Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Die acht Wochen oder, wie Nellie sagte, vierundfünfzig Tage waren vorübergegangen. Der erste September brach an. Nellie konnte vor Kummer die ganze Nacht nicht schlafen; der Abschied von der geliebten Freundin raubte ihr die Ruhe. Auch Ilse war es gleich ergangen, und es war rührend, wie beide Mädchen bemüht waren, ihre Tränen voreinander zu verbergen.

Als der Morgen anbrach, duldete es Nellie nicht mehr im Bett. Sie stand auf, warf ihren Morgenrock über und schlich sich an Ilses Lager. »Wachst du?« fragte sie, als die Freundin sie mit offenen Augen ansah. »Das ist schön; nun können wir noch eine ganze Stunde plaudern. Es hat eben fünf geschlagen.« Sie setzte sich auf Ilses Bettrand und ergriff ihre beiden Hände. Als sie aufblickte und Tränen in Ilses Augen schimmern sah, da war es aus mit ihrer gekünstelten Haltung. »O Ilse, wie einsam wird es sein, wenn dein Bett leer ist oder wenn ein anderer Gesicht mir daraus ansieht! Oh, ich bin sehr, sehr traurig!«

Ilse richtete sich auf und drückte die Weinende innig an sich. »Wir sehen uns bald wieder«, sprach sie endlich mit zitternder Stimme und versuchte, Nellie zu trösten. »Du besuchst uns in Moosdorf und wirst den ganzen Winter über bei uns bleiben.«

Nellie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wird nix, ich werde nicht die Erlaubnis bekommen zu ein so lang' Besuch. Meine Zeit ist Ostern vorbei, dann heißt es: fort aus dem Institut. Ich muß ein' Stell' annehmen und Kinder Unterricht geben. Aber ich weiß noch nicht viel und muß sehr fleißig lernen; Fräulein Raimar sagt es alle Tage.«

Ilse sah die Freundin traurig und bedauernd an. »Wenn du wirklich Erzieherin werden mußt, Nellie, so versprich mir fest, daß du all deine Ferien bei uns in Moosdorf zubringen willst! Meine Heimat soll auch die deinige sein.«

Mit einem Handschlag wurde das Versprechen besiegelt. »Du bist sehr gut, Ilse; ich werde nie wieder ein Mädchen lieben wie dir. Vergiß mir nie! Sieh dieser klein' silbern' Ring recht oft an und denk dabei immer an dein' Nellie, die in Einsamkeit zurückgeblieben ist!«

»Nicht einsam«, tröstete Ilse; »sie haben dich alle lieb.«

»Und wenn ich fort bin, aus der Auge, aus der Sinn, dann bin ich fremd für sie.«

»Nein, Nellie, du wirst Fräulein Raimar und Fräulein Güssow nie eine Fremde sein«, entgegnete Ilse mit voller Überzeugung. »Sie haben dich sehr lieb.«

»O ja, ich weiß; aber sie sind nicht mehr in Jugend und werden mir nie verstehn wie du. Sie haben vergessen, wie man ein dumm' Streich macht. Denkst du noch an der Apfelbaum?«

Die Erinnerung an diesen lustigen Streich trocknete Nellies Tränen und rief ein fröhliches Lächeln auf ihre Lippen. Jede Einzelheit durchlebten die beiden in Gedanken noch einmal: die Spukgeschichte, Miß Lead in ihrem Aufzug, die Stiefelspitze, die Ilse beinahe verraten hätte, ach, und die Angst, die sie ausgestanden hatten!

»Und es war doch schön!« rief Nellie aus. »Ich wünschte, daß wir noch einmal alles machen könnten.«

»Wenn du nach Moosdorf kommst«, sagte Ilse, »dann werden wir nach Herzenslust auf die Bäume klettern. Du wirst es bald lernen. Oh, es wird dir bei uns gefallen!«

So plauderte Ilse von der Heimat und schilderte der Freundin lebhaft ihre Herrlichkeiten. Auf diese Weise kamen sie für den Augenblick über den Kummer des Abschieds hinweg; die Aussicht auf ein nicht allzu fernes Wiedersehen verklärte ihren Trennungsschmerz.

