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Elftes Kapitel

Frau Uffenbacher hatte ihr Haus nun richtig gefüllt. Von der Dachkammer bis zur Gartenstaffel war jeder Raum ausgenützt. Weil der Toni ihr Papa gesagt hatte, seine Tochter müsse sich in alles fügen, gab ihr die Uffenbacher statt ihres netten Zimmers das feuchte, dunkle der Mari. Für eine »Neue« war ihr Herr selbst gekommen, um zu mieten. Ein ernster, stiller Mann – er hatte die Matratzen untersucht, und wollte nur ein Zimmer mit der Aussicht nach den Schweizerbergen. Noch ehe die »Neue« eintraf, kam ein Liegestuhl mit weichen Kissen, eine Kiste mit Trauben und Pfirsichen, eine zweite mit Weinflaschen und Kognak. Sie war eine große, blonde Person, wie aus dem Rubenssaal des Münchener Museums herabgestiegen. Die schwere Masse von weißem und rosigem Weiberfleisch wälzte sich verdrossen im Liegestuhl, schaute wenig nach den Schweizerbergen und hatte den Kognak schneller als Trauben und Pfirsiche vertilgt. Umgeben von kalten Hühnern, deren abgenagte Knochen sie auf die Zimmerdielen spuckte, von Gänseleberpasteten, deren ausgeleerte Büchsen sich auf dem Scherbenhaufen hinter dem Hause türmten und von unzählbaren Flaschen verschiedener anregender Getränke, führte sie ein verdrießlich-gefräßiges Dasein. Nur zuweilen hörte man ein breites Lachen, mit dem sie die Geschichten zu würzen pflegte, die sie der Uffenbacherin aus ihrer Kellnerinnen-Vergangenheit zu berichten pflegte.

An einem kühlen, windigen Regenabend, der im August, die erste Ahnung des nahenden Herbstes brachte, kehrten dann noch zwei Mädchen in Reformkleidern im Tränenhause ein. Die eine mußte sich sofort zu Bett legen – man bekam sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Die Uffenbacherin schlurfte brummend im Haus umher und schimpfte. Man habe sie betrogen, das sei eine ganz böse Geschicht'.

Und wieder durchbebte nächtliches Weinen, Stöhnen und Wimmern die baufälligen Mauern und Dielen der windschiefen Hütte. Obwohl die Hebamme eine Antipathie gegen alle Ärzte besaß, mußte schon in der zweiten Nacht der Dr. Schwärzle geholt werden. Es wurde ihr unheimlich bei dem fortgesetzten Ächzen des halb besinnungslos auf ihrem Lager sich windenden Mädchens.

»Das Herz ischt's. Die hält's nit durch – das Herz ist nit gesund,« sagte die Uffenbacherin bekümmert am anderen Morgen zu Cornelie. Ihre gewaltigen Backentaschen waren bleich und welk geworden vor Angst. »Gott soll mich bewahren – hätt' ich das gewußt, hätt' ich sie gar nit erst eingelasse ... Die Schererei mit der Polizei ... Uff...«

Sie wollte sie wieder ausquartieren, sie wollte sie nach München zurück schicken, woher sie gekommen waren, die beiden jungen Geschöpfe in Reformkleidern, mit tiefen Künstlerscheiteln, von denen die eine nun so grausam leiden mußte, während die andere Schlanke, Zarte, zuweilen in der Wohnstube unten erschien und nach der Hebamme rief. Bei einer solchen Gelegenheit blieb sie einen Augenblick am Kachelofen stehen, wo man bei dem rauhen Wetter ein Feuer angezündet hatte. Sie versuchte, sich die kalten, vor Angst klappernden Glieder zu wärmen.

»Wie schwer ist es doch, einen Menschen, den man lieb hat, leiden zu sehen und nicht helfen zu können,« sagte Cornelie, die auch durch das Feuer hier gehalten wurde, und blickte das verstörte Mädchen teilnehmend an.

