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Die Wurzelprinzessin.

Ein Märchen.

1.

Auf dem Wege zwischen Nürnberg und Leipzig lief in früheren Zeiten die Straße an einer Stelle neben dem Rande eines dunklen Waldes hin, der sich weit in das Land hinein über die Berge fortzog. Mitten in diesem Dickicht bildeten Felsen ein tiefes grünes Tal, von fast undurchdringlichen Hecken umgrenzt, so daß weder Menschen noch große Tiere dort einzudringen vermochten. Hier lebte zu jener Zeit das lustige Volk der Wurzelmännchen. Das waren niedliche, menschenähnliche Geschöpfchen, die größten vielleicht eine Spanne, die kleinsten einen kleinen Finger lang. Sie wohnten im Sommer in Mooslauben und unter hohen Farnkräutern, im Winter verkrochen sie sich zwischen Baumwurzeln, in Astlöcher und Felsspalten. Ihre Kleidung war fein und zierlich: die Männerchen trugen Moosröckchen und Mooshöschen, die Weiberchen Kleider von hübschen bunten Blumen, Blättern und Spinnengeweben, je nachdem es kalt oder warm war. Von langer Weile wußten sie nichts; immer hatten sie viel zu tun, mußten ihre Straßen in Ordnung halten, Vorräte sammeln und dergleichen mehr; auch trieben sie gern allerlei Kurzweil mit Klettern und Springen, stellten auf dem Bach, der durch ihr Land floß, große Wasserfahrten in Nußschalen an, jagten sich mit Grashüpfern und Maikäfern und führten nach dem Gesange der Vögel die zierlichsten Tänze auf; dazu verstanden sie die Sprache aller lebenden Wesen.

Zwei Feste im Jahr machten den Wurzelmännchen besondere Freude. An gewissen Tagen des Frühlings und Herbstes zogen große Scharen munterer Gäste heran, die dann gastfreundlich bewirtet wurden und zum Dank dafür dem kleinen neugierigen Volk zu erzählen pflegten, wie es draußen in der Welt zuging.

Diese Gäste waren niemand anders als die Tausende und aber Tausende von Wandervögeln, die im Frühling aus dem Süden, im Herbst aus dem Norden daher kamen. – Da klapperten die Störche ihre Dorfgeschichten, die Zugschwalben zwitscherten Hausmärchen, und die Nachtigallen brachten neue schöne Lieder mit; dann kamen auch wohl noch Wanderratten dazu und trugen Reisebeschreibungen vor, und Elstern und Krähen erzählten schauerliche Sagen. Auf diese Weise erhielt das Wurzelvolk fortwährende Kunde von der ganzen Welt. Allerdings erregten solche Erzählungen große Neugier, die Menschen kennen zu lernen; doch immer hielt eine angeborene Scheu die kleinen Wesen ab, ihr friedliches Tal zu verlassen.

Nun regierte einmal in jenem Volke ein guter, lieber Wurzelkönig, der hatte eine sehr schöne Prinzessin zur Tochter. Diese aber war neugieriger als alle andern Mädchen der Welt, ja, sogar neugieriger als alle ihre kleinen Landsmänninnen. Der Wunsch, auch einmal die Menschen da draußen zu sehen, von denen sie soviel Wunderbares gehört hatte, war bei ihr gar mächtig geworden. Der gute König tat sein Möglichstes, ihr diesen Wunsch auszureden. Er stellte ihr die Menschen als grimmige, eigennützige Riesen vor. Kein lebendes Geschöpf, sagte er, sei vor ihrer Herrschsucht sicher, der größte Elefant müsse ebensogut nach ihrem Willen tanzen wie der kleinste Floh. – Das half alles nichts, seine Tochter hatte sich's einmal in den Kopf gesetzt, eine Reise ins Land der Menschen zu versuchen. Weil nun dieser Gedanke sie immer schwermütiger und magerer machte, beschloß der König endlich ihren Willen zu tun in der festen Hoffnung, der eigne Anblick würde sie für immer abschrecken und von ihrer krankhaften Neugierde heilen.

Sogleich wurde ein schönes, neues Vogelnest ausgesucht, mit Federn und Moos gepolstert und darüber von Blättern ein schattiges Dach zum Schutz gegen die Sonne befestigt. Das bestieg der Wurzelkönig mit der Prinzessin. Auch vergaß man nicht ein feines Mittagsessen von saftigen Beeren, Honig und Blütenknospen hineinzulegen. Zwei Kraniche, die sich acht Tage vorher darauf eingeübt hatten, nahmen das Nest in ihren Schnabel, und im Fluge ging es durch die Luft geradeswegs zur nächsten Hauptstadt der Menschen.

In wenig Stunden schwebten die beiden Vögel mit dem Neste über den Häusern der Stadt. Mit leisem Fluge ließen sie sich aus der Luft herab und setzten die königliche Luftkutsche vorsichtig auf die Turmgalerie des Rathauses nieder, von wo man alle Straßen überschauen konnte, ohne Gefahr, selbst gesehen zu werden. – Das war ein Anblick! So prächtig hatte sich selbst der König eine Menschenstadt nicht denken können. Die Prinzessin jubelte auch vor Freuden so sehr, daß sie beinahe aus dem Nest gefallen wäre, hätte nicht einer der Kraniche mit seinem langen Schnabel sie schnell an den Beinchen festgehalten.

Nun wollte aber der Zufall, daß gerade an demselben Tage der Prinz des Landes in dieser Hauptstadt seine Hochzeit mit einer fremden Königstochter feierte, so daß die ganze Stadt in größter Pracht funkelte.

Was gab es da nicht alles zu schauen! Aufzüge, Jahrmarkt, Parade von tausend Regimentern, Theater im Freien, Seiltänzer, Tanzböden, Wettrennen – es läßt sich unmöglich beschreiben! Vor allem aber der Prinz und seine junge Frau! Wie schön sah er aus in seiner roten Husarenuniform, mit dem Stern auf der Brust, dem Schnurr- und Knebelbart und den großen blauen Augen, und sie, im roten Samtkleide mit Perlen und Brillanten über und über bedeckt, die bis hoch auf die Ratsturmgalerie heraufblitzten! – Wo man nur hinsah, gab es immer wieder was Neues, und so ging es vom frühen Morgen, bis die Sonne hinter den Bergen verschwand.

