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Der Rath Horn

Hatte einen alten Großoheim. Der wusste wunderlich zu erzählen. Wenn ich bei ihm saß in seiner hohen, wohlgescheuerten Stube, wo die steifbeinigen Rundstühle so gemüthlich um den großen glattgebohnten Tisch standen, und mächtige Bücherreihen so ernst von den Wänden niederschauten, da ermüdete er nicht zu erzählen und zu plaudern. Oft waren es schnurrige tolle Erlebnisse mit unmöglichen Situationen, öfter aber noch gar unheimliche spukhafte Geschichten, die der Ohm mit so geheimnisvoller Stimme kundthat, dass mir, dem lauschenden Jungen, ein kalter Schauer über den Rücken rieselte und ich mich gar nicht umzusehen traute in dem dämmerigen weiten Zimmer. Mehr aber noch als alle diese Geisterlebnisse hat mich immer eine Geschichte interessiert und ergriffen. Oft und oft musste mir der alte Herr dieselbe wiedererzählen. – Ich weiß sie heute noch, und will sie ganz in der Art, wie er sie darzustellen pflegte, wiedergeben:

*

War ein Bub' noch ein dummer Dreikäsehoch und Naseweis. Da lebte in unserer Stadt ein alter Herr. Täglich konnte man ihn sehen. Um die dritte Stunde des Nachmittags begann er immer seinen Spaziergang unter den Lauben des Ringplatzes. Er trug einen verschossen langgeschößelten Rock mit sehr hohem Kragen und eine schwarze steife Halsbinde. Den Hut hatte er tief in die Stirne gedrückt; die linke Hand ließ er stetig am Rücken ruhen, während die Rechte krampfhaft ein gelbes Rohr hielt, dessen goldenen Knopf er beständig an die dünnen Lippen presste. Er schien Niemanden zu bemerken und erwiderte selten die Grüße, die ihm allenthalben dargebracht wurden. Die ihm begegneten, raunten einander zu: der Rath Horn, – der Rath Horn.

Das war aber auch Alles, was sie von ihm wussten – höchstens noch, dass er draußen am Ende des Städtchens in einem einsamen grauen Häuschen wohnte und dass eine Matrone, die ebenfalls ewig unverändert aussah, ihm die Wirtschaft führte. Seit Menschengedenken lebte er in M... – Wo er sich den Titel Rath erworben und als Mitglied welcher Körperschaft er ihn führte – konnte niemand angeben. – Man munkelte allerlei von Verrücktheit ... aber das war ja Unsinn. Kurz er war einfach der Rath Horn, Kaspar Horn. –

Wir Burschen begegneten ihm täglich; wir verließen gerade die Schule, wenn er seinen täglichen Gang abhaspelte. Ich zählte etwa 16 Jahre und meine Genossen wenig darüber oder darunter. Aber sie waren alle rechte Kinder! Sie standen nicht ab, den stillen alten Mann durch Lächerlichkeiten und dumme Hohnworte zu kränken. Anfangs war auch ich dabei. Nach und nach aber flößte mir das Wesen des Rathes eine so ehrfurchtsvolle Scheu ein, dass ich, wenn ich seiner gewahr wurde, mich von den Gefährten trennte, an der Straßenecke stehen blieb, und wenn jener vorüber schritt, eiligst und tief meine Mütze zog. Natürlich sah mich Herr Horn meistens nicht. Eines Nachmittages aber, als ich meinen Gruß besonders auffallend wiederholte, wandte er mir wie erschrocken den Kopf zu, senkte ein wenig sein Rohr zum Danke und ging wieder seines Weges. Ich aber war stolz und glücklich. – Ein Schwärmer, wie ich damals war, das Herz voller Spuckgeschichten und Abenteuerlust, fand bald so viel Gefallen an dieser sonderbaren Persönlichkeit, dass ich mit einer über mein Alter hinausgehenden Entschlossenheit mir vornahm, dem Rathe zu folgen und nicht zu ruhen, bis ich etwas mehr über sein Leben und Schicksal wüsste. Dass das eigentlich eine Vermessenheit sei und überdies nicht gar leicht, fiel mir nicht bei.

