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Zweites Kapitel

Cornelie war auf dem Postamt gewesen und hatte dort einen Brief empfangen. Die skurrile Handschrift mit dem großen Schwung der Anfangsbuchstaben, gegen die sie eine leise Abneigung nie hatte überwinden können, auch als sie die Briefumschläge mit dieser Schrift noch in Zärtlichkeit an die Lippen gedrückt hatte ...

Rudi Imgart versicherte sie seiner Freundschaft und bot ihr seine Hilfe an für den Fall, daß sie sie bedürfen sollte!

Ein Almosen ... Cornelie knirschte mit den Zähnen, zerknitterte das Blatt – eine Welle heißen Hasses schlug über sie hin – sie spie aus vor würgendem Ekel. Sie zerriß den Brief in kleine Stücke und streute sie in die Luft. Ihre Glieder zitterten in nervösem Froste. – Auch dieses war nun erlitten und konnte so nicht noch einmal gelitten werden.

Hatte sie immer noch geglaubt, unter allen Irrungen und Krämpfen der Liebe müsse ein Unzerstörbares sie mit diesem Manne ewig verbinden – müsse sich gerade jetzt in seiner Kraft offenbaren ...?

Vorbei – vorbei – vorüber ...

Nun durfte sie den Namen des Mannes aus ihrer und ihres Kindes Zukunft löschen.

Nun lag das Leben vor ihr als ein leeres Blatt, mit frischen, noch nie versuchten Schriftzügen zu bedecken.

Ein neu Beginnen. Cornelie atmete tief. Jetzt wollte sie das Dasein wieder leben. Wollte es mit ganzem Willen auf sich nehmen.

In die Einsamkeit hatte Cornelie flüchten wollen und war, wie in alten Märchen, gleichsam in Schlaf und Traum in ein anderes Leben hinabgesunken, das unter dem hellen Tagesschein, in dem sie bisher gewohnt hatte, sich regte und bewegte, erfüllt war von Gestalten und Schicksalen, von denen sie vorher nicht das mindeste ahnte. Sie war sich ein Einzelfall gewesen – ein Unerhörtes, Niedagewesenes, nie wieder Seiendes, ausgestoßen aus der Gemeinschaft alles Menschlichen, von dem sie wußte, und das ihr bis heut allein als Menschliches gegolten hatte. Wie weit dahinten lagen nun alle bekannten Begriffe – – Wie unsicher schienen die Umrisse ihrer Existenz geworden, wie matt und zerflossen, elend gleichgültig die Farben ihres bisherigen Seins – selbst ihrer Liebe, die kaum noch zu ihr zu gehören schien, die ihr über den Rand des dunklen Brunnens, in dem sie zu versinken begann, mit toten, leeren Gespensteraugen nachblickte.

Um sie her, aus dem Dunkel der Nacht, drang es auf sie ein von neuen Dingen, neuen Erscheinungen, die schattenhaft sich durcheinander bewegten und regten und leise raunten von unerhörten Geheimnissen und schweren Gefühlen und von tiefem Wissen, das in dieser Unterwelt verborgen, seiner Auferstehung, seiner Erhebung zum Lichte der Erkenntnis harrte ...

Und doch schien die Sonne auch hier, und die gleichen Blumen blühten wie im Tageslicht – und am Himmel schwebte der gleiche, vertraute Sagenvogel, von dem einst in der eigenen warmen Kinderstube die Mutter Liedchen gesungen und Märchen erzählt hatte. Mit ungeschickten Kinderfingern hatte sie ihm Brosämlein und Kuchenbrocken auf die Fensterbank gestreut, damit er ihr ein Brüderlein oder Schwesterlein bringe. Die schöne Mama hatte daneben gestanden und geheimnisvoll gelächelt ... Und die ersten Schauer des Unbegreiflichen, des großen Wunders des eigenen Daseins hatten an ihr kleines Mädchenherz gerührt, bei jenem befangenen, glücklich-bangen Lächeln der Mutter ...

