen mündlichen Prüfung, die ihm des Nachts, wenn er nur daran dachte, kalten Schweiß verursachte. Im Schriftlichen, bei einem philosophischen Thema, das ihn zu gewöhnlicher Zeit leidenschaftlich interessiert hätte, gelang es ihm nicht einmal, in sechs Stunden zwei Seiten zu schreiben. Während der ersten Stunden war in seinem Gehirn Leere, es fiel ihm nichts, gar nichts ein. Es war wie eine schwarze Mauer, gegen die er anprallte. Schließlich, eine Stunde vor dem Ende der Aufsatzfrist, teilte sich die Mauer, und einige Lichtstrahlen drangen durch die Spalten. Da schrieb er einige ausgezeichnete Zeilen, die aber nicht genügten, ihn durchzubringen. Als er diese Probe hinter sich hatte, war er so niedergeschlagen, daß Antoinette den unvermeidlichen Mißerfolg voraussah; und sie wurde dadurch ebenso niedergeschmettert wie er, aber sie zeigte es nicht. Übrigens blieb ihr selbst in den verzweifeltsten Lagen die Fähigkeit unermüdlichen Hoffens.

Olivier wurde zurückgewiesen.

Er war wie niedergedonnert. Antoinette zwang sich zu einem Lächeln, als ob nichts Ernstes geschehen sei   aber ihre Lippen zitterten. Sie tröstete ihren Bruder, sie sagte ihm, daß es ja nur ein leicht wieder gut zu machendes Mißgeschick sei, daß er im nächsten Jahr sicherlich und mit einer um so besseren Note bestehen würde. Sie sagte ihm nicht, wie sehr nötig es für sie selbst gewesen wäre, wenn er in diesem Jahr durchgekommen wäre, wie sehr sie sich an Körper und Seele verbraucht fühlte, wie sehr sie fürchtete, ein weiteres derartiges Jahr nicht überstehen zu können. Und doch mußte es sein. Wenn sie dahinginge, bevor Olivier bestanden hätte, dann würde er niemals allein den Mut finden, den Kampf weiter zu führen: er würde im Lebensstrom untergehen.

So verbarg sie ihm denn ihre Müdigkeit. Sie verdoppelte sogar ihre Anstrengungen. Sie gab den letzten Tropfen Blut her, um ihm während der Ferien ein paar Zerstreuungen zu verschaffen, damit er beim Wiederbeginn der Schule die Arbeit mit mehr Kraft und Vertrauen aufnehmen könnte. Aber bei Schulbeginn stellte sich heraus, daß ihre kleine Reservekasse angebrochen war; und zu alledem verlor sie gerade jetzt die Stunden, die ihr am meisten eintrugen.

Noch ein Jahr ... Die beiden Kinder hatten sich angesichts der Schlußprüfung bis zum Zerreißen angespannt. Nun galt es vor allem, weiter zu leben und andere Einnahmequellen zu suchen. Antoinette nahm in Deutschland eine Stelle als Lehrerin an, die ihr die Nathans vermittelten. Das war das Letzte, wozu sie sich freiwillig entschlossen hätte: aber es gab im Augenblick nichts anderes, und sie hatte keine Zeit zu versäumen ... Seit sechs Jahren hatte sie ihren Bruder niemals, nicht einen einzigen Tag verlassen, und sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie ihr Leben jetzt werden sollte, wenn sie Olivier nun nicht mehr täglich sehen und hören würde. Auch Olivier dachte nicht ohne Schrecken daran, wagte aber nichts zu sagen. Das ganze Elend war ja seine Schuld; wäre er durchgekommen, so hätte sich Antoinette nicht zu diesem Äußersten gezwungen gesehen; er hatte nicht das Recht, sich jetzt zu widersetzen, seinen eigenen Kummer mitsprechen zu lassen; sie allein mußte entscheiden.

Die letzten gemeinsamen Tage verbrachten sie in einem stummen Schmerz, als müßte eines von ihnen sterben; wenn ihr Kummer allzu groß wurde, verbargen sie sich voreinander. Antoinette suchte in den Augen Oliviers Rat. Hätte er ihr gesagt: »Reise nicht!«, dann wäre sie nicht fortgegangen, obgleich dies notwendig war. Bis zur letzten Minute, als sie in der Droschke zum Bahnhof fuhren, war sie nahe daran, ihren Entschluß aufzugeben: sie fühlte nicht mehr genügend Kraft in sich, ihn zu vollführen. Ein Wort von ihm, ein Wort ... Aber er sagte es nicht. Er riß sich zusammen wie sie auch.   Sie nahm ihm das Versprechen ab, ihr alle Tage zu schreiben, ihr nichts zu verbergen und sie beim geringsten Vorkommnis zurückzurufen.

 

Sie reiste ab. Während Olivier mit erstarrtem Herzen in den Schlafsaal des Gymnasiums zurückkehrte, wo er sich hatte in Pension nehmen lassen, trug der Zug die schmerzensreiche und verzagte Antoinette davon. Beide fühlten, wie sie sich in jeder Minute weiter voneinander entfernten, und während ihre Augen in die Nacht hinein starrten, riefen sie einander ganz leise.

Die Welt, in die Antoinette ging, flößte ihr Angst ein. Sie hatte sich in den sechs Jahren recht verändert. Sie, die früher so Kühne, die nichts einschüchterte, war jetzt das Schweigen in der Einsamkeit so gewöhnt, daß sie nun darunter litt, wenn sie es verlassen sollte. Die lachlustige, plauderhafte und fröhliche Antoinette aus den Tagen vergangenen Glücks war mit diesem zugleich gestorben. Das Unglück hatte sie scheu gemacht. Sie war zweifellos auch durch ihr Zusammenleben mit Olivier schließlich von seiner Schüchternheit angesteckt worden. Es wurde ihr schwer zu reden, außer mit ihrem Bruder. Alles erschreckte sie, vor einem Besuch fürchtete sie sich. So flößte ihr denn der Gedanke, jetzt bei Fremden leben, mit ihnen Gespräche führen, beständig zur Schau stehen zu müssen, eine nervöse Angst ein. Die arme Kleine war übrigens ebensowenig wie ihr Bruder zur Lehrtätigkeit berufen: sie entledigte sich gewissenhaft ihrer Aufgabe, aber sie glaubte nicht an sie, und sie wurde nicht von dem Gefühl gestützt, daß ihre Arbeit von wirklichem Wert sei. Sie war zum Lieben und nicht zum Unterrichten geschaffen. Und um ihre Liebe kümmerte sich niemand.

Nirgends schätzte man diese Eigenschaft weniger als in ihrer neuen Stellung in Deutschland. Die Grünebaums, deren Kindern sie das Französische beizubringen hatte, bezeugten ihr nicht die geringste Anteilnahme. Sie waren hochmütig und plump-vertraulich, gleichgültig und zudringlich-neugierig; sie zahlten ziemlich gut, wofür sie denjenigen, der von ihrem Geld lebte, als ihren Untergebenen ansahen, mit dem sie sich alles erlauben durften. Sie behandelten Antoinette wie eine Art besseren Dienstboten und ließen ihr fast keinerlei Freiheit. Sie hatte nicht einmal ein eigenes Zimmer: sie schlief in einem Kämmerchen, das ans Kinderzimmer stieß und dessen Tür in der Nacht geöffnet blieb. Niemals war sie allein. Man erkannte ihr nicht das Bedürfnis zu, sich von Zeit zu Zeit in sich selbst zurückzuziehen   das geheiligte Recht eines jeden Wesens auf innere Einsamkeit. Ihr ganzes Glück bestand darin, in Gedanken bei ihrem Bruder zu weilen, sich mit ihm auszusprechen; sie nutzte jeden Augenblick der Freiheit dazu aus. Aber auch noch den machte man ihr streitig. Sowie sie ein Wort schrieb, strich man im Zimmer um sie herum, fragte sie aus über das, was sie schrieb. Wenn sie einen Brief las, erkundigte man sich, was darin stände. Mit witzelnder Vertraulichkeit fragte man sie nach ihrem »kleinen Bruder«. Sie mußte sich geradezu verstecken. Man müßte erröten, wollte man erzählen, welche Mittel zu ergreifen sie manchmal gezwungen war und in welche Schlupfwinkel sie sich einschließen mußte, um die Briefe Oliviers unentdeckt zu lesen. Wenn sie einen Brief in ihrem Zimmer liegen ließ, war sie sicher, daß er gelesen wurde; und da sie außer ihrem Koffer kein verschließbares Möbel besaß, war sie gezwungen, alle Papiere, von denen sie nicht wollte, daß man sie sehe, bei sich zu tragen: man stöberte in ihren Angelegenheiten und in ihrem Herzen herum; man gab sich alle Mühe, in die Geheimnisse ihres Innenlebens mit Gewalt einzudringen. Nicht etwa, weil die Grünebaums sich dafür interessierten. Aber sie meinten, sie gehöre ihnen, da sie sie bezahlten. Im übrigen war keine Bosheit dabei: taktlose Neugier war ihnen eine eingefleischte Gewohnheit; sie waren auch unter sich nicht anders.

Nichts konnte Antoinette unerträglicher sein als diese Spionage, dieser Mangel an seelischem Schamgefühl, der ihr während keiner Stunde am Tage erlaubte, zudringlichen Blicken zu entgehen. Die etwas hochmütige Zurückhaltung, die sie den Grünebaums entgegensetzte, verletzte diese. Natürlich fanden sie hochmoralische Gründe, um ihre plumpe Neugier zu rechtfertigen und um die Anmaßung Antoinettes, sich ihr zu entziehen, zu verdammen: sie meinten, es sei ihre Pflicht, das Innenleben eines jungen Mädchens zu kennen, das bei ihnen wohne, das zu ihrem Hause gehöre, und dem sie die Erziehung ihrer Kinder anvertraut hätten; sie wären dafür verantwortlich. (Dasselbe, was so viele Hausfrauen von ihren Dienstmädchen sagen, und deren »Verantwortlichkeit« nicht so weit geht, den Unglücklichen auch nur eine Überanstrengung oder einen einzigen Widerwillen zu ersparen, sondern sich darauf beschränkt, ihnen jede Art von Vergnügen zu verbieten.) Da Antoinette ihnen dieses Gewissensrecht nicht zuerkannte, müsse sie sich (so schlossen sie) nicht ganz makellos fühlen: ein anständiges Mädchen habe nichts zu verbergen. So sah sich Antoinette jeden Augenblick verfolgt, wogegen sie sich beständig wehrte; und das ließ sie noch kälter und verschlossener als gewöhnlich erscheinen.