So sehr alle die Herrlichkeiten den Wurzelkönig auch entzückten, sein Urteil über die Menschen änderte sich nicht. Daher war es ihm denn gar nicht recht, daß seine Tochter gerade am heutigen Tage die glänzendsten Seiten des menschlichen Treibens kennen lernen mußte. Dennoch war er zu schwach, sich selbst den Anblick zu versagen. Er wäre auch noch länger dort oben geblieben, wenn bei anbrechender Dunkelheit nicht plötzlich Menschen auf die Galerie gekommen wären, um dort Illumination und Feuerwerk anzustecken. Die Männer näherten sich dem Neste. Wie erschrak die Prinzessin beim Anblick dieser Riesengestalten! Auch der König verlor vor Angst die Sprache, und hätten nicht die Kraniche von selbst das Storchnest in die Höhe gehoben und in raschem Fluge davongetragen, so wäre es mit dem Wurzelpärchen und unsrer Geschichte bald zu Ende gewesen. So aber war es gerade zur rechten Zeit. Noch ganz von weitem sahen die Luftfahrer das Feuerwerk über dem Rathausturm in die Luft prasseln, was aus der Ferne zwar sehr prächtig anzuschauen war, in der Nähe aber ihr sicherer Tod gewesen wäre. Wohlbehalten kamen beide wieder in ihrem Wurzeltale an.

Freilich erkannte nun wohl die junge Prinzessin, daß die Menschen für sie zu groß wären, als daß sie mit Vergnügen ihre Herrlichkeiten hätte genießen können. Die alten Wünsche stiegen aber dennoch wieder und jetzt viel stärker als früher in ihrem Herzen auf, wenngleich in einer etwas andern Gestalt. Sie bildete sich fest ein, es müsse auf Erden noch ein andres Geschlecht geben, so klein wie ihre Landsleute, aber so gescheit wie die Menschen, und sie beschloß daher, niemals in ihrem Leben zu heiraten, wenn nicht ein Prinz von ihrer Größe sie zur Frau nähme; der aber müßte gerade solche Husarenjacke anhaben, gerade solchen Stern auf der Brust tragen und gerade so große blaue Augen besitzen wie der Menschenprinz in der Hauptstadt; auch sollte er über ein Völkchen regieren, das ähnliche Eigenschaften wie jenes besäße.

Diese Grille seiner Tochter machte den alten guten König recht traurig. Wie gern hätte er einen Schwiegersohn gehabt! Aber ein solcher? Wo in der ganzen Welt war der zu finden? Zwar versuchte er alles mögliche, um sein Volk nach menschlichen Grundsätzen zu bilden, doch kam bei alledem nicht eben viel Gescheites heraus. Hören konnten die kleinen Kerle nicht genug von den Menschen und ihrem Treiben, aber selbst welche werden! Nein! Sie sollten nun und immer bleiben, was sie waren: freie, lustige Wurzelmänner! Die Folge davon war, daß die Prinzessin keinen Mann und der König keinen Schwiegersohn bekam.

2.

Es waren mehrere Jahre vergangen, als wieder einmal das Frühlingsfest erschien. Schon blühte und sproßte alles, auf Bäumen und Hecken, auf den Felsen wie in den Gründen. Das Wurzelvolk hatte bereits seine dunkeln Winterquartiere verlassen und seine Sommerwohnungen an dem kühlen Bache bezogen, der jetzt wieder lustig dahinsprudelte. Begierig harrte alles auf die Ankunft der geflügelten Gäste.

Endlich kam der große Tag heran. Es war ein schöner Maienmorgen; durch das junge, saftige Nußlaub des Waldes flimmerte und funkelte der Sonnenschein über Blumen und Rasen, über Kiesel und Wellen. Da sah man schon ganz in der Frühe die kleinen Herolde in neuen Moosröckchen auf Heupferdchen das Tal durchreiten, und mit heller Stimme riefen sie überall aus:

»Heraus, ihr Wurzelmänner, heraus!
Der Frühling ist kommen, die Vögel sind drauß'!«

Kaum war der Ruf vernommen, so strömte das ganze kleine Volk zur Nußwiese hin, die, immer für solche Feste bestimmt, auch diesmal aufs schönste geschmückt war. In der Mitte prangte auf einem zierlich mit Kieselsteinchen belegten Maulwurfshaufen der Thron für den guten König und seine schöne Tochter, er war aus Schneckenhäusern und Bachmuscheln erbaut und mit Federchen gepolstert. Eine lange sechsfache Allee von Maiglöckchen führte schnurgerade zu ihm hin, und als die königlichen Herrschaften, begleitet vom ganzen Hofe, auf Eichkätzchen da hindurch galoppierten, erklangen alle Maiglöckchen in wunderlieblichen Melodien, denn an jeder Staude war eine Spinne angestellt, die sämtliche Glocken daran an feinen Spinnenfäden läuten mußte.

Es erfolgte eine feierliche Stille. Die Vögel waren noch immer nicht da. Wahrscheinlich hatten sie sich noch irgendwo in der Nähe niedergelassen, um ihre Federn, die von der langen Reise in Unordnung geraten, in Ordnung zu bringen; sie mußten doch vor ihren freundlichen Wirten als anständige Gäste erscheinen. – Plötzlich hörte man fern, dann immer näher und näher ein Platzen von Knallschoten, das gewöhnliche Zeichen, daß die Gäste im Anzuge wären, und alsbald rauschte es hoch in der Luft. Schon kamen einzelne Züge der Vögel über den Wald daher, dann wieder welche, und so immer mehr, bis zuletzt die Wiese ganze beschattet ward von den fliegenden Gästen. In langen Scharen ließen sie sich auf der Mitte des Platzes nieder.