»Schauerlich – schauerlich!« murmelte diese. »Die Frau will uns wieder fort haben – ich soll weiter mit der Unglücklichen,« brach sie laut schreiend aus. »Oh – oh – sieht sie denn nicht, daß das Mädchen stirbt – sie soll sie doch sterben lassen ... ruhig sterben lassen ... Es ist ja doch das beste – das einzige für sie!«

Plötzlich starrte sie zwischen ihren Schmerzensschreien auf Cornelie ... in ihre glühenden dunklen Augen kam ein Erkennen, ihr verweintes Gesicht zuckte, sie hielt die Hände vor sich, als sähe sie eine Erscheinung.

Cornelie wurde rot und biß sich die Lippen. Hier war jemand, der von ihr wußte ...

Das hagere Gesicht lächelte und mit einem Male dem Schmerz entrückt flüsterte das Mädchen in großer Erschütterung:

»Mein Gott – mein Gott – Sie sind doch ... Sie sind ... Cornelie Reimann?«

Cornelie antwortete ihr nur mit den Augen.

»Bitte – bitte nicht ...« stammelte sie abwehrend und zog ihre Hände an sich, weil die andere sie ihr zu küssen versuchte.

»Verzeihen Sie,« schluchzte das bebende Mädchen dazwischen, »es ist zu viel –. Ich bin so aufgewühlt ... Ich bin ja keine Exaltierte ... nur ... Sie ... Sie ...! Wie wir Sie liebten – liebten! meine Freundin und ich – was Sie uns Jungen sind ... ahnen Sie es auch nur? Wie Sie uns alle führen ...«

»Führen –? Hierher?« Cornelie wandte gequält das finstere Gesicht ab.

»Verzeihen Sie mir,« sagte das junge Mädchen sehr sanft, »ich bin taktlos – aber Sie wissen ja alles – auch daß man jeden Takt vergessen kann? Nicht wahr? Und daß von allen Taktlosigkeiten doch diese grenzenlose Verehrung nicht berührt wird ...?«

»Sie lieben Ihre eigene Sehnsucht,« sagte Cornelie mit leiser Ablehnung.

»Wir fühlen in Ihnen die Kraft, nach der wir ringen,« antwortete das Mädchen nun einfacher und klarer. Sie strebte sichtlich vor Corneliens beherrschter Haltung der eigenen überreizten Bewegung Herr zu werden, bis eine neue Erschütterung sich auf ihren nervösen Zügen spiegelte.

»Es ist so unfaßbar, daß Sie hier sind – und eigentlich – wenn man Sie recht begreifen will ... es ist wie ein Wunder und doch so natürlich! – Vielleicht ist es die Rettung! Es könnte meiner armen Freundin ein solcher Trost, eine solche Stärkung sein ... Sie müssen zu ihr ... der Doktor sagt: Das Herz – aber es ist doch nur die Qual dieser Wochen, die das Herz nicht tragen konnte ...«

Cornelies Blick verdunkelte sich, ihr Gesicht wurde kalt, ihre Haltung hochmütig vor innerem Entsetzen.

»Nein – nein – nicht das –. Ich kann nicht die Verantwortung für anderer Schicksal tragen ... Ich will nicht.«

»Sie tragen keine Verantwortung. In diesem Falle gewiß nicht ... Meine Freundin liebte ihren Lehrer ... Ich will ihn nicht nennen. Er ist – Sie kennen ihn gewiß – er ist einer von den Größten in der Kunst. Es ist die ganz alltägliche Geschichte – es wäre so gekommen, auch wenn sie niemals ein Wort von Ihnen gelesen hätte. Er war ja doch das Höchste auf Erden, zu dem sie betete – mehr noch als zu Ihnen – wie sollte sie ihm denn da widerstehen? Nur glaubte sie stärker zu sein, als sie es in Wahrheit ist. Sie wollte ihr Kind haben, und konnte es doch nicht durchführen – sie gestand ihren Eltern alles – die haben sie verstoßen – alle ihre Briefe, alle Telegramme zurückgesandt. Prediger ist ihr Vater – Prediger der christlichen Liebe ...« Sie schüttelte wütend die mageren Hände. In ihren glühenden Augen brannte der Haß der jüdischen Rasse. »Ach – wenn ich den Leuten etwas antun könnte ...«

Cornelie schwieg und senkte den Kopf, als träfe ein Teil dieses Hasses sie selbst.

»Und der Mann?« fragte sie dann leise, hoffnungslos.

Das Mädchen zuckte die Schultern, sie machte eine Bewegung mit der Hand, als schiebe sie etwas hinweg.