Ihr Bruder schrieb ihr täglich Briefe von zwölf Seiten und auch sie brachte es fertig, ihm jeden Tag zu schreiben, waren es auch nur zwei bis drei Zeilen. Olivier gab sich alle Mühe, ein tapferer kleiner Mann zu sein und seinen Kummer nicht allzusehr zu verraten. Doch er starb vor Sehnsucht. Sein Leben war stets so unlöslich dem seiner Schwester verbunden gewesen, daß es ihm jetzt, da man ihn davon losgerissen hatte, schien, als habe er die Hälfte seines Daseins verloren: er wußte nicht mehr, wie er Arme, Beine und Gedanken gebrauchen sollte; er wußte nicht mehr, spazieren zu gehen, Klavier zu spielen, zu arbeiten, zu faulenzen, zu träumen   es sei denn von ihr. Vom Morgen bis zum Abend saß er hinter seinen Büchern, aber er brachte nichts Gescheites fertig: seine Gedanken waren anderswo; er war unglücklich oder er dachte an sie, er dachte an den Brief vom letzten Tage; die Augen an der Standuhr, wartete er auf den heutigen; und hatte er ihn, so zitterten seine Finger beim Zerreißen des Umschlags vor Freude   auch vor Furcht. Kein Brief der Geliebten hätte den Händen des Liebenden gleiche Schauer unruhevoller Zärtlichkeit verursachen können. Wie Antoinette versteckte er sich, um diese Briefe zu lesen. Alle trug er bei sich, und nachts hatte er unter seinem Kopfkissen den zuletzt empfangenen; in den langen schlaflosen Stunden, in denen er von seiner lieben Kleinen träumte, griff er von Zeit zu Zeit danach, um sich zu vergewissern, daß er noch da sei. Wie fern sie ihm war! Besonders bedrückt fühlte er sich, wenn ein Brief Antoinettes durch eine Verspätung der Post ihn erst zwei Tage, nachdem er abgeschickt worden war, erreichte. Zwei Tage und zwei Nächte zwischen ihnen! Er übertrieb sich Zeit und Entfernung noch, um so mehr, als er niemals gereist war. Seine Phantasie arbeitete.   Gott, wenn sie krank würde! ... Warum hatte sie ihm am vorigen Tag nur ein paar Zeilen geschrieben? ... Wenn sie krank wäre? ... Ja, sie war krank ... Das Herz stockte ihm.   Noch öfters litt er unter der grauenhaften Angst, fern von ihr zu sterben, allein, unter all den Gleichgültigen, in dem abscheulichen Gymnasium, in dem traurigen Paris. Wenn er nur daran dachte, wurde er krank ... Wenn er ihr schriebe, sie solle zurückkommen? ...   Aber seine Feigheit machte ihn erröten. Übrigens war er, sowie er an sie schrieb, so glücklich, sich mit ihr zu unterhalten, daß er einen Augenblick vergaß, was er litt. Ihm war, als sähe er sie, als spräche er zu ihr: er erzählte ihr alles; niemals hatte er so vertraut, so leidenschaftlich mit ihr geredet, als sie beisammen gewesen waren; er nannte sie: »Mein teures, mein tapferes, mein liebes, gutes, sehr geliebtes Schwesterchen   das ich so lieb habe.« Es waren richtige Liebesbriefe.

Sie badeten Antoinette in ihrer Zärtlichkeit; sie allein waren ihren Tagen die Luft, in der sie atmen konnte. Wenn sie morgens zur erwarteten Stunde nicht ankamen, war sie unglücklich. Es kam vor, daß zwei- oder dreimal die Grünebaums aus Nachlässigkeit oder (wer weiß?) aus einer Art böswilliger Fopperei bis zum Abend versäumten, sie ihr auszuhändigen   einmal sogar bis zum nächsten Morgen: sie bekam Fieber davon.   Am Neujahrstage hatten beide Kinder, ohne sich verabredet zu haben, denselben Gedanken. Sie bereiteten sich gegenseitig eine Überraschung durch eine lange Depesche (das war ein teurer Spaß), die beide zur gleichen Zeit erreichte.

Olivier holte sich auch weiter bei Antoinette wegen seiner Arbeiten und wegen seiner Zweifel Rat. Antoinette beriet ihn, stützte ihn, hauchte ihm ihre Kraft ein.

Dabei hatte sie selber nicht mehr allzuviel Kraft. Sie erstickte in diesem fremden Land, wo sie niemanden kannte, wo niemand sich ihrer annahm, außer der Frau eines Oberlehrers, die seit kurzem in die Stadt gekommen war und die sich dort ebenfalls heimatlos fühlte. Die gute Frau war recht mütterlich gesinnt und fühlte den Schmerz der beiden Kinder, die sich liebten und die voneinander getrennt waren, mit (sie hatte Antoinette einen Teil ihrer Lebensgeschichte entlockt); aber sie war so laut, so gewöhnlich; es fehlte ihr   wenn auch ganz unschuldigerweise   so sehr an Takt, an Zurückhaltung, daß sich die aristokratische kleine Seele Antoinettes scheu in sich selber zurückzog. Da sie sich niemandem anvertrauen konnte, häufte sie alle Sorgen in sich selber an: eine schwere Last; manchmal meinte sie, sie müsse darunter zusammensinken; aber sie biß die Lippen aufeinander und schritt weiter. Ihre Gesundheit war angegriffen: sie magerte sehr ab. Die Briefe ihres Bruders wurden immer mutloser. In einem Anfall von Niedergeschlagenheit schrieb er: »Komm zurück, komm, komm zurück ...« Aber der Brief war kaum abgesandt, als er sich dessen schämte; und er schrieb einen anderen, in dem er Antoinette anflehte, den ersten zu zerreißen und nicht mehr daran zu denken. Er spielte sogar den Fröhlichen und tat, als brauche er seine Schwester nicht. Seine leicht verletzbare Eitelkeit litt darunter, daß man glauben könnte, er wäre unfähig, sie zu entbehren.

Antoinette ließ sich dadurch nicht täuschen; sie las in allen seinen Gedanken; aber sie wußte nicht, was sie tun sollte. Eines Tages war sie nahe daran, abzureisen; sie ging zum Bahnhof, um die genaue Abfahrtszeit des Pariser Zuges festzustellen. Dann aber sagte sie sich, daß so handeln Wahnsinn wäre; mit dem Geld, das sie hier verdiente, wurde Oliviers Pension bezahlt. Solange sie es beide aushalten konnten, mußten sie es aushalten. Sie fand nicht mehr die Kraft, einen Entschluß zu fassen. Morgens erstand ihre Tapferkeit von neuem; aber je näher das Abenddunkel rückte, um so schwächer wurde ihre Kraft; sie wollte fliehen. Sie hatte Heimweh   nach dem Lande, das doch recht hart mit ihr gewesen war und das dennoch alle Heiligtümer ihrer Vergangenheit umschloß,   sie hatte Heimweh nach der Sprache, die ihr Bruder sprach und in der sie ihre Liebe zu ihm ausdrücken konnte.

Um diese Zeit kam eine französische Schauspielertruppe durch die kleine deutsche Stadt. Antoinette, die sehr selten ins Theater ging (sie hatte weder Zeit noch Lust dazu), wurde diesmal von dem unwiderstehlichen Drange gepackt, ihre Muttersprache zu hören, sich in die Seele Frankreichs hineinzuflüchten. Man weiß, was geschah Siehe Johann Christof, I: Die Empörung..

Es gab im Theater keine Plätze mehr. Sie traf einen jungen Musiker: Johann Christof, den sie nicht kannte, der aber, als er ihre Enttäuschung sah, ihr anbot, eine ihm zur Verfügung stehende Loge mit ihm zu teilen: halb betäubt nahm sie an. Ihr Dortsein an Christofs Seite weckte die Klatschsucht der kleinen Stadt. Die böswilligen Gerüchte drangen bis zu den Ohren der Grünebaums; diese waren sowieso geneigt, allen erniedrigenden Verdächtigungen, die die junge Französin zum Gegenstand hatten, zuzustimmen; gegen Christof waren sie infolge von allerlei Umständen, die früher erzählt wurden, aufgebracht   und so schickten sie Antoinette in brutaler Weise fort.

Diese keusche und errötende Seele, von Schwesterliebe ganz und gar umhüllt und durch sie vor jeder Befleckung eines Gedankens geschützt, meinte vor Scham zu vergehen, als sie begriff, wessen man sie anklagte. Nicht einen Augenblick zürnte sie deswegen Christof; sie wußte, daß er ebenso unschuldig war wie sie und daß er, wenn er ihr Böses zufügte, es getan hatte im Bestreben, ihr Gutes zu erweisen: dafür war sie ihm dankbar. Sie wußte nichts von ihm, außer, daß er Musiker war und daß man sehr viel Schlechtes über ihn redete; aber trotz ihrer Unkenntnis des Lebens und der Menschen besaß sie einen natürlichen, durch das Elend noch verfeinerten Spürsinn für die Seelen. Er hatte ihr auch in ihrem schlecht erzogenen, ein wenig verrückten Theaterbegleiter einen ihr verwandten Zartsinn enthüllt, eine männliche Güte, die ihr noch in der Erinnerung wohltat. Das Böse, das sie über ihn hatte reden hören, erschütterte keineswegs das Vertrauen, das Christof ihr einflößte. Sie war ja selbst ein Opfer und zweifelte nicht daran, daß auch er eines sei, daß auch er, gleich ihr und länger als sie, unter der Schlechtigkeit dieser Leute leide, die sie zur Verzweiflung brachten.   Und da sie gewohnt war, sich über dem Denken an andere zu vergessen, so wurde sie ein wenig von ihrem eigenen Kummer abgelenkt durch die Vorstellung dessen, was Christof hatte leiden müssen.

Um alles in der Welt nicht hätte sie versucht, ihn wiederzusehen oder ihm zu schreiben: ein Gefühl von Scham und Stolz hielt sie zurück. Sie sagte sich, er könne von dem ihr seinetwegen zugefügten Unglück nichts wissen, und in ihrer Güte wünschte sie, daß er niemals davon erfahren möge.

Sie reiste ab. Der Zufall wollte es, daß, als sie schon eine Stunde im Zuge saß, dieser einen zweiten kreuzte, der Christof aus einer Nachbarstadt heimbrachte, in der er den Tag verlebt hatte.

Aus ihren Wagen, die einige Minuten Seite an Seite still standen, sahen sie einander in der Stille der Nacht und redeten sich nicht an. Was hätten sie sich anderes als banale Worte sagen können? Sie hätten das unbeschreibliche Gefühl gegenseitigen Mitleids und geheimnisvoller Zuneigung nur entweiht, das in ihnen erwacht war und das sich auf nichts gründete als auf die Gewißheit, daß ihre Seelen zueinander gehörten. In dieser letzten Sekunde, in der sie, einander unbekannt, sich anschauten, sahen sie sich alle beide, wie keiner der um sie Lebenden sie jemals gesehen hatte. Alles vergeht: die Erinnerung an Worte, an Küsse, an die Umarmungen liebender Leiber; aber der Zusammenschluß der Seelen, die sich einmal berührten und sich inmitten der Menge vergehender Formen erkannten, hört niemals auf. Antoinette trug Christof im geheimsten Herzen mit sich fort   in ihrem von Kümmernissen umhüllten Herzen, in dessen verschleierter Tiefe dennoch ein Licht lächelte, das sanft über die Erde zu strahlen schien, ein zärtliches bleiches Licht, gleich dem, das Glucks elysische Schatten umströmt.

 

Sie sah Olivier wieder. Es war Zeit, daß sie heimkehrte. Er war gerade krank geworden; und dieses nervenschwache und ängstliche kleine Wesen, das vor einer Krankheit zitterte, solange sie nicht da war, hatte sich, als es wirklich litt, bezwungen, seiner Schwester nichts davon zu schreiben, um sie nicht zu beunruhigen. Aber er hatte sie geistig herbeigerufen, er hatte sie wie ein Wunder herbeigefleht.