Plan ward That. Tag für Tag schritt ich hinter dem alten Herren einher. Immer hoffte ich und fürchtete zugleich, er würde sich umsehen, mich erblicken und ausfragen. Nichts dergleichen jedoch geschah. Der Rath ging in derselben Weise wie auf dem Ringe, den Stock an den Lippen, fort, vor seinem Hause blieb er plötzlich stehen, öffnete die kleine Türe, schlüpfte durch einen Spalt hinein – und im nächsten Augenblicke hörte ich, wie der Schlüssel sich im Schloss stöhnend umwälzte. Krach! Und ich stand vor der verschlossenen Türe.

Schon verzweifelte ich trotz all meiner jugendlichen Hoffnungsfreudigkeit an meinem Unternehmen, als ein günstiger Zufall mir unerwartet zu Hilfe kam.

Es war ein schlimmer Herbsttag. Die Luft war grau, der Gangsteig glänzte und der Wind peitschte einen dünnen Sprühregen her und hin. Herr Horn kam wie immer. Ich folgte ihm nach, wie immer. Schon war er nah seinem Hause, und ich überlegte halb trotzig, halb missmutig, dass dies das letzte Mal gewesen sein sollte, dass ich diesen aussichtslosen Spaziergang unternommen hätte.

Da fühlte ich einen jähen Windstoß, – und im nächsten Augenblick kollerte etwas Schwarzes mit wirbelnden Ungestüm an mir vorbei. Ich blickte auf. Rath Horn stand kaum zwei Schritte vor mir – ohne Hut in arger Verzweifelung. Der Sturm hatte ihm den alten Cylinder geraubt. – Ich war schnell entschlossen hinterher auf der Jagd. Lang musste ich laufen, die ganze Allee zurück – bis endlich der Flüchtling heftig an einen Baum anrollte und so den bedeutenden Vorsprung, den er erlangt hatte – rasch einbüßte.

Mit fliegendem Athem, hochrothen Wangen, voll Hast und Freude rannte ich zurück zu dem alten Herrn. Dieser nahm seinen Hut ganz wie wenn das alles selbstverständlich wäre in Empfang, stülpte ihn, ihn vorn und hinten drückend, auf sein graues Haar, strich mir leise mit der Hand über das Gesicht, sagte mit weicher Stimme: »Danke, mein gutes Kind!« machte kehrt und schritt den Stock an die Lippen haltend seinem Heim zu. –

Ich zitterte vor Wuth und Enttäuschung. – Ich lief nachhaus und weiß noch, dass ich einen großen Teil der Nacht in mein Kissen weinte, bis mich die Ermattung übermannte. So sehr es mich auch am kommenden Nachmittage wieder hinauslockte, ich blieb standhaft und folgte dem Undankbaren nicht. –

Etwa 3 Tage waren darüber gegangen. Da ging ich eines Tages ganz in Gedanken von unserer Lateinschule heim, – und als ich an einer Ecke aufblickte, wer stand – vor mir? – Rath Horn. –

Ehe ich noch recht wusste, was ich tun sollte, sagte er leise und legte mir dabei die Hand auf die Schulter:

»Ich habe mich erkundigt, – du bist ein braves Kind – komm! –«

Ich folgte. Das Herz schlug mir laut vor Freude und Furcht.

Auf dem Wege sprachen wir kein Wort.

Wir betraten schweigend sein Haus.

