Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

InitialEin paar Tage waren vergangen, seit Jagusch versprochen war.

Die Regenfälle hatten aufgehört, die Wege waren angetrocknet und etwas froststeif geworden, das Wasser hatte sich verlaufen, so daß nur in den Ackerfurchen, hier und da in den Niederungen und auf den Mooren trübe Lachen, wie verweinte Augen, glasten ...

Allerseelen kam, grau, sonnenlos und tot, nicht einmal der Wind wühlte in den vertrockneten Stauden, und schüttelte die Bäume nicht, die schwer über die Erde gebeugt dastanden ...

Eine schmerzliche, dumpfe Stille lastete auf der Welt.

Und in Lipce tonten schon vom Morgen an die Glocken langsam und unaufhörlich/leidschwere, klagende Töne begannen über den im Nebel liegenden, leeren Feldern aufzustöhnen, und riefen mit düsterer Trauerstimme in den trüben Tag hinein/in jenen Tag, der sich blaß erhoben hatte, in Nebel verhüllt bis weit in die unerreichbaren Fernen, bis weit in jene Grenzenlosigkeit des Himmels und der Erde/dunstblau, wie eine unergründliche Wassertiefe.

Von der Morgenröte im Osten her, die noch blaß glimmte, wie gerinnendes Kupfer, begannen unter den blaugrauen Wolken hin Schwärme von Dohlen und Krähen dahinzuflitzen ...

Sie zogen hoch, hoch, daß man sie kaum mit dem Auge erkennen konnte, daß man kaum mit dem Ohr dieses wilde, klagende Gekrächze und Geschrei unterscheiden konnte, das dem Gestöhn der Herbstnächte ähnlich war.

Und die Glocken läuteten immerzu.

Der düstere Hymnus ergoß sich schwer in die tote, stumpfe Luft, sank in Klagelauten auf die Felder nieder, dröhnte trauervoll durch die Dörfer und Wälder/floß durch die ganze Welt, so daß Menschen, Felder und Dörfer nur ein einziges großes Herz zu sein schienen, in dem wehmütige Klage pochte ...

Die Vögelzüge fluteten in einem fort dahin; Staunen und Angst erweckte ihr Anblick, denn sie zogen immer tiefer und in immer größeren Schwärmen, so daß sie auf dem Himmel wie verwehte Rußflocken zu sehen waren; das dumpfe Rauschen ihrer Flügel und ihrer Rufe steigerte sich, wurde mächtiger und brauste wie ein nahender Sturm ... Sie kreisten über dem Dorf und flatterten über den Feldern, wie ein Haufen Blätter, den die Windsbraut emporgerissen hatte, sie gingen in die Wälder nieder, hängten sich an die nackten Pappeln, besetzten die Kirchenlinden, die Bäume auf dem Friedhof, die Obstgärten, die Firste der Hütten und selbst die Zäune ... bis sie, durch das ununterbrochene Dröhnen der Glocken aufgescheucht, emporflatterten und in einer schwarzen Wolke waldwärts zogen ... und das scharfe durchdringende Rauschen zog ihnen nach.

»Ein schwerer Winter kommt,« sagten die Leute.

»Sie ziehen nach den Wäldern, das gibt sicherlich bald Schnee.«

Und das Volk trat immer zahlreicher vor die Hütten, denn niemals waren noch so viel Vögel zusammen gesehen worden /lange blickte ihnen alles mit seltsamem Bangen nach, bis sie in die Wälder versanken. Man starrte, seufzte schwer, dieser oder jener machte das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn zum Schutz gegen das Böse, und sie fingen an, sich zum Kirchgang anzukleiden und hinauszutreten, denn die Glocken stöhnten dumpf ... immerzu, und es kamen schon aus den anderen Dörfern Leute des Wegs. Sie tauchten aus dem Nebel auf den Fußstegen und Feldpfaden auf.

Zehrende Trauer fiel auf alle Seelen; eine eigentümlich schmerzliche Stille umspann die Herzen/die Stille wehmütigen Sinnens und eines Gedenkens jener, die schon dort hingegangen waren, unter die überhängenden Birken und die schwarzen, gebeugten Kreuze.

»Oh, du mein lieber Jesu! Mein Jesu!« seufzten sie und hoben ihre Gesichter, fahl wie die Erde, empor, und tauchten unerschrockene Augen in das Geheimnis, und gingen ruhig hin, Opfer und Gebete für die Toten zu bringen.

