Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel. Das Katholische und das protestantische Deutschland.

(Geschrieben im Jahre 1851.)

Im Jahre 1536 war ein Pfarrer in Rod an der Weil, der hatte zugleich die Pfarrei in Hasselbach zu versehen und vermuthlich fiel ihm sein Gehalt von den beiden Orten zu gleichen Theilen. Nun kam aber die Reformation in's Land, und die Gemeinde zu Rod wurde lutherisch, die zu Hasselbach aber hielt fest am Papste.

Darum kam der Pfarrer in große Verlegenheit. Wäre er katholisch geblieben, dann hätte er Rod verloren, wäre er protestantisch geworden, Hasselbach. Er fand aber eine Auskunft. Früh Morgens hat er im Chorrock eine lutherische Predigt gehalten in Rod, und eine Stunde später ist er das Thal hinaufgegangen nach Hasselbach und hat dort in der Stola Messe gelesen. Erst taufte er protestantisch in Rod, und dann – es ist nur eine gute halbe Stunde Wegs – katholisch in Hasselbach, copulirte nach Luthers Weise hüben, nach des Papstes drüben. Und so ging es eine ziemlich lange Zeit.

Unversehens kam aber eine protestantische Kirchenvisitation in's Weilthal, und die Visitatoren hörten zu ihrer besondern Erbauung die Geschichte von dem zwieschlächtigen Pfaffen, fragten ihn, warum er solches gethan, und wollten ihm den Dienst aufsagen. Der Pfarrer aber entschuldigte sich, indem er sagte, das Volk habe ihn gezwungen auf beiden Achseln zu tragen, und gelobte, sich zu bessern. Darauf ließ man ihn im Dienst.

Diese Geschichte des zwieschlächtigen Pfaffen ist eine ächt mitteldeutsche. Sie zeichnet die Verwischung der kirchlichen Gegensätze in einer Ländergruppe, in welcher die Gebietstheile des protestantischen und katholischen Bekenntnisses noch weit mehr zerrissen, weit bunter durcheinander geworfen sind als die politischen.

Wir müssen hier noch einmal auf die bereits flüchtig berührte Thatsache zurückkommen, daß Deutschland eben so wie in Siedelung und Sitte, so auch kirchlich dreifach gegliedert ist. In den centralisirten Gauen des Südens und Nordens tritt der Katholicismus und Protestantismus massenhaft auf, und diese Gegensätze durchdringen das Volksleben viel tiefer als in den zerstückten mittleren Ländern. Der kirchliche Dualismus, aus dem sich allmählig eine Trias herausbildet, ist organisch hervorgewachsen aus der Natur von Land und Leuten. Die Kirchentrennung hat freilich in den zunächstfolgenden Jahrhunderten traurige Politische Folgen für das Gesammtvaterland nach sich gezogen, schon jetzt aber mag man erkennen, wie sie eine Tiefe und Vielgestalt des geistigen und socialen Lebens der Nation nach beiden Seiten hin angeregt hat, die außerdem unmöglich gewesen wäre. Sie hat die natürliche Besonderung unserer Ländergruppen erst zur vollen Wahrheit gemacht, die darum das nationale Gemeinbewußtseyn tiefer noch gewurzelt zeigt, als wenn wir in Glauben und Sitte nach französischer Art über Einen Kamm geschoren wären. Hätte Deutschland den Zwiespalt des Glaubens nicht gründlicher als jede andere Nation durchgerungen, so würden wir nicht so geistesmächtig und verjüngungsfähig im alten Europa fortbestehen, trotz alles Elendes unserer äußern Politik.

Beiden deutschen Bekenntnissen aber muß man gerecht werden, indem man sie von dem Standpunkt ihres eigenen volksthümlich gewordenen Kirchenlebens betrachtet. Schon lange vor der Reformation war der deutsche Süden weit tiefer in das unmittelbare Interesse Roms verflochten als der Norden. Schon die Abgeschlossenheit des niederdeutschen Bauernvolkes, welche im Mittelalter noch vielfach auf altgermanische Urzustände zurückwies, während Oberdeutschland schon bis in die entlegensten Winkel der Civilisation geöffnet war, wirkte dazu mit. Als Denkmal dessen haben sich in vielen sächsischen und friesischen Strichen des Nordseelandes bis auf unsere Tage die uralt deutschen Taufnamen beim Landvolk erhalten, während in Oberdeutschland schon vor dem Ausgange des Mittelalters die deutschen Namen fast allgemein durch jene der gefeiertsten römischen Kirchenheiligen verdrängt wurden. Und während in dem katholischen Oberdeutschland die neutestamentlichen und lateinischen Taufnamen des späteren Mittelalters, in Niederdeutschland die altdeutschen Taufnamen charakteristisch blieben, hält das mitteldeutsche Volk mit Vorliebe an den im 16. und 17. Jahrhundert gangbaren Taufnamen des gemischtesten Ursprunges fest.

Nicht nur im Bewahren des überlieferten protestantischen Kirchenthums, sondern gleichzeitig auch in den Versuchen zur Auflösung desselben bekundete der Norden in unsern Tagen eine weit größere Thatkraft als Mitteldeutschland. Wir stoßen hier wiederum auf den Gegensatz von Stadt und Land. Während die Bauern altgläubig blieben, befestigte sich in den größeren norddeutschen Städten der vulgäre wie der speculative Rationalismus zusammt dem Freikirchenthum der verschiedensten Form. Von Preußen ging die Protestantische Union aus, und in Preußen widerstrebt man derselben heute noch am heftigsten. In Mitteldeutschland hatte man nicht sonderlichen Werbens für dieselbe bedurft, nahm sie aber willig hin und vergaß im Volke auffallend rasch die alten Unterschiede. So ward die hegelische Philosophie in Berlin und Königsberg zu ihren äußersten praktischen Folgerungen geführt, und während der Deutschkatholicismus in Südwesten seine populärsten, aber auch rasch wieder verschollenen Triumphe feierte, fand er in den norddeutschen Städten seine zähesten grundsätzlichen Anhänger. Die Gegensätze einer instinktartig ihrer Sitte folgenden Landbevölkerung und gleich daneben einer städtischen, deren »gebildete« Schichten vielfach in der äußersten theoretischen Schulmeisterei über Gott und die Welt befangen sind, bestehen überhaupt nirgends unvermittelter neben einander als in Norddeutschland.

Vor einigen Jahren wanderten norddeutsche Literaten nach Australien aus, um dort durch Gründung einer Zeitung deutsche Cultur zu verbreiten. Das Unternehmen war, soweit uns die Nummern dieses merkwürdigen Blattes, »der Südaustralischen Zeitung,« zu Gesicht gekommen sind, ein ganz ehrenwerthes, mit Anstand und Mäßigung durchgeführt. Allein die Schulpolitik, der Gedanke, durch die Paragraphenlogik des Katheders die Leute über Staat und Kirche belehren zu können, war den deutschen Journalisten wie ihr Schatten aus dem alten Europa nachgefolgt. Bewundern muß man dieses zähe Beharren in der eigenen Art, welches nicht einmal in Australien den angeborenen deutschen Schulmeister verläugnen mag, in Australien, wo studirte deutsche Einwanderer um Anstellungen als Schafhirten und Buschschlächter werben und Officiere und Kaufleute froh sind, als Ackerknechte, Steinklopfer und Bullochsentreiber ein Unterkommen zu finden.

Es ist eine culturgeschichtlich merkwürdige Thatsache, daß der norddeutsche Doctrinär den Versuch des lehrbuchmäßigen Aufbaues eines neuen Staatslebens und eines neuen Kirchenthums, als uns derselbe eben erst in Deutschland beinahe bankerott gemacht hatte, wenigstens noch in den Eukalyptenwäldern Neuhollands für ausführbar erachtete!

