Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

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Es ist nicht wahr, daß die Eroberung der Tropen, die mit Kortez begann und heute bis zu den Maschinengewehrorgien Kitcheners reicht – es ist nicht wahr, daß diese Eroberung beendet ist. In Wirklichkeit steht der 179 weißen Rasse die letzte, große Auseinandersetzung mit der Exotik noch bevor, und es liegt nahe genug, anzunehmen, daß mit ihr eine Schicksalsstunde unserer ganzen Zivilisation schlagen wird.

Es ist, wie es ist: Europa, das in seinen Maschinen göttliche und mit Selbstzweck ausgestattete Wesen verehrt, weiß mit der Exotik nichts anderes anzufangen, als ihre alten Kulturen zu zerstören, um desto leichter seine Industrieprodukte, die Exkremente eben jener Maschinen an ihre Stelle zu setzen. Und in hemmungsloser Unbekümmertheit glaubt der Ingenieur, der Exportkaufmann an die Unaufhaltsamkeit jenes Prozesses, der die ganze farbige Menschheit in häßliche, graue Kleider steckt, in Arbeitgeber und Arbeitnehmer einteilt, und es schließlich fertig bringt, aus dem letzten Kroeneger einen gesitteten Bankkorrespondenten für zentralafrikanische Sprachen mit Gehrock und Füllfederhalter zu machen.

In Wirklichkeit läßt sich das geheime Wollen des heutigen Tropenmenschen auf eine einfache Formel bringen: er, der bis zur Ankunft des ersten Handlungsreisenden in Wahrheit frei war, weiß heute ganz genau, daß dieser Sendbote der europäischen Wirtschaft ihm Bedürfnisse aufzwang, die er früher nicht hatte, daß er heute für diese Bedürfnisse arbeiten muß und ein Sklave seiner eigenen Ansprüche geworden ist. Da er aber von Natur bedürfnislos und stark genug ist, um in sich selbst zu ruhen, so lebt er trotz aller Kompromisse, die er mit dem Füllfederhalter, den Lackschuhen und dem Grammophon schließt, trotz aller seiner zivilisatorischen Beteuerungen im geheimen der Stunde entgegen, wo er dank seiner ungebrochenen Kräfte dem Abendland den Unfug der Zivilisation austreiben und den Weißen, sei es auch 180 unter Blutströmen, lehren wird, an andere Götter zu glauben, als an die vierfach gekuppelte Expansionsdampfmaschine.

So sehe ich denn die nächste blutige Auseinandersetzung der Welt, die Auseinandersetzung zwischen Natur und Maschinenmenschen kommen, und ich weiß, daß sie notgedrungen mit der vorweltlichen Grausamkeit des Urwaldes und mit einem trotz des Weltkrieges unbekannten Raffinement des Tötens geführt werden wird.

Wohnen Geburt und Tod irgendwo so nahe beieinander als in den Tropen? Sehe ich den Pflanzensproß, den ich unter der Linie schneide, nicht in einer halben Stunde, unter meinen Augen fast, einen neuen, fingerlangen Trieb treiben? Legt die Jarraraca nicht mit Vorliebe ihre Eier in die warme Fäulnis eines Säugetierkadavers, und riecht der Urwald nicht ebenso nach dem Grabe, wie er nach der Wochenstube riecht?

Wer die Tropen betritt, fühlt eine andere Seele in sich hineinschlüpfen – etwas von jener grausam-einfachen, heroischen Seele, die in dem Tierleben, der Vegetation, dem Klima des Landes lauert, jenen harten, das eigene und das fremde Leben in gleicher Weise mißachtenden Geist, der irgendwo im Mangrowe, im heißen Schlamm der Reisfelder verborgen sein mag. Da hier, wo zwanzigjährige Weiber Matronen werden, der zwischen Keimzelle und Leichnam sich abspielende Prozeß kürzer bemessen ist als in Europa, soll niemand sich wundern, daß man die Tatsache des Lebens mit unsentimentaleren Augen betrachtet. Und wer da glaubt, daß die Schicksale dieser weißen, in die Exotik verirrten Frau ungebührlich hart waren, mag bedenken, daß weder das zur schönen Geste gewordene Christentum noch die sozialen Gesetze 181 den Europäer hindern, durch Hunger, Sorge, das Gefühl der Abhängigkeit, die Hetze des Erwerbes den Mitmenschen ebenso unbarmherzig und schließlich nur ein wenig langsamer zu töten als jene Tonkinesen, die gefangenen Europäern Ratten statt der kunstgerecht herausgeschnittenen Eingeweide in den Leib nähten. – – –