Das ganze Dorf war wie ertrunken in dieser schweren, wehmutsvollen Stille/nur die ängstlichen Bittgesänge der Bettler klangen zuweilen von der Kirche herüber.

Auch auf dem Borynahof war es stiller wie gewöhnlich/ obgleich dort drinnen die Hölle auf der Lauer saß, bereit bei der ersten besten Gelegenheit hervorzubrechen...

Es mußte ja ..., denn die Kinder wußten schon alles.

Und am gestrigen Sonntag war das erste Aufbot des Alten mit Jagusch herausgekommen ...

Am Sonnabend waren sie nach der Stadt gewesen, wo Boryna ihr beim Notar sechs Morgen abgeschrieben hatte ... Er war spät und mit einem zerkratzten Gesicht nach Hause gekommen, denn da er etwas angetrunken war, wollte er schon auf dem Wagen Jagusch nehmen, und kriegte gerade so viel, wie sie mit Faust und Krallen ihm verabfolgt hatte.

Zu Hause sprach er mit keinem, obgleich ihm Antek immerzu unter die Augen kam; er legte sich gleich schlafen, so wie er stand, in den Stiefeln und im Schafpelz ... so daß am nächsten Morgen Fine gegen ihn zu murren anfing, er hätte das Federbett mit Schmutz beschmiert.

»Still, Fine, still! Das passiert schon manch einem, der sonst nie Schnaps trinkt...,« sagte er lustig und ging gleich am frühen Morgen zu Jagna, dort saß er bis in die späte Nacht, so daß sie mit dem Mittagessen und Abendbrot vergeblich auf ihn gewartet hatten.

Auch heute war er spät aufgestanden, denn es war schon lange nach Sonnenaufgang, hatte den besten Knierock übergezogen, befahl Witek, die guten Stiefel mit Schmer einzuschmieren und neue Stroheinlage dafür zurechtzuschneiden/ Jakob hatte ihn rasiert, er hatte sich seinen Gurt umgewickelt, setzte den schwarzen Hut mit der roten Kokarde auf und sah ungeduldig zum Fenster hinaus auf die Frontgalerie, wo Anna ihren Jungen lauste; er wollte ihr nicht begegnen. Schließlich hatte er es doch erspäht, daß sie auf einen Augenblick in die Stube gegangen war, und schob heimlich hinaus zwischen die Hecken./So viel nur gerade hatten sie ihn an diesem Tag zu sehen bekommen...

Fine weinte den ganzen Tag herum und irrte in der Stube hin und her wie ein gefangener Vogel! Antek aber glühte in immer schmerzlicheren und grausameren Qualen/ er aß nicht, schlief nicht, es wollte ihm nichts gelingen; betäubt und gänzlich geistesabwesend war er noch und wußte nicht, was ihm geschehen war. Auf seinem Gesicht lagerten tiefe Schatten, so daß die Augen noch größer wurden und glasig glühten, wie durch Stein gewordene Tränen/mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht laut zu schreien und zu fluchen, wanderte er in der Stube herum, und dann ums Haus. Oder er ging in den Heckenweg, auf die Dorfstraße, kehrte um, ließ sich auf die Bank in der Galerie fallen und saß, stundenlang vor sich hinbrütend und ganz ertrunken im Schmerz, der immer noch in ihm wuchs und ihn immer stärker packte.

Das Haus lag stumm, nur Weinen, Aufstöhnen und Seufzer ertönten darin, wie nach einem Begräbnis. Die Türen von den Ställen standen sperrangelweit auf, so daß das Vieh sich im Obstgarten herumtrieb und in die Fenster guckte; aber niemand war da, der es eingetrieben hätte, nur der alte Waupa versuchte, es bellend zusammenzutreiben/ aber vergeblich, er konnte es nicht bewältigen.

Im Stall reinigte Jakob ein Gewehr auf der Pritsche und Witek sah mit andächtigem Staunen zu und lugte durch das enge Fensterchen, damit man sie nicht überraschte...

