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Fünfzehntes Kapitel

Cornelie war früh zu Bett gegangen. Es mochte noch nicht Mitternacht sein, als sie aus dem Schlaf emporfuhr, überfallen von einem jähen Schmerzensanfall, der ihr untrüglich kündete, daß ihre Stunde gekommen sei. Sie erhob sich, warf ihren Schlafrock über und rief die Alte.

Unwirsch, weil man sie geweckt hatte, murrte diese: »Das kommt noch ganz anders und vor morgen Abend wird's einmal nix mit Ihne – deshalb hätten's mich nit im Schlaf zu störe brauche. Halten's nur aus – das müssen wir Weiber alle.«

Cornelie begab sich in ihr Zimmer zurück. Schlafen konnte sie doch nicht mehr, also entzündete sie die Lampe, kleidete sich vollends an, und wenn die Wehen kamen, klammerte sie sich an die Seitenlehne des alten tabaksduftigen Kanapees und zerbiß ihr Taschentuch, um die nebenan schlummernde Toni nicht durch ein Stöhnen zu erschrecken.

Eine Weile erholte sie sich etwas, und vermochte das Hemdchen, das Jäckchen und die Windeln für das Erwartete zu richten.

Plötzlich erinnerte sie sich des Schlafzimmers in ihrem Elternhause, wo die kleinen Geschwister zur Welt gekommen waren – in all dem luxuriösen Behagen, mit dem ihr Vater die Frau, die er liebte, sorgend umgab –, und sie sah auf das alte, schmutzige Kanapee – auf die dürftige, häßliche und zweideutige Umgebung, in der ihr Kind geboren werden sollte. Da nahm sie jedes einzelne Stück der Kleidung, die sie ihm bereitet hatte, und küßte es mit heißen schmerzverzogenen Lippen, als könne sie es dadurch weihen und heiligen. Und dann kam die Angst der Verlassenheit und der Einsamkeit und riß sie nieder, daß sie den Kopf in die Kissen wühlte, daß sie wimmerte wie ein sterbendes Tier, dem auch niemand hilft auf dieser Gotteserde.

Sie hörte unten an der Haustür läuten, sie hörte, daß man die Uffenbacherin ins Dorf zu ihrem Amte rief. Die Schulzenfrau erwartete ebenfalls diese Nacht.

Cornelie hob den Kopf. War es denn möglich, daß die Alte fortging und sie so allein ließ?

Cornelie ging umher, rang die Hände und fühlte doch zugleich eine von Sekunde zu Sekunde sich steigernde Spannung, eine Begierde, sich in dieses grausame Leiden hineinzustürzen – sich ihm ganz hinzugeben, bis zur Vernichtung leiden zu dürfen ...

Zuweilen empfand sie, daß die Oktobernacht kalt war, während ihr der Schweiß von der Stirne rann, erstarrten ihre Hände. Sie hüllte sich in ihr Tuch, griff nach einem Buche – sie mußte versuchen, sich zu zerstreuen. Sie versuchte einige Seiten zu lesen – von irgendeinem Liebespaar, das sich in Florenz an der unsterblichen Kunst ästhetisch ergötzte ...

Mit solchen feinen geistreichen Unterhaltungen hatte einst auch ihre Liebe begonnen, bis das Leben brutal und gewaltig die Ästhetik zerschlug, und ihr nun die Glieder auseinanderriß, um neues Leben zu gebären ...

Ob dies der Tod war, der in ihrem armen Leibe wütete –?

Nun – so würde sie ihm widerstehen!

Sie erhob sich, sie stand in der dunklen Nacht ihm Auge in Auge gegenüber, die Hände geballt, jede Muskel gespannt – jede Kraft der Seele und des Willens hell wach – zum äußersten Kampfe gerichtet ...

Sie wollte ihr Kind nicht allein lassen! Sie wollte es küssen und an ihrem Herzen halten – sie wollte leben – leben – leben!

Und die Qualen stiegen – stiegen – stiegen – bis alles in ihr und um sie nur noch wie eine wirbelnde Hölle war.

Die Uffenbacher war zurückgekehrt, hatte alle wilden Zukunftswünsche vergessen, fragte nicht mehr nach Mittag- und Veschperbrot, stand wie ein Soldat in der Schlacht, tapfer, geduldig und brav.

Ein fremder Mann erschien neben Corneliens Bett, sprach mit dem Dr. Schwärzle und sagte, er werde am Abend wiederkommen.

Am Abend –? würde es da noch nicht vorüber sein? Sie wollte nicht mehr leben – sie flehte nur noch, daß man sie töten möge – daß man doch Barmherzigkeit haben und ein Ende machen möge!

Und dann waren Stunden, wo sie überhaupt nichts mehr von sich und ihrer Umgebung wußte. Plötzlich hörte sie einen Angstruf, der nicht aus ihrem Munde kam: »Herr Doktor, Erbarmen, sie verliert den Verstand ...«

Und eine fremde Stimme sagte: »Jetzt ist es Zeit.«

Etwas wurde über ihr Gesicht gelegt, sie atmete einen süßlichen, fremden Duft – murmelte Zahlen – und sank erlöst in ein tiefes Dunkel, wie in die göttliche Ruhe der Vernichtung.