Ende November fahren sie in die Straße von Singapoore ein. Sie steht, voll der Unbehaglichkeit, die immer gegen Ende einer Seereise an Bord herrscht, auf Deck. Nun sieht sie, wie aus dem Zwischendeck hervor das rückwandernde Asien kriecht, das während der ganzen Reise den Schiffsleib nicht verlassen hat: adelig ausschauende Afghanen, die in den Südstaaten der Union gegen Mexiko gedient haben und morgen Dienste in der englischen Armee nehmen werden und jetzt vor der Hand an Deck sich gegenseitig Spiegel vorhalten und die Bartwulste an ihrem Kinn sorgfältig frisieren. Dann Japanerinnen, die aus den großen Häusern der Westküste wieder in die der Malaystreet von Singapoore wechseln, graziös und winzig wie die grüngoldenen Zwergvögel ihrer Heimat. Und China kriecht hervor aus seinen Schlupfwinkeln im Zwischendeck, das es während der Reise in einen vorweltlichen Schmutzhaufen verwandelt hat: fette, kleine Südchinesen, die in Panama mit allem gehandelt haben, was es auf der Welt gibt, und hagere, rattenkahl rasierte Mongolen aus Petchili. Alte verschrumpfte Matronen mit tintenschwarzen Weiberhosen und knallgelben Gesichtern trinken undefinierbare Flüssigkeiten aus alten Konservenbüchsen, und neben den auf dem Deckplan hockenden Kartenspielern steht riesengroß glänzend in seinem Lackholz ein chinesischer Sarg: China will, wenn es schon in Amerika hat sterben müssen, drüben in dem heißen, chinesischen Schlamm 182 begraben werden, und der Kuli, der darinnen liegt, hat es schriftlich in seinem Arbeitskontrakt gehabt, daß die Betlehem Steel Works kostenlos seinen Leichnam zurückgeleiten zu den winzigen, ewigen Gräbern, in denen seine Ahnen schlummern.

Das wimmelt durcheinander wie ein nervöser Ameisenhaufen und schickt seine unglaublichen Gerüche nach einem Schmutz, der noch vom siebenten Schöpfungstage herstammt, zu der weißen Frau herauf. Sie wendet sich ab und sieht das dicke Wasser der Straße vorüberfliegen: Palmblätter darinnen und Holzstücke, ein Schwarm schwarzgelbgeringelter, pfeilschneller Wasserschlangen, undefinierbare, unförmliche Dinge, die von den Strömen Siams hierher getragen sind aus dem rätselhaften Inneren des unbekannten Asien. Es ist heiß wie in einer Badestube, und drüben die Inseln der Straße liegen in weißem Dampf, und man sieht auf den Kegelbergen die grünen Terrassen der Reisfelder zu ihren Füßen liegen. Ein Gewitter steht tintenblau über Sumatra, man sieht Theaterblitze, die sich mit übertriebener Hast ins Wasser stürzen, und Regenböen, die mit unwahrscheinlicher Schnelle über diese große Bühne ziehen wie die Wandeldekoration eines großen Theaters. Dann wird es noch heißer, als es schon ist, unerträglich schwüler Wind kommt, fliegt von allen Seiten heran, trifft die malachitgrünen Wasserberge und wirft mit nassen Sprühteufeln um sich. Ein Regen kommt, ein ausgegossenes heißes Bad, ein gottloser Wassersturz, und man ist in vier Sekunden bis in das Blut hinein durchnäßt und fürchtet, daß man nicht atmen kann in all dem Wasser . . .