Wenige Stunden später stand Ilse reisefertig vor Fräulein Raimar und sagte ihr Lebewohl. Die Vorsteherin umarmte sie herzlich und fand für die scheidende Schülerin warme Worte. »Es tut mir leid, daß dein Vater verhindert ist, dich abzuholen«, sagte sie; »nun mußt du die weite Reise allein machen. Gern hätte ich ihn noch einmal gesprochen und ihm mancherlei mitgeteilt, was ich nun schriftlich tun mußte. Wie erstaunt wird er sein, wenn er dich wiedersieht! Er wird die frühere Ilse gar nicht wiedererkennen. Weißt du noch, wie ungern du damals zu uns kamst?«

»Verzeihen Sie mir«, bat Ilse unter Tränen, »und vergessen Sie, wenn ich Sie gekränkt habe!«

»Das ist alles vergeben und vergessen. Du bist uns allen eine liebe Schülerin geworden, und wir sehen dich ungern scheiden. Ich hoffe, du schreibst mir zuweilen, liebe Ilse, und gibst mir Nachricht, ob du gute Fortschritte in der Musik und im Zeichnen machst. Ich bat deinen Vater in diesem Brief«, sie reichte Ilse ein Schreiben, »daß er dir noch in einigen Fächern Unterricht geben lassen möge; besonders rate ich, für einen tüchtigen Lehrer im Zeichnen zu sorgen, da du viel Begabung hast.«

Fräulein Güssow trat ein und meldete, daß der Wagen vor der Tür stehe. Sie und Nellie begleiteten Ilse zur Bahn.

»Leb denn wohl, mein Kind!« sagte die Vorsteherin. »Und wenn du einmal Sehnsucht nach dem Institut bekommen solltest, so kehre zu uns zurück! Jederzeit wirst du uns von Herzen willkommen sein.«

Die Freundinnen umringten die Scheidende, reichten ihr Blumensträuße und küßten sie unter Tränen.

»Vergiß uns nicht!« – »Schreib bald!« – »Ich habe dich furchtbar liebgehabt.« So und ähnlich klang es durcheinander, und ehe Ilse in den Wagen stieg, flüsterte Flora ihr zu: »Gedenke deines Schwurs!«

»Die Blumen werden dir lästig sein unterwegs, Ilse«, meinte Fräulein Güssow, die bereits mit Nellie im Wagen saß. »Laß sie zurück und nimm aus jedem Strauß nur einige Blümchen mit!«

Ilse schüttelte den Kopf und sah Fräulein Güssow bittend an. »Ich möchte sie so gern alle mitnehmen.«

»Aber wie?« Darauf gab Rosi die Antwort. Sie holte ein offenes Körbchen herbei und legte den ganzen Blumenreichtum vorsichtig hinein.

Nun zogen die Pferde an. Noch ein Lebewohl, ein letzter Abschiedsblick, ein Grüßen mit dem Tuch, und die Stätte, an der sie eine so glückliche Zeit verlebt hatte, lag hinter Ilse. Sie lehnte sich im Wagen zurück und weinte still in sich hinein.

Als die Damen beim Bahnhofsgebäude anlangten, fuhr der Zug soeben ein. Er hielt fünfzehn Minuten, und Fräulein Güssow blieb reichlich Zeit, ein Abteil für Ilse auszusuchen.

»Ach, Ilse, ich bin in Sorge um dich!« Sie ließ einen recht bekümmerten Blick über das junge Mädchen hingleiten, das in seinem schottischen Reisekleid und dem dazupassenden Hut allzu hübsch aussah. »Du hast noch niemals allein eine Reise gemacht, wenn dich doch dein Vater abgeholt hätte!«

»Das war nicht möglich«, entgegnete Ilse. »Er mußte daheim bleiben, um Mamas einzigen Bruder, der zehn Jahre in der Welt umhergereist ist, heute zu empfangen. Ich habe ihn selbst darum gebeten, als er mir schrieb, daß er trotzdem kommen wolle. Ich bin auch gar nicht ängstlich, es ist ja heller Tag. Papa hat mir auch die ganze Reisestrecke so genau aufgeschrieben, daß ich mich nicht irren kann.«

»Lies mir das noch einmal vor!« sagte Fräulein Güssow. »Ich möchte dich gern mit meinen Gedanken begleiten. – Du, Nellie, könntest indessen Ilses Handgepäck in das Abteil legen.«