Den vornehmsten Inhalt der neuen »Südaustralischen Zeitung« (1850) bildeten staatsphilosophische Leitartikel; die Angelegenheiten der Colonie laufen nur so nebenher. Die bloßen Überschriften dieser australischen Artikel sind an sich schon ein Epigramm. »Der Staat.« »Das Verhältniß der Kirche zum Staat.« »Politisches Bewußtseyn.« »Preußen seit dem Jahr 1848.« »Verantwortlichkeit aller in allem.« »Das Recht der Revolution.« »Betrachtungen Napoleons über den Zustand von Europa« u. s. w. Für ein Berliner Publikum würden diese Abhandlungen, die in theoretischer Begriffsentwicklung förmlich schwelgen, gar nicht übel geschrieben seyn. Wir greifen eine Probe aus dem Artikel »Der Staat.« Dort wird den australischen Siedlern wörtlich eröffnet: »Das Wesentliche ist, daß der Staat Organismus ist. Ist aber der Staat Organismus, so wird das jedem Organismus nothwendige Moment der Einheit nicht abstract vorherrschen, der Staat wird nicht asiatische Despotie, Autokratie seyn, und eben so wenig wird das Moment der Vielheit das entgegengesetzte Moment vernichten dürfen, weil sonst der Staat bald aus seinen Fugen gehen wird; er soll eben so wenig abstracte Demokratie seyn.« Wenn der deutsche Einwanderer in Australien, der nach glaubwürdiger Kunde selber schier »aus seinen Fugen geht,« weil er nicht Brod noch Arbeit findet, den langen Tag in diesem Aegypterland Ziegel gestrichen hat, dann wird es ihm, unseres Bedünkens, am Feierabend ziemlich gleichgültig seyn, ob der Staat zusammenbricht, weil das Moment der Vielheit das entgegengesetzte Moment der Einheit, oder umgekehrt, weil das Moment der Einheit das entgegengesetzte Moment der Vielheit vernichtet hat.

Der Verfasser eben jenes Artikels vom Staat zählt die Arten von Staaten auf, die bereits in der Geschichte dagewesen sind. Er nennt darunter auch die »Ideokratie.« Wie es scheint, beabsichtigte die Südaustralische Zeitung eine solche Ideokratie (freilich nicht im Sinne der Ideokratien des Orients) unter den dortigen deutschen Siedlern zu gründen.

So wenig industrielles Leben ist noch in Australien entwickelt, daß der dortige Gewerbefleiß vorwiegend nur erst in der Förderung von Rohstoffen, nämlich Metall, Getreide und Schafwolle sich darstellt. Und doch werden dort die geistigen Stoffe von dem deutschen Zeitungsschreiber schon als in's Feinste verarbeitet vorausgesetzt, wo die Naturstoffe erst noch so ganz im Groben producirt werden. Die Südaustralische Zeitung muß sich zum Druck in eine englische Officin flüchten, die nicht einmal die deutschen Schriftformen ä, ü, äu etc. in ihrem Letternkasten hat, sondern dafür mit ae, ue, aeu aushilft; die deutschen Schulformen der politischen Doctrin werden also den Australiern früher zu Gebot gestellt als die deutschen Schriftformen.

Dieser Feuereifer für die Verbreitung von philosophischen Systemen und Lehrsätzen über Kirche und Staat, der eben so gut wie der kirchliche Glaubenseifer auf die überseeische Mission geht, der auch in der Einsamkeit des Urwaldes die alten Berliner Anschauungen und Gedanken nicht von sich schütteln kann und zuletzt den Känguruhs predigen würde, wenn sich dort keine menschlichen Zuhörer mehr fänden, zeugt von einer Thatkraft der Begeisterung auf diesem Felde, die sich keineswegs in allen deutschen Gauen wiederholt.

Den norddeutschen Widersachern des alten Kirchenglaubens, welche mit ihrer praktischen Ausbeutung der großen philosophischen Resultate Hegels und seiner Schüler frischweg durch Dick und Dünn gingen, standen in dieser Beziehung die wissenschaftlich ungleich bedeutenderen Genossen in Schwaben schroff gegenüber. Was im Anfange unseres Jahrhunderts unter den mitteldeutschen Staaten Sachsen für die wissenschaftliche Ausbeutung des Rationalismus gewesen ist, das war Württemberg in den späteren Jahrzehnten für die Fortbildung der speculativen Philosophie. Das verschlossene, in sich schauende Wesen des schwäbischen Volkscharakters neigt zum Grübeln in philosophischen und religiösen Dingen, aber die ganze Natur von Land und Leuten schuf auch hier eine unendliche, die Thatkraft lähmende Zersplitterung der Persönlichkeiten. Katholiken und Protestanten aller Farben, Orthodoxe, Pietisten, Mystiker, Nationalisten und Philosophen begegnen sich hier auf kleinem Raum und in den engsten bürgerlichen und politischen Verhältnissen. Darum gewann man hier eine bewundernswerthe Vertiefung in den Einzelstudien; fast jeder Pfarrer ist hier ein gelehrter Mann oder gar ein schaffendes Talent, aber dem Volke fehlt ein bestimmter kirchlicher Gesammtcharakter.

Ein äußerst anschauliches Bild dieses in sich vertieften, aber nach Außen unpraktischen und machtlosen wissenschaftlichen und kirchlichen Kleinlebens in Württemberg hat uns vor einigen Jahren David Friedrich Strauß in seiner Lebensbeschreibung Märklins gezeichnet. Um den Gegensatz gleichartiger Bestrebungen im deutschen Südwesten und im deutschen Norden zu verdeutlichen, will ich einige Züge dieses Lebensbildes hier nachzeichnen.

Wer war Märklin? Ein Mann, dessen Lebenslauf so einfach gewesen, daß man ihn um seiner Einfachheit willen einen seltenen nennen könnte, ein innerlich tüchtiges, aber in der Wirksamkeit nach Außen über Noth sich bescheidendes Talent, in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, ein Gelehrter, der auf dem großen Markt der Wissenschaft oder des öffentlichen Lebens nie eine Rolle gespielt hat, ein württembergischer Theologe, den der Zwang der Klosterschule und des akademischen Stifts zum Philosophen gemacht – wie hundert andere seiner Landsleute – Repetent, Vicar auf dem Lande, der, im Widerstreit der Theologie mit der modernen Philosophie mit sich selbst zerfallend – wie hundert andere – die geistliche Bürde zuletzt von sich wirft und – hier glücklicher als neunundneunzig von jenen Hunderten – als Gymnasialprofessor den Frieden der Seele im Umgang mit der Jugend, im Umgang mit dem Alterthum wiederfindet. Da überrascht ihn der Tod am frühen Lebensabend.

Ein solches Lebensbild wäre an sich gar kein Gegenstand, ein Buch damit zu füllen. Aber der Märklin von Strauß ist mehr als dieser einzelne Mann, dieser »Helfer« in Calw, dieser Professor in Heilbronn. Märklin ist ein Gesammtbegriff; eine ganze Zeitrichtung, wie sie eben bei dieser bestimmten schwäbischen Volkspersönlichkeit zur Erscheinung kam, ist versinnbildet in diesem Helfer, diesem Professor. Strauß selber, indem er dessen Biographie schreibt, schreibt zugleich ein Stück Selbstbiographie. Dieser Märklin ist Strauß, nur ein klein wenig blasser im Colorit, er ist Strauß, wie dieser geworden wäre, hätte er den letzten Schritt der Konsequenz um Fingersbreite kürzer angesetzt, hätte er einen Funken Thatkraft, ein kleines Bruchtheil zäher Einseitigkeit weniger besessen.