Allgemeiner Jubelruf erscholl ringsum. Darauf ließ man die Ankömmlinge sich an Speise und Trank erquicken, und nun bestieg ein alter Storch, der berühmteste Erzähler seiner Zeit, einen Felsblock, der ihm als Kanzel diente. Schon machte er sein gemütliches Gesicht, womit er alle Erzählungen zu beginnen pflegte, schon räusperte er sich und öffnete den langen roten Schnabel; da ward er durch ein lautes Gemurmel des Volkes unterbrochen, und ein eigentümliches Geräusch, wie von vielen Wagen und Pferden, erscholl aus der Ferne. Wurzelherolde sprengten heran und meldeten: drinnen im Walde rücke ein ganz neues, fremdes Volk in unabsehbaren Scharen daher, geführt von einem Prinzen in roter Husarenuniform mit großen blauen Augen und einem Stern auf der Brust. Derselbe nenne sich Fürst Nußknacker, sein Minister heiße Hampelmann, und beide ersuchten den Wurzelkönig und dessen Fräulein Tochter um einen allergnädigsten Empfang.

Bei dieser Nachricht ward die Prinzessin vor Schreck glühend rot und der König leichenblaß. Die Prinzessin glaubte, der Menschenprinz in der Hauptstadt habe sie neulich auf der Rathausturmgalerie erblickt und komme her, um sie zu heiraten. Der König fürchtete, das Riesenvolk der Menschen ziehe herbei, um ihn und seine Untertanen zu vernichten und sein Land zu erobern. Als sie aber erfuhren, Prinz Nußknacker und sein Volk sei nicht größer als die Wurzelmänner selber, verwandelte sich ihre Angst in eine solche Freude, daß die Prinzessin ihrem Vater um den Hals fiel und gar nicht aufhören konnte, seine Hände zu küssen; der König aber gebot dem erzählenden Vogel Schweigen und befahl, den fremden Prinzen mit seinem Gefolge sogleich herzuführen.

Wie Prinz Nußknacker und sein Rat Hampelmann hierher kommen, wird der folgende Abschnitt erzählen.

3.

Die Straße von Nürnberg nach Leipzig führte zur Zeit unsrer Erzählung an einer Stelle neben einer tiefen Schlucht dahin, durch die sich ein klarer Bach hindurchschlängelte. Er kam geradeswegs aus dem Wurzeltale und hatte die wunderschöne Eigenschaft, daß alles, was da hineinfiel, sogleich lebendig wurde, wenn es nur vorher schon die Gestalt irgend eines lebenden Wesens gehabt hatte.

Da geschah es eines Tages, daß ein Frachtwagen, der zur Leipziger Messe fuhr und turmhoch voll Kisten und Kasten gepackt war, gerade als er an dieser Schlucht vorüberkam, ein Rad brach und in den Abgrund stürzte. In den Kisten war lauter Nürnberger Spielzeug aller Art und von solcher Menge, daß ein ganzer Jahrmarkt damit ausgestattet werden konnte. Als der arme Fuhrmann den Wagen da unten liegen sah, wo kein Mensch hinzukommen konnte, lief er in die weite Welt. Wer weiß, wo er geblieben ist! – – Natürlich waren durch den Sturz des Wagens einige Kisten aufgesprungen, und von den Puppen, die da herausfielen, waren ein Nußknacker und ein Hampelmann in den Wunderbach gerollt. Eben wurden sie vom Wasser des Baches nur ein wenig benetzt, so durchdrang auch beide sogleich ein wunderbares Leben. Langsam erhoben sie sich und sahen einander verwundert an. Nußknacker, schön lackiert, mit den glotzenden blauen Augen, dem hölzernen Zopf und dem Stern auf der Brust, stand auf seinen Beinen wie eine Säule da; Hampelmann dagegen in seiner bunten Jacke, mit lachendem Gesicht, schlug Hände und Beine vor Freuden über dem Kopfe zusammen und hüpfte wie ein Wiedehopf um jenen herum.

Wie diese ersten Lebensregungen in ruhigere Betrachtung übergingen, öffnete Hampelmann zuerst den Mund und sagte: »Großer Prinz! Daß Ihr ein Prinz seid und ich Euer lustiger Rat, das ist klar, denn sonst hättet Ihr keinen Stern und ich keine Narrenjacke. Was aber nun anfangen?«

»Diese Frage zu beantworten kommt dir zu, aber nicht mir,« entgegnete Nußknacker, den das Gefühl seiner erhabenen Geburt schon jetzt sehr stolz und nachdenklich gemacht hatte. In den Bart murmelnd, bewegte er seine kräftigen Unterkinnbacken fortwährend auf und nieder und fuhr dann weiter fort: »Lieber Hampelmann! Daß ich, wie du sehr richtig erkannt hast, zu einem großen Mann geboren bin, bestätigen mir außer meinem Stern auch noch drei Wünsche, die soeben in mir aufsteigen. Der erste Wunsch zielt auf ein Gericht guter und feiner Nüsse, denn ich bin bei außerordentlichem Appetit; der zweite besteht in der Sehnsucht nach einem treuen Volk und einer glänzenden Armee, denn zum Regieren bin ich nun einmal geboren; der dritte endlich geht aus nach einer schönen und reichen Prinzessin, die mir zugleich als Mitgabe ein hübsches Stück Land zubrächte, worin ich in aller Gemächlichkeit mit deiner Hilfe Nüsse essen, regieren und mich belustigen könnte. Deine Pflicht ist es nun, mir zu raten, wie ich diese Wünsche in Erfüllung setzen könnte!«

»Besser Taten als Raten!« rief Hampelmann. »Verlassen sich Eure Herrlichkeit nur auf meine Lustigkeit. Noch vor Sonnenuntergang sollen Sie sich im Besitz aller dieser Kleinigkeiten befinden, oder ich will nicht mehr Hampelmann heißen und meine Beine nie mehr über meinem Kopfe zusammenschlagen können.«

Mit diesen Worten sprang er auf den nächsten Nußbaum und schüttelte, was er konnte. Wie Hagel fielen die köstlichen Nüsse von den Zweigen herab und wurden von dem hungrigen Prinzen mit größter Schnelligkeit verarbeitet, so daß er erst recht aufzuleben begann, als sein Hunger befriedigt war.

Viel schwieriger als der erste Wunsch war der zweite auszuführen, aber auch dafür wußte Hampelmann Rat. Die umherliegende Ladung des Frachtwagens enthielt ja ein Volk und Soldaten genug, es kam nur darauf an, die Kisten zu öffnen und alle die tausend Puppen, die sich darin befanden, lebendig zu machen. Leider aber waren die Bretter der Kisten so fest aneinandergefügt, daß die Kraft der beiden kleinen Leute nicht ausreichte, sie zu öffnen.