Als das Wunder sich vollzog, lag er fiebernd und träumend im Krankenhaus des Gymnasiums. Er schrie nicht auf, als er sie sah. Wie viele Male hatte ihm die Einbildung vorgespiegelt, daß sie einträte ... Mit offenem Mund richtete er sich in seinem Bett auf und zitterte davor, daß auch dies wieder nur Einbildung sei.   Und als sie auf dem Bett neben ihm saß, als sie ihn, als er sie in die Arme geschlossen hatte, als er auf seinen Lippen die zarten Wangen fühlte, in seinen Händen die durch die Nachtfahrt erstarrten Hände, als er endlich sicher war, daß es wirklich seine Schwester sei, sein Kleines, begann er zu weinen; er konnte nicht anders: er war immer noch der kleine »Einfaltspinsel« geblieben, der er als Kind gewesen war. Aus Angst, sie könnte ihm wieder entgleiten, preßte er sie an sich. Wie verändert sie beide waren. Wie traurig sie ausschauten ... Was lag daran! Sie hatten sich wieder: alles wurde Licht, das Krankenzimmer, das Gymnasium, der düstere Tag; sie hielten einander, sie würden sich nicht mehr lassen. Bevor sie noch irgend etwas gesagt hatte, ließ er sie schwören, daß sie nicht wieder abreisen wolle. Er hatte nicht nötig, ihr den Schwur abzunehmen: Nein, sie würde nicht mehr fortgehen   sie waren, voneinander getrennt, allzu unglücklich gewesen; ihre Mutter hatte recht gehabt: alles war besser als Trennung; selbst das Elend, selbst der Tod, wenn man nur beisammen war.

Sie beeilten sich, eine Wohnung zu mieten. Gern hätten sie die alte wieder genommen, so häßlich sie auch war, aber die war bereits vergeben. Die neue ging auch auf einen Hof; aber man sah über einer Mauer den Wipfel einer kleinen Akazie, und diese schlossen sie gleich in ihr Herz, wie einen Freund vom Lande, der gleich ihnen im Gehege der Pflastersteine der Stadt gefangen war. Olivier gewann rasch seine Gesundheit wieder oder wenigstens das, was man gewohnt war, bei ihm so zu nennen: denn was bei ihm Gesundheit war, hätte bei einem Stärkeren wie Krankheit ausgesehen.

Antoinettes trübseliger Aufenthalt in Deutschland hatte ihr wenigstens etwas Geld eingetragen; und die Übersetzung eines deutschen Buches, das ein Verleger zu nehmen sich entschloß, brachte ihr noch mehr. Die materiellen Sorgen waren so für einige Zeit verjagt; und alles würde sich fügen, wenn Olivier am Jahresschluß nur sein Examen bestünde.   Wenn aber nicht? ...

Kaum waren sie wieder an das holde Zusammensein gewöhnt, so begann der Alp des Examens von neuem auf ihnen zu lasten. Sie vermieden, miteinander darüber zu reden; aber wenn sie sich auch noch so sehr bemühten, immer kamen sie wieder darauf zurück. Überallhin verfolgte sie das Schreckgespenst; selbst wenn sie sich zu zerstreuen suchten: im Konzert tauchte es mitten in einem Stück plötzlich wieder auf; nachts, wenn sie aufwachten, öffnete es sich gleich einem Abgrund in ihnen. Zu dem glühenden Wunsche, seine Schwester zu entlasten und das Opfer, das sie ihm mit ihrer Jugend gebracht hatte, zu vergelten, gesellte sich bei Olivier das Entsetzen vor dem Militärdienst, den er nicht umgehen konnte, falls er durchfiel (zu jener Zeit diente die Aufnahme in die Hochschulen noch als Dispens). Er empfand einen unbesieglichen Widerwillen gegen die körperliche und seelische Vermischung, gegen diese Art von geistiger Erniedrigung, die er mit Recht oder Unrecht in dem Kasernenleben sah. Alles Aristokratische und Unberührte in ihm bäumte sich auf gegen diesen Zwang: er war nicht sicher, ob er den Tod nicht vorgezogen hätte. Solche Gefühle kann man im Namen einer sozialen Moral, die augenblicklich Glaubenslehre ist, wohl verhöhnen oder selbst vergewaltigen, aber nur Blinde können sie verleugnen: es gibt keine größere Qual für ein seelisches Einsamkeitsbedürfnis, als wenn es durch den großzügigen und doch so plumpen Kommunismus unserer Tage vergewaltigt wird.

Die Prüfung begann von neuem. Beinahe hätte Olivier nicht daran teilnehmen können: ihm war unwohl und er hatte solche Furcht vor den Ängsten, die ihm bevorstanden, ob er nun durchkam oder nicht, daß er fast wünschte, wirklich krank zu werden. Im Schriftlichen schnitt er diesmal ziemlich gut ab. Aber es war hart, die Ergebnisse für die Zulassung abzuwarten. Nach uraltem Brauch des Landes der Revolution, das ja das schablonenhafteste Land der Welt ist, fand das Examen im Juli statt, während der glühendsten Tage des ganzen Jahres, wie in der Absicht, die Unglücklichen vollends zugrunde zu richten, die schon bis dahin der Vorbereitung auf das ungeheure Programm, von dem jeder ihrer Richter nicht den zehnten Teil beherrschte, fast erlegen waren. Das Ergebnis der schriftlichen Arbeiten wurde veröffentlicht am Tage nach dem Nationalfest mit seinem Volksgetümmel, seiner Lustbarkeit, die den Nichtfröhlichen, die der Stille bedürfen, so peinvoll ist. Auf dem Platz neben dem Haus waren Jahrmarktsbuden aufgeschlagen. Schüsse knallten, Dampfkarussels schnaubten, Drehorgeln näselten von Mittag bis Mitternacht. Der alberne Lärm dauerte acht Tage. Darauf bewilligte der Präsident der Republik, um seine Popularität aufrecht zu erhalten, den Schreiern noch eine halbe Woche mehr. Ihn kostete das nichts, er hörte den Lärm nicht. Olivier und Antoinette aber wurde das Hirn zerhämmert und vom Lärm zermartert, und sie waren gezwungen, ihre Fenster geschlossen zu halten, in ihren Zimmern zu ersticken, sich die Ohren zuzustopfen, und versuchten doch vergeblich, so der gräßlichen Verfolgung durch jene blödsinnigen Kehrreime zu entgehen, die man von morgens bis abends herleierte, die wie Messerstiche in den Kopf drangen und unter denen sie sich vor Schmerz wanden.

Das mündliche Examen begann fast sofort nach der Zulassung. Olivier flehte Antoinette an, ihm nicht beizuwohnen. Sie wartete vor der Tür   und zitterte mehr als er. Natürlich sagte er ihr niemals, er habe zur eigenen Zufriedenheit abgeschnitten. Er quälte sich noch mit allem, was er gesagt oder nicht gesagt hatte.

Der Tag des Endergebnisses kam heran. Im Hof der Sorbonne angeschlagene Zettel veröffentlichten die Namen der durchgekommenen Kandidaten. Antoinette wollte Olivier nicht allein gehen lassen. Als sie das Haus verließen, war ihr einziger, unausgesprochener Gedanke, daß sie bei der Heimkehr beide wissen würden und daß sie sich dann vielleicht nach dieser Minute voll Furcht zurücksehnen würden, in der sie doch wenigstens noch hofften. Als sie die Sorbonne vor sich sahen, wankte ihnen der Boden unter den Füßen. Die tapfere Antoinette sagte zu ihrem Bruder:

»Bitte, nicht so schnell ...«

Olivier schaute seine Schwester an, die sich zu einem Lächeln zwang: er fragte sie: »Wollen wir uns einen Augenblick auf die Bank setzen?«

Er wäre am liebsten nicht weiter gegangen. Sie aber drückte ihm nach einem Augenblick die Hand und sagte: »Es ist nichts, mein Kleiner, gehen wir weiter.«

Sie fanden die Liste nicht gleich. Sie lasen mehrere durch, auf denen der Name Jeannin nicht vorkam. Als sie ihn endlich sahen, verstanden sie zuerst nicht; sie begannen mehrere Male von neuem zu lesen   sie konnten nicht daran glauben. Dann, als es ihnen endlich ganz fest stand, daß es wahr sei, daß mit Jeannin er gemeint war, daß Jeannin bestanden habe, fanden sie keine Worte. Sie eilten heim: sie hatte seinen Arm genommen, sie hielt sein Handgelenk fest, er stützte sich auf sie; fast liefen sie und sahen nichts rings umher; als sie über den Boulevard kamen, wurden sie beinahe überfahren. Immer wieder sagten sie einander: »Mein Kleiner! ... Mein Kleines! ...« In großen Sätzen sprangen sie die Treppen hinauf. In ihrem Zimmer warfen sie sich einander in die Arme. Antoinette nahm ihren Bruder an der Hand und führte ihn vor die Photographien ihrer Eltern, die über dem Bette in einem Zimmerwinkel hingen, der wie ihr Heiligtum war. Sie kniete mit ihm vor ihnen nieder und sie beteten und weinten ganz leise.

Antoinette ließ ein gutes Essen kommen, aber sie konnten es nicht anrühren: sie hatten keinen Hunger; sie verbrachten den Abend, Olivier zu Füßen seiner Schwester sitzend oder auf ihrem Schoß, wo er sich wie ein kleines Kind liebkosen ließ. Sie redeten kaum. Sie hatten nicht einmal mehr die Kraft, glücklich zu sein, alle beide waren gebrochen. Vor neun Uhr legten sie sich zu Bett und schliefen einen bleiernen Schlaf.

Am nächsten Morgen hatte Antoinette starke Kopfschmerzen, aber ihr Herz war um ein so schweres Gewicht erleichtert! Olivier war es, als atme er endlich zum ersten Male auf. Er war gerettet, sie hatte ihn gerettet, sie hatte ihre Aufgabe erfüllt; und er hatte sich dessen, was seine Schwester von ihm erwartete, nicht unwürdig gezeigt ... Zum ersten Male seit Jahren, seit vielen Jahren, gönnten sie es sich, träge zu sein. Bis Mittag blieben sie im Bett liegen und plauderten von einem Bett zum anderen durch die offene Tür ihrer Zimmer. Sie sahen sich in einem Spiegel; sie sahen ihre glücklichen, von Müdigkeit gedunsenen Gesichter; sie lächelten einander zu, schickten einander Küsse, entschlummerten von neuem, sahen sich zerschlagen, wie gerädert schlafen und fanden kaum die Kraft, etwas anderes als zärtliche Einsilbigkeiten miteinander zu reden.

 

Antoinette hatte nicht aufgehört, Sou für Sou kleine Ersparnisse zu machen, um im Falle einer Krankheit über eine kleine Summe zu verfügen. Sie hatte ihrem Bruder nichts von der Überraschung gesagt, die sie ihm jetzt damit bereiten wollte. Am Morgen nach seinem bestandenen Examen verkündete sie ihm, daß sie einen Monat in der Schweiz zubringen würden, um sich alle beide für die Jahre voller Mühe zu entschädigen. Jetzt, da Olivier die Sicherheit hatte, drei Jahre im Seminar auf Staatskosten zu verbringen, dann beim Austritt eine Stelle zu finden, konnten sie Tollheiten begehen und alles, was sie beiseite gelegt hatten, dran wenden. Olivier erhob bei dieser Nachricht ein Freudengeschrei, Antoinette war noch glücklicher als er, glücklich über das Glück ihres Bruders; glücklich, daß sie nun endlich wieder einmal aufs Land kommen sollte, wonach sie sich so sehnte.

Die Reisevorbereitungen waren eine große Angelegenheit, aber in jedem Augenblick ein Vergnügen. Als sie abfuhren, war der August schon ziemlich vorgerückt. Sie waren das Reisen wenig gewöhnt. Olivier schlief die Nacht vorher nicht und ebensowenig schlief er die Nacht im Eisenbahnzug. Er hatte den ganzen Tag in der beständigen Angst verbracht, sie würden den Zug versäumen. Sie hatten sich fieberhaft abgehetzt, waren am Bahnhof herumgestoßen, in ein Wagenabteil zweiter Klasse gestopft worden, wo sie sich zum Schlafen nicht einmal anlehnen konnten (das gehört nämlich zu jenen Vorrechten, welche die französischen Eisenbahngesellschaften, die ja so überaus demokratisch sind, den unbegüterten Reisenden nach Kräften zu entziehen suchen, um den reichen Reisenden das angenehme Bewußtsein vorzubehalten, allein den Schlaf zu genießen).