»Er war ja viel zu groß – viel zu berühmt, um eine kleine Malschülerin zu seiner Frau zu machen. Sie hat es auch immer gewußt. Mit ihm wäre sie wohl fertig geworden –. Sie war ein stolzes Mädchen. An den Beschimpfungen, mit denen man sie zu Haus zerschlagen hat – daran zerbricht sie ... Gehen Sie zu ihr, Fräulein Reimann ... wenn jemand noch helfen kann, sind Sie es.«

Die Freundin begann wieder zu weinen. »Bereiten Sie sie vor,« sagte Cornelie leise. »Und rufen Sie mich dann.«

Das Mädchen ging. Über der unförmigen Nase die glühenden Augen richteten sich von der Tür noch einmal beschwörend auf Cornelie. Die saß auf der schmalen Holzbank, welche nach schwäbischer Bauernsitte rings um die Wand lief; die Hände hatte sie fest gefaltet, so starrte sie wehevoll auf die gescheuerten Dielen. Die Kuckucksuhr schlug eine Viertelstunde nach der andern. Annerle schaute herein und zog sich nach einem Blick auf Corneliens gedankenversunkene Gestalt wieder zurück. Die Hanne kam herein, ließ sich stöhnend auf eine andere Seite der Bank nieder und aß ein Brot mit Wurst.

»Das wird eine schwere Nacht,« begann sie. Cornelie nickte nur mit dem Kopf. Auch die Hanne schwieg. Man hörte ihr Kauen und Schmatzen und das Krachen der Holzscheite im Ofen, das Rieseln des Regens an den kleinen Fensterscheiben.

Dann kam die Freundin, blickte Cornelie liebevoll an und winkte ihr hinaus.

»Es war so schwer, das Weib zu entfernen,« seufzte sie. »Ich glaube, sie hat jetzt weniger Schmerzen. Wäre sie nur nicht so apathisch. Mich ängstigt ihre Gleichgültigkeit.«

Cornelie trat lautlos ein, wandte sich mit leisen, stillen Bewegungen zu dem Bett.

Gleichmäßig kam und ging das röchelnde Ächzen aus der Kranken bläulichen Lippen. Bei jedem Ächzen hoben sich die Hände und Arme wie von einer Maschine bewegt, fielen auf die Decke nieder und hoben sich wieder. Das Antlitz trug eine seltsam silberweiße Farbe mit bläulichen Schatten um die Augen – aber diese Augen sahen niemand mehr. Cornelie stand eine Weile neben der Sterbenden. Sie nahm ein Tuch und wischte ihr zart die von kaltem Schweiß beperlte Stirn, flößte ihr mit Hilfe der Freundin einige Tropfen Flüssigkeit zwischen die zersprungenen Lippen.

»Sie hat doch noch Kraft,« flüsterte die Getreue. »Sehen Sie nur die Händ... Ich glaube sie lächelte, als ich Ihren Namen nannte ... Du, Annelies, Liebe – hörst du mich,« versuchte sie aufs neue, »denke nur, Cornelie Reimann ist hier.«

Cornelie fuhr es wie ein Schlag durchs Herz, als sie ihren Namen nennen hörte.

»Lassen Sie sie ruhen,« flüsterte sie der Unerfahrenen warnend zu. Das Antlitz der Kranken schrumpfte in diesem Augenblick zusammen wie ein dürres Blatt, der bläuliche Mund öffnete sich, der Körper bäumte hoch auf, die Hände rangen in der Luft – Cornelie hielt sie aufrecht, während die Uffenbacherin zur Hilfe herbeigeeilt kam.

In der Nacht, nach einem erneuten furchtbaren Schmerzensanfall, wurde sie erlöst, noch ehe das Kind von ihrer zerstörten Kraft geboren werden konnte.

 

Die Freundin der jungen Toten benachrichtigte telegraphisch die Eltern und den berühmten Meister von ihrem Ableben.

Annerle, Toni und auch die blasse bescheidene Luis hatten das Lager ihrer erlösten Schwester mit allen Rosen und Reseden, die sie in der unteren Dorfstraße bei den armen Ziehmüttern zusammenbetteln konnten, umkränzt.

