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Lebe wohl, Frankreich!

Es war ein heller, frischer Dezembermorgen. Der »Washington«, der gewaltige atlantische Steamer, hatte zur Abfahrt geheizt, und aus den beiden großen Schornsteinen stiegen die dunklen Rauchwolken in die blaue Luft empor.

Ein reges Leben war trotz der Jahreszeit auf dein prächtigen Quai und in dem schönen Hafen, aus dem nicht weniger als 40 Dampfer allein nach den wichtigsten Seehäfen des nördlichen Europas gehen. Die Abfahrt des Newyork-Steamers, die damals alle Monate einmal erfolgte, war stets das Signal zu vermehrtem Verkehr. Seeleute von allen Küsten der Erde lungerten an den Balustraden des Quais oder an den Bollwerken und in den Wanten der umher ankernden Schiffe, oder waren mit dem eintönigen Singsang ihres Standes an irgend einer Arbeit des Ein- und Ausladens und der Ausbesserung beschäftigt. Keuchende Lastträger schleppten noch Koffer und Kisten über die breiten Planken an Bord des Dampfers, der mit seinem zweistöckigen von Galerieen umgebenen Hinterdeck wie ein riesiges schwimmendes Haus aussah. Die Stewarts und Küchenjungen kamen eilig mit ihren Vorräten gerannt; die Kommis und Agenten tauschten und berichtigten ihre Fakturen; Polizei-Sergeanten des Hôtel de Ville kontrollierten die Pässe der Reisenden, die aufs eifrigste mit dem Wegpacken ihrer Effekten beschäftigt waren; Abschied wurde genommen und Aufträge wurden gegeben, kurz überall war das lebhafteste Treiben und die größte Verwirrung in der größten Ordnung.

Die Glocke des Schiffes hatte bereits das erste Signal gegeben. Der Kapitän, das Sprachrohr in der Hand, stand auf der Treppe seiner Bank und betrachtete gleichgültig das unruhige Treiben in dein Bewußtsein seiner Macht, die mit dem Befehl zur Lösung der Taue und der Brückenplanken sofort Ordnung und Gehorsam in dies Chaos bringen würde.

Auf der obersten Galerie des Hinterdecks, wo der Seewind kalt und scharf daherstrich, ging, in sein Plaid gehüllt, der Graf Raousset Boulbon unruhig hin und her. Er hatte sein Wort gehalten und war am Morgen nach dem Diner bei Véry von Paris abgereist, nachdem er den kleinen Louis noch in das Militär-Institut gebracht hatte. Der Mutter des Knaben, die damals während seiner Verhaftung die furchtbarste Angst um ihn ausgestanden und von Bonifaz, der sie dem strengen Befehle gemäß nicht verlassen durfte, kaum in ihrer Wohnung zurückzuhalten gewesen war, hatte er nur einen Teil der Wahrheit gesagt und sie damit zu beruhigen gesucht, daß er ihr erklärte, seine persönliche Sicherheit erfordere unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen, daß er für einige Zeit Frankreich verlasse. Dennoch, und trotz aller Versprechungen bald zurückzukehren oder sie nachkommen zu lassen – denn als Ziel seiner Reise hatte er New-York angegeben – hatte der Abschied bei dem hingebenden Charakter der jungen Schauspielerin zu einer schrecklichen Scene geführt, und er hatte sie ohnmächtig in den Armen seines alten Freundes und Dieners zurückgelassen, der noch einen Tag in Paris bleiben mußte, um das Gepäck seines Herrn zu ordnen und mit diesem nachzukommen.

Am Abend vor der Abfahrt des Dampfers war Bonifaz eingetroffen. Der Graf hatte sich bis zum letzten Augenblick im Hotel Frascati aufgehalten, um dort den Besuch der bevollmächtigten Person zu erwarten, die für Saint Arnaud jene Papiere in Empfang nehmen sollten aber es hatte sich zu seiner Verwunderung niemand bei ihm gemeldet. Jetzt ging er ungeduldig umher, im Zweifel, ob er die in Couvert an den Minister adressierten Dokumente irgend einer fremden Person zur Beförderung mit der Post anvertrauen könne, und erwartete die Ankunft seines Dieners, der aus dem Hotel die letzten Reise-Effekten zum Schiff bringen sollte.