Olivier schloß keinen Augenblick die Augen: er war noch nicht ganz sicher, im richtigen Zuge zu sein, und er erspähte den Namen jeder Station. Antoinette saß im Halbschlaf und wachte unaufhörlich auf; das Rütteln des Wagens ließ ihren Kopf hin und her schwanken. Olivier betrachtete sie im Schein der Trauerlampe, die an der Decke jener wandernden Sarkophage leuchtet, und plötzlich merkte er betroffen die Entstellung ihrer Gesichtszüge. Ihre Augen waren tief umhöhlt; der kindlich gezeichnete Mund stand müde offen; die Haut war gelblich und Fältchen durchschnitten hier und da die Wangen, die Spuren trüber Tage der Trauer und der Enttäuschung trugen. Sie sah gealtert, krank aus.   Und sie war wirklich so müde! Wenn sie es über sich gebracht hätte, so wäre die Abreise aufgeschoben worden, aber sie hatte ihres Bruders Vergnügen nicht verderben wollen; sie wollte sich überreden, sie litte nur an Übermüdung, und der Landaufenthalt würde sie wiederherstellen. Ach, welche Angst hatte sie davor, unterwegs krank zu werden! Sie merkte, daß er sie anschaute; und sie riß sich mit Anstrengung aus der Betäubtheit, die sie niederdrückte, und öffnete die Augen   die immer noch so jungen, so klaren, so durchsichtigen Augen, durch die von Zeit zu Zeit eine unwillkürliche Angst huschte, gleich Wolken über einem kleinen See. Er fragte sie leise und mit zärtlicher Besorgnis, wie sie sich befinde: sie drückte ihm die Hand und versicherte, daß sie sich wohl fühle. Ein liebes Wort frischte sie wieder auf.

Im übrigen fesselte sie, sobald die Morgenröte über den bleichen Feldern zwischen Dôle und Pontarlier auftauchte, alles: der Anblick der erwachenden Felder, die heitere Sonne, die von der Erde emporstieg,   die Sonne, war sie nicht, gleich ihnen dem Gefängnis der Straßen, der staubigen Häuser, der dicken Rauchschicht von Paris entflohen!   die schauernden Ebenen, die vom leichten Dampf ihres eigenen weißen Atems milchig umhüllt waren; die geringsten Einzelheiten auf der Fahrt: ein kleiner Dorfkirchturm, ein vorüberhuschender Wasserstreifen, eine blaue Hügellinie, die am fernsten Horizont verschwamm, ein dünnes und rührendes Morgenläuten, das der Wind von fern herbeitrug, wenn der Zug mitten in den verschlafenen Feldern anhielt, die schweren Umrisse einer Kuhherde, die über dem Schienenstrang auf einer Böschung träumte;   alles das nahm Antoinettes Aufmerksamkeit wie die ihres Bruders gefangen, alles schien ihnen neu. Sie waren wie zwei vertrocknete Bäume, die das Himmelswasser mit Wonne trinken.

Dann kam gegen Morgen die Schweizer Grenze, an der man aussteigen mußte. Ein kleiner Bahnhof im freien Felde. Man fühlte sich ein wenig übel nach der schlechten Nacht und man schauerte in der feuchten Frische des Sonnenaufgangs; aber rings umher war Ruhe, der Himmel war rein, der Hauch der Felder stieg rings um einen auf, rann in den Mund, über die Zunge die Kehle entlang, bis in die tiefste Brust gleich einem kleinen Bach; und man nahm stehend an einem Tisch, der im Freien stand, den belebenden Kaffee mit der sahnigen Milch, die köstlich war wie der Himmel und nach Feldblumen und Kräutern duftete.

Sie stiegen wieder ein, diesmal in die Schweizer Wagen, deren Einteilung, für sie neu, ihnen ein kindliches Vergnügen machte. Aber wie müde war Antoinette! Sie konnte sich das Unwohlsein, das sie bedrückte, nicht erklären. Warum sah sie, daß alles rings umher so hübsch, so anziehend war, und warum fand sie im Grunde so wenig Vergnügen daran? War nicht alles so, wie sie es seit Jahren erträumt hatte: eine schöne Reise an der Seite ihres Bruders, alle Zukunftssorgen fern, und die liebe Natur ... Was hatte sie denn? ... Sie machte sich Vorwürfe, sie zwang sich zur Bewunderung, zwang sich, die harmlose Freude ihres Bruders zu teilen.

In Thun stiegen sie aus. Am nächsten Morgen sollten sie von dort aus in die Berge weiterreisen, aber nachts im Hotel wurde Antoinette von heftigem Fieber mit Erbrechen und Kopfschmerzen überfallen. Olivier war sogleich in größter Aufregung und verbrachte eine sorgenvolle Nacht. Am Morgen mußte man einen Arzt holen lassen (unvorhergesehene Mehrausgaben, was für ihre kleine Börse viel bedeutete). Der Arzt fand für den Augenblick nichts Gefährliches, sondern nur eine außerordentliche Abspannung, eine zerrüttete Gesundheit. Es konnte keine Rede davon sein, die Reise sogleich fortzusetzen. Der Doktor untersagte Antoinette, den Tag über aufzustehen, und er ließ durchblicken, daß sie vielleicht noch länger in Thun bleiben müßten. Sie waren sehr unglücklich   wenn auch immerhin zufrieden, um diesen Preis davonzukommen, nachdem sie weit Schlimmeres befürchtet hatten. Aber es war hart, von so weit herzukommen, um in einem schlechten Hotelzimmer eingeschlossen zu bleiben, über dem die brennende Sonne wie über einem Treibhaus stand. Antoinette wollte, daß ihr Bruder spazieren ginge. Er ging ein wenig vor das Hotel; er sah die Aare in ihrem schönen, grünen Kleid und fern am Himmel eine weiße verschwimmende Bergspitze; das brachte ihn vor Freude ganz außer Fassung. Aber solche Freude konnte er nicht allein tragen. Schleunigst kehrte er in das Zimmer seiner Schwester zurück und erzählte ihr ganz bewegt, was er soeben gesehen habe; und als sie, erstaunt über sein baldiges Heimkommen, ihn aufforderte, noch weiter zu gehen, sagte er, wie damals, als er aus dem Konzert im Châtelet zurückgekommen war:

»Nein, nein, das ist zu schön, das ist zu schön: das ohne dich zu sehen, tut mir weh.«

Dies Gefühl war ihnen nichts Neues: sie wußten, daß sie einander bedurften, um ganz sie selber zu sein, aber es tat immer wohl, es sagen zu hören. Diese zärtlichen Worte bekamen Antoinette besser als alle Arzneien. Sie lächelte jetzt, glücklich und matt.   Und nach einer guten Nacht beschloß sie, wenn das auch nicht sehr vorsichtig war, schon abzureisen; sie wollten sich frühzeitig davonmachen, ohne dem Arzt etwas davon mitzuteilen, denn er hätte sie nur zurückhalten können. Die reine Luft und die Freude über all das Schöne, das sie gemeinsam sahen, trugen dazu bei, daß sie diese Unvorsichtigkeit nicht teuer bezahlen mußten und daß sie ohne weitere Zwischenfälle am Reiseziel ankamen: einem Dorf in den Bergen oberhalb des Sees, in einiger Entfernung von Spiez.

Drei oder vier Wochen verbrachten sie dort in einem kleinen Hotel. Antoinette hatte keine neuen Fieberanfälle; aber sie erholte sich niemals so recht. Beständig fühlte sie eine Schwere im Kopfe, ein unerträgliches Gewicht in den Gliedern, fortwährend war ihr übel. Olivier befragte sie oft über ihre Gesundheit. Er hätte sie gern weniger bleich gesehen; aber er war von der Schönheit der Landschaft trunken und schob aus Instinkt alle trüben Gedanken von sich fort; wenn sie ihm versichert hatte, daß sie sich sehr wohl befinde, wollte er glauben, daß es wahr sei   obgleich er das Gegenteil wußte. Übrigens freute sie sich zuinnerst an dem Überschwang ihres Bruders, der Luft, vor allem der Ruhe. Wie gut tat es, sich endlich, nach jenen schrecklichen Jahren, auszuruhen!

Olivier wollte sie auf seine Spaziergänge mitnehmen; sie wäre glücklich gewesen, an seinen Ausflügen teilnehmen zu können, aber mehrere Male, nachdem sie tapfer ausgezogen war, war sie gezwungen gewesen, nach zwanzig Minuten atemlos und stockenden Herzens anzuhalten. Darauf machte er seine Ausflüge allein   ungefährliche Aufstiege, während der sie aber in Todesängsten zurückblieb, bis er heimgekehrt war. Oder sie unternahmen wohl kleine Spaziergänge miteinander: sie ging dabei mit kleinen Schritten, auf seinen Arm gestützt, sie plauderten miteinander, wobei besonders er sehr beredt wurde, lachte, Zukunftspläne entwickelte und drollige Sachen zum Besten gab. Auf halbem Wege oberhalb des Tales sahen sie die weißen Wolken sich im reglosen See spiegeln und die Schiffe gleich Insekten auf der Oberfläche eines Teiches schwimmen; sie sogen die laue Luft in sich ein und die Musik der Heerdenglöckchen, die der Wind ihnen stoßweise von fernher mit dem Duft geschnittenen Heus und warmen Harzes zutrug. Und dann träumten sie gemeinsam von der Vergangenheit, von der Zukunft und von der Gegenwart, die ihnen von allen Träumen der unwirklichste und der berauschendste schien. Manchmal ließ sich Antoinette von der kindlich-heiteren Laune ihres Bruders anstecken: sie spielten Fangen und bewarfen sich mit Gras, und eines Tages hörte er sie wie früher, als sie Kinder gewesen waren, lachen, mit jenem guten, unbekümmert tollen Kleine-Mädchen-Lachen, das hell und klar wie ein Quell klingt und das er seit Jahren nicht mehr bei ihr vernommen hatte.

Meistens aber widerstand Olivier nicht dem Vergnügen, lange Ausflüge zu machen. Er hatte danach ein wenig Gewissensbisse, später mußte er sich vorwerfen, die lieben Gespräche mit der Schwester nicht besser ausgenützt zu haben. Selbst im Hotel ließ er sie oft allein. Dort war ein kleiner Kreis junger Leute und junger Mädchen, von dem sie sich zuerst fernhielten. Dann hatte sich der schüchterne Olivier von ihnen angezogen gefühlt und sich ihrer Gruppe zugesellt. Freunde waren ihm versagt gewesen; außer seiner Schwester hatte er kaum jemand anderes als seine ungehobelten Schulkameraden und ihre Liebsten gekannt, die ihm Abscheu einflößten. Es war eine große Annehmlichkeit für ihn, sich unter wohlerzogenen, liebenswürdigen und heiteren jungen Männern und Mädchen seines Alters zu bewegen. Trotz seiner großen Scheu war er voll kindlicher Neugier, besaß ein gefühlvolles und keuschsinnliches Herz, das von all den herrischen, närrischen Flämmchen, die in Frauenaugen blitzen, hypnotisiert wurde. Er selbst gefiel trotz seiner Schüchternheit leicht. Sein zartes Sehnen, zu lieben und geliebt zu werden, verlieh ihm eine unbewußte jugendliche Anmut und ließ ihn Worte, Gebärden, herzliche Zuvorkommenheit finden, die gerade durch ihre linkische Art besonders anziehend wurden. Er hatte die Gabe, Sympathie zu empfinden und zu wecken. Obgleich er infolge der Einsamkeit, in der er bisher gelebt hatte, sehr zur Ironie neigte und obwohl er die Gewöhnlichkeit der Leute und ihre Fehler, die er oft haßte, schnell erkannte, sobald er ihnen gegenüberstand, sah er nur noch ihre Augen, in denen sich ein Wesen offenbarte, das eines Tages sterben würde, ein Wesen, das gleich ihm nur ein Leben hatte, das es gleich ihm bald verlieren würde: dann fühlte er zu diesem Wesen eine unwillkürliche Neigung und hätte ihm in solchen Augenblicken um nichts in der Welt Böses zufügen können; ob er wollte oder nicht, er mußte liebenswürdig sein. Er war schwach und dadurch geschaffen, der »Gesellschaft« zu gefallen, die alle Laster und selbst alle Tugenden verzeiht außer einer einzigen: der Kraft, die die Vorbedingung aller anderen ist.