Wir sehen einen Jüngling, zum gelehrten Beruf bestimmt, aus einer Familie hervorgehen, deren Glieder nach allen Seiten dem Beamten- und Gelehrtenstand angehören. Man preist dies als ein besonders günstiges Geschick. Mir däucht mit Unrecht. Die deutschen Schulweisen, die Männer, welche Abhandlungen über den Verdauungsproceß austheilen, um den Hunger damit zu stillen, haben gemeiniglich eben diesen socialen Stammbaum. In kleinen Staaten gibt es bloß eine besoldete Intelligenz, die wissenschaftliche Bildung ist für eine besondere Klasse der Gesellschaft verbrieft, der geschlossene Beamten- und Gelehrtenstand ist aus dem natürlichen Boden des Bürgerthums gerissen, und dadurch die Entfremdung der abstracten Bildung von dem Volksleben mit dem Amtssiegel gestempelt. Und des Pfarrers Sohn wird wieder Pfarrer, des Staatsdieners Sohn wieder Staatsdiener, seine Tochter verheirathet sich womöglich mit einem Beamten; so gewinnt diese officielle Intelligenz auch wieder ihre besonderen Gesellschaftsinteressen, sie lebt in ihrer eigenen Welt. Sie schauert zurück vor der Fülle des derb kräftigen leibhaften Volkslebens. Das blasse, grau in grau angelegte Colorit der modernen deutschen Wissenschaft rührt gewiß großentheils von der socialen Vereinsamung des sogenannten Beamten- und Gelehrtenstandes. In vielen protestantischen Familien ist der Beruf zum Pfarramte (ich sage nicht der geistliche Beruf) gleichsam erblich. Man spricht wohl gar von »geistlichem Blute.« Das bricht die Frische und Thatkraft der wissenschaftlichen Persönlichkeiten, und oft genug läuft ein solches hundertjähriges Pfarrergeschlecht in separatistisch-pietistische, oder gegentheils in höchst ungeistlich gesinnte Sprößlinge aus. Aus dem »Beamten- und Gelehrtenstand,« der die Brücke mit dem Volksleben namentlich in den Kleinstaaten hinter sich abgerissen, ist gewiß die Mehrzahl der Männer hervorgegangen, denen der Zwiespalt der modern wissenschaftlichen Ueberzeugung mit der Sitte, der Poesie, der Phantasie des Volkslebens das Herz gebrochen hat.

Zu dieser socialen Schranke tritt bei Märklin noch die Schranke der klösterlichen Theologenschule Württembergs.

Als reifer Mann kommt Märklin wieder einmal mit Strauß nach Blaubeuren, wo beide vordem die Klosterschule besucht hatten. Die Freunde steigen zu den Burgruinen des Rusenschlosses hinauf: und als hier Strauß seine Blicke über die wirklich märchenhaft originelle Felsenwelt dieses Thales schweifen läßt, da ruft er aus: »Es wäre schmählich, wenn in solcher Natur nichts aus uns geworden wäre!« Aber gerade was Strauß geworden ist, das ward er, wie er selbst bei seiner Schilderung des klösterlichen Schülerlebens in Blaubeuren erzählt, nicht durch den steten Umgang mit dieser stolzen Natur, nicht durch die freie Hingabe des wilden Knaben an dieselbe, sondern gewiß zum guten Theil durch die Absperrung von dieser Natur, durch ein verfrühtes Studirstubenleben inmitten all der Pracht und Herrlichkeit. Den Schüler, der den halben Tag in diesem Felsgeklüft hätte umher klettern, auf diesen Bergen hätte schweifen müssen, erlöste ja nur dann und wann ein beaufsichtigter Spaziergang aus der Haft der Zelle. Der Zwang und die Absperrung der ersten Erziehung ist es, was so viele bedeutende Talente des Schwabenlandes, trotz der köstlichen Natur dieser Gaue, zu wissenschaftlicher Einseitigkeit erzogen hat. Wer Blaubeuren gesehen mit der in ihrer Verödung und Verwüstung immer noch dichterisch geweihten Klosterkirche, wo Meister Sürlin's wundervolles Holzschnitzwerk an den verwaisten Chorstühlen prangt, und die prächtigen altdeutschen Bilder am Hochaltar, wer durch den verwitterten Kreuzgang gewandelt ist und den traulichen Klosterhof, der wird meinen, in diesen Mauern müßten lauter Erzromantiker, Poeten und Maler erzogen werden, nicht aber Helden der eiskalten philosophischen Kritik. Aber Druck erzeugt Gegendruck, und aus den württembergischen Stiftern gingen, bei aller Romantik des Orts, Hegel und Strauß, Zeller und Vischer und Märklin hervor. Das zeichnet uns Strauß gerade recht anschaulich, wie sein und seiner Freunde Bildungsgang von der Klosterschule bis zur Repetentenzeit ein durch und durch vereinsamtes Studienleben war. Wenn dabei Strauß in allen philosophischen Krisen sich stets eine so frische Begeisterung für die Kunst bewahrt, wenn Vischer ein so scharfes künstlerisches Auge sich gerettet hat, dann müssen wir dies lediglich dem angeborenen Genius dieser Männer gut schreiben, der trotz Blaubeuren und trotz Tübingen nach dieser Seite hin nicht zu verwüsten gewesen ist.

Die überstrenge Zucht der Schule trug, wie gesagt, unstreitig viel dazu bei, so manchen jungen württembergischen Theologen einerseits zur philosophischen Opposition gegen das Christenthum, andererseits zu pietistischem Exceß zu treiben. Aber sie schuf doch auch wieder jenen nachhaltigen, ernsten wissenschaftlichen Sinn, der vielen von den schwäbischen Jüngern Hegels durch's ganze Leben eigen geblieben ist. Diesen muß auch der Gegner ehren. Männer wie Strauß, Zeller, Märklin sind einseitige Theoretiker geworden, aber in ihrer einseitigen Theorie steckt der Ernst der Wissenschaft. Ja dieses unverdrossene Ringen nach wissenschaftlicher Erkenntniß festigt sich zu einer sittlichen Grundlage ihres Strebens. Die Wissenschaft wird zur Lebensmoral, für die Zucht der Volkssitte und der Religion tritt die Zucht der Wissenschaft ein. Aber gerade hierin liegt der Grund, daß diese Philosophen so vereinsamt blieben, daß sie das Volk nicht verstanden und von diesem nicht verstanden wurden. Nur das Mißverständniß der Resultate der Hegel'schen Religionsphilosophie konnte theilweise in's Volk übergehen, nur das Zerrbild, nicht das reine Abbild der wissenschaftlichen Errungenschaft. Das ganze Leben jener Männer war eine fortgesetzte Klosterschule, ihre Einflüsse blieben lediglich gelehrte und literarische. Treffend spricht sich darüber Moriz Carriere in seinen »Religiösen Reden und Betrachtungen« aus: »Strauß, ein scharfsinnig klarer Kopf, sah in der Religion nur einen Gegenstand der Wissenschaft, er vergaß, daß sie Leben und That ist, er verwechselte sie mit Theologie und orthodoxer Dogmatik, er gewahrte, daß der Friede, den das Hegelthum mit ihr geschlossen, nur scheinbar und übereilt war, er zerriß ihn mit kecker Hand, die Bedürfnisse des Volkes galten ihm nichts, er stieß es höhnisch oder kalt zurück, und hieß die Gemeinde der Gläubigen ihren Weg ziehen und die Wissenden sich von ihnen trennen. Wer sich aber außerhalb des Volkes stellt und gar eine Kluft zwischen sich und ihm befestigt, der wird bei allem Reichthum des Geistes bald vereinsamen und keine nachhaltige Wirksamkeit gewinnen.«