»Hat das einen Knall gegeben, Jesus!/Ich dachte, daß der Gutsherr oder der Förster schießen ...«

»Hale... jawohl... ich habe lange nicht mehr geschossen, tüchtig hatte ich es geladen und 'n Donner hat es gegeben, wie aus einer Kanone...«

»Seid ihr wohl gleich am Abend hingegangen?«

»Ja, aufs Gutsfeld beim Wald bin ich hingegangen, denn da lieben die Ricken auf die Wintersaat hinauszukommen... Es war dunkel, da hab' ich denn lange gesessen ... und plötzlich beim Morgengrauen kommt ein guter Bock... Ich hab' mich so hingekauert, daß er nur fünf Schritt von mir ab war... ich habe nicht geschossen, weil er furchtbar groß war, wie ein Ochs ... da denk' ich ... mit dem wirst du nicht fertig ... Ich habe ihn durchgelassen ... und so in ein Paternoster oder in zwei... kamen die Ricken heraus ... Ich hab' mir die beste ausgesucht... und kaum daß ich anlege, da gibt es einen Knall! Tüchtig hab' ich geladen, ha, der Arm ist mir geschwollen, so hat mich der Kolben gestoßen ... aber sie ist umgefallen ... nur mit den Füßen hat sie noch gezappelt... wie sollte sie nicht auch ... 'ne halbe Handvoll Blei hat sie in die Seite gekriegt... und geblökt hat das Vieh... daß ich Angst hatte, der Förster könnte es hören; abschlachten mußt' ich sie noch...«

»Ist sie im Walde geblieben, was?« fragte der Junge, ganz erhitzt durch die Erzählung.

»Sie ist geblieben, wo sie geblieben ist, das ist nicht deine Sache, und sagst du einem wenn auch nur ein kleines Wort, dann sollst du sehen, was ich dir mache...«

»Wenn ihr verbietet, dann sag' ich auch nichts, aber Fine, der kann man doch?«

»Hale, damit es das ganze Dorf gleich zu wissen kriegt, da hast du einen Groschen, kauf' dir was ...«

»Nein, ich sag' es auch so nicht, nur nehmt mich mal mit, mein guter, goldener...«

»Frühstücken!« rief Fine vorm Haus.

»Nur still sein, dann nehm' ich dich schon mal mit, das tu' ich!«

»Und laßt ihr mich nur ein einziges Malchen einen Schuß machen, wollt ihr, hm?« flehte er.

»Na... das Pulver, denkst du, Dummer, kriegt man umsonst...«

»Geld hab' ich, Jakob, hab' ich schon, noch vom Jahrmarktstag her, da hat mir der Bauer zwei Silberlinge geschenkt, die ich für Seelengebete aufbewahrt habe, diese...«

»Schön, schön, ich will es dir lernen,« murmelte er und strich dem Burschen über den Kopf... so hatte ihm dieser durch sein Betteln das Herz gewonnen...

Einige Paternoster nach dem Frühstück waren schon beide auf dem Weg zur Kirche. Jakob humpelte rüstig voraus und Witek war etwas zurückgeblieben, weil es ihn genierte, daß er keine Stiefel hatte und barfuß gehen mußte.

»Und darf man denn barfuß in die Sakristei, was?« fragte er leise.

»Dummerjahn. Herr Jesus wird wohl auf fremde Stiefel achtgeben, anstatt auf das Gebet...«

»Das schon wohl, aber in Stiefeln schickt es sich doch besser...,« flüsterte er betrübt.

»Stiefel wirst du dir auch noch mal kaufen, das wirst du schon...«

»Die kauf' ich, Jakob, die will ich kaufen. Wenn ich nur erst groß bin und ein Knecht bin, dann fahre ich gleich nach Warschau und werde mich zu den Pferden verdingen .. und in der Stadt, da gehen sie schon alle in Stiefeln, nicht, Jakob?«

»Natürlich, natürlich!/und was weißt du denn davon?«

»Und wie noch!/Fünf Jahre war ich da, als sie mich aus Kozlow brachten, da weiß ich's noch gut ... jawohl, 'ne Kälte war es ... zu Fuß gingen wir zur Arbeit an der Maschine ... ich weiß noch ... und die vielen hellen Lichter ... ich seh' noch wie das flimmert ... ich weiß ... ein Haus neben dem andern, und solche großen, da sind die Kirchen nichts dagegen ...«

»Was du nicht zusammenschnackst!« warf ihm Jakob verächtlich zu ...

»Ich weiß gut, Jakob ... die Dächer könnt' ich doch nicht sehen ... und die vielen Kutschen ... Fenster bis zur Erde ... jawohl ... ganze Wände waren, glaub' ich, aus Glas ... und in einem fort ein solches Läuten ...«

»Natürlich, was sollte denn das sonst für Läuten sein?«

»So viele Kirchen, das ist kein Wunder!«

Sie schwiegen, denn sie waren schon auf dem Kirchhof und fingen an, sich durch die dichte Menschenschar durchzudrängen, die die Kirche ringsum belagerte, weil drinnen nicht genug Platz war.