Nach einer langen Weile tauchten aus dem Dunkel Stimmen auf, die klangen wie hinter vielen schwarzen Schleiern, welche den Schall bis zu einem fernen Murmeln dämpften. Sie hatte die Empfindung, daß sie die Augen öffnen möchte und es doch nicht könnte.

Und aus diesem Dunkel, aus diesem Murmeln und Bewegen um sie her, löste sich eine Stimme, die sagte heller und lauter, dicht an ihrem Ohr: »Es ischt ein Mädele! Fräulein Cornelie, ein Mädele ischt's!«

»Ein Mädele ...?« wiederholte sie lallend zufrieden. Und die Dunkelheit legte sich aufs neue über sie.

Endlich – es mochte eine geraume Zeit vergangen sein, da war es ihr, als spüre sie ein beizendes Brennen an ihren Augenlidern und einen süßen zarten Rosenduft.

Sie atmete ein paarmal – er war immer da, der süße zarte Duft. Und nun schlug sie die Augenlider weit auf und blickte um sich. Sie fühlte keine Schmerzen mehr.

Im Zimmer, an der niedern Decke schwelten graue Rauchwolken, die aus dem zerbrochenen Ofen quollen. Eine Lampe brannte. Der fremde Arzt, ein eleganter Herr in einem langen, schwarzen Rock, befestigte sich die Manschetten mit goldnen Knöpfen. Der kleine Dr. Schwärzle stand mit hochaufgestreiften Hemdärmeln, eine blaue Schürze der Frau Uffenbacher war sonderbar um seinen Hals gebunden, er wusch sich in der Waschschüssel etwas Rotes von den Armen. Und auf den weißen Dielen sah Cornelie einen roten trägen Strom langsam gegen den Ofen zu schleichen. Eine alte Frau mit entzündeten Augen in dem hexenhaften Gesicht tauchte einen Scheuerlappen in den roten Strom und wand ihn dann in einem Eimer aus. Konnte das Blut sein? Ihr eigenes Blut?

Cornelie blickte an sich nieder, reine Linnentücher umhüllten sie, man hatte sie sauber gebettet, auf ihrer Brust lag eine voll erblühte Rose.

Und nun befiel sie ein jäher, fürchterlicher Schrecken.

Dort hinten standen die Uffenbacherin und die rote Bärbe – und weiter sah sie nichts.

In der abendlichen Stille drang ein Ton zu ihr – der energische Schrei eines neuen Lebens ...

Man brachte ihr das Kind – in ein weißes Tuch war es gehüllt; kraftvoll, rot, mit derben Fäustchen, lag es in ihrem Arm und schrie, daß man das Zünglein in dem Mündchen zittern sah.

»Es lebt – es ist gesund,« murmelte Cornelie, noch wie in einem wirren Traume befangen.

»Neun Pfund wiegt's,« rief die alte Hebamme befriedigt. »Alle Achtung. Das hätt' dem Fräulein wohl keins zugetraut.«

»Meinen Glückwunsch,« sagte auch der fremde Arzt. »Der Doktor Schwärzle hat heut' sein Meisterstück vollbracht. Eine Leistung, die unseren ersten Professoren zur Ehre gereichen würde.«

Das rosenrote Kindlein rührte sich in Corneliens Arm, spreizte die Finger, blinzelte mit den Äuglein, machte ein verdrießliches Gesicht und begann zu schlafen.

Cornelie lächelte still in sich hinein. Ein unendlicher Friede war in ihrer Seele.

Zwanzig Jahre hatte die Sehnsucht, immer wach und nimmer müde jede Nacht an ihrem Lager gestanden und mit heißen Händen an ihr Herz gerührt. Zwanzig Jahre hatte dies heilig-glühende Herz sich bezwungen im strengen Tempeldienst der Kunst.

Und nun kam die Erfüllung ...

– – – Unbegreiflich schien es Cornelie, daß Mädchen und Frauen zu Müttern wurden im gegebenen alltäglichen Verlauf der Dinge. Nein: in Trümmer das bisherige Dasein – zerscheitert alle Vergangenheit – verbrannt alle Schiffe – so war es recht – so mußte es sein! So stieg aus den grauen Salzwogen öder Schmerzen das grüne Eiland ihrer Mutterschaft der Geretteten selig empor.

Nicht in die Einsamkeit fliehen! Dort, wo sie früher gelebt und gewirkt, wollte sie mit ihrem Kinde leben und wirken, Zeugnis mußte sie ablegen für sich und die Schwestern, denen sie sich durch unzerreißbare Bande vereint fühlte. Zwingen die Menschen zur Achtung vor selbsterwähltem Lebenslos, zu einer Achtung, die auch den Verfolgten zugut kommen sollte.


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