Die Luft in dem niederen Raume, dessen Decke Cornelie von ihrem Lager aus mit der ausgestreckten Hand berühren konnte, war schwül und dumpfig. Sie hatte am Abend das Fenster öffnen wollen und dabei gesehen, daß die weißen Gardinen, die es so sauber umhüllten, in der Mitte zugenäht waren, gleichsam um jedem Versuch einer Lüftung von vornherein vorzubeugen. Als Cornelie ihre Schere nahm und diese seltsame Naht auftrennte, welche ihr die etwas übertriebene Ordnungsliebe der Frau Uffenbacher angenehm zu bestätigen schien, entdeckte sie den tieferen Grund dieser Maßregel. Das Holz der Fensterumrahmung war so vermorscht, die Haften und Riegel so vom Rost zerfressen, daß die Flügel, sobald sie sie aufzustoßen versuchte, auf der Stelle in die Nesseln, die unter dem Fenster blühten, hinabzustürzen drohten und nur mit einer energischen Anstrengung ihrer Arme noch an diesem Unglücksfall verhindert werden konnten. Augenscheinlich wurde die Tür zur Durchlüftung des Raumes für ausreichend erachtet, und dies war wohl der Grund, daß sich aus der Küche emporsteigend, ein fettiger Schmalzgeruch der Zimmerluft eindringlich mitgeteilt hatte. Trotzdem der Dunst von Speisen Cornelie unerträgliche Übelkeit verursachte, mochte sie doch die Tür nicht offen stehen lassen – sie empfand allzu unbehaglich die Neugier, die draußen lauerte.

Immerhin, eine Nacht konnte man bei geschlossenen Türen und Fenstern verbringen. Morgen, in der Frühe, würde sie zu einem Tischler senden und die Sache auf eigene Kosten richten lassen.

Aber nun wurden nach und nach alle die Gerüche lebendig, die in dem eingeschlossenen kleinen Zimmer schon so lange Zeit gefangen gehalten worden waren.

Aus dem vorsintflutlichen Kanapee krochen uralte Düfte von Menschenschweiß, von dörflichem Knaster und Pfeifenrauch, aus dem wurmstichigen Holzwerk des Waschtisches und der Bettlade, ja aus Kissen und Decken wand sich ein fader, süßlich-ekler Brodem, gemischt aus Moschus, Kamillen, Ammoniak und Karbol. Cornelies geschärfte Sinne vermeinten den Dunst von Blut und Wunden zu spüren – von Blut, das über das Lager geflossen, auf dem sie ruhte – von Wunden, die hier erlitten waren in einsamer Not ... Angst und Ekel beklemmten sie bis zur Atemlosigkeit. Sie warf die Decken von sich und wollte aufspringen – da hielt sie zitternd inne und lauschte ... der Schweiß brach ihr aus, lief ihr in kalten Tröpfchen das Rückgrat hinab. Ein Wimmern drang zu ihr, ein leises, ersticktes Winseln und Weinen, so, als werde es erstickt in den Kissen eines Bettes. Und doch wurde es stärker und stärker, schwoll auf zu jähem Schluchzen, sank zusammen zu ergebenem Weinen, wurde wieder lauter, wurde zum verzweifelten Jammern eines verlassenen, der dunklen Nacht und den dunklen Schicksalsmächten sein Elend klagenden Geschöpfes.

Cornelie starrte mit weitaufgerissenen Augen in die Finsternis. So grauenvolles Weinen hatte sie noch nie vernommen ... Doch, doch – sie kannte jeden Laut – es war ihr allmählich, als höre sie sich selbst, losgelöst vom eigenen Körper, dort drinnen schluchzen ... War es nur eine Stimme? Eine zweite gesellte sich aus größerer Entfernung hinzu – es war nicht mehr ein einzelnes Mädchenweinen – die Klagelaute drangen vom Boden herauf und aus den Mauern hervor – es schien Cornelien, als wimmere das ganze kleine dürftige Haus, als vereinten sich alle Tränen, die in seinem Innern schon geflossen sein mochten, zu einem Regen, der mit geisterhaftem Gewinsel aus den Poren des Mauerwerkes, aus den Ritzen der Dielen, aus den Kissen der Lagerstätten empordrang und hilflos, hoffnungslos, doch unerschöpflich der Nacht und dem Dunkel die Schmerzen klagte, die dem harten Tageslicht verborgen werden mußten.

So viele heiße, liebevolle Herzen hatten hier der Liebe fluchen gelernt, hatten hier in wilden Angstkrämpfen das Muttergefühl in der Brust ersticken und morden müssen.

Was Wunder, wenn der fühllose Mörtel der Wände bebte, wenn das Holz der Dielen, das alle die zahllosen Tränen aufgesogen hatte, ächzte unter dem Brand der salzigen Tropfen ...

Die Stunden vergingen und Cornelie saß aufrecht in ihrem Bette, lauschend auf die geisterhaften Stimmen ihrer eigenen Schmerzen, und sie wurden ihr zu einem Klagestöhnen, das nicht mehr ihr eigenes blieb, das aus fernen, fernen Zeiten durch die Jahrhunderte scholl, gleich einem ewigen, unstillbaren Gesang der Zertretenen, Verlassenen, Besiegten.


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