Und siehe und siehe: aus der Regenwand da vorn löst es sich plötzlich und steht vor ihr: ein schwarzes, niederes Schiff, und man muß annehmen, daß es vor dreihundert Jahren versunken ist und nun wieder 183 aufsteigt aus dem Meeresschlund. Gelbe Augen, auf den schwarzen Bug gemalt, stieren sie an, und die windprallen Segel, von Bambusrippen gestützt, sind die Flügel eines gespenstischen Dämons. An dem festgelegten Ruder des Geisterschiffes stehen unbeweglich blaugekleidete Gespenster mit gelben Schädeln und eingefallenen Nasen: die erste chinesische Dschunke steht neben dem Schiff, wird von den graugrünen Seen umhergeschleudert und verschwindet wieder in den Wasserschleiern, aus denen sie aufgestiegen ist. –

Um drei Uhr, als sie Johnson Peer gegenüber zu Anker gehen, kommen Boote der Hafenpolizei, Bewaffnete klettern an Bord, niemand darf die Kabinen verlassen; überall sind Soldaten der britischen Majestät, durchstöbern alle Winkel, durchsuchen die Ladung, durchwühlen die Papiere der harmlosen Handelsleute.

Was ist's? Was gibt es? Ja, Alt-England hat wirklich seine traditionelle Ruhe verloren, seit unten in Aegypten, in Syrien seine Legionen in verzweifeltem Kampf um die Weltherrschaft ringen. In Indien, in Kleinasien, überall knistert das Feuer, auch hier in Singapoore sind die ersten Zeitungen, die an Bord flattern, voll der Brandnachrichten.

Vor ihrer Kabine erscheint der Offizier zuletzt. Zuerst die persönlichen Papiere: nun weiß der Brite Bescheid um ihre angebliche Ehe mit dem Earl of Hensbarrow. Er reicht die Pässe zurück . . . eine kurze Verbeugung vor dem Agenten einer fremden Macht, der einen britischen Namen trägt. Für sie, die weiße Frau, nicht ein Blick! Seit wann grüßt man auch eine Weiße, die sich zur Geliebten eines Niggers erniedrigt?

Der Brite sieht sich im Zimmer um, er ist dem Schreibtisch des Earl of Hensbarrow ganz nah. Und da kommt ihr plötzlich ein ganz merkwürdiger Gedanke. Wie, wenn er nun um die Schlüssel zu den 184 Fächern zu den geheimen Papieren dort bittet? Wenn man den fremden Tyrannen, der sie mißhandelt (sie hat die Spuren des letzten Faustschlages mit Puder verdeckt) . . . Ja, wie, wenn man ihn gefesselt in das Boot dort unten brächte? Was ist mit ihr? Haßt sie ihn plötzlich? Nein . . . nein, sie zittert gleich darauf, als der Brite vor dem Schreibtisch steht. Nein, gottlob, es ist ja nicht möglich, daß er Hand an die Papiere eines fremden Diplomaten legt. Er grüßt kurz und klirrt die Treppe hinab.

Unten nimmt man aus dem Zwischendeck sämtliche Asiaten auf großen Barken mit: weiß der Teufel, welch peinlicher Untersuchung sie unterzogen werden sollen. Dann ist das Schiff endlich frei und mit dem Quarantäneboot kommt die Post. Ein Brief für sie! Sie ist überrascht über die vielen Stempel, die er trägt: ah, der Marchese da Bisticci hat die Behörden in Bewegung gesetzt, um sie aufzuspüren, man hat den Brief von San Francisco mit dem schneller laufenden, nördlichen Dampfer an das amerikanische Konsulat geschickt!

Sie reißt auf: Percyval Tarquanson ist tot, er ist vor zehn Tagen an dem nun wirklich aufgetretenen diabetischen Koma in tiefer Bewußtlosigkeit hinübergefahren sanft und ohne Sterbensnot. Far well... Percyval Tarquanson ist tot und Ward Whitening ist tot, und die Männer sterben an ihr . . . der Tod kommt nach der Lust. Es fällt ihr nicht ein, mehr um ihn zu trauern als um den ersten besten fremden Menschen. Der Brief fällt ins Wasser. Eine tote Katze mit aufgetriebenem Leib treibt vorüber . . .