So lag die Tote, Rosen auf der Brust und Rosen in den Händen, mit dem schmalen verschlossenen norddeutschen Gesichtchen zwischen den hellbraunen Scheiteln, die der Farbe einer jungen Hindin glichen, als am nächsten Morgen ihr Bruder eintraf, die Leiche heimzuholen.

Ein junger Assessor mit korrekt gestutztem blonden Bärtchen, im korrekten schwarzen Rock, mit demselben verschlossenen Gesichtsausdruck, den die Leiche auf ihrem weißen Lager trug. Die Uffenbacherin führte ihn hinein, wo die Getreue still neben der Toten saß. Er blieb nur wenige Minuten, gab im Flur der Uffenbacherin einige kurze Anweisungen über die Beförderung des Sarges zur Bahnstation und verließ mit demselben festen korrekten Schritt, mit dem er eingetreten war, das Tränenhaus.

Einige Minuten später erschien die Freundin bei Cornelie. Ihre Hände zitterten, ihre Gesichtszüge zuckten im Nervenkrampf.

»Ich kann nicht allein sein,« stieß sie hervor, und die glühenden schwarzen Augen hingen mit einem wunderbaren Blick an Cornelie.

»War es sehr qualvoll?« fragte diese. »Ich sah ihn vom Fenster. Er sah aus wie ein Mensch, der sich beherrschen kann.«

»Ob er das konnte ...« Plötzlich begann das Mädchen hysterisch zu lachen. »Wissen Sie was er sagte, als er die Rosen in Annelies' Händen sah: Von wem sind denn die? Und als ich antwortete: Von uns – da sah er mich an – o ich weiß, er dachte: Dies exaltierte Judenmädel ... Aber er sagte nur: Welche Sentimentalität ... Und dann so ganz geschäftsmäßig: ›Meine Schwester ist bei einem Ausflug in den Bergen abgestürzt. Die Zeitungen werden eine diesbezügliche Nachricht bringen. Wir erwarten von Ihrer Diskretion, daß Sie die Version auch Ihren Bekannten gegenüber aufrecht halten ...‹ – Daß ich ihn nicht ins Gesicht geschlagen habe!«

Cornelie schauderte. Leise nahm sie die Hände des zerwühlten Mädchens, streichelte und liebkoste sie, und diese fiel endlich vor ihr auf die Knie, drückte den schwarzen Krauskopf in ihren Schoß und schluchzte sich Erleichterung.

Der Sarg war auf einem bäuerlichen Leiterwagen zur Station geschafft worden.

Annerle, die mit der Luis und der Toni seinem Verladen in einen Packwagen beigewohnt hatte, war bei der roten Bärbe eingekehrt und stärkte sich dort durch ein Kirschwasser, das sie selbst geschenkt hatte.

Die Uffenbacherin »veschperte« mit der dicken Blonden in der Küche und probierte eine neue Sorte Wein.

Cornelie hatte die Freundin, die aufgeregt und fiebernd durch unnütze Geschäftigkeit die traurigen Dinge noch trauriger machte, endlich am Arm genommen und sie dem letzten unwürdigen Eindruck des auf den Brettern des leeren Erntewagens dahinschaukelnden Sarges entzogen, indem sie sie in ihr Zimmer führte und sie sich aussprechen ließ. Erinnerungen an die Tote – an die gemeinsame Studienzeit in München, Geständnisse eines brennenden Neides, als der angebetete Lehrer sich der Freundin zugeneigt habe – Freundschafts-Aufopferung, welche die eigne Leidenschaft zu betäuben suchte ... Dazwischen Deklamationen über Welt- und Gesellschaftsordnung, junge rasende Empörung über die Eiswände der Konvention, an denen die beiden Sturmgeister sich die heißen Köpfe wund gestoßen hatten ... Begeisterungsausbrüche über neue Rechte des Weibes, Rechte des Menschen, sein Leben zu leben, nicht das der andern ...

Cornelie ließ das Mädchen geduldig all den Jammer ihres in den letzten Tagen so grausam mißhandelten Herzens in blutrünstigen Worten austoben. Sie neidete der jungen Jüdin das konvulsivische Entrüstungs-Pathos – diesen sinnlichen Fanatismus der Wut. Sie selbst fühlte nur immer wieder: Grausame, grausame Natur ... Sie fühlte nur: Weibesschicksal, das durch keine Gesetze, keine Rechte abzuwenden war. Das immer wieder vernichten mußte, so lange Mädchen leben und lieben – so lange Männer Männer bleiben ...