Wie sehr sie sich auch daran abmühten, alles war umsonst. Da war guter Rat doch teuer! Vor lauter Nachdenken traten dem Nußknacker seine großen Augen schon weit aus dem Kopfe hervor, daß sie wie Krebsaugen anzusehen waren, Hampelmann dagegen verlor keinen Augenblick seinen lustigen Mut. Um Hilfe zu ersehen, drehte er sich wie ein Kreisel nach allen Seiten herum, und eh' er es selbst noch dachte, zeigte sich ihm wirklich die ersehnte Hilfe in einer Art, die ans Wunderbare grenzte.

Weithin schienen die braunen Felder, die neben der Schlucht dem Walde gegenüberlagen, auf einmal lebendig zu werden. Ein gewaltiger Zug Wanderratten, die auf einer Reise von Süden nach Norden begriffen waren, zog daher und ging zufällig gerade auf die umherliegenden Kisten los.

»Aus dem Wege, mein Prinz,« rief Hampelmann, »wenn wir uns nicht selbst wie Haselnüsse wollen auffressen lassen.«

Beide sprangen auf die Seite. Die Ratten, die, wie bekannt, keine Umwege kennen, sondern immer gerade aus, durch Felder und Wälder, über Zäune und Mauern hinwegspazieren und sich durchbeißen, wo sie nur können, fielen ohne Umstände über die Kisten her. Das frische, junge Fichtenholz der Bretter war ihren scharfen Zähnen ein gefundenes Fressen, ebenso die festen hanfnen Stricke. Bald hier, bald da fiel ein Deckel, bald hier, bald da sprang ein Strick. Das köstliche Spielzeug lag in kurzer Zeit bunt durcheinander auf der Straße umher, und einzelne Ratten fingen schon an, auch an diesem ihre leidenschaftliche Nagelust zu befriedigen. Wie Hampelmann das sah, rief er den Ratten zu: »Prosit Mahlzeit, ihr Bretterfresser! Jetzt habt ihr genug!« Und mit einem Satze sprang er in den Bach, schlug Arme und Beine fortwährend über dem Kopfe zusammen, daß das Wunderwasser weit umher und auf alle die Nußknacker, Hampelmänner und zinnernen und hölzernen Soldaten spritzte, die, nun auch davon benetzt, sogleich lebendig wurden und auf ihren Beinchen emporsprangen.

»Immer mir nach! Und macht's wie ich!« rief Hampelmann fortwährend. »Ein Narr macht viele Narren, ein Kluger viele Kluge!« – Und richtig, immer neue Puppen lebten auf und erweckten wieder neue zum Leben, die Regimenter fanden sich zusammen, die kleinen Pferde an den kleinen Kanonen erhoben sich und fuhren ihnen nach, die zinnernen Generale stellten sich an die Spitze der Armeen und kommandierten, und im Nu war die Schlachtordnung gegen die Ratten gebildet. Es war aber auch die höchste Zeit, denn schon fielen einige Puppen unter den scharfen Zähnen der garstigen Tiere zu Spänen auseinander. Da erwachte auch im Nußknacker ein wahrhaft großartiger Heldenmut. Seine Augen rollten nach allen Seiten, seine Kinnbacken klapperten vor Kampflust, der hölzerne Zopf begleitete alle Bewegungen seines Mundes mit fürchterlichen Zuckungen! Schnell zog er sein Schwert aus der Scheide, und an der Spitze seiner Leibgarde (die ebenfalls Nußknacker, aber ohne Stern, daher auch keine Prinzen waren) führte er das Heer zur Schlacht.

Jetzt kommandierte er Feuer! Sogleich knatterten alle Gewehre und Kanonen der unzähligen Regimenter auf die Ratten los, und erschreckt von dem ungewohnten Getöse ergriffen diese eiligst die Flucht. So ward der Sieg glänzend errungen, und wo früher umgestürzte Kisten aufgetürmt waren, sah man nun eine neue bunte Welt. Städte und Dörfer, Festungen und Landhäuser, Küchen und Putzstuben lagen über- und untereinander, dazwischen liefen viele Tausende kleiner Menschen und Tiere umher. – Das erste, was nun geschah, war natürlich, daß Prinz Nußknacker sich von seinem Volke als Fürst huldigen ließ.

Jetzt war aber die letzte Aufgabe noch zu erfüllen: eine Prinzessin zu finden und mit ihr ein Stück Land zu erwerben, wo die neue Kolonie sich niederlassen könnte. Auch dazu fand Hampelmann bald Rat. Einige verwundete und gefangene Ratten mußten auf sein Geheiß von allen Prinzessinnen, die sie auf ihren Wanderungen kennen gelernt hatten, Bericht erstatten. Als sie nun auch von der Wurzelprinzessin viel Schönes berichteten, wurde bei ihrer Beschreibung das hölzerne Herz des Fürsten Nußknacker so stark erwärmt, daß ein Ton durch dasselbe fuhr, als wenn eine Diele in einer plötzlich erwärmten Stube zu reißen anfängt. Dieser Ton war ihm ein Zeichen: nur diese und keine andre Prinzessin dürfe seine Königin werden. Er beschloß daher auf der Stelle, mit seinem Volke dorthin zu ziehen und um die Prinzessin zu werben.

Sogleich wurde der Zug geordnet. Als Führer dienten die gefangenen Ratten. Ihnen folgte Reiterei, dann der König mit seinem Hofstaate, hinter ihm das Geschütz und Fußvolk. Nun kamen Schaukelpferde, über und über mit Schachteln beladen, darin die Städte, Dörfer, Theater, Festungen, Küchen und dergleichen mehr, ebenso das Küchengeschirr und der Hausrat; hinter diesen die kleinen Lastwagen, die blechernen und hölzernen Kutschen, ganz mit Passagieren besetzt, dann Fußgänger aller Art, in allen Kleidertrachten von Adam bis auf unsre Zeiten. Ihnen folgten lange Herden von Tieren, groß und klein, alle aus den Noahkasten und Menagerien, die auf dem Frachtwagen gewesen waren, erst die zahmen, zuletzt die wilden, letztere umgeben von zinnernen Beduinen und Tscherkessen, die aufpassen mußten, daß die kleinen brüllenden Bestien nicht sich selber oder andre unschuldige Wesen auffräßen. Und zwischen allen diesen Zügen sprangen die Hampelmänner, Harlekine und Ledermätze einher, machten ihre Possen und erhielten das ganze Volk auf dem langen und beschwerlichen Marsch fortwährend bei gutem Mute.