Nach zwei Stunden denkt sie nicht mehr daran. Sie hat genug an dem Hotel zu raten, das er mit ihr bezieht. Das liegt irgendwo im alten portugiesischen Viertel, im Ur-Singapoore, wo alte Gassen zum Signalhügel hinanführen; es ist ein altes Superkargohaus 185 mit weißer Säulenfassade, und so weit ist alles ganz in Ordnung. Aber innen bemerkt sie, daß es ganz von Asiaten bewohnt ist, daß die Gänge nach uraltem Schmutz riechen und daß man die Fenster nach dem Hof nicht öffnen kann, ohne einen Ozean von entsetzlichen Gerüchen hineinzulassen.

Sie ist klug genug, um nicht weiter zu fragen; sie versucht, ein heiteres Gesicht zu machen, sie ist glücklich, daß er sich immerhin zu einem gemeinsamen Essen auf der Terrasse des großen Ozeanhotels entschließt. Nach einer Stunde sitzen sie dort. Das Unwetter ist verschwunden, es grollt nur noch über den fernen Inseln. Es ist kochendheiß, und eigentlich kann man nicht atmen in diesem Backofen. Aber nun kommt ja die Seebrise, und die gepeinigten Europäer erwachen für ein paar Stunden zum Leben. Der Korso beginnt und das Leben bäumt sich nach zwanzig Stunden der Erschlaffung, des Whiskyrausches, der Alkaloidbetäubung plötzlich auf zu wilder Geilheit. Untadelige britische Offiziere, wandelnde Bildsäulen, die Herren dieser Welt, steigen die Treppe hinab und berühren einen der Rikschakulis, die wie gelbe Statuen vor den Wagen warten, mit dem Stock, und sausen wortlos davon. Die Viktorias der europäischen Agenten mit ihren großen Australierpferden drängen die winzigen Gefährte beiseite, in denen die jodoformfarbenen Besitzer der großen Lupanare sitzen. Feiste Holländer mit lymphatischer Haut werden in Tragstühlen vorübergeschleppt, und französische Ingenieure, innerviert vom Kokain für diese eine Stunde des Tages, schieben sich aufgeregt vorbei an den kirschroten Seeleuten, die vom Hafen den Bordellen der Malaystreet gemessen entgegenwandern.

Und dann geschieht es plötzlich, daß dieser Zug suchender, frauenhungriger Männer einem anderen Menschenstrom begegnet: es quillt aus den Häusern, aus der unteren Stadt, aus dem Superkargoviertel, 186 aus der Gegend der Andreaskathedrale, aus der Malaystreet selbst hervor . . . ein Strom weißer, grüner, gelber Weiber, alle Rassen der Welt geben sich ein Rendezvous . . . Anamitinnen mit weichem, elastischem Leib, Chinesinnen, die unter der Wollust nicht den höllischen Hohn ihrer Rasse verbergen. Französische Bonnen und weiße Kokotten mit dem bekannten Pöbelblick ihrer Kaste, vollbusige Russinnen und holländische Mischweiber von den Inseln drüben. Spinnwebdünn die Kleider und unverhüllt das Gliederspiel . . . man streift sich gegenseitig im Vorübergehen, man hascht mit Blicken und Händen nacheinander und atmet mit zitternden Nüstern den Duft des Fleisches. Man kümmert sich nicht darum, ob Syrien wirklich brennt, und Indien wirklich mit dem Aufstand droht, und ob man morgen wirklich geschlachtet werden wird von scharfen Asiatenschwertern . . . Wollust schwingt ihre Rosengeisel über alter und neuer Welt, farbiger und weißer Rasse; sie segelt in den knallroten Lackblüten herab, die sich in den Haaren der Weiber verfangen, wohnt in den fingerdicken, geilen, gelben Trieben der Blattpflanzen auf der Hotelterrasse, in dem Duft Asiens, in diesem unaussprechlichen Parfüm von Pfefferwürze, Blumenduft und Verwesung, zittert noch in den fernen Brunstlauten ungekannter Tiere in den ungekannten Wäldern drüben an der Meerstraße . . .