Wie schal, klein und nichtig schienen diesem Ewigen gegenüber alle die phantastischen oder ausgeklügelten Umwälzungsvorschläge, von denen sie in den letzten Wochen gelesen hatte. Sandkörner – in einen Abgrund geblasen.

Aber es mußte ja schön sein, den Glauben daran zu haben ...

Und es war hart, ohne einen solchen Glauben an ein leuchtendes Ziel einen neuen unbekannten Weg zu gehen.

Aber sie konnte sich nicht betrügen mit funkelnden Gedanken und schäumenden Worten, die in sich selbst versanken, wenn die Sonne der Wirklichkeit heiß über ihnen brannte.

Später half sie die wenigen Sachen, welche die Verstorbene im Handköfferchen mit sich geführt hatte, und ihr phantastisches Reformfähnchen zusammenzupacken und an die Eltern zu adressieren. Die Freundin vermochte die Feder nicht in den von einem Nervenzittern befallenen Händen zu führen, als sie Namen und Titel des gehaßten Predigers niederzuschreiben versuchte.

Das Köfferchen hatte auf seinem Grunde auch ein schmales Päckchen Briefe enthalten. Die lagen nun noch auf dem Tische. Die Freundin wurde plötzlich rot, als sie sie zögernd mit der Hand berührte.

»Ins Feuer!« sagte Cornelie bestimmt.

»Ich gönnte es ihm, daß er sie noch einmal lesen müßte – jetzt ...« flüsterte die Jüdin. Ihre Augen funkelten.

»Ins Feuer,« wiederholte Cornelie. Sie nahm die mit blutrotem Seidenband umwundenen weißen Zettel aus den heißen Fingern der anderen, öffnete die Ofentür und hielt ein Zündholz an die Blätter. In wenigen Augenblicken waren sie aus einer hellen Flamme zu einem Häuflein verkohlten Staubes geworden.

Cornelie streifte mit dem Blicke das Gesicht des Mädchens, das gierig atmend, mit dunkel glühenden Augen dem Vorgang gefolgt war.

... Begehrte er dich morgen, der große Meister – du würdest ihm nicht widerstehen, ging es ihr durch den Sinn.

Zum Abendzug brachte sie die Malerin zur Bahn.

Der Fluß rauschte kühl unter den Erlen, ein feuchter Wind wehte stark über das Land, das nach der Ernte leer und weit in der Dämmerung lag. Zarte Nebel zogen Schleiertücher über die kahlen Äcker, auf denen Cornelie das Korn hatte wogen, reifen und fallen sehen. Von den letzten Regentagen war ein herbstlich-herber Hauch in der Luft zurück geblieben.

Wie lange noch? Wie lange –? Würde sie im kommenden Winter den Schnee vor den Fenstern wirbeln sehen ...? Tot sein ... Wie seltsam, daß man sich vom Nichtsein keine Vorstellung machen kann, solange man sich lebend fühlt ...

Cornelies Hand wurde ergriffen, mit einem leisen Mißbehagen duldete sie die Küsse des fiebernden Mädchenmundes auf ihrer Haut.

»Lassen Sie mich bei Ihnen – lassen Sie mich Sie pflegen, Sie lieben ...«

»Kind, das ist unmöglich,« antwortete Cornelie ein wenig hart und nüchtern.

»Es würde mich so beglücken. – Ich kann – ich kann es nicht ertragen, Sie mir hier unter diesen Menschen zu denken.«

Cornelie wandte den Kopf zur Seite. Sie war gerührt und empfand doch das Anerbieten als ein unberufenes Eindringen in ihren Lebenskreis, den sie nicht öffnen mochte, am wenigsten für dieses in schwülen Schmerzen aufgelöste Mitgefühl.

