Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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»Nellie Doktor Althoffs Braut!« rief Ilse jubelnd. »Nun wird sie keine Erzieherin, Mama!«

»Nein, nun hat sie die beste Heimat gefunden«, entgegnete Frau Macket, die zuweilen über Nellies komische Ausdrücke gelacht hatte, zuweilen aber auch eine Träne der Rührung nicht zu unterdrücken vermochte. »Sie ist dem einsamen Mädchen vom Herzen zu gönnen. Es muß ein liebes, drolliges Geschöpfchen sein; ihr Brief gibt ein sprechendes Zeugnis davon.«

Wenn Ilse auf dieses Kapitel zu reden kam, war sie unerschöpflich. Frau Anne mußte sie erneut zur Eile mahnen.

»Gleich, Mama, sofort! Ich werde mich furchtbar beeilen.«

Aber zwischen Tür und Angel wandte sie sich noch einmal um, um zu fragen, warum Doktor Althoff sich wohl gerade in Nellie verliebt haben möge. Die Antwort auf diese sonderbare Frage wartete sie indes nicht mehr ab, sondern sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

»Nellie Braut!« Ihre Gedanken konnten sich nicht davon trennen. Sie durchlebte mit der Freundin das wichtige Ereignis vom Anfang bis zum Ende und war so der Gegenwart entrückt, daß sie alles verkehrt machte. Anstatt des weißen Batistkleides zog sie ihren Morgenrock an; sie merkte es erst, als sie den Gürtel daran befestigen wollte. Eilig machte sie ihren Fehler gut. Sie war noch nicht angekleidet, als sie dem Verlangen nicht widerstehen konnte, erst noch einmal Nellies Brief zu durchfliegen. »Hast du mich lieb? Willst du mein kleines Frau sein?« Diese Stelle war zu schön, sie mußte sie noch mal lesen.

Der Ruf der Mutter, die an der verschlossenen Tür klopfte, schreckte Ilse auf und brachte sie in die Wirklichkeit zurück, »Noch nicht fertig?« schalt sie, eintretend. »O du böse Ilse, was hast du gemacht? Warum ließest du dir nicht von Sophie helfen, wenn du allein nicht fertigwerden konntest? Nur schnell, schnell! Jeder Augenblick ist kostbar.«

Unter ihren geschickten Händen stand Ilse bald fertig da. Frau Anne betrachtete sie mit zufriedenen Blicken; so reizend hatte sie ihr Kind noch nie gesehen. War das hübsche Kleid daran schuld, oder schimmerten die Augen in einem besonderen Glanz?

Kurze Zeit später kam der Wagen vom Bahnhof zurück und brachte die Gäste. Der Landrat stieg zuerst aus. Ungeniert nahm er Ilse, die mit ihrer Mutter zum Empfang bereitstand, in die Arme und küßte sie auf die Wange. Leo begrüßte die Damen mit einem Handkuß. Ilse wußte jetzt, wie sie sich in einem so kritischen Fall benehmen mußte; sie zog die Hand nicht fort, Mama tat es auch nicht.

Die Eltern führten Gontraus hinauf in die bereitstehenden Gästezimmer, Leo blieb noch zögernd auf der Veranda stehen. Er trat zu Ilse, die in einiger Entfernung von ihm stand. Sie lehnte an einem Pfeiler und zupfte sehr eifrig an einer Weinranke. Sein Blick ruhte auf dem reizenden Mädchen, das ihm nach den wenigen Wochen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, größer und schöner erschien. »Sie sind so still und ernst«, sagte er, »gar nicht wie in Lindenhof Wo ist Ihr fröhlicher Übermut? Drückt Sie ein Kummer?«

»Kummer? O nein!« Ilses Augen lachten ihn mit der alten Fröhlichkeit an. »Im Gegenteil, eine große, große Freude habe ich gehabt.« Und sie verkündete dem Assessor Nellies Verlobung.

Sie wunderte sich, daß er so wenig darauf zu erwidern wußte. Sein Blick hing unverwandt an ihren Lippen, und doch schien es, als wären seine Gedanken in weiter Ferne. »Ist sie sehr glücklich?« fragte er zerstreut.