Die weiße Frau neben dem farbigen Mann dehnt wohlig in der brütenden Wärme den Leib. Sie summt die unwahrscheinlich obszönen Melodien der Korsomusik mit und lacht über den betrunkenen russischen Schiffsfähnrich, der am Rande des Korsos neben einem Haufen riesengroßer Silberrubel auf der Erde hockt und den farbigen Kakischutzmann über den vorgehaltenen Stock springen läßt: einen Rubel für jeden Hundesprung über den Stock des Herrn. Und für jeden Rubel eine Nacht bei einer Malaiin oder gar bei einer der weißen Frauen aus der Malaystreet . . .

187 An den Stufen des Hotels tönen leise Flöten. Aus den Körben turbanbehaupteter Inder kriechen die schwarzen Leiber dicker Kobren und ringeln sich zum Teller zusammen und recken das Haupt mit dem entfalteten Schild und wiegen sich im Takte der Musik. Der Earl of Hensbarrow fixiert plötzlich die Leute unten und springt unvermittelt auf und fährt mit erhobenem Stock in die Gruppe der Schlangenbeschwörer. Der Stock saust, die Schlangen ducken sich und fauchen, die Knochenflöten fallen in den Sand. Der Earl of Hensbarrow flucht in abscheulichem Cockney; sie versteht nur einen Teil davon und kann nur zur Not erraten, daß er die Betrüger zaust, die es wagen, Schlangen mit ausgebrochenen Gifthaken vorzuführen.

Sie lächelt. Gewiß, spielt man schon, so soll es ein Spiel mit dem Tode sein. Die Inder packen die Schlangen ein. Die Hand, die der Stock getroffen, greift nach einem Sandelholzkasten, der dort hinten steht. Und siehe: aus der geöffneten Klappe ringelt sich ein grauschwarzes, gebrechliches Schlänglein, liegt auf der roten Erde, hebt plötzlich wütend den Kopf und züngelt blitzschnell. Die Inder treten beiseite, es wird nun ernst. Der Wurm, dreimal so lang nur wie ein Damenfederhalter, zirpt nur ganz leise, aber man hört, daß es die Stimme des Todes ist. Wieder tönt die Knochenflöte, der Inder nähert sich leise von hinten, die Hand faßt zu. Ganz dicht über dem Kopf faßt sie zu, der Schlangenleib ringelt sich blitzschnell und gräulich um den Arm. Der Wurm, blindwütend, zischt nun laut, wird herumgeschwenkt, läßt den braunen Arm los, fliegt plötzlich auf die Erde, liegt eine Weile wie betäubt, richtet sich dann auf und wiegt sich gehorsam im Flötentakt.

Die Inder stehen nun in respektvollem Abstand. Die weiße Frau ist ganz nahe herangetreten an das Tier, sieht ihm in das Schlangenantlitz. Das Antlitz ist schreckhaft und grausam, der Blick ist ewig und 188 vorweltlich, es ist der Blick der fremden, erbarmungslosen Welt, die in Wollust sich umschlingt und mordet.

Der Earl of Hensbarrow neben ihr bemerkt zufrieden, daß man dieser hier die Gifthaken nicht entfernt hat, daß es ein Karait ist, an dem im Jahr in Indien zehntausend Menschen sterben. Sie nickt zufrieden, als sie das Ergebnis der englischen Regierungsstatistik über Karaitbisse hört. »Ist der Tod qualvoll?«

Der Earl of Hensbarrow zuckt die Achseln. Als wenn es nicht tödlich gleichgültig wäre, ob der Tod schmerzlich ist!