Ganz anders verfuhren jene norddeutschen Jünger Hegels, denen Strauß wiederum als ein »Reactionär« erschien und die man als eine Berliner Philosophenschule gegenüber der schwäbischen bezeichnen mag. Hier verdichtete sich die philosophische Wissenschaft zu einem subjectiven Jakobinerthum der verneinenden Philosophie. Hier ist praktische Tendenz und Thatkraft. Hier sind nicht vereinsamte Geister, die sich von einem nach den feinsten Schattirungen gesonderten Volksleben umgeben wissen, sondern Leute, die auf den Markt zu treten gewohnt sind, großstädtische Allerweltsmenschen. Der kecke Sprung von der Theorie zur That ward gewagt. Die religiöse Volkssitte wird unter die Guillotine des philosophischen Dilettantismus gebracht, dem die französischen Atheisten des 18. Jahrhunderts »gründlichere« Männer waren, als der Professor Hegel. Die Jugend ist »mit Gott brouillirt,« und sie möchte gern das ganze deutsche Voll mit Gott brouilliren. Statt gleich den Schwaben beim wissenschaftlichen Kampf stehen zu bleiben, erscheint es bequemer und »menschlicher,« beim perlenden Champagner Trinksprüche auf den Atheismus auszubringen. Der wissenschaftliche Ernst eines Strauß erscheint als ein Zopf des Professorenthums. Die bramarbasirende Gottlosigkeit ist der Fortschritt, welchen man dagegen setzt. Und wir begegnen einem norddeutschen Professor der Philosophie, der mit schlichten Bürgern im Biergarten Kegel spielt und sie dabei über die »eingebildete Spukgewalt im Himmel« aufzuklären sucht. Sie fassen ihn aber nicht. Da kommt ein schweres Gewitter heraufgezogen, und der Philosoph tritt in's Freie, ballt seine Faust gegen das schwarze Gewölk und fordert den persönlichen Gott heraus, sein Daseyn kund zu geben, seine Macht zu erweisen, falls er welche besitze, und ihn, der sie leugne, mit seinem Blitze zu zerschmettern. Und die Donner des Herrn rollten weiter, und der Herr Professor der Philosophie ward nicht zerschmettert.

Gegen diese Bramarbasie der Gottlosigkeit, wie sie aus der Schule Ruge's und Bruno Bauers hervorgegangen ist, erscheint das stille, redliche, wissenschaftliche Ringen eines Märklin im ehrenhaftesten Lichte. Wir finden hier noch altschwäbische Gründlichkeit und Tüchtigkeit, die nur darum fruchtlos sich abarbeitet, weil sie nicht erkennt, daß alle Grundfragen der Religion wie der Philosophie unlösbar sind, und daß gerade in dem Umstand, daß wir uns wohl stets der theoretischen Erkenntniß nähern, niemals aber dieselbe vollenden können, so recht der stete Fortschritt des Menschengeschlechts, die beste Gewähr einer nie erstarrenden Gesittung gegeben ist. Darum wird der weiseste Mann zugleich inwendig der demüthigste werden. Sowie die religiöse Wahrheit zu einem wissenschaftlichen Abschluß käme, würde der Mensch aufhören ein »Kämpfer,« d. h. ein Mensch zu seyn, es bliebe ihm nichts mehr übrig, als gleich einem indischen Nabelbeschauer ewig dasselbe langweilige Wort der Erkenntniß zu sprechen. Wenn einmal die absolute Philosophie gefunden wird, dann ist die rechte Zeit für den jüngsten Tag gekommen. Wir sehen in der ganzen Geschichte des Geistes, daß die wissenschaftliche Lösung der religiösen Fragen immer nur bis zu einem gewissen Punkte getrieben wird, der kein Schlußpunkt ist, und dann auf Rückwegen und Umwegen zu einem Neuen Gipfel aufsteigt, auf welchem der Wanderer immer wieder eine höhere, ungeahnte Spitze über sich erblickt.

Dies ist der Kern in dem Leben Märklins, der eigentliche Inhalt des Zwiespaltes, den Strauß in den Schicksalen der genannten Persönlichkeit darstellt, daß Märklin glaubt, zu dem Punkte gekommen zu seyn, wo der letzte Entscheid in den religiösen Fragen gefunden ist, wo wissenschaftlich ein für allemal mit denselben abgeschlossen wird. So lange Märklin noch an dem Dogma Hegels festhält, daß die Philosophie denselben materiellen Inhalt habe, wie die Religion, nur in anderer Form ausgesprochen, kann er den Bauern noch mit gutem Gewissen predigen, obgleich ihm auch damals schon eine theologische Professur, oder, wenn diese unerreichbar, »eine Nachtwächterstelle irgendwo« lieber wäre als die eines Priesters und religiösen Volkslehrers. Als ihm aber auch die Hegel'sche Auffassung zweifelhaft wird, als er glaubt, daß die Wissenschaft, über den materiellen Inhalt der Religion hinausgehend, hier das letzte Wort gesprochen habe, da kann er nicht mehr predigen. Und nun beginnt bei ihm erst recht jener innere Kampf, der eine so große Rolle in der Sittengeschichte der neuern Zeit spielt. Die Gegner drangen zu dem Geständniß, daß er nicht mehr auf kirchlichem Boden stehe, auf Niederlegung des Amtes. Die Ehrlichkeit der eigenen Ueberzeugung tritt in Widerstreit mit jedem Wort, jeder Handlung seines geistlichen Berufs. Was soll der mit sich selbst Zerfallende beginnen? »Wer mag gerne,« fragt Strauß, »von einer lieben Gewohnheit des Denkens und Fühlens, ja des Daseyns überhaupt, scheiden? Wer eine Kluft zwischen sich und seinen Mitmenschen aufreißen, über die keine Gemeinsamkeit des Vorstellens, keine Möglichkeit der gemüthlichen Einwirkung mehr hinüberführt?«

In diesem innern Kampf vereinsamt der gequälte Denker vollends. Das Volksbewußtseyn wird ihm immer fremdartiger, das öffentliche Leben gleichgültig. Die politischen Entwicklungen werden vorab vergessen über dem philosophisch-theologischen Zwiespalt. Als die politischen Gährungen nach der Juliusrevolution auch dem in sich zurückschallenden Sinne Märklins nicht mehr entgehen konnten, als er plötzlich das mächtige Regen in der Idee des Staatslebens wahrnimmt, da »kommt er sich selber oft sonderbar vor,« weil er mit den Franzosen jauchzt, mit den Polen trauert! Und er bemerkt naiv und höchst charakteristisch dazu: »Ich lasse alle eiteln politischen Kannegießereien, weil da doch alles in den Tag hineingeht und ohne philosophischen Verstand, kann mich auch dessen in Bezug auf den Stand unseres politischen Lebens selbst nicht rühmen, möchte mich aber gern von einem Hegel'schen Staatsmann ein wenig instruiren lassen."

Dieser falsche wissenschaftliche Aristokratismus des einsamen Denkers, den die kleinen politischen Thatsachen – aus denen sich übrigens die großen zusammensetzen – kalt lassen, weil sich nicht sofort ein »philosophischer Verstand« darin entdecken läßt, dieser wissenschaftliche Aristokratismus, der sich von der Berührung mit dem unmittelbaren Volksleben scheu zurückzieht, dagegen von einem »Hegel'schen Staatsmann« sich gern »ein wenig instruiren« lassen möchte, hat sich an der ganzen gebildeten Welt schwer gerächt. Denn dieser Ausspruch Märklins ist leider ein Ausspruch einer großen Schnur der wissenschaftlich Gebildeten in jener Zeit. Darum waren diese Leute so verblüfft, und wußten nicht, was beginnen, als plötzlich die rohe Masse das große politische Wort nahm.