Die Bettler hatten vom Haupteingang bis weit auf die Dorfstraße hinaus eine Gasse gebildet und jeder machte sich auf seine Art bemerkbar, schrie und betete laut und bettelte um Unterstützung, und manche strichen die Geige und stimmten Lieder mit klagender Stimme an, andere spielten Flöte oder auf der Ziehharmonika, und es war ein Lärm, daß es in den Ohren gellte ...

In der Sakristei standen die Leute so dicht gedrängt, daß um den Tisch herum, an dem der Organist Gaben für die Seelenfürbitten empfing, den Menschen fast die Rippen krachten; an einem anderen Tisch aber saß sein Sohn, der Jascho, derselbe der die höheren Schulen durchmachte.

Jakob hatte sich zuerst durchgedrängt und überreichte dem Organisten eine nicht kleine Liste von Namen. Dieser vermerkte sich alle Namen und nahm für jede Seele drei Kopeken oder auch, wenn einer kein parates Geld hatte, drei Eier.

Witek blieb etwas zurück, da man ihm tüchtig auf die bloßen Füße getreten hatte, aber er drängelte vorwärts so gut er konnte, obgleich manch einer aufmurrte, daß er sich unter die Ellenbogen drücke und den älteren Leuten den Weg vertrete; das Geld hielt er fest in der Faust/erst als sie ihn bis vor den Tisch hingeschubst hatten, gerade auf den Organisten zu, versagte ihm die Zunge ... Wie denn auch, um ihn herum nichts als Hofbauern und Hofbäuerinnen, fast das ganze Dorf, auch die Müllerin im Hut, wie eine Gutsherrin, und die Schmiedsleute und der Schulze mit der Seinen ... und alle sehen ihn an ... hören zu ... und zählen sich laut die verschiedenen Seelen vor ... und geben jeder zehn, zwanzig Namen auf ... für die ganze Familie ... für Väter, Großeltern und Urahnen ... Und er, was? ... Weiß er denn, wer seine Mutter ist? Wer der Vater? Weiß er das? ... Hat er denn einen, für den er hier was geben kann? Mein Jesu! Oh du mein Jesulein... er stand da mit weit aufgerissenem Mund und großen himmelblauen Augen, hilflos, wie ein richtiger Dummerjahn ... Das Herz hatte sich ihm im Leibe gekrümmt vor lauter Pein, so daß er kaum japste, kaum Atem holen konnte ... und so bang wurd' es ihm im Leibe, als ob er schon den letzten Hauch lassen sollte ... aber er blieb nicht so stehen, denn man hatte ihn in die Ecke unter das Weihwasserbecken zurückgeschoben. Er stützte sich mit seinem jungen Kopf gegen die Zinnschüssel, um nicht zu fallen, und die Tränen liefen wie Perlenschnüre aus seinen Augen ... wie Rosenkränze des Schmerzes ... Vergeblich versuchte er sie zurückzuhalten ... es war umsonst ... und es war in ihm ein solches Beben, daß es ihn in allen seinen jungen Knochen schüttelte, daß er weder gerade stehen noch die Zähne zusammenkriegen konnte; er hockte sich in der Ecke nieder, abseits von den Menschenblicken und weinte herzhafte Tränen eines verlassenen Waisenkindes ...

»Mütterchen! Mütterchen!« wimmerte etwas in ihm und zerriß ihm die Seele bis in alle Gründe. Und er konnte es nicht fassen und es sich nicht erklären, warum denn alle Väter haben, Mütter haben, und er allein nur Waise ist, er allein nur, er allein ...

»Jesu, mein Jesu! ...« schluchzte er und klagte, wie ein Vöglein, das von den Netzen gewürgt wird. Erst Jakob fand ihn wieder und rief ihm zu:

»Witek, hast du denn schon für Seelenfürbitten gegeben?«

»Nein,« antwortete er, riß sich plötzlich empor, trocknete die Augen und schritt entschlossen nach dem Tisch hin ... jawohl, auch er wird Namen aufgeben ... was brauchen sie zu wissen, daß er niemanden hat ... wozu ... daß er Waise ist, weiß er für sich allein genug ... und daß er ein Findelkind ist, nun dann ist er eben eins ... Selbstsicher ließ er die Augen in die Runde wandern und gab mit fester Stimme die Namen: Josepha, Marianne und Anton auf, die ihm als erste einfielen ...