Antoinette mischte sich nicht unter diese ihre Altersgenossen. Ihr Leiden, ihre Abspannung, eine seelische, scheinbar grundlose Niedergeschlagenheit lähmten sie. Im Laufe jener langen Jahre der Sorgen und der verzweifelten Arbeit, die Körper und Seele verbrauchen, hatten ihr Bruder und sie die Rollen miteinander vertauscht: jetzt fühlte sie sich weit von der Welt entfernt, fern von allem   so fern. Sie konnte nicht mehr zurück: alle diese Gespräche, dieser Lärm, dieses Lachen, diese kleinen Interessen langweilten sie, ermüdeten sie, verletzten sie beinahe. Sie litt darunter, daß sie so war: sie wäre gern wie jene anderen jungen Mädchen gewesen, hätte sich gern für das interessiert, was sie interessierte, über das gelacht, worüber sie lachten ... Sie konnte es nicht mehr! ... Das Herz war ihr wie zusammengeschnürt, es war ihr, als sei sie gestorben. Abends schloß sie sich ein und zündete nicht einmal Licht an; sie blieb im Dunklen sitzen, während Olivier sich unten im Salon vergnügte und sich der Wonne einer jener kleinen romantischen Liebeleien hingab, die ihm so gewohnt waren. Sie riß sich erst aus ihrer Dumpfheit heraus, wenn sie ihn lachend und schwatzend die Treppe heraufkommen hörte, wobei er mit seinen Freundinnen vor deren Türen nicht enden wollende Abschiedsgrüße austauschte und sich gar nicht von ihnen trennen konnte. Dann lächelte Antoinette in ihrem Dunkel und stand auf, um das elektrische Licht anzudrehen. Das Lachen ihres Bruders belebte sie von neuem.

Der Herbst rückte vor. Die Sonne wurde blasser. Die Natur welkte hin. Unter der Nebelwatte und den Oktoberwolken verblichen alle Farben; die Höhen bedeckten sich mit Schnee und die Ebenen füllten sich mit Dunst. Die Reisenden zogen davon, einer nach dem andern, und schließlich in ganzen Gruppen. Mit Traurigkeit sahen die Geschwister die Freunde, ja selbst die Gleichgültigen davonziehen, aber mehr noch als sie alle den Sommer, die Zeit der Ruhe und des Glücks, die eine Oase in ihrem Leben gewesen war. An einem verschleierten Herbsttag machten sie im Walde längs des Berges einen letzten gemeinsamen Rundgang. Sie redeten nicht, sie träumten ein wenig melancholisch vor sich hin und drängten sich in ihren bis an den Hals geschlossenen Mänteln fröstelnd eines an den anderen; ihre Finger waren ineinander verschlungen. Die feuchten Wälder schwiegen und weinten in der Stille. Im Waldinnern vernahm man den sanften, klagenden Schrei eines einsamen Vogels, der das Nahen des Winters verspürte. Ein kristallhelles Herdenglöckchen klang fern im Nebel, doch so gedämpft, als erklänge es in den Tiefen ihrer Brust ...

Sie kehrten nach Paris zurück. Beide waren sie traurig. Antoinette hatte ihre Gesundheit nicht wiedererlangt.

 

Es galt, die Aussteuer zu beschaffen, die Olivier in das Seminar mitnehmen sollte. Antoinette gab dafür ihre letzten Ersparnisse aus; sie verkaufte sogar einige Schmuckstücke. Was lag daran? Würde er es ihr nicht später vergelten?   Und dann hatte sie selber nun, da er nicht mehr bei ihr sein würde, so wenig Bedürfnisse ... Sie vermied es, daran zu denken, wie es werden würde, wenn er nicht mehr da sein würde; sie arbeitete an der Aussteuer; sie legte in diese Arbeit die ganze Zärtlichkeit hinein, die sie für ihren Bruder empfand, und die Vorahnung, daß es das Letzte sei, was sie für ihn tun könne.

Während der letzten Tage, die sie miteinander zu verleben hatten, verließen sie einander nicht; sie hatten Furcht, auch nur den geringsten Augenblick davon zu verlieren. Am letzten Abend blieben sie bis spät in die Nacht am Kamin; Antoinette saß in dem einzigen Sessel der Wohnung, Olivier auf einem Tritt ihr zu Füßen und ließ sich liebkosen, wie er es als großes, verwöhntes Kind gewohnt war. Das neue Leben, das er beginnen sollte, erfüllte ihn mit Besorgnissen, wenngleich er auch neugierig darauf war. Antoinette dachte unaufhörlich daran, daß nun ihr ganzes vertrautes Zusammensein zu Ende sei, und sie fragte sich mit Entsetzen, was aus ihr werden solle. Es war, als wollte er ihr diesen Gedanken noch brennender machen, denn er war, in der instinktiven und unschuldigen Koketterie jener Wesen, die die Abschiedsstunde abwarten, um alles Beste und Reizendste aus sich herauszugeben, an diesem letzten Abend zärtlicher als je. Er setzte sich ans Klavier und spielte ihr lange die Stellen aus Mozart und Gluck vor, die sie am meisten liebten   Visionen traurigen Glücks und heiterer Traurigkeit, mit denen so unendlich viel von ihrem vergangenen Leben verknüpft war.

Als die Abschiedsstunde gekommen war, begleitete Antoinette Olivier bis zur Tür des Seminars. Und dann kehrte sie heim. Wieder einmal war sie einsam, aber jetzt handelte es sich nicht, wie bei der Reise nach Deutschland, um eine Trennung, die sie selber aufheben konnte, wenn sie ihr unerträglich wurde. Diesmal blieb sie, indes er fortging; er war es, der für lange Zeit, für das Leben, fortgegangen war. Doch sie empfand so mütterlich, daß sie in diesem Augenblick weniger an sich selbst als an ihn dachte; sie beschäftigte sich ausschließlich mit diesen ersten Tagen eines für ihn so ungewohnten Lebens, mit den Seminarprellereien, mit jenen kleinen harmlosen Kümmernissen, die aber im Geiste derer, die einsam leben und daran gewöhnt sind, sich für geliebte Menschen zu quälen, leicht einen besorgniserregenden Umfang annehmen. Wenigstens hatten jene Sorgen das Gute, sie in ihrer Einsamkeit etwas zu zerstreuen. Sie dachte schon an die halbe Stunde, in der sie ihn am nächsten Tag im Sprechzimmer sehen könnte. Eine Viertelstunde zu früh war sie dort. Er war sehr nett mit ihr, aber doch ganz erfüllt und angeregt von dem, was er erlebt hatte. An den folgenden Tagen, als sie immer wieder voller besorgter Zärtlichkeit kam, verschärfte sich der Gegensatz zwischen dem, was jene Augenblicke der Aussprache für sie und für ihn bedeuteten, noch mehr. Für sie waren sie jetzt das ganze Leben. Er dagegen liebte zwar Antoinette zweifellos zärtlich; aber man konnte nicht von ihm verlangen, daß er einzig und allein an sie denke, so wie sie an ihn. Ein oder zwei Mal kam er zu spät ins Sprechzimmer. Ein ander Mal, als sie ihn fragte, ob er Heimweh habe, antwortete er: »Nein.« Das waren kleine Dolchstiche für Antoinettes Herz.   Sie machte sich Vorwürfe, so zu fühlen; sie schalt sich selbstisch, sie wußte sehr wohl, daß es unsinnig wäre, ja selbst schädlich und widernatürlich, wenn er sie nicht entbehren könnte, noch sie ihn, wenn sie nichts anderes mehr im Leben fände. Ja, sie wußte das alles. Was aber nützte ihr dieses Wissen? Sie konnte nichts dafür, wenn sie seit zehn Jahren ihr ganzes Leben in diesen einzigen Gedanken gesetzt hatte: den an ihren Bruder. Jetzt, da dieses einzige Lebensinteresse ihr entrissen war, hatte sie nichts mehr.

Sie versuchte tapfer ihre Beschäftigungen wieder aufzunehmen, die Lektüre, die Musik, ihre geliebten Bücher ... Gott! Wie leer waren Shakespeare und Beethoven ohne ihn ... Ja, gewiß, das alles war schön ... Aber er war nicht mehr da. Was bedeutet alles Schöne, wenn man es nicht mit den Augen dessen, den man liebt, sehen kann? Was ist uns Schönheit, was selbst Freude, wenn man sie nicht in des Anderen Herzen genießen kann?

Wäre sie kräftiger gewesen, dann hätte sie versucht, ihr Leben ganz von neuem aufzubauen, ihm einen anderen Zweck zu geben. Aber sie war am Ende. Jetzt, da sie nichts mehr drängte, auszuhalten, koste es, was es wolle, brach ihre erzwungene Willenskraft: sie sank zusammen. Die Krankheit, die sich seit mehr als einem Jahr in ihr vorbereitet und die ihre Energie unterdrückt hatte, fand von nun an freies Feld.

Sie verbrachte ihre Abende allein daheim am erloschenen Kamin in quälenden Gedanken; sie fand nicht den Mut, das Feuer von neuem anzumachen, noch die Energie, sich zu Bett zu legen; bis tief in die Nacht blieb sie sitzen, entschlummerte halb, träumte und zitterte vor Kälte. Sie durchlebte von neuem ihr Leben, sie war bei ihren lieben Toten, sie dachte an ihre zerstörten Illusionen, und eine entsetzliche Traurigkeit über ihre verlorene Jugend ohne Liebe, ohne Liebeshoffnung überkam sie. Ein dumpfer, dunkler, uneingestandener Schmerz ... Sie hörte eines Kindes Lachen auf der Straße, sein zögerndes Trippeln im unteren Stockwerk ... die kleinen Füßchen zertraten ihr das Herz ... Zweifel umschlichen sie, schlechte Gedanken, die Ansteckung jener Stadt voll Egoismus und voll Lust erfaßte ihre geschwächte Seele. Sie bekämpfte solche Sehnsüchte, sie schämte sich mancher Wünsche, die sie als verbrecherisch empfand; sie konnte nicht begreifen, woran sie litt: sie schob es ihren schlechten Instinkten zu. Die arme kleine Antoinette, an der ein geheimnisvolles Übel nagte, fühlte mit Entsetzen aus dem Grunde ihres Seins den trüben und tierischen Atem emporsteigen, der den Untiefen des Lebens entstammt. Sie arbeitete nicht mehr, sie hatte die meisten ihrer Stunden aufgegeben. Sie, die so tapfer gewesen, so früh aufgestanden war, blieb jetzt manchmal bis zum Nachmittag im Bett: sie fühlte ebensowenig einen rechten Grund, aufzustehen, als sich hinzulegen; sie aß kaum oder gar nicht. Nur an den Tagen, an denen ihr Bruder frei war   am Donnerstag Nachmittag oder am Sonntag von morgens an   zwang sie sich, ihm gegenüber wie früher zu sein.