Auch schwammen auf dem Wunderbache, an dessen Ufer sie hinzogen, ganze Flotten magnetischer Schiffe, dazwischen die blechernen Schwäne, Enten und Fische. Nun denke man sich diesen unabsehbar langen Zug in dem schönen grünen Walde zwischen Maiglöckchen, Veilchen und Butterblumen, unter Lattichblättern, Brennesseln und Farnkräutern bergauf und bergab marschierend, und alles das bei funkelndem Sonnenschein unter blauem Himmel, und dazu die Anstrengung und Mühe der kleinen Wichte, das Rädergeknarre, das Peitschengeknalle, das Kommandieren, Musizieren und Singen an guten Stellen, das Ach- und Wehgeschrei auf beschwerlichem Pfade, wie zierlich und lustig muß das ausgesehen haben! Da war's wohl sehr natürlich, daß auf dem ganzen Wege, den der Zug machte, die Vögel aus den Sträuchern, die Käfer aus den Blumen, selbst die Regenwürmer und Schnecken aus der Erde neugierig herbeikamen, und daß diese alle doch einen großen Respekt bekamen vor dem König Nußknacker, der ein so blankes Volk beherrschte und sogar auf Reisen führte.

Nach langer Mühe und unsäglichen Anstrengungen langte endlich die Kolonie, wie wir schon gelesen haben, bei der großen Nußwiese an.

4.

Prinz Nußknacker und seine Begleiter wurden vom guten Wurzelkönig auf das freundlichste empfangen. Die Prinzessin schwamm in Entzücken über die glänzende Erscheinung des schönlackierten hölzernen Fürsten, der in einer steifen, wohlgesetzten Rede seine Liebeserklärung und seine übrigen Wünsche ungemein anständig vortrug. Auch der König wurde so von seinen Worten gerührt, daß er ihm ohne weiteres seine Tochter zur Frau und die ganze Nußwiese zur Aussteuer gab. Und als er nun gar seinen künftigen Schwiegersohn zärtlich umarmte, jauchzte ringsumher alles Volk, und alle die Tausende der Vögel stimmten mit Singen, Pfeifen und Klappern in das Vivatrufen und Jubelgeschrei ein. Darauf ward angeordnet, daß der ganze Zug des Puppenvolkes vor den Augen des versammelten Wurzelvolkes von seinem neuen Lande, der Nußwiese, Besitz nehmen sollte, was auch sogleich geschah.

Wie es nun im Leben so oft zu geschehen pflegt, daß man liebe alte Bekannte über neuen Gästen vergißt und sogar verachtet, so ging es auch hier zu. Die Wandervögel, die früher mit der größten Aufmerksamkeit behandelt wurden, die noch eben bei der Verbindung beider Völkerschaften durch den schönsten Spektakel ihre Teilnahme gezeigt, mußten es im Laufe dieses Tages erleben, daß man ihnen den Rücken kehrte. Die neugierigen Wurzelmännchen drängten sie sogar von allen Seiten zurück und gaben ihnen nicht undeutlich zu verstehen: sie könnten nur fortfliegen und für immer wegbleiben.

Empört über eine solche Behandlung, erhoben sich sämtliche Vögel wie mit einem Flügelschlage, schwebten noch einmal mit mächtigem Gebrause über den Köpfen der beiden Völker und verschwanden dann raschen Fluges in der blauen Luft.

O Entsetzen! Was ereignete sich da! Der Flügelschlag dieser Tausende hatte einen solchen Luftzug hervorgebracht, daß fast keiner der neuen Ankömmlinge sich auf den Beinen erhalten konnte. Die Zinnsoldaten fielen reihenweise, einer über den andern zu Boden. Die papiernen Helden, Schauspieler und Jäger wurden weit über die Wiese hingeweht, und selbst Fürst Nußknacker, der eben seiner geliebten Braut mit anständiger Manier die Hand küssen wollte, stand auf so schwachen Füßen, daß er taumelte, umfiel, den Maulwurfshügel herunterrollte und mit offenem Munde am Fuße desselben liegen blieb.

Das war ein schlimmes Zeichen für die Macht des neuen Fürstentums! Die große Verehrung, die die Wurzelmänner noch eben vor den neuen Ankömmlingen gehabt hatten, verwandelte sich bei diesem Anblick bald in Verachtung. Nur der gute König und die schöne Prinzessin ließen sich in ihrer Bewunderung nicht irre machen, sie sprangen eilig von ihrem Thron herab und halfen dem gefallenen Fürsten wieder auf die Beine. Nußknacker aber brach in bittere Schmähungen aus; er nannte die Vögel, die ihn umgeworfen hatten, alberne, hochfliegende Narren, die sich über alles auf der Welt erhöben, die alle Ordnung und Regel über den Haufen würfen. Sein Zorn wurde nicht eher besänftigt, als bis der künftige Schwiegervater versprach, daß auch er, um ähnliche Unfälle zu vermeiden, nichts Fliegendes, selbst keine fliegenden Blätter in seinem Lande dulden wolle.

Allmählich war alles wieder auf die Beine gekommen, der übrige Teil des Tages verging unter Jubel und Lustbarkeiten, und am folgenden Tage ward die Hochzeit des Fürsten Nußknacker mit seiner schönen Braut auf das allerglänzendste gefeiert; darauf nahmen beide Völker voneinander freundlichst Abschied, die Wurzelmänner kehrten in ihr Tal zurück, das Puppenvolk blieb auf seiner Nußwiese.

5.

Ganzer acht Tage bedurfte Fürst Nußknacker, um seinen Staat einzurichten, die Städte, Festungen und Dörfer an geeigneten Stellen aufzubauen und seinen Untertanen ihren Platz und ihre Tätigkeit anzuweisen. Alles das wurde mit Hilfe des lustigen Ministers Hampelmann, der die Seele des Ganzen war, vortrefflich ausgeführt. Es schien auch, als wollte der Himmel selbst das neue Fürstentum begünstigen, denn bisher hatte sich kein Wölkchen am Himmel gezeigt, kein Windstoß eine Abteilung Soldaten umgeworfen, kein Regen die schönen bunten Wasserfarben des Schlosses abgespült oder die fürstlichen Zierden des großen Theaters aufgeweicht.