Er bezahlte, nahm den Rest und betrat mit Jakob die Kirche, um ein Gebet zu sprechen und zuzuhören, wie der Priester auch die Namen seiner Seelen aufrufen würde ...

Mitten in der Kirche stand ein Katafalk mit einem Sarg darauf, der mit hell brennenden Lichtern umstellt war, der Priester las von der Kanzel herab unzählige Namens-Verzeichnisse vor ... und wenn er sich einmal unterbrach, antwortete ihm das laute Gebet, daß alle für die Seelen, die im Fegefeuer weilen, sprachen.

Witek kniete neben Jakob hin, der einen Rosenkranz unter dem Rock hervorzog und alle Aves und Credos abzubeten begann, die der Priester verordnet hatte. Auch er sprach ein und das andere Gebet, aber die eintönigen Stimmen der Betenden, die Wärme und die Erschöpfung nach dem Weinen hatten ihn müde gemacht, so daß er sich etwas gegen die Hüfte Jakobs stützte und einschlief ...

— — — — —

Nachmittags zogen zur Vesperandacht, die einmal im Jahr in der Friedhofskapelle abgehalten wurde, alle Borynaleute hinaus.

Es gingen die Anteks mit den Kindern, es gingen die Schmiedsleute, es ging Fine mit Gusche und zuletzt humpelte Jakob neben Witek/um diesen Festtag bis zur Neige auszukosten.

Der Tag schloß schon die grauen, müden Lider, erlosch und versank langsam in die erschreckenden, trüben Abgründe der Dunkelheiten; der Wind regte sich und begann stöhnend über die Felder zu ziehen, er warf sich zwischen die armseligen Bäume und blies mit dem scharfen, faulichten Atem des Herbstes.

Still war es, eine seltsam düstere Allerseelenstille; die Menge ging des Wegs im strengen Schweigen, nur das dumpfe Aufstampfen der Füße ließ sich vernehmen, nur die Bäume am Weg schaukelten unruhig, und das leise, schmerzliche Rauschen der Zweige zitterte über den Häuptern, nur das Musizieren der Bettler und die Bettelgesänge schluchzten in der Luft und zerfielen ohne Widerhall.

Vor dem Tor und selbst schon zwischen den Grabhügeln an der Friedhofsmauer standen Reihen von Fässern, wie man sie sonst für die Salzlauge gebraucht, und um sie herum machten sich Scharen von Bettlern breit.

Das Volk flutete auf der ganzen Breite des Wegs, unter den Pappelbäumen dem Friedhof zu; in der Dämmerung, die die Welt wie mit grauer Asche bestreut hatte, blinkten die Lichter der kleinen Kerzen, die einzelne bei sich hatten, und schaukelten die gelben Flämmchen der Öllampen, und jeder zog vor dem Eintritt ein Brot, einen Käse, ein Stückchen Speck oder Wurst aus seinem Bündel hervor, oder auch eine Haspel Garn, oder eine Handvoll gekämmten Flachses, einen Kranz getrockneter Pilze,... sie legten alles andächtig in die Fässer hinein. Einige davon waren für den Priester bestimmt; für den Organisten und für Ambrosius standen auch welche da, und der Rest war für die Bettler. Und wer nichts hineinlegte, der drückte etwas Geld in die ausgestreckten Hände der Armen ... und flüsterte die Namen der Verstorbenen, für die er um eine Fürbitte bat... Der Chorus von Gebeten, Gesängen, von aufgezählten Namen erhob sich immerzu mit einem klagenden Klang weit über die Friedhofspforte hinaus; die Leute gingen vorüber, gingen weiter, zerstreuten sich zwischen die Grabhügel, so daß bald Johanniswürmchen gleich Lichtlein hier und da aus der Dunkelheit, aus dem Dickicht der Bäume aus den vertrockneten Gräsern aufzuglimmen und zu flimmern begannen.

Das dumpfe, ängstlich gedämpfte Flüstern der Gebete bebte durch die Stille, die dicht über der Erde lag; manchmal riß sich ein schmerzliches Schluchzen von den Grabhügeln los, und manches Mal rankte sich zwischen den Kreuzen hindurch ein jammervolles Weheklagen und stieg auf in herzzerreißenden Windungen; oder ein jäher, kurzer, verzweiflungsvoller Schrei fuhr wie ein Blitz durch die Luft, und Kindergewimmer klang aus den dämmerigen Dickichten, wie das Zirpen verwaister Vögel im Nest.

