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Der dankbare Hirsch.

Ich will hier nicht von dem Hirsch erzählen, der zwischen dem Geweih ein Kreuz trug und Sankt Hubert begegnete. Auch nicht von der Hirschkuh der Genoveva. Meine Hirschgeschichte ist aber gleichfalls sehr moralisch, denn sie zeigt wieder einmal, daß die Tiere für empfangene Wohltaten dankbar sind.

Ein stattlicher Zwölfender, von den Bogen der Jäger leicht angeschossen, wurde von der Meute gehetzt. Auf seiner tollen Flucht erreichte er eine im Walde erbaute Kapelle, an welche ein Häuschen stieß. Hier hauste ein Einsiedler, der sein Leben in Gebeten und frommen Betrachtungen verbrachte. Ein noch junger Mann und doch schon dem sündigen Treiben der irdischen Welt abgewendet. Eben trat der Einsiedler aus der Kapelle und erblickte das blutende Tier, das – Todesangst in den Lichtern – ihn um Schutz und Rettung anflehte.

»Dir soll geholfen werden,« sprach der Einsiedler, von Barmherzigkeit erfüllt. »Rasch in die Kapelle!«

Der Hochgeweihte ließ sich das nicht zweimal sagen: er sprang in die Kapelle und krachend fiel die Pforte der Kapelle ins Schloß. Die Hunde wollten folgen, doch der Einsiedler jagte sie mit hochgeschwungenem Knüttel zurück.

Als die Jäger herankamen, meinten sie, die Wut der Meute gelte dem frommen Einsiedler in der härenen Kutte und seinem drohend geschwungenen Knüttel. Es fiel ihnen auch nicht auf, daß einige der grimmigsten Rüden an der Pforte der kleinen Kapelle emporsprangen und kläffend das Gotteshaus umkreisten. Sie schrieben dieses unerklärliche Treiben der Doggen der fremdartigen Erscheinung des Waldbewohners zu, mit dem sie es nicht verderben durften, da er im Rufe der Heiligkeit stand. Sie riefen die Hunde zurück, banden sie an die Koppel, verabschiedeten sich mit ehrfurchtsvollem Gruße von dem frommen Manne und setzten ihre Jagd in einem anderen Teile des Waldes fort.

Der Kapitale war gerettet.

Als der Einsiedler ihm die Pforte der Kapelle öffnete und ihn ins Freie ließ, ward der Hirsch von solchem Dankgefühle überwältigt, daß er darob plötzlich sprechen lernte.

»Sprich einen Wunsch aus,« sagte er zu seinem Retter gewendet.

Der Einsiedler aber streichelte mit der Linken das Tier, während er mit der Rechten an die Brust schlug und erwiderte:

»In dieser Brust darf kein anderer Wunsch glühen, als Gott zu gefallen und den Menschen wohlzutun.«

Darob war nun der Hirsch sehr betrübt und fortan sann er Tag und Nacht nur darüber nach, wie er sich seinem Lebensretter dankbar erweisen könnte.

An einem schönen Sonntagsmorgen – die Hegezeit hatte fast ihr Ende erreicht – kam der Hirsch vertraut zur Försterei und erblickte dort die junge Försterstochter, ein blühendes Mädchen von siebzehn Jahren. In den Blicken der Jungfrau schimmerte etwas wie ein mildes Sehnen. Als der Hochgeweihte die holde Maid erblickte, gedachte er unwillkürlich des jungen Eremiten. »Gott zu gefallen und den Menschen wohlzutun,« das ist der Herzenswunsch meines Retters, sagte sich das Tier.

Der dankbare Hirsch.

Er senkte die zwölf Enden seines Kopfschmuckes zur Erde vor dem holden Mädchen, das freundlich nickte, weil es glaubte, die Huldigung gelte ihrer jugendlichen Schönheit. Doch gleich darauf stieß sie einen Schreckensschrei aus: sie hatte den Boden unter den Füßen verloren und hing mit dem Rocksaum an den obersten Enden des prächtigen Hirschgeweihs.

Hoch erhobenen Hauptes trug der Hirsch seine Beute dahin, von deren mysteriösen Schönheit die Waldvöglein heute noch singen und die Heckenrosen errötend erzählen. Er trug sie durch den Forst bis zu dem Einsiedler und bettete sie zu seinen Füßen in weiches Waldmoos.

Und die beiden Menschenkinder freuten sich miteinander, wie Adam und Eva. Der dankbare Hirsch aber murmelte zufrieden: »Das ist Gott gefällig und tut den Menschen wohl.«


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