Er merkte nichts. Er war durch sein neues Leben zu angeregt oder zu zerstreut, um seine Schwester recht zu beobachten. Er befand sich in jenem jugendlichen Alter, in dem man sich ungern hingibt, in dem uns Dinge, die uns früher rührten und die uns später wieder bewegen würden, scheinbar gleichgültig lassen. Ältere Menschen scheinen manchmal frischere Eindrücke und unmittelbarere Freude an der Natur und am Leben zu haben als junge Leute von zwanzig bis dreißig Jahren. Dann sagt man, die jungen Leute seien blasiert und hätten ein weniger junges Herz. Meistens ist dies ein Irrtum. Nicht weil sie abgestumpft sind, scheinen sie unempfindlich, sondern weil ihre Seele von Leidenschaften, von Ehrgeiz, von Wünschen, von Besessenheit ganz und gar erfüllt ist. Wenn der Körper abgenutzt ist und nichts mehr vom Leben zu erwarten hat, kommen die selbstlosen Regungen wieder zu ihrem Recht und die Quelle kindlicher Tränen öffnet sich von neuem. Olivier war durch tausend kleine Zerstreuungen in Anspruch genommen, deren wichtigste eine unsinnige Liebelei war   er hatte immer irgend eine  , die ihn dermaßen in Bann hielt, daß er für alles andere blind und gleichgültig wurde. Antoinette wußte gar nicht, was in ihrem Bruder vorging; sie sah nur, daß er sich von ihr zurückzog. Das lag nicht allein an Olivier. Manchmal freute er sich im Kommen darauf, sie wiederzusehen und mit ihr zu reden. Er trat ein. Und sofort erstarrte alles in ihm. Die besorgte Zärtlichkeit, die Fieberhaftigkeit, mit der sie sich an ihn klammerte, seine Worte trank, ihn mit Aufmerksamkeiten erdrückte   dieser ganze Überschwang von Gefühl und zitternder Erwartung nahm ihm sofort jeden Wunsch, sich auszusprechen. Er hätte sich sagen müssen, daß Antoinette nicht in ihrer normalen Verfassung sei. Nichts war der zarten Zurückhaltung fremder, die sie für gewöhnlich bewahrte. Aber er dachte nicht darüber nach. Ihren Fragen stellte er ein trockenes Ja oder Nein entgegen. Je mehr sie ihn aus seiner Einsilbigkeit zu ziehen suchte, um so mehr verbiß er sich darein oder er verletzte sie sogar durch eine heftige Antwort. Dann schwieg auch sie niedergeschlagen. Ihr Tag verrann   war verloren. Kaum hatte Olivier die Hausschwelle überschritten, um in das Seminar zurückzukehren, so war er über seine Art und Weise untröstlich. Er quälte sich des Nachts in Gedanken an das ihr zugefügte Leid. Es geschah sogar, daß er, kaum ins Seminar zurückgekehrt, seiner Schwester einen überschwenglichen Brief schrieb. Aber am nächsten Morgen, wenn er ihn überlas, zerriß er ihn   und Antoinette wußte nichts von alledem. Sie glaubte, er liebe sie nicht mehr.

 

Es wurde ihr   wenn auch nicht eine letzte Freude   so doch ein letztes Aufflackern jugendlicher Zärtlichkeit beschert, in der ihr Herz wieder auferstand, ein verzweifeltes Wiedererwachen ihrer Liebeskraft, ihres Glückvertrauens, ihrer Lebenshoffnung. Eigentlich war das Ganze recht widersinnig und ihrer ruhigen Natur völlig entgegengesetzt. Daß es möglich wurde, bewirkte die Erregung, in der sie sich befand, jener Zustand von Betäubtheit und Überreizung, Vorläufer der Krankheit.

Sie saß mit ihrem Bruder in einem Konzert im Châtelet. Da man ihm gerade die Musikkritik in einer kleinen Zeitschrift übertragen hatte, waren ihre Plätze ein wenig besser als früher, aber inmitten eines weit weniger sympathischen Publikums. Sie hatten Parkettklappsitze nahe dem Podium. Christof Krafft sollte spielen. Keines von beiden kannte den deutschen Musiker. Als Antoinette ihn auftreten sah, strömte ihr ganzes Blut zum Herzen zurück. Wenn auch ihre müden Augen ihn nur durch einen Nebel sehen konnten, so war es ihr doch, sobald er eintrat, gewiß: er war der unbekannte Freund aus den schlimmen Tagen in Deutschland. Niemals hatte sie ihrem Bruder von ihm erzählt; und kaum war es ihr möglich gewesen, selber viel an ihn zu denken: ihre ganze Denkkraft war seither von der Sorge ums Leben beansprucht worden. Und dann war sie eine vernünftige kleine Französin, die es sich versagte, einem dunklen Gefühl nachzugeben, dessen Quelle ihr unbekannt war und das keinerlei Zukunft hatte. In ihrer Seele war ein Bereich mit ungeahnten Tiefen, in denen noch manche andere Gefühle schlummerten, die zu betrachten sie sich geschämt hätte: sie wußte, daß sie da waren, aber sie wandte in einer Art frommen Entsetzens ihre Augen von diesem Wesen, das sich der Aufsicht des Verstandes entzieht.

Als sie sich von ihrer Verwirrung ein wenig erholt hatte, lieh sie sich das Opernglas ihres Bruders, um Christof zu betrachten. Sie sah ihn im Profil am Dirigentenpult und sie erkannte seinen leidenschaftlichen und gesammelten Ausdruck wieder. Er trug einen abgenutzten Frack, der ihm sehr schlecht saß.   Stumm und erstarrt wohnte Antoinette den jammervollen Vorgängen dieses Konzertes bei, in dem Christof an das nicht verhehlte Übelwollen eines Publikums prallte, das in diesem Augenblick auf deutsche Künstler schlecht zu sprechen war und das von seiner Musik zu Tode gelangweilt wurde. S. Johann Christof: Der Jahrmarkt auf dem Platz. Als er nach einer Symphonie, die endlos erschienen war, wiederauftrat, um einige Klavierstücke vorzutragen, wurde er mit höhnischen Zurufen begrüßt, die keinerlei Zweifel darüber ließen, wie wenig Vergnügen sein Wiedererscheinen hervorrief.

Er begann trotzdem zu spielen, inmitten der ergebungsvollen Langenweile des Publikums; aber die absprechenden Bemerkungen, die zwei Zuhörer des vierten Ranges ganz laut miteinander austauschten, nahmen zur Freude des übrigen Publikums ihren Fortgang. Da hörte er auf; eine rechte Böse-Buben-Laune überfiel ihn und er klimperte mit einem Finger die Melodie von » Malbrough s'en va-t-en guerre,« stand dann vom Klavier auf und sagte dem Publikum ins Gesicht: »Da habt ihr, was ihr braucht.«

Das Publikum, einen Augenblick über die Absichten des Musikers im Unklaren, brach in ein wüstes Geschimpf aus. Ein unglaublicher Lärm folgte. Man pfiff, man schrie:

»Entschuldigen! ... Er soll sich entschuldigen!«

Rot vor Zorn, regten sich die Leute auf und versuchten, sich einzureden, daß sie wirklich empört wären; vielleicht waren sie es auch; vor allem aber waren sie begeistert über diese Gelegenheit, Lärm zu schlagen und sich gehen zu lassen: genau wie Schüler nach zwei Stunden Klassenunterricht.

Antoinette fand nicht die Kraft, sich zu rühren; sie war wie versteinert; ihre zusammengekrampften Finger zerrissen einen ihrer Handschuhe. Von den ersten Noten der Symphonie an hatte sie das deutliche Vorgefühl gehabt, dessen, was sich ereignete; sie fühlte die dumpfe Feindseligkeit des Publikums, sie fühlte sie anwachsen, sie las in Christof, sie war sicher, daß es nicht ohne einen Skandal abgehen würde; mit wachsender Angst wartete sie auf seinen Ausbruch; sie hätte ihn mit allen Kräften verhindern mögen; und als er dann doch da war, als alles genau so kam, wie sie es vorhergesehen hatte, fühlte sie sich niedergeschmettert wie durch einen Schicksalsschlag, gegen den nichts zu machen ist. Und als sie so Christof immer weiter anschaute, der das ihn auspfeifende Publikum unverschämt fixierte, kreuzten sich ihre Blicke. Vielleicht eine Sekunde lang bemerkten Christofs Augen Antoinette; aber sein Bewußtsein erkannte sie in dem Sturm, der ihn davontrug, nicht (es war schon lange her, seit er nicht mehr an sie dachte). Unter allgemeinem Zischen ging er ab.

Sie hätte schreien, reden, irgend etwas tun mögen, doch sie war festgebannt wie in einem Alptraum. Eine Erleichterung war es ihr, neben sich ihren tapferen kleinen Bruder zu hören, der ohne zu ahnen, was in ihr vorging, ihre Angst und ihre Empörung geteilt hatte. Olivier war tief musikalisch und besaß eine Unabhängigkeit im Geschmack, die nichts erschüttern konnte: wenn er etwas liebte, so hätte er es der ganzen Welt zum Trotze geliebt. Von den ersten Takten der Symphonie an hatte er etwas Großes empfunden, etwas, das ihm noch niemals im Leben begegnet war. Immer wieder sagte er halblaut und mit tiefer Glut: »Wie schön das ist, wie schön das ist!« indessen sich seine Schwester instinktiv voller Dankbarkeit an ihn drängte. Nach der Symphonie hatte er wütend Beifall geklatscht, um gegen die ironische Gleichgültigkeit des Publikums Einspruch zu erheben. Als das große Durcheinander begann, war er außer sich: er sprang auf, er rief, daß Christof recht habe, er schrie die Pfeifer an, er hatte Lust, sich zu schlagen: der schüchterne Knabe war nicht wiederzuerkennen. Seine Stimme verlor sich inmitten des Lärms; er zog sich gemeine Schimpfworte zu. Man nannte ihn einen grünen Jungen und machte sich über ihn lustig. Antoinette, die Nutzlosigkeit jeder Auflehnung erkennend, faßte ihn am Arm und sagte:

»Sei still, ich flehe dich an, sei still!«

Verzweifelt setzte er sich wieder hin; immer wieder stöhnte er: »Es ist schändlich, es ist schändlich! Die Elenden!«

Sie sagte nichts, sie litt schweigend; er meinte, sie sei für diese Musik unempfindlich, und er sagte zu ihr:

»Aber Antoinette, findest du denn das nicht schön?«

Sie machte eine bejahende Bewegung. Doch sie blieb wie erstarrt, konnte sich nicht mehr erholen. Als aber das Orchester mit einem neuen Stück einsetzen wollte, stand sie mit einem Ruck auf und flüsterte ihrem Bruder mit einer Art Haß zu: »Komm, komm, ich kann diese Leute nicht mehr sehen.«

Eilig gingen sie hinaus. Auf der Straße, wo sie Arm in Arm schritten, redete Olivier voller Aufregung. Antoinette schwieg.

 

An jenem Tag und den folgenden, wenn sie allein in ihrem Zimmer saß, vergrub sie sich in ein Gefühl, dem sie vermied, ins Gesicht zu schauen, das aber unter all ihren Gedanken beharrlich mitschwang, gleich dem dumpfen Pochen des Blutes in ihren schmerzenden Schläfen.

Kurze Zeit darauf brachte ihr Olivier die Sammlung Lieder von Christof, die er soeben bei einem Verleger entdeckt hatte. Aufs Geratewohl öffnete sie das Heft. Auf der ersten Seite, die sie ansah, las sie über einem Stück die Widmung:

» Meinem armen kleinen Opfer

Ein Datum stand darunter.