Zuweilen senkte sich dumpfes, schweres Schweigen auf den Friedhof, so daß man nur das düstere Rauschen der Bäume hörte; die Stimmen waren verhallt und nur noch in die fernen Himmel stieg ein Echo von all dem Weinen, all den Klagen und bangen Rufen und zog hoch über die weite Welt dahin ...

Die Menschen bewegten sich nur noch lautlos zwischen den Gräbern umher, flüsterten ängstlich und schauten voll Bangen in die nachtverhüllte, unergründliche Weite ...

»Jeder muß sterben!« seufzten sie schwer mit starrer Ergebung und schleppten sich weiter, ließen sich an den Gräbern der Väter nieder, sprachen Gebete, oder saßen stumm und versunken da, taub auf die Sprache des Lebens, taub auf die Sprache des Todes, taub gegen die Stimme des Schmerzes/den Bäumen ähnlich, und wie die Bäume bebten ihre Seelen im traumhaften Gefühl der Angst...

»Mein Jesus! Barmherziger Herr, Maria!« entströmte es der Wirrnis ihrer gequälten Seelen, und fahl, wie das Antlitz der Mutter Erde, hoben sich ihre erstarrten und erschöpften Gesichter; ihre grauen Augen, die wie die Lachen waren, die aus der Dämmerung noch weißlich starren, hefteten sie auf die Kreuze, und mit Bewegungen, rote das traumbefangene Wanken der Baume, ließen sie sich auf die Knie fallen; Christus zu Füßen legten sie ihre geängsteten Herzen nieder und brachen in das heilige Weinen der Hingabe und Ergebung aus.

Jakob und Witek gingen mit den anderen herum, und als es gänzlich dunkel wurde, wandte sich Jakob nach dem im Hintergrunde liegenden alten Friedhof.

Dort zwischen den verfallenen Gräbern war es still, leer und düster/dort lagen die Vergessenen, an die alle Erinnerung längst gestorben war/wie ihre Tage, wie ihre Zeiten, und wie alles, was zu ihnen gehörte; es ließen dort nur irgendwelche Vögel ihre unheimlichen Schreie vernehmen, das Dickicht raschelte dort traurig, und hier und da ragte ein vermodertes Kreuz./Dort lagen ganze Geschlechter, ganze Dörfer, ganze Generationen hingemäht/dort betete schon niemand mehr, man weinte dort nicht und brannte keine Lämpchen ... Der Wind nur heulte da in den Ästen, riß die letzten Blätter von den Zweigen und schleuderte sie in die Nacht der endgültigen Vernichtung zu ... Dort stießen sich nur Stimmen, die keine Stimmen waren, und Schatten, die doch keine Schatten waren, gegen die nackten Bäume, wie erblindete Vögel, und schienen um Erbarmung zu winseln.

Jakob holte ein paar ersparte Brotschnitten hervor, riß sie in Brocken, kniete nieder und warf sie über die Grabhügel.

»Esse, christliche Seele, die ich dich zu dieser Abendzeit anrufe, esse, menschliche Büßerin, esse!« flüsterte er ganz hingenommen.

»Nehmen sie es denn?« fragte Witek leise mit geängsteter Stimme.

»Versteht sich! Der Priester läßt es nicht zu, sie zu füttern! ... Manch einer legt was in die Tonnen, aber die Armen haben nichts davon ... dem Pfarrer seine Schweine und den Bettlern ihre haben ihren Fraß davon ... und die büßenden Seelen leiden Hunger ...«

»Werden sie auch kommen? ...«

»Fürcht' dich nicht ... alle, die im Fegefeuer Qualen leiden ... alle. Herr Jesus läßt sie an diesem Tage die Erde betreten, damit sie die Ihren besuchen ...«

»Damit sie die Ihren besuchen!« wiederholte Witek mit einem Gruseln.

»Fürcht' dich nicht, Dummer, du, der Böse hat heute keinen Zutritt, die Fürbitten jagen ihn weg und die Gebete und Lichter ... Der Herr Jesus geht doch heute selbst durch die Welt und zählt nach, wieviel Seelen er noch hat, der liebe Hausherr, bis er sie sich alle ausfindet, alle ... Gut weiß ich noch, wie meine Mutter sagte, und auch die alten Leute sagen es aus ...«

»Der Herr Jesus geht heute in der Welt herum?« flüsterte Witek und blickte sich aufmerksam um ...

