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Der Tod

Klein-Lisbeth schlief schon. Auch ihre Mutter schlief. Stille war's in der schlichten Stube. Hie und da hörte man die Athemzüge der Schlafenden. Hie und da prasselte und knatterte die kleine Nachtlampe auf dem breiten altmodischen Legkasten. Ihr Schein zeichnete einen gelben Kreis auf die weiße, gehäkelte Tischdecke. Im Dämmerlicht glimmten auf der Platte des Schrankes einige Bilderrahmen und ein Christus am Kreuze. Gegen die Wände zu ward es immer dunkler im Zimmer. Undeutlich erkannte man die Stäbe und das Netz des Kinderbettchens, das an der Fensterwand stund. Der Fenstervorhang war nicht herabgelassen.

Eine helle Nacht. – Von den grauglänzenden Scheiben hoben sich die dünnen Stäbe eines Käfigs ab. Auf dem obersten Querholz im Inneren schattete ein kleines, schwarzes Klümpchen: das Vögelchen schlief den Kopf unter den Federn. Es rührte sich nicht. –

Stille war. – Leise und hastig tickte eine Uhr. – Jetzt schlug sie – elf mal. Lange hallte der letzte Schlag nach. Das Nachtlicht flackerte heftig. Ein Schein huschte durchs Zimmer. Ein heller Kreis tanzte über die Stubendecke.

Das kleine Vöglein erwachte, reckte das Köpfchen ein wenig, schüttelte die Federn. Dann blies es das Körperchen breit auf und entschlummerte wieder.

Jetzt klirrten die Scheiben. Das Hausthor unten war schwer ins Schloss gefallen. Es kam offenbar jemand nachhause. Schwere Schritte knarrten auf der hölzernen Treppe. Leise – dann immer lauter dann verklangen sie mählich wieder. Ein Schlüssel rasselte oben irgendwo im nächsten Stockwerk...

Des Nachtlichts Flamme klagte und krümmte sich. Sie leckte an der Oberfläche des Öles hin, so dass helle Streifen durch das Zimmer glitten. – Die Mutter, deren Bette ganz im Dunkel stand, seufzte.

Die Uhr schien noch eiliger zu ticken. Das Licht auf der Platte des Legschreines knisterte und knatterte. Ohnmächtig zuckte es her und hin. Ein ganz leiser Knall: es war erlöscht. –

Dunkel in der Stube. Nur der Käfig beim Fenster ward sichtbar. Das Thierchen darinnen schlief. Die Dielen knarrten. Gerade als ginge jemand auf und nieder. Bald da, bald dort in der Ecke. Dann drang ein Geräusch durch die Wand oder von oben. Jetzt wieder – stille. –

Der Vogel im Käfig streckte das Köpfchen jäh aus dem Flaume. Er saß eine Weile still. – Dann flatterte er ängstlich hinter den Stäben umher. Bald prallten seine Flügel an der, bald an jener Seite an. Endlich blieb er unten im Sande. Ein leises, ängstliches Pipsen zitterte aus seiner Brust. Er reckte und streckte das Köpfchen und schlug ein paar Mal mit den Schwingen. Jetzt verstummte das Thier.

Mühsam schwang es sich auf das unterste Querholz, rüttelte sich und tauchte den Schnabel in das Wasserglas. Scheinbar erfrischt hüpfte es seitwärts und blieb an die Stangen des Bauers gelehnt. Den Kopf aber that es nicht mehr unter den Flaum.

Die Uhr tickte. Die Athemzüge der Schlafenden waren regelmäßig. Die Dielen krachten nach wie vor. Auf der Straße rollte ein Wagen vorbei.

Das Vögelchen aber war wieder im Sande. Die kleinen Füße waren nicht sichtbar. Es lag beinahe. Der Schnabel war offen und aufwärtsgerichtet: es rang nach Luft. Von Zeit zu Zeit stieß es einen sanften, klagenden Laut aus. Dann begann ein unaufhörliches Pipsen – fast so schnell wie das Ticken der Uhr.

Die schwere Finsternis lastete auf der kleinen Brust. Das arme Herzchen pochte heftig hinter den zarten Rippen. Die schwarzen Augen waren offen.

Und da schien ihm, es stiege langsam etwas Schwarzes unter dem Tische, auf dem sein Bauer stand, herfür. Ganz langsam. Ein unförmiger, körperloser Schatten. Sein Pipsen wurde lauter. Bebend flatterte es über dem Sande her und hin.

Erschöpft hockte es endlich in einer Ecke. Der Schnabel haschte Luft; aber die Augen waren zu.

Ein Geräusch... die Uhr schlug – zwölfmal.

Das Thier öffnete die Augen. Ein schriller Schrei gellte aus seiner Kehle – da... da...

Die Mutter war erwacht. Sie setzte sich auf. Im Zimmer war es sehr dunkel. Das Fenster war gar nicht zu sehn. Wohl kein Mondschein mehr – dachte sie. Sie wandte sich im Bette. Die Bretter krachten. – Wieder ruhige Athemzüge.

Das Vöglein war vor Schreck verstummt. Da – über ihm schwebte dicht der Schatten. Wie ein Tuch, wie ein schwarzes Tuch. Aber nein, es war kein Schatten mehr, auch kein Tuch. Wie ein großer, schwerer Futtertrog sah es aus. Nein, jetzt, jetzt wie eine Kugel, und da dehnte sich etwas nach rechts, – nach links, – wie Flügel: ein Vogel schien es ein großer, dunkler Vogel...

Das kleine, arme Thier im Bauer zitterte. Es konnte sich nicht rühren, auch nicht schreien, und der Schnabel stand doch so weit offen!

Da kam ihm auf einmal der Wald in den Sinn und Blättergrün und Sonnengold, und dann das kleine Mädchen, das immer mit ihm spielte, – und die Apfelschnitte, die sie ihm sonntags brachte, – und...

Der große, schwarze Vogel hatte des Käfigs Stäbe durchdrungen. Er war ganz nahe. Immer tiefer sank er so schwarz, so schwer...

Noch einmal schüttelte der gequälte Kleine seine Federn. – Er hob das Köpfchen, – da schlugen die Schwingen des schrecklichen, schwarzen Schattens ganz über ihm zusammen – ganz – ganz...

»Mutter, Mutter!« fuhr Klein-Lisbeth in die Höhe.

»»Was? Mein Kind.««

»Mir ist so angst.«

»»Wirst schlimm geträumt haben,«« begütigte die Mutter. »»Leg dich auf die andere Seite und schlaf wieder ein.««

Das Kind gehorchte. – Stille. –

Ruhige Athemzüge.

Die Uhr tickt langsamer und schläfrig.

Mählich wird es heller in der Nähe des Fensters. Graues Morgenlicht sickert durch die Scheiben. Endlich sieht auch ein Sonnenstrahl herein. Aber erschrocken fährt er zurück.

Im Bauer auf dem Sande liegt seitlich hingestreckt das kleine Vöglein, den Schnabel offen. Die Augen und die Federn am Kopfe sind voll Sandes.

Todt. –

Lisbeth erwacht.

Sie fährt mit der Hand über die weichen, schlafrothen Wangen.

Langsam kniet sie auf im Eisenbettchen.

Jetzt spricht sie ihr Morgengebet.

Damit sie die Mutter nicht wecke, leise, – ganz leise – –

*

Ende.


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