Mein Schritt gellte so laut auf den rothen Ziegelfliesen des Flures, dass ich zusammenzuckte. – Der Vorraum, in den wir jetzt kamen, war dunkel. Große schwere Kästen hoben sich in ungewissen Umrissen von der grauen Wand ab und warfen riesige schwarze Schatten. Umso freundlicher war das Stübchen, das wir jetzt betraten. – Blumen standen auf dem breiten Fensterbrett. Hart davor ein kleines Tischchen. Dann ringsum Schränke mit Büchern, verstaubte Stahlstiche hinter glatten Gläsern und hohe Stöße von Schriften und Zeitungen auf den blendend weißen Dielen. – Der Rath ließ mich setzen. Mit Staunen ward ich gewahr, dass in dieser Umgebung sein mürrisch ernstes Wesen verändert sei. Sein Auge ward hell und beweglich, seine Stimme rein und anheimelnd. Ich musste ihm erzählen, das und dies; und ich plauderte dann auch tüchtig drauflos; die Erfüllung dieses schon fast aufgegebenen Wunsches versetzte mich in die heiterste Laune und löste mir die Zunge.

Das schien ihm zu gefallen. Er rückte näher an mich heran, klopfte mir gar lieb auf die Wange und brachte mir schöne Bilder zum ansehen und auch einen Teller süßer Naschereien. Beglückt und enttäuscht zugleich schied ich nach vier Stunden von ihm. Beglückt durch diese entzückende wohlwollende Freundlichkeit – aber enttäuscht durch das heitere und offene Wesen des Mannes, in dessen Innern mein abenteuerlustiger Sinn furchtbare, dunkle Geheimnisse vermutet hatte.

Meine Besuche wurden immer häufiger. Schließlich suchte ich jede Woche dreimal meinen lieben Gönner auf; seine alte Dienerin sah ich nie. Wir saßen immer allein beisammen in derselben Stube und sprachen über gar Manches. Er fand mich sehr verständig für mein Alter und sagte mir dies unverhohlen heraus. Aber so schlau ich es auch anstellte, so leise und behutsam ich darauf hinlenkte, Näheres über das Schicksal, das ihn so menschenfeindlich gemacht, zu erfahren – mein Bemühen blieb erfolglos. So oft er ein derartiges Bestreben bemerkte, brach er jäh ab, nahm ein Buch vor, oder füllte mir den Mund so mit Süßigkeiten, dass ich notwendig schweigen musste.

Herbst und Winter waren also vergangen. Der Frühling sandte seine ersten Boten über Land, und die Bäume vor des Rathes Fenstern begannen kleine grüne Knöspchen zu treiben. – Ich wiederholte nach wie vor meine Besuche, und es war mir immer mehr offenbar geworden, dass mein väterlicher Freund über ganz bedeutende Kenntnisse verfügte, da er meiner frischen Schulweisheit, die ich mit dem Stolz eines vorzüglichen Lateinschülers auskramte, stets eine durch männliche Erfahrung gefestigte, stattliche Ansicht gegenüberstellte. – Einmal, als die junge sieghafte Sonne besonders hell durch die schneeweißen Gardinen guckte, legte mir der Rath wieder die Hand auf die Schulter – und sagte zögernd:

»Nun, – und was möchtest denn du werden, Paul?«

Ich überlegte nicht lange.

Ich hatte mich in der Lateinstunde gerade an Horatius' herrlichen Oden begeistert und rief daher lachend:

»Ein Dichter möcht' ich werden, – ein Dichter – wie Horatius wie...«

Das Wort erstarb mir auf den Lippen.

Ich erkannte den alten Mann vor mir kaum wieder.

Sein Antlitz war aschfahl geworden, seine Lippen zuckten und in seinen Augen tauchte tief ein namenloser Schmerz auf. Er zog seine Hand, die ich beben fühlte, rasch zurück und strich sich ein paarmal über die bleiche Stirne. –

Mir lief es kalt durch die Glieder.

Ich wäre am liebsten aufgesprungen und davon geeilt.

Aber ich wusste auch, jetzt stünde ich dicht vor der Stelle, wo das Geheimnis, dem ich nachzuspüren gewagt hatte, vergraben lag.