Der scharf pfeifende Wind ließ den Grafen ziemlich allein im Besitz der Galerie, von deren Höhe aus er die Stadt und den Hafen mit seinem Mastenwald und seinem regen Treiben übersehen konnte. Die rechtwinklig in einander gebauten Straßen gruppieren sich um die Bassins und Docks; und sein Blick schweifte abwechselnd von der Mündung der Hauptstraße nach der Umgebung der Stadt, den Hügeln von Ingouville und Calvados und den Höhen von La Hive mit den 300 Fuß hohen Zwillings-Leuchttürmen.

»Er ist selbst schuld, wenn ich abreisen muß, ohne mein Wort gehalten zu haben,« murmelte der Graf, unfern der Treppe stehend bleibend und sich über die Galerie lehnend, wo er die Verbindungsbrücke übersehen konnte. »Dieser alte Narr läßt mich auch warten, statt mir Nachricht zu bringen, ob vielleicht im Hotel noch Nachfrage nach mir gewesen ist. Ich kann die Sache unmöglich fremden Personen aufs Geratewohl anvertrauen. Pardioux, es ist unangenehm!«

»Hat der Herr Graf Raousset de Boulbon vielleicht etwas nach Paris zu bestellen?« sagte da plötzlich eine wohlklingende jugendliche Stimme neben ihn: »Es würde mir zum Vergnügen gereichen, seinen Liebesboten zu machen.«

Der Graf sah sich erstaunt um; neben ihm stand eine sehr einfach irr Schwarz gekleidete Frau mit dichtem Schleier.

»Wie, Madame? Diese Stimme? –«

»Ist die einer alten Bekannten, wenn das ehemalige Fräulein Trazegnies d'Ittre auf die Ehre Anspruch machen darf.«

Er führte ihre kleine Hand an seine Lippen. »Wo auch der Graf Raousset Boulbon weilen und welches Schicksal ihm auch werden mag,« sagte er galant, »er wird sich stets mit Vergnügen und Dank der reizenden Abende in den Salons der Chaussee d'Antin erinnern. Aber ich hätte Sie in dieser Verkleidung sicher nicht wieder erkannt, besonders unter so dichtem Schleier.«

Die junge schöne Frau, die später so oft den Prinzen Plonplon verleiten sollte, das Dampfschiff in Varna heizen zu lassen, um ihren Salon in Buyukdere zum großen Ärger des Marschalls zu beehren, statt in der Dobrudscha militärischen Ruf und die Cholera zu suchen, schlug mit liebenswürdiger Koketterie einen Augenblick den Schleier zurück. »So, mein Herr, nun haben Sie Ihren Willen gehabt, und nun geben Sie mir die Papiere, die ich meinem Manne überbringen soll und die ihm so wichtig scheinen, daß er eine junge Frau vier Tage länger von Paris entfernt und für ihre zahlreichen Anbeter auf der leidigen Krankenliste hält. In der That, es müssen höchst merkwürdige Dinge sein.«

»Nicht merkwürdiger als die, welche die künftige Frau Marschallin nach England geführt haben,« bemerkte mit scharfem Blick der Graf. »Aber hier sind sie! Ich erfülle mein Versprechen, in dem ich dies versiegelte Couvert in Ihre Hände lege, und bitte Sie, Ihren Herrn Gemahl daran zu erinnern, daß wir von diesem Augenblicke ab keine politischen Gegner mehr sind.«

»Gewiß; ich hoffe Sie recht bald in meinen Salons wiederzusehen. Sie wissen, ich empfange jeden Mittwoch. Dies Papier soll ich Ihnen dagegen geben. Wann kehren Sie zurück von Ihrem Ausflug, lieber Graf?«

»Von dort?« Er wies hinüber über die endlose Fläche des Meeres.