»Du wirst ihn wohl gerade sehen können ... den sehen doch nur die Heiligen, oder die, welche am meisten dulden müssen.«

»Sieh mal, da leuchtet was, das sind doch Menschen,« rief Witek angstvoll und zeigte auf eine Reihe Grabhügel, ganz schon am Friedhofszaun ...

»Da liegen die, die man im Forst erschlagen hat ... jawohl ... auch meine Herrschaft liegt da ... und meine Mutter ... jawohl ...«

Sie zwängten sich durch das Dickicht und knieten an einer Anzahl verfallener Grabhügel, die so auseinandergeweht waren, daß kaum einer von ihnen übriggeblieben war; weder Kreuze bezeichneten die Stellen noch Bäume beschatteten sie; nichts war da, nur der kahle Sand und ein paar vertrocknete Stauden von Königskerzen und darüber Stille, Vergessenheit und Tod ...

Ambrosius mit Gusche und der alte Klemb knieten an den Gräbern dieser Toten; zwei Lämplein, die man in den Sand gedrückt hatte, glimmten, der Wind kam herangefegt, ließ die Lichtlein schaukeln, riß die Worte der Gebete auseinander und trug sie davon in die schwarze Nacht...

»Das ist so ... meine Mutter liegt da ... ich entsinne mich ...« flüsterte Jakob leise, mehr vor sich hin als zu Witek, der sich neben ihm hingekauert hatte, denn ein Frösteln war ihm durch alle Glieder gefahren.

»Und man nannte sie Magdalena ... Der Vater hatte sein eigenes Land, diente aber im Gutshof als Kutscher ... fuhr mit dem Hengstgespann mit dem älteren Herrn ... und dann ist er gestorben ... den Grund und Boden haben die Oheime genommen ... und ich habe die Schweine von der Herrschaft gehütet ... Jawohl, Magdalena hat die Mutter geheißen und der Vater/Peter, und der Familienname war Socha, wie auch der meine ist. Und dann hat mich der Gutsherr zu den Pferden genommen, damit ich an Vaters Stelle mit dem Hengstgespann fahren sollte ... auf Jagden sind wir immerlos gefahren zu anderen Herrschaften ... auch ich habe nicht schlecht geschossen ... der jüngere Gutsherr hatte mir ein Gewehr gegeben ... und die Mutter, die saß nur immerzu mit der älteren Gnädigen im Herrenhof ... Ich weiß es noch gut ... und als alle gehen mußten ... haben sie mich auch genommen ... Ein ganzes Jahr war ich dabei... und habe gemacht, was mir befohlen wurde ... Gewiß habe ich nicht einen Graurock kalt gemacht ... und nicht zwei ... und der jüngere Gutsherr kriegte einen in die Kaldaunen ... die Eingeweide sind ihm rausgegangen. Ist doch mein Herr gewesen ... ein herzensguter Mann ... auf die Schultern hab' ich ihn genommen und hinausgetragen ... und dann ist er in die warmen Länder gefahren, mir aber hat er befohlen Briefe nach dem alten Herrn zu bringen ... da bin ich denn gegangen ... das ist schon gewißlich wahr, daß ich abgejagt war und herunter bis auf den Hund ... die Pfote haben sie mir durchgeschossen, heilen wollte die da nicht mehr, da ich in einem zu draußen war, immer unter freiem Himmel ... und Schnee lag bis an den Gurt hoch, verteufeltes Frostwetter dabei ... ich weiß noch ... jawohl ... Nachts hab' ich mich da angeschleppt ... ich suche herum. Jesus, Maria! Als ob mir einer mit der Runge einen über den Schädel gehauen hätte! ... Das Herrenhaus ist nicht da, die Wirtschaftsgebäude sind weg ... selbst die Zäune sind nicht übriggeblieben, alles abgebrannt bis auf den Grund ... und der alte gnädige Herr und die alte Gnädige und meine Mutter ... und die Josefa, die sie als Kammermädchen da hatten ... liegen zu Tode geschlagen im Garten! ... Jesu! Jesu! alles weiß ich noch ... jawohl ... Maria,« stöhnte er leise und erbsengroße Tränen kollerten ihm dicht hintereinander über sein Gesicht, so daß er sie nicht einmal abwischte ... Er seufzte kummervoll und sehnsüchtig vor sich hin, denn alles war lebendig vor ihm aufgewacht, neben ihm war Witek eingeschlafen, denn das Weinen hatte den armen Wicht müde gemacht ...