So lebte die junge Fürstin einige Tage mit ihrem Gemahl herrlich und in Freuden. Sie hatte bereits ihre alten Kleider aus Blumenblättern und Spinnweben abgelegt und trug sich, wie die eleganteste Staatspuppe, nach der neuesten Pariser Modezeitung. Ihre munteren natürlichen Bewegungen gewöhnte sie sich ab und nahm die steife Haltung ihres Mannes und ihrer Hofdamen an, die es für unanständig hielten, den Kopf nur etwas auf die Seite zu drehen. Das Gehen verlernte sie fast ganz, dagegen fuhr sie häufig auf Bälle, Konzerte und Paraden, auf Maikäferhetzen und Fliegenjagden. Ihr liebstes Vergnügen war und blieb der Putz. Alle Tage wechselte sie ihren Anzug, und vor ihren Fenstern waren sämtliche Modebuden aufgestellt, so daß sie gleich beim Aufstehen die ersten Blicke dahin werfen konnte.

Aber auch ihr Gemahl und seine Untertanen wurden immer übermütiger. Sie verachteten alles, was nicht Puppe und nicht so schön angestrichen und lackiert war wie sie. Jedes geflügelte Tier, das in ihre Nähe kam, wurde mit der härtesten Grausamkeit verfolgt.

Auch die Wurzelmänner, die von Zeit zu Zeit zum Vergnügen herüberkamen, wurden immer kälter empfangen. Bald blieben sie ganz weg. Selbst der gute König mußte es erleben, wie sein Schwiegersohn und seine eigene Tochter ihn mit der Zeit lieblos behandelten. Da verwandelte sich natürlich die frühere Freundschaft der beiden Völker schnell in bittern Haß. Noch waren nicht vier Wochen vergangen, so trieb Fürst Nußknacker seinen Übermut so weit, daß er von den Wurzelmännern einen monatlichen Tribut von 2000 Stück ausgesuchter Haselnüsse forderte, dabei an der Grenze seine Truppen zusammenzog und alle Festungen in einer Linie gegen das Wurzelreich aufstellen ließ. Im Falle der Weigerung wollte er mit Heeresmacht in das Land seines Schwiegervaters einfallen.

Eine solche Verletzung alles Rechtes mußte das weiche Gemüt des guten Königs aufs bitterste empören. Einen ganzen Tag lang weinte er die hellen Tränen in seinen bemoosten Bart hinein, dann sagte er sich öffentlich von der undankbaren Tochter los und beschloß, sie nie mehr vor Augen zu sehen. Endlich zog er sich selbst von allen Regierungsgeschäften zurück. Er fühlte wohl, daß er für ein so schwieriges Geschäft zu weichmütig sei.

Die Nachricht davon gelangte bald zu seiner Tochter. Jetzt gingen ihr die Augen auf, wie unwürdig sie ihre Hand verschenkt, wie tief sie durch Eitelkeit alle Pflichten gegen ihren Vater und gegen die verletzt hatte, die ihr früher lieb und wert gewesen. Leider war es zu spät. Sie versuchte alles, ihren Mann von seinen unbilligen Forderungen abzubringen, er blieb bei seinem Vorsatz. Da sie aber mit Bitten nicht nachließ, richtete er endlich seinen Zorn auch gegen sie, schloß sie in ihr Zimmer ein und wollte nichts weiter von ihr hören. Statt Lust und Heiterkeit waren nun Schmerz und Reue ihre ständigen Begleiter.

Indes war im Wurzelreiche ein junger, kräftiger König gewählt worden. Er teilte den Ingrimm seines Volkes gegen die frechen Eindringlinge und erklärte ihnen kurzweg den Krieg. Er beschloß, sie in einem furchtbaren Kampfe gänzlich zu vertreiben oder zu vernichten, daher berief er von allen Seiten Bundesgenossen. – Kaninchen und Maulwürfe, Eidechsen und Regenwürmer sollten unter der Erde in das Land Nußknackers einbrechen und Städte und Dörfer umstürzen. Heuschrecken, Bienen und Käfer sollten aus der Luft über die Feinde herfallen; auf der Erde wollten die Wurzelmänner selbst mit spitzen Binsenlanzen und scharfen zweischneidigen Grasschwertern die Feinde angreifen.

Der Morgen des verhängnisvollen Kampfes brach düster an, der Himmel hing voll schwarzer Wolken. In ihren grünen und braunen Moosröcken rückten die Wurzelmänner gegen die Nußwiese an, so daß der Feind sie nicht eher erkannte, als bis sie dicht unter seinen Festungen waren. Nun erhob sich ein Bombardieren und Feuern aus allen Schießscharten derselben, aber die Kugeln blieben in dem Moose der Angreifenden hängen, und mit lautem Gelächter erwiderten sie das furchtbare Schießen. Schnell drang das Wurzelheer auf der Nußwiese vor. Prinz Nußknacker warf sich ihnen mit seiner Leibgarde entgegen, wurde aber zurückgeschlagen. Er floh in den Palast und machte Hampelmann zu seinem Feldmarschall. Mit verzweifelten Sprüngen führte dieser auch die Hauptarmee ins Feld. Da überfiel ein allgemeiner Schrecken das Land. Schon hatten die unterirdischen Hilfstruppen der Feinde den Boden, wo das Puppenheer marschierte, und zugleich Festungen, Städte und Dörfer der Nußwiese unterhöhlt, und zu derselben Stunde stürzten fast sämtliche Gebäude des Landes mit lautem Krachen über- und untereinander zusammen. Auch den Feldmarschall Hampelmann packte ein alter grimmiger Maulwurf bei einem Bein und zog ihn trotz seines Hampelns in die Erde hinab. Nie hat man ihn wiedergesehen. – Das war das Zeichen zu einer allgemeinen wilden Flucht für das ganze glänzende Heer des Nußknackers, und mit dem Geschrei: »Rette sich, wer kann!« stürzten die Fliehenden dem fürstlichen Palaste zu. Der aber war aus festen hölzernen Prachtstuben erbaut und trotzte noch am längsten den wühlenden Tieren. Hier hatte Nußknacker bereits seine Staatskutsche anspannen lassen. Mit seiner Gemahlin warf er sich schnell in diese hinein und rief dem Kutscher zu: »Fort aus diesem Tal, so rasch es geht, so weit als möglich!« Da drängte sich sein Volk in wildem Getümmel um die Kutsche herum, einen Halt daran zu finden, denn überall sausten aus der Luft Insekten herunter und warfen mit ihren Flügeln zu Boden, was nicht auf sehr festen Füßen stand.