»Glücklich?« wiederholte Ilse, verwundert über seine Frage. »Selig ist sie. Sie müssen nur ihren Brief lesen!«

»Lesen Sie ihn mir vor!« bat er. »Lassen Sie uns die schöne Einsamkeit benutzen! Wir sind ungestört!«

»Das geht nicht, nein, gewiß nicht!« rief Ilse beinahe ängstlich. Der Gedanke erschreckte sie: Wie kannst du ihm Nellies geheimste Empfindungen offenbaren! – Doch war es dieser Gedanke allein, der sie so seltsam beklommen machte? Oder empfand sie daneben auch Furcht, mit Leo allein zu sein?

»Auch dann nicht, wenn ich Sie sehr darum bitte?«

Sie war schon halb auf der Flucht, als ihr seine dringende Bitte Halt gebot. »Ich kann nicht, ich habe im Haus zu tun. Vielleicht später«, rief sie ihm verwirrt zu, eilte aus der Veranda durch den Speisesaal bis in die offenstehende Tür des Zimmers der Mutter.

Der junge Gontrau sah Ilse nach, bis der letzte Schimmer ihres weißen Kleides verschwunden war. Auf seinem Antlitz spiegelten sich die verschiedensten Gefühle, sie drückten Zweifel, Hoffnung und Entzücken aus.

Als Ilse hastig in das kleine Zimmer trat, atemlos und mit heißen Wangen, erschrak sie fast, als sie dort den Onkel antraf.

»Nun, mein alter Trotzkopf, wie man mir sagte, was ist dir denn begegnet?« fragte der Künstler und legte ein Buch aus der Hand.

»O nichts, nichts, gar nichts!« rief sie schnell. »Mir ist nur so heiß, und mein Herz klopft so furchtbar.«

Ehe er noch nach der Ursache ihrer Erregung fragen konnte, schnitt sie ihm das Wort ab. »Eine furchtbar interessante Neuigkeit, Onkel Kurt: Nellie ist Braut!«

Wer Nellie war, wußte er längst; Ilse hatte ihm während der Malstunden viel von der Freundin erzählt, aber wie sie aussah, wußte er noch nicht. Heute konnte sie ihm endlich ein Bild zeigen, denn das Album, das Fräulein Raimar ihr bereits bei der Abreise versprochen hatte, war angekommen. Es enthielt die Bilder der Lehrerinnen und Freundinnen.

»Also Nellies Verlobung macht dir Herzklopfen?« meinte der Onkel, ungläubig lächelnd. »So, so! Sag mal, Fischchen, sind Gontraus schon da?«

Ilse überhörte die Frage. »Hier ist Nellie«, fiel sie dem Onkel in die Rede und reichte ihm das Album. »Sag, ist sie nicht reizend?«

»Reizend? Das kann ich nicht finden«, entgegnete er gedehnt nach einigen prüfenden Kennerblicken. »Anmutig, ja; der Mund ist hübsch, Augen und Nase aber...«

»Ach, Onkel«, unterbrach ihn Ilse, »du darfst sie nicht mit so kritischen Blicken ansehen! Du kannst mir glauben, Nellie ist reizend. Das Bild ist auch schlecht, in Wirklichkeit ist sie viel hübscher.«

Der Onkel blätterte in dem Album weiter. Plötzlich fragte er erregt: »Wie heißt diese Dame hier?«

»Das ist meine liebste Lehrerin, Fräulein Güssow. Wir liebten sie alle sehr und schwärmten für sie. Du kennst sie wohl?« wandte sie sich fragend an ihn. Es fiel ihr auf, daß er das Bild so starr betrachtete.

»Ich kenne sie nicht, nein. Aber es muß mir im Leben ein Mädchen begegnet sein, das diesem Bild glich. Doch das ist lange her. Wie alt ist deine Lehrerin?«

»Sie ist nicht mehr jung, schon siebenundzwanzig Jahre alt«, entgegnete Ilse.

»Ja, da ist sie schon ein altes Mädchen«, bestätigte der Onkel. Aber nur seine Lippen scherzten, sein Auge hing ernst und wehmütig an dem Bild der Lehrerin.

Wäre Ilse nicht so jung und allzusehr mit ihrer eigenen kleinen Person beschäftigt gewesen, hätte es ihr auffallen müssen, wie andächtig und lange er das Bild betrachtete. »Du findest sie wohl hübsch?« fragte sie unbefangen.