Es ging immer tiefer in die Nacht hinein, der Wind zerrte immer heftiger an den Bäumen, so daß die langen Strähnen der Birken über die Grabhügel fegten, und ihre weißen Stämme tauchten aus den Dunkelheiten hervor, wie in Totenlinnen gehüllt ... Die Menschen gingen auseinander ... die Lichter erloschen ... die Gesänge der Bettler verstummten ... ein feierliches Schweigen, voll seltsamer Geräusche und ergreifender Stimmen nahm Besitz vom Gräberhain ... Es war als ob der Friedhof sich mit Schatten füllte ... als ob eine Schar Gespenster sich drängte ... als ob ein Dickicht voll dämmriger Umrisse aufwuchs ... und ein Chorus leiser schluchzender Stimmen zu spinnen begann ... als ob ein Meer nie zu ergründender Zuckungen aus den Dunkelheiten hervorzuquellen begann ... durchwebt von Angstblitzen, von schütterndem Aufschluchzen ... vom Geheimnis voll Grauen und Wirrwarr, bis sich ein Krähenschwarm von der Kapelle aufwarf und schreiend nach den Feldern flügelte, da begannen mit einem Male in ganz Lipce die Hunde zu heulen, lange und trostlos bang ...

Das Dorf verhielt sich still, trotz des Festtages; die Wege waren leer, die Schenke verschlossen und nur hier und da durch die kleinen schwitzigen Scheibchen blinkten Lichtlein und flossen leise, andächtige Gesänge und laute Gebete, die für die Verstorbenen gesprochen wurden ...

Mit Angst schlich man vor die Türen der Häuser, mit Angst lauschte man auf das Rauschen der Bäume, mit Angst blickte man sich nach den Fenstern um/ob die nicht da stehen, ob die nicht erscheinen, die an diesem Tage herumirren, getrieben durch die Sehnsucht und durch Gottes Willen ... ob sie nicht an den Kreuzwegen mit Büßerstimmen wimmern ... ob sie nicht wehmütig durch die Scheiben starren ...

Und hier und da stellten die Hausmütter nach altem heiligen Brauch die Reste der Abendmahlzeit auf die Mauerbänke an den Häusern, bekreuzigten sich mit frommem Schauer und flüsterten ...

»Da nimm, labe dich, christliche Seele, die du im Fegefeuer weilest ...«

In Stille, Wehmut, Erinnerungen und Bangen floß dieser Allerseelenabend dahin ...

Drinnen in der Stube bei Anteks saß Rochus, jener Wanderer aus dem heiligen Land; er las und erzählte fromme, heilige Geschichten.

Es waren genug Menschen da, denn auch Ambrosius mit Gusche und Klemb waren gekommen, und Jakob mit Witek, und Fine mit Nastuscha waren zugegen; nur der alte Boryna war fort, er saß bis spät in der Nacht bei Jagna.

Es war eine Stille in der Stube, nur das Heimchen knarrte überm Herd, und die trockenen Scheite knallten in der Feuersglut.

Sie saßen alle auf den Bänken vor dem Herd, nur Antek blieb am Fenster. Rochus stocherte hin und wieder mit einem Stecken in den Kohlen herum und redete mit leiser Stimme:

»... Es ist nicht grauenvoll zu sterben, nein, denn wahrlich, wie jene Vögelchen, die, wenn es gegen Winter geht, nach den warmen Ländern ziehen, so ist auch die mühselige liebe Seele, die nach Jesu verlangt ...

Wie jene Bäumchen in ihrer Nacktheit, die der Herrgott zur Lenzzeit in grüne Blättlein und wohlriechende Blümelein kleidet, so ist die Menschenseele, die nach Jesus geht, um Freude, Lust, Lenz und ihr ewiges Kleid zu empfangen.

Wie jene müde Mutter Erde von der Sonne umarmt wird / so wird der Herr jede liebe Seele liebkosend umfangen, daß ihr weder Winter noch Schmerz, noch der Tod selbst etwas werden anhaben können ...

Denn seht! nur Weinen ist auf dieser Erden, nur Kummer und Leid!

Und die Bosheit mehrt sich, wie die Disteln, und wächst zu Wäldern auf!

Und alles ist eitel und vergeblich, alles ist wie dieser Moder, wie jene Bläslein, die ein Wind auf dem Wasser aufbläht, und ein zweiter zunichte macht.«

 


 << zurück weiter >>