So blieb ich denn. In den Gliedern glaubte ich Bleischwere zu empfinden. Ich starrte den Rath unverwandt an.

Wie er jetzt matt die zitternde Hand von der Stirne gleiten ließ, erschrak ich, wie greisenhaft diese Züge in den wenigen Minuten geworden waren. – Herr Horn sah so aus, wie ich mir einen Toten – (gesehen hatte ich noch keinen) vorstellte. Die Augen waren irr und blickten ziellos in die Weite, die Wangen schienen eingefallen und unter dem Jochbein kauerten graue Schatten. Er schwieg.

Ich regte mich nicht.

Mählich nur schien wieder Leben in ihn zu kommen.

Er setzte sich mühsam zu recht und sagte dann sehr leise:

»Ich weiß, du hast mich gern. Du sollst es wissen, was bisher niemand erfahren hat.«

Und hastig, als fürchtete er in seinem Entschlusse wankend zu werden, fuhr der Rath fort:

»Ich war auf der Lateinschule – wie du. Begeistert von den alten Dichtern, war dein Wunsch – der meine! Dichter zu werden. Und das Schicksal war mir hold. Ich schrieb Lieder, die gelobt und gesungen wurden; und als ich auf der Universität von Halle meinen Doctor machte, setzte man große Hoffnungen auf mich. Das erste Werk, das ich veröffentlicht hatte, – kleine Geschichten warens – fand Beifall – und mein Glück schien fast zu groß werden zu wollen, als ich in Leipzig, nachdem ich eine bedeutendere Stellung errungen hatte, ein schönes blühendes Mädchen kennen lernte – und sie zu meiner Braut machen durfte. Ich war selig. – Aber der Götter Neid überraschte mich jäh in meinem Jubel. Meine Irmgard fiel einer tückischen Krankheit zum Opfer, kurz vor unserer Vermählung, und mir blieb nichts als die Erinnerung an den süßen, kurzen Liebestraum. Man fürchtete damals für meinen Verstand. – Mit Gewalt riss man mich weg von der blumenbelasteten Truhe, in der das Licht meines Lebens für ewig versenkt war. – Ich floh aus Leipzig fort, weil dort überall die Erinnerung klebte und wohnte in einem einsamen Häuschen hoch im Gebirge. Der wütende wogende Schmerz ebbte allmählich, und es blieb jene stumme Wehmut zurück, aus der die Bilder der Vergangenheit hold und verklärt auftauchen, wie segnende Wassergeister dem schweigenden Waldsee in duftschwülen Sommernächten entschweben...«

Er stützte das Haupt in die Hand und ließ die letzten Worte langsam und träumerisch verklingen.

Dann sprach er weiter:

»So lebte ich – einsam und still. Aber in dieser Einsamkeit ward ein großer Gedanke wach in meiner Brust:

Ich wollte Irmgarden ein ewig unvergängliches Denkmal setzen – in einem Dichtungswerke in einer gigantischen Riesenschöpfung. Die Welt sollte staunen und beben vor diesem Werke, beben vor heiliger Ehrfurcht und banger Bewunderung.

Feuereifer beseelte mich.

Tag und Nacht schrieb ich.

Die Begeisterung riss mich fort. Ich fühlte, was ich leistete, war übermenschlich, war unsterblich. – Ich erschrak selbst vor dem Feuer, das meinen Worten entlohte und das zünden musste – zünden – und einen Brand entfachen, einen namenlosen Brand, der über die ganze Welt hinzüngelte und Alles einäschern sollte, was niedrig, was gemein und elend ist! O, ich fühlte Kraft in mir. Kraft, Hünenkraft, die Axe der Welt zu fassen, sie still zu zwingen, zu zwingen...«

Sein Wort ging pfeifend aus.

Seine Wangen waren roth geworden, er rang nach Athem.

Erschöpft fiel er im Lehnstuhl zurück.