»Wie heißt sie? Güssow?« fragte er, und jetzt überhörte er ihre Frage. »Wie ist ihr Vorname?«

»Charlotte.«

»Lotte«, nickte Onkel Kurt zustimmend, »ein schöner Name.« Er schloß das Album und nahm sein Buch wieder zur Hand. Ilses Anwesenheit schien er vergessen zu haben.

Sie kannte ihn als Sonderling, darum fiel ihr sein Betragen nicht auf. »Komm mit hinaus auf die Veranda, Onkel!« bat sie. »Gontraus sind gekommen.« Diese letzten Worte setzte sie mit abgewandtem Gesicht hinzu.

»Ja, ja, bald«, entgegnete er zerstreut und ließ sich nicht stören. »Ich folge dir gleich.«

Zögernd und auf den Fußspitzen durchschritt Ilse den Speisesaal. Mehrmals blieb sie stehen und lauschte. Alles war still. Als sie die geöffnete Tür erreichte, bog sie den Kopf vor und spähte nach beiden Seiten; die Veranda lag verlassen da, und so wagte sie sich hinaus. Der Frühstückstisch stand bereit, sie machte sich daran zu schaffen, horchte dann wieder, ob die Eltern noch nicht kämen. Sie blieben recht lange. Wo sie nur verweilten? Wenn Ilse gewußt hätte, daß sie mit dem Landrat und seiner Frau oben im Wohnzimmer waren, wo sie durchaus erst dem kleinen Bruder einen Besuch abstatten wollten, wie würde sie zu ihnen geeilt sein!

Endlich vernahm sie Schritte. War das der Onkel? Es war nicht sein Schritt, auch würde er nicht durch den Hausflur und von außen herum auf die Veranda gekommen sein. Vorsichtig lugte sie durch das Blätterwerk und erkannte zu ihrem Schrecken Leo. Das Blut schoß ihr in die Wangen, und der Atem stockte ihr in der Brust. Unmöglich konnte sie ihm jetzt gegenüberstehen. Sie würde nicht imstande sein, ein Wort hervorzubringen, und wenn sie so stumm und dumm vor ihm stand, was sollte er von ihr denken? Flucht, das war das einzige, was sie aus dieser peinlichen Lage befreien konnte.

Aber es war zu spät, er hatte sie gesehen, und gerade, als sie ihren eiligen Rückzug nahm und glaubte, an der Tür des Salons bereits in Sicherheit zu sein, holte er sie ein. »Jetzt müssen Sie bleiben, gnädiges Fräulein«, sagte er scherzend, »ich lasse Sie nicht fort! Sie haben mich auf später vertröstet, und jetzt ist es später, und Sie werden sich allergnädigst herablassen, mir Miß Nellies Brief vorzulesen. Eine Frau – ein Wort!«

Nun war Ilse gefangen.

Ihre Befangenheit entging ihm nicht, aber er brachte sie taktvoll mit einem leichten Scherz darüber hinweg. Er bot ihr den Arm und führte sie zu einer Ecke der Veranda, in der ein kleiner eiserner Tisch und zwei Stühle standen. Die Oktobersonne stahl sich durch das blutrote Weinlaub und neckte das junge Mädchen. Gerade in die Augen blitzte sie ihm ihre Strahlen, so daß sie die Lider schließen mußte.

»Die Sonne blendet«, bemerkte Ilse und war froh, ein gleichgültiges Wort gefunden zu haben. »Es ist auch so warm hier«, fuhr sie fort und erhob sich.

»Die böse Sonne! Wir wollen ihr aus dem Weg gehen.« Leo führte das junge Mädchen auf die entgegengesetzte Seite.

Hier war es schattig und kühl, und Ilse fand keinen Grund mehr, sich zu erheben. Sie gewann auch langsam ihre Sicherheit wieder, und als er noch einmal an den Brief erinnerte, fand sie sogar den früheren scherzhaften Ton. »Sie sind ein Quälgeist«, sagte sie. »Was kann es Sie interessieren, wie und was Nellie mir schreibt! Sie wollen nur darüber spotten, und das dürfen Sie nicht.«

»Wie können Sie mich so böse verdächtigen!« wehrte er ab. »Sie haben mir Ihre Freundin so liebenswürdig geschildert, daß mein Wunsch ganz natürlich ist.«

Ilse sah ihn ungläubig an, doch da sie keinen spöttelnden Zug um seinen Mund entdeckte, faßte sie Vertrauen und zog den Brief aus der Tasche.