Die Februarrevolution schob die religiöse Parteiung in den Hintergrund, das politische Parteiwesen drängte sich dafür hervor. Da traten Strauß und Märklin in die Reihen der Constitutionellen. Dies konnte auffallen. Eine Consequenz ihrer theologischen Parteistellung war es keineswegs. Der letztern entsprach unzweifelhaft auf politischem Felde die ideale Republik, eine Republik, deren Urbild die Begeisterung für Hellas und Rom so leicht in der Seele des deutschen Gelehrten wiederspiegelt, eine Republik, die dem Ideal jenes Rechtsstaates als eines Vereines freier und gleichberechtigter Bürger entspricht, welcher statt der historischen Basis des öffentlichen Lebens lediglich die Basis der theoretischen Vernunftmäßigkeit gelten läßt und statt aus der Natur und den Bedürfnissen des Volkes heraus aus dem philosophischen Bewußtseyn des einzelnen Denkers seine Organe aufbaut. Strauß selber gesteht, daß ihn der Gedanke an eine solche Republik einen Augenblick elektrisirt habe. Aber »nie dachte ich ernstlich an die Möglichkeit einer solchen Staatsform unter uns.« Und doch hat er sein ganzes Leben lang sehr ernstlich an die Möglichkeit einer Kirche desselben abstrakt philosophischen Ideales gedacht. In der Politik sah er ein, daß es noch andere zwingende Mächte neben der abstracten Staatsidee gebe, die Mächte der Volkssitte, des bürgerlichen Lebens, in Summa, jene historischen Mächte, die den Staatsmann zwingen, nach der so und nicht anders geschichtlich erwachsenen Persönlichkeit des Volkes, nach der Bildungsstufe der Masse, nach den historisch-socialen Vorbedingungen, seine Politik zu schaffen, nicht umgekehrt aus der Theorie das Volksleben zu zimmern. Der Constitutionalismus, zu dem sich Strauß bekennt, will die Vermittlung übernehmen zwischen dem historischen Volksleben und dem abstracten Staatsideal. Es beruht dieses System in den Zugeständnissen, die nach beiden Seiten gemacht werden. Die constitutionelle Lehre ist ein supranaturalistischer Rationalismus, in die Sprache der Politik übersetzt. Sie ist das staatsrechtlich geformte Bekenntniß, daß es nicht fromme, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Von dem Bewußtseyn begeistert, daß es wohl ein reineres politisches Ideal gebe, als das dieses Systems der Concession, hielt es Strauß – und wir denken in diesem Punkte ganz wie er – doch keineswegs für eine verwerfliche Heuchelei politischer »Pastoralklugheit,« den Staat als in der Geschichte erwachsen und fortwachsend zu nehmen, und nur an diesem historischen Staate nach den Forderungen des freien Gedankens weiter zu bauen. Die Kirche dagegen wollte er nicht nehmen, wie sie historisch geworden, wie sie in der Volkssitte, in der religiösen That, wie sie im gläubigen Gemüthsleben, hier zunächst des germanischen Volks, sich aufgebaut hat. Hier sollte die Theorie das Geschichtliche vertilgen, in der Politik aber sich mit ihm versöhnen.

Die radicalen Atheisten der Berliner Schule waren consequenter. Sie griffen zur Socialdemokratie. Und wie sie sich mit dem alten historischen Gott offen brouillirt hatten, so brouillirten sie sich jetzt mit der alten historischen Gesellschaft; wie sie Trinksprüche auf den Atheismus ausgebracht, so ließen sie jetzt die sociale Bestialität hochleben, die Vernichtung des Eigenthums, die Vernichtung der göttlichen Vorrechte des Genius, die Vernichtung des Persönlichen im Menschen – das war folgerecht. Ich stelle diese Parallele nicht aus, um Männern wie Strauß und Märklin einen Vorwurf damit zu machen, sondern nur um zu zeigen, wie diese selber die Consequenz ihres Princips fallen ließen angesichts der Macht der Thatsachen. In der Politik mußte man sich bequemen, Realitäten anzuerkennen, von denen sich die Philosophie nichts träumen läßt: solche Realitäten gibt es aber auch im religiösen Leben.

Wenn wir sehen wie Märklin als ein gemäßigter, besonnener, patriotischer Bürger bei den Märzstürmen in Heilbronn gegen die unvernünftige Masse nicht aufkommt, im Wahlkampf unterliegt, als Aristokrat verketzert wird, und vor einer ungewaschenen Demagogie überall das Feld räumen muß, so schleicht sich bei diesem trüben Bilde doch auch der Gedanke ein, daß dies eine gerechte Buße gewesen, die nicht ihn allein, die uns alle getroffen hat. Es ist die Buße für die Vereinsamung, in welche sich der Gebildete und vollends der Gelehrte vor dem Volksleben zurückgezogen hat, seinen Gedankenkämpfen in stolzer Abgeschlossenheit nachgehend. Das ganze Straußische Buch ist eine Schilderung dieses wissenschaftlichen Einsiedlerlebens. Der deutschkatholische Bierbrauer Hentges in Heilbronn hält eine Volksrede als Gegencandidat Märklins, und zählt darin gelegentlich unter den deutschen Kaisern aus dem Hause Habsburg auch die Hohenstaufen auf. Und sein Parteiblatt, das »Neckardampfschiff,« meldet am andern Tag, der beredte Bierbrauer habe neben edler Volksthümlichkeit in seinem Vortrag auch »tiefe geschichtliche Kenntnis,« gezeigt. Und der geschichtskundige Braumeister siegte. Diese Episode zeichnet besser als eine ganze Abhandlung die tiefe Kluft zwischen der modernen Bildung und dem Volksleben; das Bewußtseyn aber dieser Kluft bei der Unmöglichkeit, sie zu überbrücken, bildet recht eigentlich das tragische Motiv in dem Leben Märklins wie seiner wissenschaftlichen Mitstreiter.


Ich kehre nach diesem Seitengang zu der näheren Aufgabe zurück, die neuerdings wieder so bedeutend im Wachsen begriffene Entfaltung der kirchlichen Gegensätze in Deutschland zu zeichnen.

Es wurde oben aufgeführt, wie seit 1848 die streng kirchlich gesinnten Protestanten und Katholiken gemeinsam Front gemacht hatten gegen die Revolution. In diesem Einigungspunkt waren – demokratisch gesprochen – »die katholischen und protestantischen Jesuiten« brüderlich zusammengestoßen.

Aber solches augenblickliche Vergessen uralter Gegensätze konnte nur so lange Stich halten, als die eigentliche Zeit der Noth dauerte. Denn es handelt sich hier nicht bloß um theologische Unterschiede, sondern um Gegensätze, die sich durch Art und Form der Gesittung und Bildung des ganzen Volksthumes ziehen. Eine recht seltsame, unerhörte Erscheinung namentlich in Sitten und Gebräuchen nennt der gemeine Mann in Norddeutschland »katholisch,« während das mitteldeutsche Volk dergleichen Dinge häufiger »adelig« nennt, und wenn der Süddeutsche bei einer recht verzweifelten Sache nicht gerade sagen mag: darüber möchte man »des Teufels werden,« so sagt er allenfalls: darüber möchte man ja »lutherisch werden.«

Schon die äußerliche Stellung der beiden auf kurze Zeit verbündeten kirchlichen Parteien war von vornherein nicht gleichmäßig begünstigt gewesen. Die großartige Organisation des katholischen Vereinswesens fand sich beim Ausbruch der Revolution in den Grundzügen schon vorgezeichnet: die protestantischen Kirchentage und die umfassende Propaganda der innern Mission wuchsen erst aus den Wirren des Revolutionsjahres heraus. Die Katholiken hatten zuerst in Reih und Glied gestanden, sie hatten den Vorsprung einer auch in's Politische hinüberspielenden wühlenden und werbenden Regsamkeit, die dem Protestanten fremd ist, und ihr äußerlicher Erfolg war ein entschieden glänzenderer.

Als Urkunde der wiederauflebenden Gegensätze zeigten sich eine Reihe von Uebertritten von einer Kirche zur andern. Auch hier wiederholte sich das Schauspiel der Restaurationsperiode nach den Befreiungskriegen im Kleinen, als plötzlich eine Anzahl bekannter und unbekannter Leute als neueste Romantiker »von Babylon nach Jerusalem« pilgerten. Nicht bloß im politischen, auch im kirchlichen Leben ward es offenbar, daß wir in eine Zeit der »Bekehrungen« eingetreten waren.

Aus den als am meisten religiös »verfinstert« verschrieenen zwei Ländern Deutschlands, aus Tyrol und Bayern, zogen zwei Patres, Ambrosius Zobel und Roder, in den nach Franz Raveaux »reifsten« Gau, nach Baden, und wir sahen die seltsame Bekehrung, daß viele Tausende von jenen Leuten, die eben erst im Aufruhr ihre Reife kundgegeben, als Büßer vor dem Missionskreuze niedersanken!