»Sorgen Sie nicht um mich. Ich weiß, weshalb ich hier bin und an keinem anderen Orte. Mißverstehen Sie mich nicht – es ist nicht etwa aus Buße oder aus Lust am Martyrium. Nein – ich fühle einfach, daß ich hierher gehöre ...«

Sie schwieg eine Weile, denn sie sprach ungern von sich, doch fühlte sie, wie grausam es gewesen sein würde, sich ganz zu verschließen, vor dem so sehr nach Trost lechzenden Geschöpf an ihrer Seite. Und so begann sie wieder, schwer, langsam:

»Anfangs wußte ich wohl selbst nicht, was ich hier sollte ... Wir glauben alle, unser ganz persönliches Leben nach unserm Wollen zu führen, und dabei leben wir doch zugleich mit dem persönlichen noch ein typisches Leben der Zeit, das wir aber nur in seltenen Augenblicken durch die Hülle des persönlichen hindurch erkennen. Das wird nicht von dem individuellen Willen bestimmt, sondern durch Bedingungen, über die wir gar keine Gewalt haben. Darum tun wir wohl so oft Dinge, von denen wir fühlen, wir tun sie aus einem Zwang, der gegen unsere individuelle Natur ist. Das Schicksal hat manche unter uns ausersehen zu Symbolen der Zeit. Wir tragen ihr Brandmal, oder ihre Flammenzunge an der Stirne – wissen nicht, ob das feurige Zeichen Schande oder Ehre bedeutet ... Wer einmal so gezeichnet wurde, der muß sein Los auf sich nehmen und seine letzten Bitterkeiten austrinken. Er wird ahnen, daß nur auf diesem Wege sein Leben reif werden kann, zu einer Frucht am Erntekranz der Zeit. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, – so recht kann ich das wohl nur selbst empfinden.«

Die junge Malerin neigte den Kopf. »Meinen Sie damit Gottes Willen tun?« fragte sie zögernd.

»Ich glaube nicht mehr an einen persönlichen Gott,« sagte Cornelie. »Und es war eine Erlösung, als ich diesen Glauben endlich von mir tun konnte. Aber da sind doch unbegreifliche Mächte hinter allem sichtbaren Geschehen. Ahnen wir in seltenen Augenblicken das Gesetz unsres eignen Lebens, müssen wir uns ihm beugen, wenn es auch noch so erschreckend droht. Denn es ist doch das Göttliche. – – – Einmal mußte wohl alles dieses von einer Frau gelitten werden, die es nicht nur dumpf quälend fühlt, sondern die es in Erkenntnis umwandeln wird ... jetzt noch nicht – einmal in der Zukunft ... Das geschieht nur, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Ich meine, wenn da draußen viele sind, die warten, daß eine letzte Türe zu einer Erkenntnis ihnen geöffnet wird.

Vielleicht sage ich das heute nur zu Ihnen – vielleicht bin ich nur ein verunglückter Versuch der Natur, den sie braucht, um zu einem bestimmten Punkte vorzudringen. Das weiß ich nicht. Am Ende bin ich zu schwach. Aber dann wird ganz gewiß eine Stärkere kommen.«

Die dunklen Augen des jungen Mädchens sahen über der unförmigen Nase bewundernd zu Cornelie empor.

»Nun glaube ich eher, Sie zu begreifen.«

»Überschätzen Sie mich nicht,« sagte Cornelie mit schmerzverzogenem Munde. »Man ist nichts Einzelnes. Man ist das notwendige Glied einer notwendigen Kette. Noch vor einem Jahr habe ich Unendliches gewollt – jetzt warte ich nur, was mit mir geschehen soll.«

Die Begleiterin lachte plötzlich nervös und leidenschaftlich. »Nein – ich verstehe Sie doch nicht. Cornelie Reimann, die geduldig und schwach ist! Es ist körperliche Müdigkeit – oder Sie erniedrigen sich absichtlich! Was könnten Sie tun – welchen Einfluß könnten Sie haben – stolz wie eine Königin sollten Sie mit Ihrer Mütterlichkeit unter die Menge treten ... damit man endlich einsieht ...«

»Mütterlichkeit als Propagandamittel?« fragte Cornelie. »Das möcht' ich meinem Kindchen doch nicht antun.«