Sie kannte dieses Datum wohl.   Sie wurde so verwirrt, daß sie nicht weiterlesen konnte. Sie legte das Heft hin, bat ihren Bruder zu spielen, ging in ihr Zimmer und schloß sich dort ein. Olivier, der ganz von dem Vergnügen an dieser neuen Musik gefangen genommen war, begann zu spielen und merkte die Erregung seiner Schwester nicht. Antoinette saß im Zimmer nebenan und drängte das Pochen ihres Herzens zurück. Plötzlich stand sie auf und suchte in ihrem kleinen Schrank ein Ausgabenheftchen, um das Datum ihrer Abreise und das andere geheimnisvolle Datum wiederzufinden. Sie wußte es im voraus: Ja, es war jener Tag der Aufführung, der sie an Christofs Seite beigewohnt hatte. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und schloß errötend die Augen, während sie die Hände über der Brust zusammenpreßte und der teuren Musik lauschte. Ihr Herz war von Dankbarkeit durchtränkt ... Ach, warum tat ihr der Kopf nur so weh? ...

Da Olivier sah, daß seine Schwester nicht wiederkehrte, ging er nach dem Spiel zu ihr hinein und fand sie ausgestreckt liegen. Er fragte, ob sie krank sei. Sie redete von ein bißchen Erschlaffung und stand auf, um ihm Gesellschaft zu leisten. Sie plauderten; doch sie antwortete nicht gleich auf seine Fragen: es war ihr, als kehre sie aus sehr weiter Ferne zurück; sie lächelte, errötete und entschuldigte sich mit einem starken Kopfschmerz, der sie ganz dumm mache. Endlich ging Olivier fort. Sie hatte ihn gebeten, das Liederheft da zu lassen. Allein in der Nacht, blieb sie lange Zeit am Klavier, um die Lieder durchzulesen, ohne zu spielen. Kaum daß sie hier und da eine Taste berührte, und nur ganz zart, aus Furcht, daß ihre Nachbarn sich beklagen könnten. Meistens las sie nicht einmal, sie träumte, sie wurde von einer dankbaren und zärtlichen Wallung für diese Seele emporgetragen, die Mitleid mit ihr gehabt, die mit dem geheimnisvollen Ahnungsvermögen der Güte in ihr gelesen hatte. Sie konnte ihre Gedanken nicht sammeln. Sie war glücklich und traurig   traurig. Ach, wie weh tat ihr der Kopf ...! Sie verbrachte die Nacht in süßen und qualvollen Träumen, in niederdrückender Schwermut. Am Tag wollte sie, um ihre Betrübtheit abzuschütteln, ein wenig ausgehen. Obgleich ihr Kopf sie weiter quälte, ging sie, um etwas zu unternehmen, einige Einkäufe in einem Warenhaus machen. Sie dachte kaum an das, was sie tat. Die ganze Zeit dachte sie, ohne es sich einzugestehen, an Christof. Als sie so erschöpft und sterbenstraurig unterwegs war, sah sie mitten in der Menge auf dem gegenüberliegenden Fußsteig der Straße Christof vorübergehen. Er bemerkte sie zu gleicher Zeit, und ganz unüberlegt und jäh streckte sie die Hände nach ihm aus. Christof stand still: diesmal erkannte er sie. Schon war er auf dem Fahrdamm, um zu Antoinette hinüberzukommen, und Antoinette mühte sich, mit ihm zusammenzutreffen. Aber der brutale Menschenstrom trug sie wie einen Strohhalm mit sich fort, indessen ein Omnibuspferd auf dem glitschigen Asphalt niederstürzte und vor Christof einen Damm bildete, an dem sich sofort der Doppelstrom der Wagen brach und für einige Augenblicke ein undurchdringliches Bollwerk anschwemmte. Christof wollte es gleichwohl durchsetzen hinüberzukommen, doch er blieb mitten zwischen den Wagen stecken und konnte weder vor- noch rückwärts. Als es ihm endlich gelang, durchzuschlüpfen und den Platz zu erreichen, auf dem er Antoinette gesehen hatte, war diese schon weit weg; vergeblich hatte sie Anstrengungen gemacht, sich gegen den menschlichen Strudel zu wehren; dann hatte sie sich darein ergeben und nicht mehr zu kämpfen versucht; sie hatte die Empfindung, daß ein Schicksal auf ihr laste und sich der Begegnung mit Christof widersetze: gegen das Schicksal konnte man nichts ausrichten. Und als es ihr schließlich gelang, aus der Menschenmenge herauszukommen, versuchte sie nicht mehr, denselben Weg zurückzugehen; eine Scham war über sie gekommen: was hätte sie ihm zu sagen gewagt? Was hatte sie gewagt zu tun? Was hatte er denken müssen?   Sie flüchtete sich heimwärts.

Erst als sie zu Hause war, fühlte sie sich sicher. Aber dann, in ihrem Zimmer, im Dunkeln, blieb sie vor dem Tisch sitzen und fand nicht die Kraft, ihren Hut oder ihre Handschuhe abzulegen. Sie war unglücklich darüber, daß sie Christof nicht hatte sprechen können; aber gleichzeitig war ein Licht in ihrem Herzen; sie sah nicht die Finsternis, sah die Krankheit nicht mehr, die in ihr arbeitete. Unzählige Male wiederholte sie sich alle Einzelheiten des eben durchlebten Vorfalls und wandelte sie um; sie stellte sich vor, was hätte geschehen können, wenn dieser oder jener Umstand anders gewesen wäre. Sie sah sich, wie sie die Arme Christof entgegenstreckte, sie sah den Ausdruck der Freude auf seinem Gesicht, als er sie wiedererkannte, und sie lachte, sie errötete. Sie errötete; und allein, im Dunkel ihres Zimmers, wo niemand sie sehen, wo sie kaum sich selber sehen konnte, streckte sie von neuem die Arme nach ihm aus. Ach, sie konnte nicht anders: sie fühlte sich dahinschwinden und sie suchte sich instinktiv an das machtvolle Leben anzuklammern, das an ihr vorbeirauschte und das ihr einen Blick voll Güte geschenkt hatte. Ihr von Zärtlichkeit und Ängsten erfülltes Herz schrie ihm in der Nacht zu:

»Zu Hilfe! ... Rette mich!«

Fiebernd stand sie auf, zündete die Lampe an, nahm Papier, griff zur Feder. Sie schrieb an Christof. Niemals wäre dieses scheue und stolze Mädchen auch nur auf den Gedanken gekommen, ihm zu schreiben, wenn es nicht bereits der Krankheit ausgeliefert gewesen wäre. Sie wußte nicht, was sie schrieb, sie war nicht mehr Herrin ihrer selbst. Sie rief ihn zu sich; sie sagte ihm, daß sie ihn liebe ... Mitten in ihrem Brief hielt sie entsetzt inne. Sie wollte den Brief neu schreiben, doch ihr Schwung war gebrochen; ihr Kopf war leer und brannte; es wurde ihr entsetzlich schwer, die Worte zusammenzufinden; die Müdigkeit überwältigte sie; sie schämte sich ... Wozu das alles? Sie wußte genau, daß sie sich selbst zu täuschen suchte, daß sie diesen Brief niemals abschicken würde ... daß er ja, selbst, wenn sie es wollte, niemals an Christof gelangen würde. Sie wußte Christofs Adresse nicht ... Armer Christof! Was hätte er auch für sie tun können, selbst wenn er alles gewußt hätte und wenn er gut zu ihr gewesen wäre? ... Zu spät! Nein, nein, alles war vergeblich, es war der letzte Versuch eines erstickenden Vogels, der verzweifelt mit den Flügeln schlägt. Es hieß, sich zu ergeben ...

Lange blieb sie noch vor ihrem Tisch in Gedanken versunken sitzen und konnte sich nicht aus ihrer Reglosigkeit heraus reißen. Es war nach Mitternacht, als sie sich mühsam   mutig   erhob. Mechanisch barg sie, wie sie es gewohnt war, ihre Briefentwürfe in einem Buch ihrer kleinen Bibliothek, denn sie fand weder den Mut, sie irgendwo einzuordnen, noch sie zu zerreißen. Dann legte sie sich, von Fieber geschüttelt, nieder. Rätselworte offenbarten sich ihr: sie fühlte, der Wille Gottes geschah.  

Und ein großer Friede senkte sich auf sie herab.

 

Am Sonntag Morgen, als Olivier aus dem Seminar kam, fand er Antoinette mit hohem Fieber zu Bett. Ein Arzt wurde gerufen. Er stellte galoppierende Schwindsucht fest. Antoinette hatte in den letzten Tagen ihren Zustand erkannt. Sie hatte endlich den Grund der seelischen Verwirrtheit entdeckt, die ihr so viel Entsetzen in ihrem Innern einflößte. Der armen Kleinen, die sich vor sich selber schämte, war der Gedanke, daß sie nichts dafür könne, daß die Krankheit daran schuld sei, fast eine Erleichterung. Sie fand die Kraft, einige Vorkehrungen zu treffen, ihre Papiere zu verbrennen, einen Brief an Frau Nathan vorzubereiten, in dem sie diese bat, sich in den ersten Wochen nach ihrem, Antoinettes, Tode (sie wagte nicht, dieses Wort hinzuschreiben) um Olivier zu bekümmern.

Der Arzt konnte nichts mehr tun. Das Übel war zu weit vorgeschritten und Antoinettes Lebenskraft durch die Jahre übermäßiger Anstrengung bis zur Neige verbraucht.

Antoinette war ruhig. Seitdem sie sich verloren wußte, war sie von allen Ängsten befreit. Sie durchlebte in ihren Gedanken alle Schicksalsschläge, die sie durchgemacht hatte. Sie sah ihr Werk vollendet vor sich, ihren lieben Olivier gerettet. Und eine unversiegbare Freude durchdrang sie; sie sagte sich: »Das alles habe ich vollbracht.«

Dann machte sie sich ihren Stolz zum Vorwurf: »Allein hätte ich nichts vermocht, Gott war es, der mir half.«

Und sie dankte Gott, daß er ihr zu leben gewährt hatte, bis ihre Aufgabe vollbracht war. Wohl war ihr das Herz ein wenig schwer, daß sie jetzt davongehen sollte, aber sie wagte es nicht, sich zu beklagen; das wäre undankbar gegen Gott gewesen, der sie früher hätte heimrufen können. Und was wäre geschehen, wenn sie ein Jahr früher gestorben wäre?   Sie seufzte und beugte sich voller Dankbarkeit.

Trotz ihrer Bedrängnis beklagte sie sich nicht   außer in ihren schweren Träumen, in denen sie manchmal wie ein kleines Kind jammerte. Mit ergebungsvollem Lächeln lag ihr Blick auf den Dingen und Menschen. Der Anblick Oliviers war ihr eine beständige Freude. Sie rief ihn mit den Lippen, ohne zu reden. Sie wollte seine Hand in der ihren halten; sie wollte, daß er seinen Kopf neben den ihren aufs Kissen lege; und ihre Augen den seinen nähernd, schaute sie ihn lange schweigend an. Endlich richtete sie sich auf, hielt seinen Kopf zwischen den Händen und sagte: »Ach, Olivier ... Olivier.«

Sie löste von ihrem Hals das Medaillon, das sie trug, und hängte es ihrem Bruder um den Hals. Sie empfahl ihren lieben Olivier der Obhut ihres Beichtigers, ihres Arztes, aller, die sie kannte. Man fühlte, daß sie von nun an in ihm lebte, daß sie, im Begriff zu sterben, sich in dieses Leben wie auf eine Insel hinflüchtete. In manchen Augenblicken war sie wie berauscht von einem mystischen Überschwang an Zärtlichkeit und Glauben; sie fühlte ihr Leiden nicht mehr, und die Trübsal war Freude geworden   eine wahrhaft göttliche Freude, die um ihren Mund und in ihren Augen strahlte. Sie sagte immer wieder: »Ich bin glücklich.« ...