Diese Jesuitenmissionen, die bald in's Wachsen kamen und aus den Bergen des Schwarzwaldes hinausgingen in große und kleine Städte und nicht blos in rein katholisches Land, sondern auch in gemischtes, ja in Gegenden, wo die Protestanten weit zahlreicher wohnen als die Katholiken, suchten, neben ihrer engeren kirchlich-socialen Tendenz, dem Rationalismus und Protestantismus auf seinem eigenen Boden und mit seinen eigenen Waffen zu begegnen. Sie stellten die überwiegend protestantischen Cultusformen Predigt und Choral voran, um das Volk zur Generalbeichte zu führen, und suchten in ihren dogmatisch-polemischen Vorträgen nicht selten die rationalistischen Anschauungen durch Vernunftgründe, wohl gar durch Citate aus Voltaire zu widerlegen und dem protestantischen Dogma nicht die Autorität des Papstes und der Concilien, sondern des Bibelwortes entgegenzuhalten. Die neue Erscheinung der protestantischen »Reiseprediger,« wenn sie auch vorerst noch sehr vereinzelt aufgetreten sind, versuchte ihrerseits wieder der propagandistischen Tendenz der Jesuitenmissionen die Spitze zu bieten.

Klingt es nicht wie ein Mährchen in unsern Ohren, daß jetzt die Rede wieder so stark von Kryptokalholiken geht? Aber dieses Mährchen ist Zeugniß dafür, daß das Bewußtseyn der kirchlichen Gegensätze im deutschen Volksthum wieder sehr lebendig geworden, daß man mit argwöhnischem Auge auf die Gegenüberstehenden schaut. Hat man nicht im Jahr 1851 so offen gemunkelt von dem angeblichen Kryptokatholicismus desjenigen deutschen Fürsten, dessen Haus seit Friedrichs erstem schlesischen Krieg als die königliche Burg des Protestantismus gilt, so offen, daß dieser Fürst sich veranlaßt sah, in öffentlicher Rede Notiz zu nehmen von dieser Fabel als einer boshaft ausgesonnenen? Man wollte dann weiter damals bei der ganzen neupreußischen Partei katholisirende Tendenzen entdeckt haben. Die Möglichkeit von derlei Argwohn war eine gewichtige Thatsache. Sie ließ wie in einem Traumbild die Zeitläufte wieder aufsteigen, wo ganze Länder zitterten, weil man im Thronerben einen Kryptokatholiken, andererseits einen heimlichen Lutheraner argwohnte, wo man in Sachsen die Kryptocalvinisten mit Verbannung und Kerker in's Gebet nahm und dem Kanzler Crell zum Beschlusse den Kopf abschlug.

Das waren freilich auch Zeiten, wo der katholisch-protestantische Gegensatz im deutschen Volksthum noch nicht vertuscht war, sondern in wildem Kampf sich auseinandersetzte. Gott verhüte, daß sie wiederkehren. Mit dem Abschluß des dreißigjährigen Krieges hat die Vertuschung der kirchlichen Gegensätze ihren Anfang genommen, durch zwei Jahrhunderte war sie ein Zeichen des Fortschrittes, und der Humanismus zeitigte die Frucht der religiösen Duldung und der nationalen, ja der allgemeinen menschlichen Brüderlichkeit, die uns nicht verloren seyn soll. Aber bei und mit dieser Brüderlichkeit sollen doch auch die Gegensätze, welche die Fülle des persönlichen Volkslebens bergen, bestehen und sich durchbilden können. Diese höhere Mitte zu finden, ist die Aufgabe der Gegenwart und gerade darum soll sie die Gegensätze nicht vertuschen. Es ist merkwürdig, daß mit dem Abschluß des dreißigjährigen Krieges, wo man die kirchlichen Gegensätze zu vergessen anfing, zugleich die gemischten Ehen in Deutschland allmählich eine unverfängliche Sitte wurden. Und wiederum waren dieselben gemischten Ehen der äußere Anstoß, durch welchen im Jahr 1834 die Verhüllung der confessionellen Gegensätze plötzlich auseinander riß.

Es ist noch nicht lange her, daß in den Lehrbüchern und Kathedervorträgen vieler protestantischen Theologen die herkömmlichen Rubriken der »Polemik« und »Apologetik« als ein alter Zopf mit wegwerfendem Spott zur Seite geschoben wurden. Seit der Katholik Möhler seine Symbolik geschrieben, merkten Viele erst, daß wenigstens im Dogmatischen die Polemik und Apologetik für beide Theile mehr noch als ein alter Zopf sey. Seit aber der Katholicismus neuerdings mit so ungeheurer Anstrengung auf kirchenrechtlichem Gebiet wie im Vereinswesen und der praktischen Pastoralthätigkeit Schritt um Schritt vorwärts dringt, gehen den Leuten vollends die Augen auf, wie gar zeitgemäß jene beiden verstaubten Fächer auch noch in der Praxis des kirchlichen Lebens seyen.

Die Erkenntniß, daß auch im kirchlichen Conservatismus der Weg des Lutherischen ein ganz anderer sey, als des Katholiken, bricht jetzt allerwärts als neuerwacht hervor. Sie ist das Wahrzeichen der gegenwärtigen großen kirchlichen Parteistellung.

Das protestantische Kirchenthum drängt jetzt wie das katholische zum Wiedererfassen längst entrissenen Einflusses. Aber welch ein Gegensatz kennzeichnet hier schon das beiderseitige äußere Verfahren! Welch ungeheurer Abstand z. B. zwischen den Verhandlungen und dem Beschluß des Elberfelder Kirchentags über die Stellung der Gymnasien zur Kirche und den Forderungen gleichen Zieles in den Denkschriften der oberrheinischen und bayerischen Bischöfe!

Die katholische Kirche hat zu jeder Zeit ein ganz besonderes Geschick darin bewiesen, scharfsinnige Lehrer und Advokaten des Kirchenrechts hervorzuziehen und an den rechten Ort zu stellen. In dem zweiten Viertel unsers Jahrhunderts, wo sich die protestantische Theologie vorzugsweise in der Dogmatik wieder aufringen mußte von der rationalistischen Niederlage, wo sie wider die Kritik der Evangelien und für den Gehalt der Bekenntnißschriften stritt, führte die katholische Kirche Deutschlands auf den verschiedensten Punkten gleichzeitig ihren großen Proceß über die Unbilden von 1803, über geschmälerte Dotationen, säcularisirte Besitzthümer, entwundene klerikale Rechte. Also dort Dogmatik, hier Kirchenrecht, dort Doctrin, hier thatsächliches Zugreifen.

Der große kirchenrechtliche Proceß der katholischen Kirche gegen die modernen weltlichen Herrschaften war nicht überall von thatsächlichem Erfolg begleitet, aber daß er von moralischem Erfolg für die eigene Partei begleitet war, beweist die Sprache der verschiedenen bischöflichen Denkschriften seit 1848, Aktenstücke zur Zeitgeschichte, deren historische Beweiskraft man wahrlich nicht gering anschlagen soll.

Die protestantische innere Mission kämpft in erster Reihe nicht bloß gegen Armuth und Elend, sie kämpft auch gegen die auf das Selbstbewußtseyn der Armuth gegründete Schulweisheit – den Communismus – und gegen das zur Lehre geformte Selbstbewußtseyn der Armseligkeit – den Atheismus und Nihilismus. Die katholischen Vereine dagegen kämpfen in erster Reihe gegen die realistisch-praktische Kirchenlosigkeit und – gegen die nicht minder realistisch-praktische Bureaukratie.

Es zeichnet die beiderseitigen Gegensätze, daß von den Katholiken in ähnlicher Weise eine Propaganda beim gemeinen Mann mit dem Vertrieb von bildlichen Darstellungen aus den Evangelien und der Legende versucht wird, wie von den Protestanten mit Bibeln, Erbauungsbüchlein und Tractätchen.