»Wenn Sie spotten, können Sie grausam werden.«

»Verzeihen Sie mir,« sagte Cornelie einfach. »Ich wollte Sie gewiß nicht verletzen ... Nur – sehen Sie, liebes Kind – Geschrei und Kampf und Wut, das zerstört doch nur. Alles natürlich Werdende wächst still und langsam ... Wenn ich hier abends – wie viele Abende – an dem kleinen Flusse entlang gegangen bin, sah ihn so jung, so durchsichtig, daß man jedes Kieselchen auf seinem Grunde unterscheiden konnte – dann stellte ich mir vor, wie er weiterhin wächst und schwillt, von hundert Bächen und Nebenflüssen genährt – wie er, ein brausender Strom, zum Stolz eines gewaltigen Landes wird – wie unter hoch geschwungenen Brücken der Verkehr einer Kaiserstadt in Schiffen und Dampfern auf seinen mächtigen Wogen schwimmt, wie er, durch ungeheure Felsentore brechend, die Welt des Okzidentes mit dem Orient verbindet ... – das kleine, junge, dumme – spielerische Flüßchen hier unter den Erlenbüschen ...«

Sie blieb stehen, ihre Augen blickten, dem Lauf der Plätscherwellen folgend, in die dunkelnde Ferne. »Ich träume oft, wie dieser Fluß geworden ist – solche Macht und Gewalt könnten die Frauen bekommen, wenn sie sich nicht länger um eines Dogmas willen gegenseitig hassen, verachten und verfolgen würden.

Solche Macht und Gewalt könnte der Gedanke der Liebe gewinnen, wenn er die Frauen zu einer Einheit zusammengießen würde – darin alle für eine und eine für alle stehen in jener Zeit, wo die Frau am meisten Weib, am schutzbedürftigsten ist – und wo der Mann seiner Natur nach versagen muß, wo er dem letzten Weibgeheimnis immer fremd und peinvoll betroffen gegenüber stehen wird. – Gott! Gott –! Zur Zeit ihrer werdenden Mutterschaft wütet gegen die Tochter die Mutter – die Schwester gegen die Schwester ... Vor der ewigen Not und dem ewigen Ruhm des Weibes versinkt nicht in jeder Frauen Gefühl das Tagesgesetz der Gesellschaft wie ein ödes ekles Gespenst! Vor diesem ewig Gewaltigen, das eisern das Weib zum Weibe binden sollte, macht es Gemeinschaft mit dem Manne, um im Verein mit ihm die Schwester im Geschlechte zu morden ...

Die Frauen sind keiner Rechte wert ... keiner bürgerlichen und keiner ideellen – so lange sie dieses ihr heiligstes Recht – ihre gewaltigste Pflicht und Macht nicht erfassen wollen!«

Cornelie strömten die Tränen über das zum Himmel erhobene Gesicht.

Ihre Klage klang laut wie ein Schrei über das nächtliche Feld.

Als der Zug schon daherbrauste, nahm Cornelie noch einmal die Hand der jungen Malerin und drückte sie fest. »In Ihnen ist mir das Zusammengehörigkeitsgefühl zum erstenmal entgegengetreten. Das werde ich nicht vergessen. Vielleicht sollen die Töchter Ihres Volkes, die Erinnerung an Schmach und Verfolgung im Blute tragen, auch die ersten sein, in denen die Liebe, die ich meine, sich offenbart!«

»Den Glauben will ich mit hinausnehmen,« flüsterte das Mädchen. »Nun haben Sie mich doch getröstet.«

Ihr Tuch flatterte noch lange, während der Bahnzug sich entfernte.

Cornelie wanderte in der Dunkelheit die Landstraße auf und nieder, immer wieder auf und nieder. Der Wind wogte um sie her, als käme er über ein weites Meer. Sie dachte des Prometheus, der an der Tafel der Götter saß – und dann war er geschmiedet an die Felsen eherner Notwendigkeiten, und der Geier fraß ihm die Leber aus der lebendigen Brust.

Als die Füße sie nicht mehr trugen und das Grauen der Einsamkeit überwältigend wurde, besann sie sich darauf, daß sie versprochen hatte, Toni und Annerle von der Bärbe abzuholen.

»Ja, wie schauen Sie aus, Fräulein Cornelie!« Bärbe nahm ihre im Frostkrampf gekrümmten Finger und rieb sie sacht zwischen ihren guten, mütterlichen Händen. Mit geschlossenen Augen saß sie bei den andern, hörte ihre gedämpften Stimmen und kehrte so ins Leben zurück.


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