»Nun?« fragte Leo.

»Immer Geduld, Herr Assessor! Erst muß ich die Stellen aussuchen, die Sie hören dürfen; der ganze Inhalt ist nicht für Ihre Ohren bestimmt.«

»Das wäre grausam«, warf Leo ein. »Das ist gerade so, als hielten Sie einem Kind ein Stückchen Zucker hin, um ihm zu sagen: ›Leck dran!‹ Den Zucker aber stecken Sie selbst in den Mund.«

Ilse lachte lustig über seinen Vergleich, er brachte sie in die alte fröhliche Laune zurück. »Nun hören Sie zu! Aber nicht spotten!« fügte sie, mit dem Finger drohend, hinzu.

Dicht nebeneinander saßen sie nun beide, sie lesend und er aufmerksam ihren Worten lauschend. Er stützte den Arm auf den Tisch und sah auf Ilse herab, die den Kopf vornübergebeugt hielt. Plötzlich hielt sie inne.

»Lesen Sie weiter, bitte! Warum hören Sie auf? Denken Sie an das Stück Zucker!«

Sie schwieg und überlegte. Warum wollte sie ihm eigentlich das Schönste in dem ganzen Brief verschweigen? Nellie erzählte ihre Verlobung so drollig und gemütvoll; ihre ganze Persönlichkeit sprach sich in diesen Zeilen aus.

Als er sie noch einmal so dringend bat, fortzufahren, tat sie es erst etwas zögernd, dann aber las sie fließend, ohne nur einmal zu stocken, zu Ende.

Warum saß er so stumm? Sein Schweigen mußte sie verletzen. Sie hatte erwartet, daß er sein Entzücken laut äußern würde. Nun sagte er gar nichts. Fast vorwurfsvoll sah sie ihn an.

»Ihre Freundin besitzt ein warmes, tiefes Empfinden«, bemerkte Leo endlich, aber es kam gezwungen heraus. Er fühlte das selbst und brach ab. »Fräulein Ilse«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »was würden Sie antworten, wenn – wenn Sie jemand fragen würde: Haben Sie mich lieb?«

Ilse war so verwirrt, so erschrocken bei dieser Frage, die sie wie ein Blitz aus blauem Himmel traf. Hastig erhob sie sich. »Nein, würde ich sagen!« rief sie. »Ich habe niemand lieb, niemand!« wiederholte sie, als ob sie noch einen Trumpf darauf setzen wollte.

Hätte der Brausekopf nur einen Blick auf den Assessor geworfen, wie schnell würde sie ihn verstanden haben!

»Ilse«, sagte er zärtlich und ergriff ihre Hand, »Wenn ich es wäre, der Sie fragte: Haben Sie mich lieb, wollen Sie meine kleine Frau sein? Würden Sie auch dann so sprechen?«

Hastig entzog sie ihm ihre Hand.

»Hast du mich lieb, Ilse?« Leos Stimme traf ihr Herz, ein Ja aber brachte sie nicht über die Lippen. Ihr spröder Sinn ließ es nicht zu, oder regte sich noch einmal der alte Trotz in ihr? »Nein, niemals!« sagte sie schnell und wandte sich heftig ab.

»Nein, niemals?« wiederholte er und sah sie schmerzlich an. »O Ilse, nehmen Sie das Wort zurück! Ich war zu schnell mit meiner Frage, nicht wahr? Ich habe Sie erschreckt. – Nicht jetzt geben Sie mir Antwort, erst wenn Sie ruhiger sein werden, dann.«

Ilse stand noch immer von ihm abgewandt, in ihr kämpften die widerstreitendsten Gefühle. Ihr Herz zog sie zu ihm hin, aber sie konnte die Brücke nicht finden, die über den breiten Strom führte, der sie noch von ihm trennte. Das war es plötzlich, als stiege Luzies Bild vor ihr auf, als vernähme sie eine Stimme, die ihr warnend zurief: Willst du ihn verlieren? Denk an mein Geschick!