Man vergleiche die Thätigkeit des seit 1848 so kräftig entwickelten kirchlichen Vereinswesens beider Bekenntnisse. Das protestantische Vereinswesen geht in allerlei größern Gruppen auseinander, Kirchentag, innere Mission, Gustav-Adolfs-Verein (an dem bis jetzt nichts kriegerisch ist als der Name); ein ideelles Band verknüpft diese Gruppen, aber die gesammelte äußere Leitung fehlt. Bei den Katholiken finden wir auch Borromäus-, Pius-, Bonifacius-Vereine u. a, aber wie läuft das alles in einem und demselben Schnürchen! Auf dem protestantischen Kirchentag zu Elberfeld wär' es fast zu einem Bruch gekommen durch den Streit zwischen Nitzsch und den Jüngern Hengstenbergs über die Kirchen verfassungsfrage. Ein solcher Zwischenfall ist auf einem katholischen Vereinstage bei der eigenthümlichcn Leitung und Organisation dieser Vereine ganz undenkbar. Man will auf den katholischen Versammlungen wesentlich nicht discutiren, sondern für längst fertige Resultate neue Bekenner gewinnen und die alten neu begeistern.

Der protestantische Kirchentag ist hauptsächlich ein Congreß zur Verständigung und Selbstbelehrung derer, die in demselben sitzen; die Darsteller sind sich selber zugleich Publikum. Die Generalversammlung der katholischen Vereine ist ein wirkungsreiches Schauspiel, welches die Mitwirkenden vor allen Dingen für die Draußenstehenden aufführen.

Dem Protestantismus ist das Werbesystem der katholischen Kirche fremd. Dort zeigt sich die Macht der ringenden Selbsterkenntnis, hier die Macht der in sich fertigen That. In einem Aufsatz über die Mission in der »Deutschen Vierteljahrsschrift« (1850, Heft 4) spricht Wolfgang Menzel diesen Gegensatz in der katholischen und protestantischen Mission treffend in folgender Weise aus: »Bei den katholischen Missionen hat das verschuldete Volk vor der Kirche gebeichtet; bei dem Congreß für innere Mission stattete umgekehrt die verschuldete Kirche gleichsam eine Generalbeicht vor dem Volk ab, und deckte alle ihre Schäden auf, um Heilung zu suchen im Volk, in dessen aller Gläubigkeit, in dessen gesundem Sinn noch Kräfte schlummern, die der durch die Schule verdorbenen Kirche abhanden gekommen.« Der Protestant kann von der Ueberzeugung durchdrungen seyn, daß die kirchlichen Gegensätze nothwendige, im deutschen Volksthum begründete sind, daß erst durch diese Gegensätze der ganze inwendige Reichthum unserer Nationalität sich entfaltet. Der ächte Katholik darf diesen Gedanken nicht hegen. Er muß wünschen, daß ganz Deutschland, daß die ganze Welt katholisch werde. Extra ecclesiam nulla salus. Diese Consequenz wird gegenwärtig den Katholiken immer einleuchtender, auch in Bezug auf die Würdigung der abgelaufenen geschichtlichen Perioden unseres Nationallebens. Auch der zäheste Protestant wird sich nichts vergeben, wenn er den großartigen Einfluß der katholisch-kirchlichen Malerei auf unser gesammtes Kunst- und Geistesleben anerkennt; dem strengen Katholiken ist dagegen schon Albrecht Dürer halb und halb ein Mann des Abfalls, Lucas Cranach ist ihm gar kein Künstler mehr und den »Barden Sined« möchte er eher zu den deutschen Klassikern zählen als Lessing. Man konnte Stimmen vernehmen, welche behaupteten, die Geschichte der Musik sey nichts weiter als ein Bruchstück aus der Geschichte der katholischen Kirche, – wie wenn Händel und Bach gar nicht gelebt hätten und Gluck, Haydn und Mozart (obgleich namentlich Haydn ein sehr frommer Katholik war) in ihrer ganzen Kunstrichtung dem deutschen Hellenenthum Schillers und Goethe's nicht unendlich näher stünden, als dem katholisch-kirchlichen Kunstideal, dessen herrlichste Blüthe sich etwa in Palestrina entfaltet hat. Der deutsche Katholicismus hat bereits eine ausgesprochene katholische politische Zeitungspresse, wie sie der deutsche Protestantismus durchaus nicht besitzt. Der Verein vom h. Karl Borromäus beginnt sogar im deutschen Buchhandel eine Macht zu werden, indem er nicht bloß katholische Schriften druckt und unter seinen Mitgliedern billig verbreitet, sondern auch die von ihm empfohlenen Bücher anderer Verleger sämmtlichen Mitgliedern und Theilnehmern zu zwei Drittheilen des Ladenpreises liefert, so daß die Vereinsgenossen ihren Bücherbedarf nach und nach gar nicht mehr von den Buchhändlern zu beziehen brauchen, bei denen man freilich eher das allgemeine Handelsinteresse als das besondere katholisch-kirchliche voraussetzen darf.

So droht sogar die deutsche Literatur, welche man bisher auch in den trübsten Zeiten als das letzte einigende Band unserer Nation anzusehen gewohnt war, sich in eine durchaus geschiedene katholische und protestantische aufzulösen.

Immer bedeutsamer tritt wieder die äußere Organisation des Kirchenwesens in den Vordergrund.

Schon allein durch den gänzlichen Mangel an jenem wühlenden, werbenden und organisirenden Geiste, der sich so deutlich in dem katholischen Vereinswesen ausspricht, mußte der Deutschkatholicismus Schiffbruch leiden. Er wollte eine Kirche bauen ohne äußere Organisation, ohne Kirchenregiment und Kirchenzucht. Das ist ein Unding. Man hat gesagt, die Deutschkatholiken seyen zu arm gewesen, zu arm an Geld, und darum sey ihre Sache zu Grund gegangen. Allein Christus und die Apostel waren auch arm an Geld, viel ärmer noch als die Deutschkatholiken. Die christliche Kirche der Urzeit aber war reich, überschwänglich reich nicht nur an neuen weltbezwingenden Gedanken, sondern auch – an der Gabe der Organisation und des Regiments, und an beiden sind die Deutschkatholiken viel ärmer noch als an Geld, darum zerflattert das Leinwandzelt ihrer Kirche im Wind.

Kirchenregiment und Kirchenzucht – wie altmodisch sind uns diese jetzt wieder ganz modernen Begriffe noch vor zehn Jahren erschienen! Viele hielten dies gerade für das Beste an dem damaligen Protestantismus, daß er vom Kirchenregiment sehr wenig mehr wußte und von der Kirchenzucht gar nichts. Und das große Publikum klatschte diesen Beifall. Als dasselbe unsterbliche große Publikum den Worten des Atheners Phocion Beifall geklatscht hatte, fragte derselbe bekanntlich erschrocken seine Freunde: ob er denn eine Dummheit gesagt habe?