So wälzte sich das fliehende Volk wie ein großer Knäuel über die Wiese dahin. Obgleich hart von seinen Feinden bedrängt und mit Verlust vieler Toten, gelang es ihm doch, unter den großen Hecken, die das Tal umgaben, hindurchzuschlüpfen und in den Wald zu entkommen.

Da sollte das Elend der Übermütigen seinen Gipfel erreichen. Selbst der Himmel brach gegen sie los, dichter Regen strömte auf sie herab. Mit Trauer sahen Nußknacker und seine Gemahlin aus ihrer Staatskutsche, wie die Gießbäche auf dem Wege anschwollen, wie ihre Untertanen, Häuser und Geräte im wilden Strudel an ihnen vorbeigetrieben wurden, wie von den Ihrigen einer nach dem andern den Mühseligkeiten des Marsches erlag, in Abgründe stürzte oder sich in Wurzeln, Brennesseln und Laubabfall verwickelte und elendiglich umkam. Bald war Nußknackers ganzes Volk zugrunde gegangen. – Auch er fuhr nur noch wenige Schritte. Der Regen löste die geleimten Fugen der Kutsche auf, und das fürstliche Paar ward von der Wasserflut ergriffen. Erst jetzt erwachte wieder, durch die Not geweckt, der frühere kräftige Naturgeist der Prinzessin. Wie war sie sonst bei solchem Wetter jauchzend umhergesprungen und den Wellen entgegengeschwommen! – Mit der einen Hand faßte sie nur noch eben den Zopf ihres Mannes, mit der anderen einen Zweig. Schnell wollte sie sich mit ihm auf eine höhere Baumwurzel emporschwingen. Aber ach! Selbst das Haar des geängstigten Fürsten war nicht mehr stark genug! Den Zopf behielt sie in der Hand, ihren Mann sah sie von den Strudeln fortgetrieben, und bald war er ihren Blicken entschwunden.

Erst rief sie ihm klagend nach, dann aber regte sich ihr ursprüngliches Wesen um so kühner. Sie zerriß die läppischen modischen Kleider, die, vom Regen durchnäßt, ihre schlanken, kleinen Glieder beengten. Rasch wickelte sie sich in die ersten besten Blätter und kletterte schnell wie ein Eichkätzchen einen alten Baum hinauf, in dessen Astloch sie Schutz suchte gegen das Unwetter und die einbrechende Nacht.

6.

Zu derselben Zeit, als sich alle diese wunderbaren Dinge ereigneten, lebte am Ausgange des eben beschriebenen Waldes ein alter Vogelsteller mit seiner Familie. Seit den zwei Jahren, daß er sich hier angesiedelt hatte, war es ihm mit seinem Geschäft vortrefflich gegangen, und besonders im Frühling und Herbst waren so viele Vögel in seine Netze geflogen, daß er damit manchen Taler Geldes verdient, manchen Sparpfennig zurückgelegt hatte.

Nun war einmal an einem Frühlingstage ein sehr heftiger Regen gefallen, und seltsamerweise ließ sich seit jenem Tage kein Vogel mehr bei ihm sehen; seine Netze fand er des Morgens immer zerrissen, seine Leimruten verdorben, und selbst sein Uhu und die übrigen Lockvögel waren seit einiger Zeit aus ihren Käfigen und von ihren Stangen verschwunden. Und doch wohnte, wie er wohl wußte, kein Mensch im ganzen Walde, der das hätte tun können.

Einstmals hatte er seine Kinder mit der Holzkarre tiefer in den Wald geschickt, um Reisig zu suchen.

Es ward Abend; sie kamen und kamen nicht wieder. Schon fing es an, dunkel zu werden, und weil sie noch immer nicht da waren, überfiel ihn große Angst, und er beschloß sie zu suchen. Er setzte eben den Fuß vor die Tür, da hörte er aus dem Walde ein Jauchzen und Lärmen. Gottlob! Es waren seine lieben Kinder, die die Holzkarre hoch bepackt heranzogen und vor sich herschoben.

»Ihr Tausendsappermenter, wo bleibt ihr denn?« fuhr er sie halb ärgerlich, halb erfreut an; sie aber lachten, und indem sie das grüne Reisig, womit sie die Karre oben bepackt hatten, hinwegnahmen, riefen sie, ganz rot im Gesichte vor lauter Vergnügen: »Schau einmal, Vater, was wir haben!« Und siehe da! Der ganze Wagen war mit zerbrochenem, verbogenem und zernagtem Spielwerk von unten bis oben angefüllt.

Und nun ging das Erzählen der Kinder an. Der Sinn ihres Durcheinanderschreiens war der: Nachdem sie sich verirrt, seien sie in ein schmales, ebenes Tal gekommen, das sich wie ein Fußweg in den Wald verloren. Es sei dort noch ganz schlammig von letzten Regen gewesen. Da hätten sie denn alle diese Herrlichkeiten in buntem Gemisch durcheinanderliegend gefunden, und wäre nicht die Sonne hinter die Tannen gegangen, so würden sie den Weg noch weiter verfolgt haben. Der habe gar nicht aufgehört, sondern sei tief in dem Dickicht verschwunden, und so weit sie hätten sehen können, wär' er fort und fort mit solchen Schätzen besät gewesen.

Dem Vater kam die Sache seltsam vor. Er beschloß, am andern Tage den bezeichneten Pfad zu verfolgen, denn so hoffte er demjenigen auf die Spur zu kommen, der ihm die Vögel verscheucht und die Netze zerrissen hatte.

Als der nächste Morgen durch den stillen Wald dämmerte, zog die ganze Vogelstellerfamilie mit der Holzkarre dem Tale zu, und richtig, da fand sich alles, wie es die Kinder erzählt hatten.