»Nun, New York ist mit den Dampfern, wie ich mir habe sagen lassen, ja in zehn bis zwölf Tagen zu erreichen, und diese leidigen politischen Streitigkeiten werden gewiß bald zu Ende sein. Mein Mann soll alles Mögliche thun, Ihre baldige Zurückberufung zu bewirken. Sie haben ja so viele Freunde …«

»Ich gehe freiwillig, Madame,« sagte der Graf ernst, indem er ihr seinen Arm bot, sie die Treppe hinunter zu führen, »und wenn ich je nach Frankreich zurückkehren sollte, hoffe ich der Erlaubnis eines Bonaparte nicht zu bedürfen. Wo ist Ihre Begleitung?«

»Ich bin allein, und ich fürchte mich durchaus nicht, wie Sie gesehen haben. Ich will, daß Sie mich nicht zu weit begleiten, denn es könnte mein Inkognito gefährden. Auf dem Platze halten ja genug Fiaker. So leben Sie denn wohl, lieber Graf, und lassen Sie wenigstens etwas von Ihren Abenteuern hören; denn ich kenne Sie und weiß, daß es ohne diese nicht abgehen wird.«

Der Kavalier lächelte. »Ich hoffe, die Zeitungen werden Ihnen bald davon melden. Denken Sie daran, Madame, wenn man mich allzu sehr verleumdet, daß Sie einen Freund jenseits des Meeres zu verteidigen haben.«

Er küßte nochmals ihre Hand und blieb an der Schiffbrücke stehen, die sie unter der drängenden Menge eilig überschritt, denn soeben hatte die Glocke des Steamers das zweite Signal gegeben, und alles, was nicht an Bord gehörte mußte ihn jetzt verlassen.

Er sah, wie sie auf dem Platz am Eingang des Hafens noch einmal stehen blieb, mit dem Tuch ihm zuwinkte und dann einen Fiaker bestieg. Unwillkürlich hob ein Seufzer seine breite Brust, denn es war ihm, als schiede mit der flüchtigen Erscheinung der jungen vornehmen Frau erst jetzt von ihm jenes Leben voll Glanz, Leichtsinn und Lust, jenes so verlockende Paris mit all seinen Herrlichkeiten.

Zwei Paar Augen hatten diese Scene mit dem größten Interesse, aber mit sehr verschiedenen Gefühlen beobachtet.

Der Graf machte, als er von der Landungsbrücke zurückkehrte, eine Gang über das Hauptdeck und traf hier bereits seinen treuen Bonifaz, dessen Ankunft er nicht bemerkt hatte, mit Hilfe eines Schiffsjungen beschäftigt, sein Gepäck unterzubringen. Die saubere reinliche Kleidung des Knaben fiel ihm auf, obschon er sein Gesicht nicht sehen konnte, da er sich eifrig mit den Koffern und Reisesäcken zu thun machte, und er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um auf solche Nebendinge viel zu achten. Aus diesem Grunde entging es ihm auch, als er, nachdem er einige Worte mit Bonifaz gewechselt hatte, an dem Logis der Mannschaft und der dort dicht gedrängten Menge der Vorderdeck-Passagiere vorüber zu seiner früheren Stelle auf der Galerie zurückkehrte, welcher feindselige Blick ihn aus dieser Menge verfolgte, ein Blick, der ihn schon seit seiner Ankunft an Bord unaufhörlich beobachtet hatte.

Der Graf stand wieder auf der Galerie, um das bewegte Schauspiel der Abfahrt zu beobachten. Zum dritten Male läutete die Glocke des Steamers, von dem Vorderkastell donnerte ein Schuß und an dem Mast flog das Sternenbanner Amerikas in die Höhe und flatterte lustig hinaus in die frische Winterluft.

Der Kapitän rief von seiner Bank zwischen den mächtigen Radkasten seine Befehle herab, die gelösten Taue flogen durch ihre Öfen, und rüstige Hände schoben die Verbindungsplanken zur Landungsbrücke zurück.

Mit mächtigen Stößen begann die Maschine zu arbeiten, und aus den beiden Schloten stieg in dunkler Wolke der zischende Dampf; unter den Schlägen der Räder schob sich der gewaltige Bau von dem Quai und begann sich um sich selbst zu drehen, das Bugspriet hinaus gewandt nach der unermeßlichen Fläche des Meeres.

Ein tausendstimmiger Ruf: » Adieu! Adieu! Bon voyage! Au revoir! Vive la France!« scholl unter dem Schwenken der Tücher und der Hüte vom Ufer her und wurde vom Bord wiederholt, so lange man die Freunde sehen, ihre Stimme zu hören vermochte. Dann schoß der »Washington«, die Salutschüsse des Kastells erwidernd, an dem Fort und den Hafen-Batterieen vorüber hinaus auf die offene See.