Eine Kirche ohne Kirchenregiment und Kirchenzucht ist gleich einem Staatsorganismus ohne Vollzugsgewalt. Die Einbildung, daß die Summe der politischen Freiheit durch eine möglichst schwache Vollzugsgewalt gesichert werde, ist seit einigen Jahren doch aus vielen Köpfen gründlich ausgetrieben worden. Die Consequenz für das kirchliche Gebiet wollen aber noch die wenigsten erkennen. Der Calvinismus mit seiner Presbyterialverfassung, als der freiesten Form im protestantischen Kreise, hat von jeher die strengste Kirchenzucht gehabt. Im Gegensatz zur Consistorialkirche wie zur römischen Hierarchie ist er republikanischen Charakters, darum bedurfte er der schärfsten Vollzugsgewalt. Wer sich als Glied eines öffentlichen Verbandes weiß, der muß diesem Verbande doch naturgemäß möglichst viel Macht und Einfluß wünschen. Es gehört zu den seltsamsten Widersprüchen, daß gegenwärtig noch immer so viele Glieder der Kirche nichts lieber sehen, als wenn diese ihre eigene Gemeinschaft möglichst wenig Macht besitzt, und beileibe keine Vollzugsgewalt! Diktirt der Staat einseitig die erneuerte Machtvollkommenheit der Kirche und stellt ihr dabei zum nöthigen Nachdruck seine Polizeidiener zur Verfügung, so wird statt der Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Kirchenzucht nur der Trotz gegen dieselbe gesteigert werden. Das ist der Grundfehler so mancher neuen Verordnung in protestantischen Landen über die Heilighaltung des Sonntags, über die kirchliche Controlirung der Kindtaufsgevattern u. s. w. Die Gemeinde muß in der Macht der Kirche ihre eigene Macht wachsen sehen, dann erst wird sie das Recht der Kirchenzucht anerkennen. Auf dieses Ziel wirken die katholischen Vereine hin, insofern sie Volksvereine sind, und der Einzelne sich in ihnen in seiner kirchlichen Bedeutsamkeit fühlen lernt. Die protestantischen Vereine sind noch viel zu ausschließlich Vereine der Geistlichkeit.

Der Protestantismus besitzt viel entschiedener das Zeug zu einer kirchlichen Repräsentativverfassung als der Katholicismus, der die Vollziehungsgewalt des Kirchenregiments vorwiegend ausgebildet hat. Darum auf beiden Seiten je die entgegengesetzte Lücke. Das moderne Vereinswesen sucht beide zu ergänzen. Die katholischen Vereine sind freilich keineswegs eine wirkliche Vertretung des Laien, aber sie geben doch den Schein einer solchen. Sie haben wenigstens die Form, wenn auch nicht Inhalt und Gewalt der Repräsentation. Aber was will man denn heutzutage mehr als diesen Schein des constitutionellen Lebens? Die Gesammtheit der katholischen Vereine sieht aus wie eine große Volkskammer – in welcher der Widerspruch geschäftsordnungsmäßig verboten ist. Wie ein Congreß der Friedensfreunde; wo keiner für den Krieg sprechen darf. Man sieht es in den katholischen Vereinen gerne, wenn Laien das Wort ergreifen, man schiebt wohl geflissentlich begeisterte Redner aus dem Gewerbstande vor. Die Volkstümlichkeit der Kirche soll sich hier in ihrem Glanze entfalten; ein kleines Bruchstück des allgemeinen Laienpriesterthums ist neben die Hierarchie gestellt.

Der Protestantismus dagegen hat seit Luthers Tagen seine Noth mit dem drohenden Uebermaße des allgemeinen Laienpriesterthums gehabt. Bei den protestantischen Vereinen sehen wir daher umgekehrt das Streben der gesunkenen Vollzugsgewalt der Kirche zu Hülfe zu kommen. Aber so lange die Geistlichen auf den Kirchentagen fast ausschließlich in den Vordergrund treten, wird der Laie hiebei allzuleicht ein bloßes geistliches Sonderinteresse argwöhnen. Das katholische Vereinswesen konnte sich in den Jahren 1848 und 1849 die äußern Formen der damaligen politischen Clubs borgen, die protestantischen Congresse hätten das nicht gekonnt, ohne die Gefahr einer demokratischen Entartung des Laienpriesterthums. Die katholischen Vereine konnten sogar auf politischem Felde ganz sorglos nebenbei ein bischen in großdeutsch-conservativer Politik agitiren. Dergleichen mußten die protestantischen Kirchentage bleiben lassen, wenn sie nicht jenen Fluch der Selbstauflösung auf sich laden wollten, der auf den politisirenden freigemeindlichen und deutschkatholischen Versammlungen gelastet hat.

Der Protestantismus wurzelt in der kirchlichen Mündigsprechung des Volks – darum erklärt sich's, daß so viele Pfarrer den großen Agitator Wichern scheel ansehen, weil er kein ordinirter Geistlicher ist. Der Katholicismus wurzelt in der priesterlichen Zucht des Volks – darum hat hier umgekehrt der Klerus den Agitator Buß, eben weil derselbe gleichfalls kein geweihter Priester, so hoch auf den Schild gehoben. Das zeigt, wie man auf beiden Seiten die Extreme fürchtet, und wohl weiß, auf welchem Punkt die Entartung zuerst hereinbrechen könnte.

Nur ein Blinder mag es gegenwärtig nicht mehr sehen, daß die schonungslose Bloßlegung der Gegensätze nicht nur in den kirchlichen Gebilden, sondern auch in den socialen und politischen mehr und mehr zum tiefsten Charakterzug der deutschen Gegenwart wird. In wenigen Jahren haben wir in der Erkenntniß der natürlichen Unterschiede der deutschen Volksgruppen erstaunliche Fortschritte gemacht.

Das Netz der Schienenwege mag hier und da die Sonderthümlichkeiten unseres Volkslebens ausgleichend überspinnen, allein im Großen und Ganzen dient es weit mehr dazu, diese Unterschiede Allen erst recht offenbar zu machen. Jetzt wo dem Berliner Wien und München, dem Rheinländer die Ostsee, dem Küstenbewohner das Binnenland bis auf eine oder zwei Tagreisen nahe gerückt ist, jetzt sieht erst ein jeder mit eigenen Augen, in welch durchgreifenden Gegensätzen seine neuen Nachbarn von ihm geschieden sind, jetzt verblassen freilich die kahlen Kategorien von Nord- und Süddeutschland u. dgl. m., an welche sich bisher die abgedroschene Phrase angeklammert hatte, aber nicht um augenblicklich dem Bewußtseyn der Einheit, sondern umgekehrt dem einer unendlich reicheren und vielgestaltigeren Mannichfaltigkeit Platz zu machen. Jetzt wird freilich aber auch der Widerspruch recht klar zwischen so vielen unserer künstlichen, zufälligen politischen Besonderungen und den natürlichen der Gesellschaft und des Volksthumes. Wie es die Aufgabe von Gegenwart und Zukunft ist, eine natürliche Gruppirung der neuen Stände festzustellen, so auch wenigstens eine natürlichere der modernen Staaten.

Auch in kirchlichen und religiösen Dingen hat die allgemeinere Bildung die confessionellen Gegensätze im Volksbewußtseyn keineswegs vollends ausgeglichen. Vielmehr ist die Breite der trennenden Kluft, die vordem fast nur der Priester und Gelehrte ermaß, jetzt allem Volk vor's Gesicht gerückt; weit eher steht hier vor der Hand eine noch größere Sonderung zu erwarten, als eine Ausebnung, und gerade der Anblick der reichen Einzelgruppen statt der in philanthropischer Trunkenheit geträumten Ausgleichung aller Unterschiede, ist es auch hier, in welchem denen, die vom Baume der Erkenntnis gegessen, die Augen aufgehen.

Das ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt. Denn, um für die Einheit reif zu werden, müssen wir erst reif werden für das Verständniß und die Würdigung unsers Sonderlebens. Hätten wir das confessionelle Sonderthum nicht, so müßten wir zusehen, daß wir es gewännen. Wohl wurzeln die Leiden unserer Nation in diesen Gegensätzen, aber mit den Leiden auch unsere eigenthümlichste Lebenskraft. Das am persönlichsten geartete Volk, und dies ist das deutsche vor allen Nationen Europa's, kann sich eine Weile zersplittern und ohnmächtig werden in solcher Zerfahrenheit, aber es birgt auch eine kaum zu erschöpfende Kraft steter Wiederverjüngung. Künstliche, willkürliche Trennung unserer Glieder (in Staat und Gesellschaft) entkräftete uns, ein neidlos fröhliches Durchbilden der natürlichen Unterschiede dagegen wird uns nach Innen und Außen persönlich, das ist in lebendiger Einheit stark machen.


 << zurück