»Leo«, sagte sie schüchtern und trat ihm einen Schritt näher, aber erschreckt über ihre Kühnheit blieb sie stehen.

Sofort sprang er auf, und seine Augen leuchteten »Nun bist du meine Ilse!« rief er aus und zog sie an sein Herz. Doch als er den ersten Kuß auf ihre Lippen drücken wollte, da wendete sie den Kopf beiseite, und die spröde widerspenstige Ilse meldete sich noch einmal.

»Küssen ist nicht erlaubt«, erklärte sie mit aller Entschiedenheit. »Wie könnte ich mich von einem fremden Mann küssen lassen!«

»Aber die Hand«, bat er lachend, »die Hand darf ich küssen?«

Das wurde ihm gnädigst bewilligt.

Er hielt sie noch im Arm, als die beiden Elternpaare auf der Veranda erschienen. Alle erfaßten sofort, was hier geschehen war, nur der Oberamtmann stand wie versteinert. Der Landrat und seine Gattin waren die ersten, die das Brautpaar begrüßten, beglückt drückten sie Ilse als ihr Töchterchen an ihr Herz. Herr Macket rührte sich noch nicht vom Fleck.

Frau Anne trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

»Siehst du, Richard, aus dem Kind ist ein Mädchen geworden, glaubst du es nun?« fragte sie.

»Ilse, meine kleine Ilse!« brachte er endlich mühsam hervor. »Ist es wahr? Willst du mich verlassen?«

Da flog sie an seinen Hals und küßte ihn stürmisch. Dabei rief sie unter Weinen und Lachen: »Mein einziger Herzenspapa, ich habe Leo ja so lieb!«

Während alle Gäste fröhlich bei der Tafel saßen, ließ sich Onkel Kurt von Johann still und ohne Aufsehen zum Bahnhof fahren.

Frau Macket fiel seine Flucht nicht weiter auf; sie kannte ihren Bruder als einen unsteten Gast, der, wie es ihm einfiel, kam und auch wieder verschwand.

Drei Wochen vergingen, ohne daß das geringste Lebenszeichen von ihm eintraf. Da endlich kam ein Brief aus München von ihm an. Sein Inhalt versetzte alle auf Moosdorf in sprachloses Erstaunen. Ilse aber kam darüber außer Rand und Band. Sie klatschte in die Hände, tanzte im Zimmer umher und rief jubelnd: »Ich bin die Ursache ihres Glückes, durch mich haben sie sich gefunden. Was wird Leo dazu sagen! Wie freue ich mich!«

Der Brief lautete nämlich:

»Wir sind auf der Hochzeitsreise. Lotte Güssow und ich wollen den Winter in Italien zubringen. Ihr wundert Euch? Es ist aber dabei nichts zu verwundern. Lotte und ich waren schon uralte Brautleute, wir haben nur niemals davon gesprochen. Im Frühjahr kehren wir zurück, ich werde Euch dann meine junge Frau vorstellen. Dem Fischchen besonderen Gruß – sie weiß schon, warum. Soll übrigens fleißig weitermalen, wenn der Brautstand ihr die Zeit dazu läßt.«

»Nun bin ich Deine Tante, mein Liebling. Wer hätte das gedacht!« schrieb seine Frau, ehemals Fräulein Güssow, unter den Brief. »Wie gern hätte ich Dir längst die ganze seltsame Geschichte, und wie alles gekommen ist, mitgeteilt! Aber ich durfte es nicht. Onkel Kurt wollte erst nach unserer Verheiratung die Erlaubnis dazu geben. Auch heute kann ich Dir nur wenige Zeilen schreiben, mein Mann steht hinter mir und wünscht, daß ich aufhöre. Denkst Du noch an Luzies Geschichte! Jene Luzie hieß Lotte und war ich selbst. Und der Maler? Nun, Du errätst schon, wer er war, ohne daß ich ihn nenne. Wenn wir zurückkehren, bist Du am Ende auch eine junge Frau. Wie habe ich mich gefreut über Dein Glück, mein Herz! Der Himmel erhalte es Dir!«


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