Ilse nahm aus einem roten Ledertäschchen einen Brief und las: »Um elf Uhr Abfahrt von dort, um zwei Uhr Ankunft in M. Bis drei Uhr Aufenthalt daselbst. Dann Weiterfahrt, ohne umzusteigen, bis Lindenhof. Um fünf Uhr kommst du dort an, steigst aus und wirst von meinem alten Freund Landrat Gontrau und seiner Frau empfangen. Sie nehmen dich mit hinaus nach Lindenhof, wo du auf ihre dringenden Bitten übernachtest. Am nächsten Mittag fährst du weiter. Gontrau hat mir versprochen, dich sicher zur Bahn zu befördern und alles Nötige für deine Weiterreise zu besorgen. Vergiß nicht, eine Photographie von mir in die Hand zu nehmen! Gontraus, denen du unbekannt bist, werden dich daran erkennen.«

»Hast du das Bild?« fragte Fräulein Güssow, und als Ilse bejahte, bekam sie noch mancherlei gute Lehren mit auf den Weg. »Ich weiß, du bist verständig und wirst auch vorsichtig sein, aber du bist noch unerfahren und kennst die Welt und die Menschen nicht. Es gibt Leute, die gar zu gern unsere ganzen Lebensverhältnisse herauslocken möchten und sehr geschickt zu fragen verstehen; weiche ihnen soviel wie möglich aus und sei vorsichtig in deinen Äußerungen! Für alle Fälle warne ich dich aber, in irgendeiner Weise eine Aufmerksamkeit oder eine Gefälligkeit, wenn sie dir überflüssig erscheint, von einem Herrn, sei er jung oder alt, anzunehmen. Folge nur stets deiner zurückhaltenden Natur, liebes Kind, dann wirst du auch das Rechte tun!«

»Einsteigen!« rief der Schaffner und unterbrach die liebevollen Ermahnungen der jungen Lehrerin. Weinend umarmte Ilse sie, und alles, was sie an Liebe und Dankbarkeit für sie empfand, stammelte sie in zwei Worten mühsam hervor: »Dank – Dank!«

»Leb denn wohl, mein geliebtes Kind!« entgegnete die Lehrerin und schloß ihr den Mund mit einem innigen Kuß.

Der Abschied von Nellie war für Ilse der schwerste Augenblick. »Behalt mir lieb!« bat die zurückbleibende Freundin kaum hörbar. Ilse hielt sie fest umschlungen und vermochte kein Wort hervorzubringen. Dann riß sie sich los und sprang in den Wagen.

Im letzten Augenblick stieg noch eine alte Dame mit weißen Locken ein. Sie war ganz außer Atem und schien etwas ängstlich und unbeholfen zu sein. Fräulein Güssow war ihr beim Einsteigen behilflich, und als der Schaffner ihre Fahrkarte prüfte, erfuhr sie zu ihrer großen Freude, daß die Dame und Ilse die gleiche Strecke fuhren. Sie richtete die herzliche Bitte an die Dame, das junge Mädchen unter ihren Schutz zu nehmen. Mit größter Liebenswürdigkeit wurde ihr dies versprochen.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Ilse lehnte sich zum Fenster hinaus und winkte noch lange mit dem Taschentuch.

Schmerzlich bewegt blickte Fräulein Güssow dem Zug nach; es war ihr, als ob er ein Stück von ihrem Herzen mit sich nähme. Noch nie hatte sie einer Schülerin in ihrer Erziehung soviel Liebe und Zuneigung gewidmet, und noch nie hatte sie sich durch den glücklichen Erfolg so reich belohnt gefühlt. Nun ging sie fort, und wer konnte sagen, ob sie das Kind je wiedersehen werde? »Komm«, wandte sie sich der laut schluchzenden Nellie zu, »wir wollen gehen!« Sie zog Nellies Arm durch den ihren und sprach trotz ihres eigenen tiefbetrübten Herzens tröstende Worte zu dem verzweifelten Mädchen,

Die Bahn entführte Ilse im Flug dem Ort, zu dem sie einst mit so anderen Gefühlen gekommen, als sie ihn jetzt verließ. Ihre Tränen flossen ohne Unterlaß. Sie hielt das Taschentuch gegen die Augen gedrückt, und die liebliche Gegend, an der sie vorüberfuhr, erhielt keinen Abschiedsgruß von ihr.