Der Todeskampf begann. In den letzten Augenblicken, als sie noch bei Bewußtsein war, bewegten sich ihre Lippen, man sah, daß sie etwas hersagte. Olivier kam an ihr Lager und neigte sich über sie. Sie erkannte ihn noch und lächelte ihm schwach zu; ihre Lippen bewegten sich weiter und ihre Augen waren voll Tränen. Man vernahm nicht, was sie sagen wollte ... Aber Olivier erfaßte schließlich wie einen Hauch jene Worte des alten und teuren Liedes, das sie so sehr liebten, das sie ihm so oft vorgesungen hatte:

» I will come again, my sweet and bonny, I will come again ...«

Dann fiel sie in ihre Betäubung zurück. Und verschied.

 

Sie hatte, ohne es zu wissen, vielen Menschen, die ihr nicht einmal bekannt waren, eine tiefe Zuneigung eingeflößt: so in ihrem eigenen Haus, dessen Mieter sie garnicht den Namen nach kannte. Olivier empfing Beileidsbezeigungen von Leuten, die ihm fremd waren. Das Begräbnis Antoinettes war nicht so verlassen, wie es das ihrer Mutter gewesen war. Freunde, Kameraden ihres Bruders, Familien, bei denen sie Stunden gegeben hatte, Wesen, an denen sie stumm vorübergeschritten war, ohne ihnen etwas von ihrem Leben zu sagen, und die ihr nichts von sich gesagt hatten, die aber um ihre Aufopferung wußten und sie heimlich bewunderten, sogar arme Leute, die Aufwartefrau, die ihr zuletzt geholfen hatte, die kleinen Handwerker des Stadtviertels folgten ihr bis zum Kirchhof. Olivier war noch am Abend des Todestages von Frau Nathan aufgesucht und wider Willen mitgenommen worden   was er, von der Übermacht seines Schmerzes benommen, geschehen ließ.

Ihn traf dies Unglück wirklich in dem einzigen Moment seines Lebens, in dem er ihm standzuhalten vermochte   dem einzigen, der ihm nicht erlaubte, sich ganz und gar seiner Verzweiflung hinzugeben. Er hatte gerade ein neues Leben begonnen, er nahm an einer Gemeinschaft teil; er wurde trotz seinem Widerstand vom Strom mit fortgezogen. Die Beschäftigungen und Sorgen im Seminar, der geistige Eifer, die Examina, der Lebenskampf hinderten ihn daran, sich in sich selbst zu verschließen; er konnte nicht allein bleiben. Er litt darunter; aber das war seine Rettung. Ein Jahr früher, ein Jahr später wäre er verloren gewesen.

Indessen sonderte er sich ab, soviel er konnte, in der Erinnerung an seine Schwester. Ein Kummer für ihn war, daß er die Wohnung, in der sie miteinander gelebt hatten, nicht behalten konnte: er besaß nicht Geld genug. Er hoffte, daß die, welche ihm Teilnahme zu bezeigen schienen, seine Verzweiflung darüber verstehen würden, weil er das, was ihr gehörte, nicht retten konnte. Niemand aber schien das zu begreifen. Mit zum Teil geliehenem, zum Teil durch Stundengeben verdientem Geld mietete er eine Mansarde, in die er alles hineinstopfte, was sie an Möbeln seiner Schwester fassen konnte. Ihr Bett, ihren Tisch, ihren Sessel. Daraus schuf er sich ein Heiligtum seiner Erinnerung. Dorthin flüchtete er an den Tagen der Niedergeschlagenheit. Seine Kameraden glaubten, daß er eine Liebschaft habe. Stundenlang war er dort und träumte, den Kopf in die Hände vergraben, von ihr. Denn unglücklicherweise besaß er kein einziges Bild von ihr, außer einer kleinen Photographie, auf der sie beide zusammen als Kinder dargestellt waren. Er redete mit ihr; er weinte ... Wo war sie? Ach, wenn sie wenigstens nur am anderen Ende der Welt gewesen wäre, mochte es ein noch so unzugänglicher Ort sein   mit welch großer Freude, welch unbezwingbarer Glut hätte er sich auf die Suche nach ihr gemacht, tausend Leiden erduldet, hätte er auch mit nackten Füßen, hätte er auch Jahrhunderte lang wandern müssen, wenn nur jeder seiner Schritte ihn ihr näher gebracht hätte ... Ja, wenn er selbst nur eine unter tausend Aussichten gehabt hätte, bis zu ihr zu gelangen ... Aber nichts ... Nirgends etwas ... Keine Möglichkeit, sie je zu erreichen ... Welch eine Einsamkeit umgab ihn jetzt! Wie war er, der Ungelenke, Kindhafte, doch dem Leben ausgeliefert, jetzt, da sie nicht mehr da war, um ihn zu lieben, ihm zu raten, ihn zu trösten!

Wer ein einziges Mal auf Erden das Glück gekannt hat, in völliger, grenzenloser Vertrautheit einer Freundesseele verbunden zu sein, der hat die göttlichste Freude gekannt   eine Freude, die ihn für das ganze übrige Leben elend macht.

» Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria ...«

Das größte Unglück für schwache und zärtliche Herzen ist es, einmal das größte Glück gekannt zu haben.

Aber so traurig es auch scheint, am Anfange des Lebens die Geliebten zu verlieren so ist es immerhin weniger schrecklich als in jener späteren Zeit, da die Quellen des Lebens versiegt sind. Olivier war jung und trotz seinem angeborenen Pessimismus, trotz seinem Mißgeschick hatte er den Drang zum Leben. Wie man es oft nach dem Verlust eines teuren Wesens beobachtet, schien Antoinette im Sterben einen Teil ihrer Seele ihrem Bruder eingehaucht zu haben. Er glaubte es. Ohne, wie sie, gläubig zu sein, war er doch dunkel davon überzeugt, daß seine Schwester nicht ganz und gar gestorben sei, daß sie vielmehr in ihm weiterlebe, so wie sie es ihm versprochen hatte. In der Bretagne besteht der Glaube, daß die jugendlichen Toten in Wahrheit nicht sterben: sie schweben weiter um die Orte, wo sie lebten, bis sie die vorgesehene Dauer ihres Daseins vollendet haben. So wuchs auch Antoinette weiter um Olivier.

Er überlas die Papiere, die er von ihr vorgefunden hatte; unglücklicherweise hatte sie fast alles verbrannt. Übrigens war sie nicht die Frau gewesen, über ihr Innenleben Buch zu führen ... Sie wäre darüber errötet, hätte sie ihre Gedanken in zudringlicher und ungesunder Neugier entkleiden sollen. Sie besaß nur ein kleines Notizbuch, das für jeden anderen als für sie selbst fast unverständlich war; es war ein winziger Kalender, in den sie, ohne weitere Bemerkungen, manche Daten eingeschrieben hatte, gewisse kleine Ereignisse ihres täglichen Lebens, die ihr Anlaß zu Freuden oder Gemütsbewegungen gegeben hatten und bei denen sie nicht nötig gehabt hatte die Einzelheiten aufzuschreiben, um sie wieder zu durchleben. Fast alle diese Daten bezogen sich auf irgend eine Tatsache in Oliviers Leben. Sie hatte alle Briefe, die er ihr geschrieben, aufbewahrt, ohne einen einzigen zu verlieren.   Ach, leider war er nicht ebenso sorgsam gewesen: ihm waren fast alle von ihr empfangenen verloren gegangen. Wozu hatte er Briefe nötig? Er meinte, daß er seine Schwester immer um sich haben werde: die liebe Quelle der Zärtlichkeit schien unversiegbar; er wiegte sich in der Sicherheit, Lippen und Herz immer daran erfrischen zu können; er hatte unvorsorglich den Born der Liebe, die er aus ihm geschöpft hatte und die er jetzt bis auf die letzten Tröpfchen hätte sammeln mögen, verschüttet ... Wie erschüttert war er daher, als er, in einem Gedichtbuch Antoinettes blätternd, dort ein Papierfetzchen fand, auf dem mit Bleistift geschrieben die Worte standen: »Olivier, mein lieber Olivier.«

Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Er schluchzte und preßte das Blättchen an seine Lippen, diesen unsichtbaren Mund, der aus dem Grabe zu ihm sprach.   Von jenem Tag an nahm er jedes ihrer Bücher vor und suchte Seite für Seite, ob sie nicht irgend ein anderes Bekenntnis darin gelassen habe. Er fand den Entwurf des Briefes an Christof. So lernte er den stummen Roman kennen, der sich in ihr geformt hatte. Zum ersten Mal drang er in ihr Gefühlsleben ein, von dem er bis dahin nichts gewußt und das er nicht kennen zu lernen gesucht hatte; er durchlebte die letzten Tage der Verwirrung, in denen sie, von ihm verlassen, ihre Arme dem unbekannten Freund entgegenbreitete.

Niemals hatte sie ihm anvertraut, daß sie Christof schon einmal gesehen hatte. Einige Zeilen ihres Briefes offenbarten ihm, daß sie einander früher in Deutschland begegnet waren. Er begriff, daß Christof in einer Lage, deren Einzelheiten er, Olivier, nicht kannte, gütig gegen Antoinette gewesen und daß darauf das Gefühl Antoinettes zurückzuführen war, das Gefühl, dessen Geheimnis sie bis zum Ende bewahrt hatte.

Christof, den er schon um der Schönheit seiner Kunst willen liebte, wurde ihm sofort unaussprechlich teuer. Sie hatte ihn geliebt. Es war Olivier, als ob er in Christof sie noch weiter liebe. Er unternahm alles, um ihm näher zu kommen. Es war nicht leicht, seine Spuren wiederzufinden. Nach seinem Mißerfolg war Christof in dem ungeheuren Paris verschwunden; er hatte sich von allen zurückgezogen und niemand bekümmerte sich mehr um ihn.   Nach Monaten wollte es der Zufall, daß Olivier Christof auf der Straße begegnete, der eben von der Krankheit erstanden, bleich und verfallen aussah. Aber Olivier fand nicht den Mut, ihn anzusprechen. Er folgte Christof von weitem bis zu dessen Hause. Er wollte ihm dann schreiben, doch er konnte sich nicht dazu entschließen. Was sollte er ihm schreiben? Olivier war nicht allein; Antoinette lebte in ihm: ihre Liebe, ihr Schamgefühl waren auf ihn übergegangen; der Gedanke, daß seine Schwester Christof geliebt hatte, machte ihn vor diesem schamrot, als wäre er Antoinette selbst. Und doch, wie gern hätte er mit ihm von ihr gesprochen! Aber er konnte es nicht. Ihr Geheimnis versiegelte ihm die Lippen. Er suchte Christof zu begegnen. Er ging überall hin, wo er meinte, Christof könnte dort sein. Er brannte vor Verlangen, ihm die Hand zu drücken. Doch sowie er ihn sah, verbarg er sich, um nicht von ihm gesehen zu werden.

 

Endlich entdeckte ihn Christof in einem Salon bei Freunden, wo sie einen Abend verbrachten. Olivier hielt sich von ihm entfernt, sagte nichts; aber er schaute ihn an. Und sicherlich schwebte Antoinette an jenem Abend um Olivier: denn Christof sah sie in Oliviers Augen und es war ihr Bildnis, das plötzlich in ihm auferstand, das ihn dazu trieb, den ganzen Salon zu durchqueren und auf den unbekannten Boten zuzugehen, der ihm wie ein junger Hermes den schwermütigen Gruß des seligen Schattens überbrachte.


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