Dann begann er tonlos und matt:

»Ich hab's vollbracht. – Sieben Jahre hindurch habe ich in der Einsamkeit der Hütte emsig und im Feuer einer tödlichen Begeisterung geschaffen. Das Werk war ungeheuerlich geworden. Eine wuchtige Keule für alles Schlechte. Da war mehr drin als Menschenkraft...

Es war Frühjahr. Just wie heute. Ich hatte den letzten Strich gemacht. Ich fühlte keine Mattigkeit, wenn auch meine Augen verschwollen waren und meine Rechte starr. Ich kniete hin und küsste mein Werk. Ich betete zu meinem Werke; denn ich wusste, dass es göttlich war.

Dann nahm ich Hut und Mantel. Zum ersten Male seit Jahren wollte ich wieder weiter feldein streifen, mich stärken und erfrischen. Und welchen Genuss hauchte diese blaue Lenzluft in meine Seele; tief sog ich sie ein, und es kam über mich wie ein wonniger, tröstender Traum. Das Eis des Kummers, das meine Gefühle seit dem Tode der Geliebten gebannt hatte, schmolz – und ein seliges, unbeschreibliches Empfinden glutete in mir. Ich jauchzte wie ein Kind, folgte den Faltern, pflückte Blüten und schaute den sprudelnden Quellen zu, die talwärts sprangen. So leicht war mir der Fuß, so frei der Blick, wie ich es nie noch empfunden zu haben vermeinte. Stundenlang strich ich waldein – und als ich umkehrte, lag schon die Weihe des Abends auf den wogenden Feldern ...«

Der Rath schwieg wieder und senkte das Haupt. Plötzlich sah er auf – er packte mich jäh bei der Schulter.

»Ich komme zurück, meine Hütte – brennt!« Er schrie diese Worte, dass ich zitterte. »... brennt! ...« wiederholte jener, als sähe er eben noch das Entsetzliche vor seinen Augen.

»Hineinstürzen, retten! ... Trümmer, Fetzen, Balken ... nichts, nichts.« Thränen erstickten ihm die Stimme. Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein wildes, schluchzendes Weinen aus.

Mir schnürte es das Herz zusammen.

»Herr Horn, Herr Horn« – stammelte ich – Onkel, wie ich ihm sonst sagte, getraute ich mich nicht ihn in diesem Augenblicke zu nennen, – »Gott – – und Sie haben nicht wieder aufgeschrieben? ...«

Ich bereute diese Frage.

Er sah auf: –

»Den Inhalt Ihres Werkes? ...«

Sein Auge war groß und glanzlos, seine Züge waren hart und verzerrt, als er murmelte: »Ich weiß nicht, was es enthielt ... ich weiß nicht!«

Fassungslos und fragend schaute ich dem armen Mann in die Augen.

»Nein« – ächzte er – »nein, der Schrecken, der plötzlich, – alle Erinnerung ist fort ... Alles ... Tag und Nacht sinne ich ... Tag und Nacht. Dort siehst du, Paul«, – er wurde ruhiger – »dort auf dem kleinen Tischchen liegt immer Papier und Feder – und oft erfasst es mich, als müsste jetzt alles wieder auftauchen ... Nein, nein – nie mehr«, und er lachte, dass ich zusammenschrak.

Er aber füllte mir die Taschen mit Naschereien und schickte mich fort. Ich ging ungern; ich hätte ihn so gerne trösten mögen – aber wie? Auf dem Flur zögerte ich eine Secunde. – Da, da vernahm ich durch die Türe wieder jenes schluchzende, herztötende Weinen und von plötzlicher Furcht ergriffen eilte ich aus dem grauen Hause und drückte die Thüre fest hinter mir zu. Das Weinen aber vernahm ich die kommenden Nächte oft im Schlafe, und ich legte mich dann immer rasch auf die andere Seite. Es war so entsetzlich.