Die Dame sah teilnehmend auf die Weinende, aber sie störte sie nicht in ihrem Schmerz. Erst als sie bemerkte daß Ilse ruhiger wurde, knüpfte sie ein Gespräch mit ihr an. »Ich verstehe Ihren Kummer wohl, liebes Kind«, sagte sie herzlich. »So ein Abschied von der Schule ist ein wichtiger Abschnitt; es tut weh, von den Freundinnen scheiden zu müssen, die man liebgewonnen hat, aber, Kind, so trostlos müssen Sie das alles nicht ansehen. Die Trennung ist nicht für das ganze Leben, die Freundinnen werden Sie in Ihrer Heimat besuchen. Es ist wohl schön bei Ihnen zu Hause?«

Das war eine Frage zur rechten Zeit. Ilses Augen lachten noch unter Tränen die alte Dame an. Sie fing an, lebhaft zu erzählen; ihre Gedanken kehrten in das Elternhaus zurück, und zum erstenmal seit längerer Zeit dachte sie mit ungetrübter Sehnsucht an daheim.

»Wie werden Sie sich freuen, die Eltern wiederzusehen!« fuhr die Dame fort, die großes Wohlgefallen an dem jungen Mädchen fand.

»O sehr, sehr!« entgegnete Ilse. »Besonders freue ich mich auf den kleinen Bruder, den ich noch gar nicht kenne. Ich habe sein Bild bei mir. Darf ich es Ihnen zeigen?« Sie nahm eine Ledertasche aus dem Gepäcknetz, öffnete sie und entnahm ihr ein Album. »Das ist er«, sagte sie und zeigte mit Stolz auf einen kleinen, dicken Buben, der im Hemdchen photographiert war.

»Ein schönes Kind«, bewunderte die Dame. »Ist das Ihre Mama, die den Kleinen auf dem Schoß hält?«

Ilse bejahte. »Hier ist mein Papa«, fuhr sie fort und holte sein Bild aus dem Saffiantäschchen. Es ergab sich von selbst, daß sie bei dieser Gelegenheit erzählte, daß ihr das Bild als Erkennungszeichen für die Familie Gontrau dienen sollte.

»Gontrau?« fragte die alte Dame. »Landrat Gontrau? Das sind ja liebe Bekannte von mir! Mein Mann, Sanitätsrat Lange, ist seit Jahren Arzt in ihrem Hause. Wir wohnen in L., das ist die nächste Station von Lindenhof. Wie wunderbar sich das trifft. Nun stecken Sie das Bild ihres Papas nur getrost ein, wir haben es nicht mehr nötig; jetzt werde ich Sie meinen Freunden zuführen. Soviel Zeit habe ich bei meinem kurzen Aufenthalt.«

Ilse war sehr froh über diesen Zufall, und im Geplauder mit der liebenswürdigen Frau Rat verging ihr die Zeit mit Windesschnelle. Sie war ganz erstaunt, als der Schaffner das Abteil öffnete und hereinrief: »Station M. Sie müssen umsteigen, meine Damen!«

»Schon?« rief Ilse und griff nach ihren Sachen.

Die Frau Rat erhob sich und suchte ihre Handgepäck zusammen. Ihre Hände zitterten in nervöser Aufregung. Eine Ledertasche, die sie von oben herabnahm, entfiel ihrer Hand. Das Schloß sprang auf, und verschiedene kleine Gegenstände kollerten auf den Boden. »Lieber Himmel«, rief sie erschrocken, »was habe ich da gemacht!« Sie wollte sich bücken und ließ dabei die Schachtel fallen.

»Bitte, lassen Sie mich das besorgen!« beruhigte sie Ilse. Schnell suchte sie alles auf und räumte die Sachen wieder ein. Die Geldbörse der Frau Rat, die sich ebenfalls unter den herausgefallenen Dingen befand, steckte Ilse in ein Seitenfach, schloß den Bügel sorgfältig und reichte der Dame die Tasche. »So«, sagte sie, »nehmen Sie das zu sich. Um Ihre Koffer kümmere ich mich.«

Ilse legte sämtliches Handgepäck zusammen auf den Sitz, stieg dann hinaus, ließ sich alles von der Dame zureichen, übergab es dem bereitstehenden Gepäckträger und half endlich der Frau Rat vorsichtig die hohen Stufen hinabsteigen.