»Siehst du, Vater, da ist wieder ein so prächtiger Kerl von Holz!« rief das jüngste Kind und scharrte einen garstigen Nußknacker, von dem alle Farbe abgespült und dessen Fußgestell abgelöst war, aus dem Schlamme hervor.

»Hu, was der Kerl für ein Gesicht hat, und was für ein Maul, und was für hervorstehende Augen!« riefen die Kinder durcheinander.

»Dummes Zeug! Die Fratze da!« rief der Alte, der noch immer ärgerlich war, nahm ihnen den Nußknacker weg und warf ihn zur Seite, eine ganze Strecke in den Wald hinein.

Da zeigte sich seinen Blicken ein wunderliches Schauspiel.

Aus einem Kranichneste, hoch auf einem alten Eichenbaum, erhob sich ein kleines weibliches Wesen von menschlicher Gestalt, ganz in weiße Spinnweben eingewickelt. Wie ein Eichkätzchen kletterte es den Baum herunter, lief eilig nach der Stelle, wo der zerbrochene Nußknacker lag, grub ihm mit beiden Händen ein Grab, legte ihn hinein, wobei zwei Kraniche ihm behilflich waren, und scharrte Erde darüber hin, worauf es eilig wieder auf den Baum und in das Nest zurück kletterte.

Der Vogelsteller und seine Familie standen mit offenem Munde da; sie wollten das kleine Wesen nicht verscheuchen, auch machte der neue Anblick sie unentschlossen, etwas dabei zu tun.

»Also du bist am Ende die kleine Hexe, die mir mein Brot wegnimmt,« platzte endlich der Vogelsteller seinen so lange verhaltenen Ärger heraus. »Wart' nur, mein hübsches Vögelchen! Morgen kommen wir wieder her, mit Beil und Netzen, da wollen wir schon deinen Baum umhacken und dich einfangen. Fürs erste aber wollen wir einmal sehen, wo denn dieser Weg hinführt, und ob da nicht mehrere deines Gelichters sind.«

Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als er sehen mußte, wie das kleine Weibchen ängstlich mit ihren weißen Schleiern aus dem Nest herauswinkte. Da kamen sogleich die Kraniche herbeigeflogen, faßten das Nest mit den Schnäbeln, hoben es aus den Zweigen und trugen es durch die Luft in schnellem Fluge davon.

Wer konnte das Weibchen wohl anders sein als unsere Wurzelprinzessin?

Furcht vor ihrem Vater und ihrem Volk hatte sie abgehalten, in ihr Tal zurückzukehren. Dazu war die Reue über ihre Hoffart, mit der sie die sonst so befreundeten Vögel behandelt hatte, so mächtig in ihr geworden, daß sie beschloß, an diesen freundlichen Tierchen das wieder gut zu machen, was sie früher an ihnen verschuldet hatte. Seit dem Unglückstage, der ihren Mann und dessen Volk vernichtet, hatte sie daher auf diesem Baume ihren Wohnsitz aufgeschlagen und sich mit liebender Sorgfalt aller jungen Vögel angenommen, deren Eltern gestorben waren. Eben sie war es auch gewesen, die trotz ihrer Furcht vor den Menschen die Netze des Vogelstellers alle Nächte zerriß und die Vögel warnte, in seine Nähe zu kommen.

In diesem Augenblick aber sah sie die Gefahr, die ihrem ganzen Volke drohte, wenn diese eigennützigen Menschen das Wurzelreich entdeckten. Da mußten alle andern Rücksichten schweigen.

Ohne Aufenthalt ließ sie sich von den Kranichen geradeswegs in ihr Tal tragen, mochte draus entstehen, was da wolle.

Auf der Nußwiese, die noch jüngst der Schauplatz ihres falschen Glanzes und ihrer Torheiten gewesen, war gerade an demselben Tage das Volk der Wurzelmänner versammelt. Auch sie hatten die Prinzessin trotz ihrer Torheiten noch nicht aufgegeben und wollten eben auf die Bitten ihres Vaters beraten, was man tun solle, um die Entführte aufzusuchen.

Da senkten sich die Kraniche mit dem Neste herab; bald fiel die reuige Tochter ihrem hocherfreuten Vater um den Hals, und das ganze Volk hatte Mitleid mit ihr und vergab ihr aus Herzensgrunde.

In der Freude über ihr Wiedersehen wollte sich nun alles der unbefangensten Lust überlassen, aber die Prinzessin wies jede Heiterkeit zurück. Sie verkündete den Ihrigen die Gefahr, die ihnen drohe, von Menschen entdeckt zu werden. Angst und Schrecken überfiel das Wurzelvolk bei dieser Nachricht. Nun war seines Bleibens in diesem Walde nicht länger. Man beschloß, auf der Stelle das Tal zu verlassen und durch unterirdische Höhlen in ferne Gegenden auszuwandern.

Der Zug setzte sich auch sogleich in Bewegung. Zu gleicher Zeit erschien aber auch schon auf der Höhe der Felsen hinter den dichten Hecken der Vogelsteller mit seiner Familie.

Waren diese Leute erst erstaunt gewesen, um wieviel mehr waren sie es jetzt, als sie die sämtlichen Wurzelmännchen in den Felsen verschwinden sahen.

Ganz erbost darüber, daß er nicht hinzukommen konnte, griff der Vogelsteller in die Hecken und versuchte auf jede Weise sie zu durchbrechen. Es half ihm aber alles nichts, er brachte nur zerrissene Hände davon.

»Ei du Himmel!« rief er aus, »hätt' ich nur mein Beil hier und meine Netze, die Knirpse da einzufangen! Der reichste Mann von der Welt könnt' ich werden, wenn ich die in der Stadt verkaufte oder für Geld sehen ließe!« Darauf nahm er schnell eine Vogelpfeife hervor und fing an zu blasen und Lockweisen zu singen. Er dachte, die Kleinen dadurch wie Vögel herbeilocken zu können. Auch das war umsonst. Das ganze Völkchen zog vor seinen Augen in den Fels. Die letzten kleinen Kerle lachten ihn noch obendrein aus, schnitten ihm spöttische Gesichter und machten ihm lange Nasen, und wie der allerletzte Zwerg in dem Berge verschwunden war, schloß sich dessen Öffnung. Kein Mensch hat die Wurzelmännchen seitdem gesehen.


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