In dem Verkehre mit meinem alten Freunde änderte sich dagegen nichts. Er war wieder der lächelnde, gutmütige, freundliche Mann. Nie sprachen wir von der Vergangenheit. Ich scheute es, eine Wunde zu berühren, für die ich ja doch keinen Balsam wusste, und er dankte mir diese zarte Rücksicht mit reichlichen Aufmerksamkeiten und Wohlthaten. Ich hatte ihn sehr lieb gewonnen, den Rath; und ich war ihm doppelt zugetan, weil zu dem Gefühle der Sympathie sich noch der Stolz gesellte, der einzige Vertraute seines schrecklichen Schmerzes zu sein.

Es war im Herbst. – Ich betrat wieder das gewohnte düstere Häuschen, und erschrak heftig, als mir diesmal nicht wie sonst Herr Horn, sondern die alte Dienerin öffnete. – Er sei ein wenig unwohl, brummte sie auf meine Frage. Sie war mir nicht besonders hold, weil ein großer Theil der Gunst, die sie früher allein genießen durfte, auf mich übergegangen war.

Der Rath lag zu Bette und sah recht bleich aus.

Er versuchte zu lächeln.

Es gelang ihm schlecht. Er klagte über heftige Schmerzen in allen Gliedern. Der Arzt schüttelte den Kopf.

Tage gingen hin. Es trat keine Besserung ein. Ich erschien pünktlich täglich um 4 Uhr nachmittags, saß an seinem Bette, las ihm vor oder erzählte Geschichten, die drolligsten, die ich wusste, um ihn zum Lachen zu bringen. – Das gelang freilich selten.

Eines Nachmittages aber, als ich ihn aufsuchte, lehnte er aufrecht in den Kissen und schien viel frischer. Er scherzte wohl auch; und als ich ihn des Abends verließ, hatte ich die Überzeugung, dass mein guter Gönner sicher bald genesen würde.

Herbe Täuschung! Am nächsten Morgen war ich eben auf dem Wege zur Schule, als ich die alte Wirtschafterin des Rathes scheinbar aufgeregt daher trippeln sah.

Mir ahnte Böses.

Lang stammelte das Weib Unverständliches unter ewigem Schluchzen und Schlucken – endlich brachte sie es hervor:

»Jesus Maria, – er stirbt.« ...

Ich stürmte hinauf.

Der Doctor saß mit sehr ernstem Gesicht am Bettfuße. Er winkte mir zu, leise zu gehen. Ich machte ihm ein Zeichen mit den Augen, er wippte kaum merklich die Schultern.

Ich war trostlos. Kaum wagte ich zu atmen.

In bebender Spannung betrachtete ich das abgezehrte Gesicht in den weißen Kissen – diese faltigen Hände, die nur hie und da leise zuckten...

Da – plötzlich setzte sich der Rath rasch in den Kissen auf. Sein Auge glühte – seine Lippen bebten...

»Ich weiß es« – jubelte er.

Und ehe es der Arzt hindern konnte, sprang er mit jugendlichem Ungestüm aus den Decken und stürzte zu dem Tischchen, wo die weißen Bogen lagen.

Wir, starr vor Staunen, folgten nicht so gleich.

Ein leises Röcheln machte uns beben.

Wir sprangen herzu.

Der Rath lehnte weit zurückgeneigt mit geschlossenen Augen im Armstuhl. Auf seinen Zügen glänzte ein glückseliges Lächeln, die Hand hing schlaff herab, die Feder war ihr entfallen.

Der Arzt beugte sich über den Greis.

Er horchte. Ich kniete zur Seite.

Der Doctor seufzte auf. Dann sagte er leise: »Amen«.

Auf dem weißen Bogen aber war der Anfang eines Buchstabens verzerrt und unkenntlich und dann ein verlaufender harter Strich quer über die ganze Fläche. –

*

Damit schloss mein Ohm und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirne. –

Mir aber standen die Thränen in den Augen.

*

Das war die Geschichte vom Rath Horn.


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