»Danke, danke, liebes Kind!« sagte diese. »Wie umsichtig und verständig Sie alles besorgen! Ich hätte das bei Ihrer Jugend kaum erwartet.«

Ilse wunderte sich selbst darüber. Sie hob stolz den Kopf und wünschte, Fräulein Güssow hätte es gehört.

Nach einer Stunde Aufenthalt fuhren die Damen weiter. Ilse benützte die Zeit, an Fräulein Güssow eine Karte zu senden. Als sie schrieb, meldete sich der Abschiedsschmerz aufs neue. Sogar einige Tränen verwischten die frische Schrift, aber Ilse meldete, daß ihr die Reise bis jetzt sehr schnell vergangen und Frau Rat eine entzückende Dame sei.

Die alte Dame dachte ungefähr ebenso von ihrer jungen Reisegefährtin. Sie empfand für Ilse, trotz der kurzen Bekanntschaft, eine warme Zuneigung. Ilse war so ganz anders als all die anderen jungen Mädchen, natürlich und ohne jede Ziererei.

»Nun sind wir in wenigen Minuten in Lindenhof und müssen uns trennen«, sagte Frau Rat. »Es tut mir von Herzen leid, ich habe Sie sehr liebgewonnen. Versprechen Sie mir fest, mich zu besuchen, wenn der Zufall Sie in die Nähe von Lindenhof führen sollte.«

Ilse sagte das gern zu und gestand, daß auch ihr der Abschied schwer werde. Frau Rat habe so »himmlisch« verstanden, sie zu trösten.

»Da sind wir schon«, rief Frau Rat und sah zum Fenster hinaus, um sich nach Gontraus umzusehen. Sie waren nicht zu erblicken. Einige Bauersfrauen standen wartend mit ihren Tragkörben da, sie wollten mit dem Zug weiterfahren, das war alles.

Auch Ilse blickte hinaus, und als sie niemand sah, der sie erwartete, wurde ihr recht bange. »Ach«, seufzte sie, »was fange ich nun an? Ich bin ganz verlassen hier. Lassen Sie mich mit Ihnen weiterfahren, liebe Frau Rat, und nehmen Sie mich für die eine Nacht auf! Bitte, bitte!«

»Wie gern täte ich das, mein Kind! Aber das wäre gegen die Bestimmung Ihrer Eltern. Gontraus werden noch kommen, auf jeden Fall. Sie haben sich etwas verspätet. Sie können es glauben. Was würden sie sagen, wenn Fräulein Ilse davongeflogen wäre!«

Ilse seufzte und stieg aus. Nun stand sie da und sah sich hilflos nach beiden Seiten um.

»Machen Sie nicht ein so trostloses Gesicht, liebes Kind!« beruhigte sie die alte Dame. »Es wäre noch immer kein Unglück, wenn Gontraus Sie durch irgendein Mißverständnis heute nicht erwarteten. In diesem Fall bestellen Sie einen Wagen im Bahnhofsgebäude und fahren nach Lindenhof hinaus. In einer guten Stunde sind Sie dort, und daß Sie bei den lieben Menschen mit offenen Armen empfangen werden, dafür stehe ich ein.«

»Nein, nein, das tue ich nicht! Das würde ich nicht wagen«, rief Ilse ganz erschrocken. »Ich weiß gar nicht, ob man mich haben will. Ich kann doch nicht unbekannten Leuten in das Haus fallen.« Es leuchtete dabei ein wenig vom alten Trotz aus ihren Augen, und die Oberlippe kräuselte sich in verdächtiger Weise.

Frau Rat lächelte über das jugendliche Ungestüm. »Man will Sie haben, und fremde Leute sind es auch nicht, zu denen Sie kommen, kleine Ungeduldige«, sprach sie scherzhaft. »Der Landrat ist ein sehr guter Freund Ihres Vaters. Aber gehen Sie einmal schnell um das Gebäude herum! Von dort können Sie die ganze Straße überblicken, die nach dem Gut führt. Vielleicht sehen Sie den Wagen kommen.«

Ilse tat, wie ihr geraten wurde. Im Laufen öffnete sie das Täschchen und nahm Papas Bild heraus. »Es ist zwar doch vergeblich«, dachte sie, »aber ich will es für alle Fälle in die Hand nehmen.«

Kaum war sie links um das Haus verschwunden, als von der andern Seite ein schlanker junger Mann mit schnellen Schritten hervortrat. Sein Blick glitt suchend über den Bahnsteig, dann ging er dicht an dem Zug entlang und spähte forschend in jedes Abteil.