An seinem Platz auf der oberen Kajüte stand lange noch ein einsamer Mann, zurückschauend nach der immer mehr verschwindenden Stadt, und stürmische Gedanken, die Erinnerung an alles, was er verlassen, an den unbekannten Kampf, dem er entgegenging, bewegten ihn.

So lange er sie sehen konnte, hingen seine Augen an der Fahne Frankreichs, die lustig von dem Turm des Forts wehte. Und waren es auch nicht die Lilien seines alten Königs-Geschlechts, war es auch nicht die weiße Fahne der Bourbonen, unter der Frankreich zwei Jahrhunderte groß und mächtig gewesen; auch diese Trikolore war die Flagge seines Vaterlandes und hatte seine Söhne in vier Weltteilen so oft zum Siege geführt.

»Lebe wohl, Frankreich! Lebe wohl, mein Vaterland! – Adieu! Adieu!«

Eine leise sanfte Stimme an seiner Seite wiederholte den letzten Ruf. Eine weiche Hand faßte die seine, die andere deutete hinauf zu dem klaren Dezemberhimmel.

»Adieu! wenn er es will!«

Er sah erstaunt, betroffen auf die schlanke kleine Gestalt des Schiffsjungen, den er schon vorhin bemerkt und der sich jetzt leise weinend an seine Schulter schmiegte. Der Matrosenhut von schwarzem Glanzleder war von den braunen Locken gefallen, bittende, flehende Augen, von Thränen umschleiert, hoben sich unverhüllt zu ihm empor.

»Suzanne! um Himmels willen! was willst Du hier?«

»Dich begleiten, Aimé, Dein Schicksal teilen, es sei Glück oder Tod,« flüsterte die junge Frau. »Ich habe Kind und Heimat, alles, was mir dort lieb und wert, verlassen, um Dir zu folgen; denn mein Herz hat mir gesagt, daß Du mich getäuscht über Deine Zukunft, und daß Du unbekannten und großen Gefahren für die unsere entgegengehst. So laß sie mich denn teilen und erhöre meine Bitten und Thränen, wie Bonifaz ihnen nicht widerstehen konnte. Laß mich mit Dir gehen als Deine Dienerin, als Deine Sklavin wenn Du willst, und meine Brust zwischen Dir und der Gefahr sein. Stoße mich nicht von Dir, denn Du würdest Deinen guten Engel von Dir stoßen.«

Sie hielt ihn fest umschlungen, und er sah lange auf sie nieder, unentschlossen, was er thun sollte und doch gerührt von solcher Liebe.

Dann endlich siegte die Rührung in ihm, er machte sich sanft aus ihrer Umschlingung los, und indem er den in einiger Entfernung nicht ohne Besorgnis harrenden Bonifaz herbeiwinkte, reichte er beiden die Hand.

»Sei es denn,« sprach er fest; »es geschehe, wie Ihr wollt. Die Treue und die Liebe sollen mich begleiten, der Freund, die Mutter meines Sohnes, und wenn ich je ihrer Hingebung vergesse, möge die Liebe und die Treue mir zum Verderben werden. Seid willkommen! Hand in Hand mit Euch, auf Deine Kraft, Bonifaz, und auf Dein Herz, Suzanne, gestützt, fürchte ich nichts, was die Zukunft birgt! Ich werde mein Ziel erreichen!«

Er hob das Auge, und als wenn es auf ein giftiges Reptil getroffen, bebte er unwillkürlich zurück. Sein Blick war dem begegnet, der ihn vorhin aus der Menge der Deckpassagiere heimlich verfolgt.

Jetzt stand der Mann frei und offen am Mittelmast an der Grenze des Vorderdecks, welche die niederen Passagiere nicht überschreiten durften. Er stand, die Arme über die Brust gekreuzt, und hielt sein schielendes Auge mit dem Ausdruck des Hasses und der rachsüchtigen Bosheit auf den Grafen gerichtet.

Ein Blick hatte diesem genügt, den Mann zu erkennen – es war der Amerikaner, der den armen Gambusino nach Paris geführt.

Da waren sie in dem engen Raum vereint, der gute und der böse Engel seiner Zukunft. Wer von ihnen würde den Sieg davontragen?

Hinter ihnen verschwand die Küste.



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