Frau Rat entdeckte ihn sofort, und ihre Züge hellten sich auf. Der Suchende war niemand anders als der Sohn des Landrats. »Leo! Leo!« rief sie ihn an, »komm schnell! Wo sind deine Eltern? Du suchst ein Fräulein? Ich bin mit ihr gefahren. Sie ist ein reizendes junges Mädchen, frisch wie eine Waldblume, sage ich dir. Dort ist sie um das Haus gegangen.«

»Was für eine Waldblume meinst du, Tante Rat?« fragte der junge Mann erstaunt und sah mit seinen offenen, klugen Augen die Rätin an, die sehr schnell und mit lebhaften Gesten auf ihn einsprach. »Von wem sprichst du?«

»Von ihr, von ihr!« rief sie zurück. »Von Ilse, die ihr erwartet«, wollte sie eigentlich sagen, aber der Name fiel ihr im Augenblick nicht ein. Doch der junge Mann schenkte ihren Worten wenig Aufmerksamkeit.

»Ich muß dich verlassen, Tante«, sagte er dann auch; »ich muß mich nach einem Kind umsehen, das ich mit diesem Zug erwarte.«

»Sie ist es, sie ist es!« rief Frau Rat lebhaft, aber er hörte ihre Worte nicht mehr, sondern ging von neuem suchend den Zug entlang.

»Haben Sie ein allein reisendes Kind gesehen, und ist es vielleicht hier ausgestiegen?« fragte er einen Schaffner.

»Nein«, antwortete der Mann und sprang in den Wagen, denn der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Als Frau Rat an Leo vorüberfuhr, rief sie ihm einige Worte zu, leider vergeblich, er verstand sie nicht.

Der junge Gontrau blieb ratlos und nachdenklich stehen. Oberamtmann Macket hatte seinen Vater gebeten, sofort bei Ilses Ankunft zu telegraphieren, ob sie glücklich angekommen sei. Was sollte er jetzt tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Telegramm abzusenden, mit den Worten: »Nicht angekommen.«

Er wollte sich eben in das Telegraphenamt begeben, als sein Blick auf einen Brief fiel, der dicht vor ihm auf der Erde lag. Er hob ihn auf und las die Aufschrift auf dem geöffneten Umschlag. Er wunderte sich nicht wenig, als er die Adresse las: »Fräulein Ilse Macket.« – Sonderbar, der Schaffner und die Leute hier haben kein Kind aussteigen sehen, und doch muß es angekommen sein! »Wissen Sie nicht, wer den Brief verloren hat?« wandte er sich an eine Frau, die bei ihrem kleinen Obststand saß.

»Gesehen habe ich es nicht«, meinte die Frau, »aber ein junges Fräulein mit Locken hat ihn aus der Tasche gezogen. Ich sah, daß sie etwas herausnahm. – Die dort war es«, unterbrach sie sich plötzlich und zeigte auf Ilse, die um das ganze Haus gegangen war und von der entgegengesetzten Seite gerade hervortrat, als der Zug abfuhr.

Die alte Reisebegleiterin grüßte noch einmal zum Fenster hinaus und machte allerhand bedeutungsvolle Zeichen, winkte nach der anderen Seite zu Leo hinüber, aber Ilse verstand nichts von allem. Höchst unglücklich stand sie da und blickte dem Zug nach, der ihre einzige Bekannte hier in die Ferne entführte.

»Nun bin ich verlassen«, sprach sie für sich. »Was soll ich nun anfangen?« Es war merkwürdig, wie schnell es mit ihrer mutigen Sicherheit vorbei war. Wie recht hatte Fräulein Güssow mit ihrer Besorgnis! Auf diesen Fall war sie gar nicht vorbereitet. Was sollte sie nun beginnen? Fast hätte sie wie ein kleines Kind zu weinen angefangen.


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