Sie befiehlt: »Kaufe mir das.« Er wechselt, ohne ihr zu antworten, mit den Indern ein paar Worte, läßt die allmächtigen Münzen mit der antiken Prägung Englands in ihre Hand gleiten. Die Flöte tönt wieder, der Wurm wird eingefangen, zischt leise nur noch in der verschlossenen Sandelholzkiste. Sie nimmt das Kästchen, hört es innen sich regen. In dem Kasten trägt sie den Tod. Auf den roten Blütenstraßen girrt, stöhnt und zittert der Korso von Singapoore. –

Man kann nicht sagen, daß sie sich wohl befindet in den nächsten Tagen. Erwacht sie aus unruhigem Schlaf, so fühlt sie die Bleigewichte der Tropenmüdigkeit an ihren Gliedern hängen, steht auf, tritt vor den Spiegel, bemerkt, daß ihr Fleisch welk geworden, merkwürdig gealtert ist in den letzten Tagen. Sie kleidet sich an schleppt sich durch die Stadt, steht auf Johnson Peer, sieht die salzbereiften Schiffe, fühlt die Augen schmerzen unter den ungeheuren Lichtmassen, flüchtet sich in das Dunkel der Kathedrale, sieht die zahllosen Epitaphien, die englische Mütter ihren in diesem Höllenklima früh verstorbenen Kindern gesetzt haben, sieht an den Säulen die surrenden, elektrischen Windfächer der Heiligkeit des Ortes zu riesenhaften Kreuzen gruppiert und muß lachen bei dem gotteslästerlichen Gedanken, daß der Erlöser sich an solch summendes und elektrisch betriebenes Kreuz habe schlagen lassen. Da regt es sich 189 neben ihr: die englische Offiziersfrau, die, in die Bank gekauert, für die Seele ihres zu früh zur Welt gekommenen Kindes betet, rückt von ihr fort und wischt die Stelle ihres Aermels, die die Geliebte des gelben Mannes im Vorübergehen gestreift hat, mit dem Taschentuch. Es murmelt hinter ihr her, als sie die Kirche verläßt: sie ist in zwei Tagen bekannt geworden in Singapoore, das bekanntlich eine der Zentralen des Tropenklatsches ist. Man hat ihre Skandalgeschichte eben in allen Klubs, in allen Salons variiert: wenn sie sich in das entlegenste Nest der Ostküste verirren sollte, wird es hinter ihr her zischeln, daß sie ihren sterbenden Mann verlassen und Halbkaste geworden ist.

Auf dem Kai flüstern sich zwei deutsche Kommis ihren Namen so laut zu, daß sie es hören kann; am Palais des Residenten sind es weißfarbige Kokotten, am Ozeanhotel grinsen die Burschen britischer Offiziere hinter ihr her. Sie ist ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Weißen, sie ist irgendwie unrein. Sie trägt ihr Haupt stolz und ihr Blick ist voller Verachtung. Aber innen, ganz innen ruft doch etwas nach Anlehnung, nach Schutz . . .

Für den Earl of Hensbarrow ist sie nicht vorhanden in diesen Tagen, der Earl of Hensbarrow ist nicht hierher gekommen, um Singapoore zu sehen an der Seite einer schönen Frau. Wieder kommen, wie in San Francisco, Scharen harmloser Antiquitätenhändler, Warenagenten, Pferdeverkäufer – alle, um ihm ihre Dienste anzubieten. Ja, es ist genau wie es in San Francisco war, mit dem Unterschied, daß es dort nur Mongolen gewesen sind, und daß hier sich auch der ganze Abschaum Europas einstellt: Bordellbesitzer aus Shanghai, deren Klientinnen aus den Taschen britischer Offiziere Militärpapiere gestohlen, fortgejagte Flottenzahlmeister, die die Staatskasse betrogen haben und vor der Strafe ausgerissen sind. Lüderliche Eisenbahnbeamte aus Tonking, die etwas von den französischen 190 Truppenbewegungen wissen, verkommene Arbeiter aus den Arsenalen der Ostküste, und sie können sicherlich allerlei interessante Dinge über die Bunkervorräte des ostasiatischen Geschwaders, über Munitionsbestände und den Zünder der neuen englischen Brisanzgranate sagen. Dazwischen farbige Trambahnschaffner, chinesische Seelotsen und verlotterte Rikschakulis – die ganze gelbe, braune und weiße Parias der Settlements, in harmlosem Gewand von Geheimagenten hierherbeordert, alle getrieben durch Rassenhaß, von gekränktem Ehrgefühl, Habgier, von dem Willen, Vergeltung zu üben an der weißen Rasse, aus der sie ausgestoßen sind.

Der Earl of Hensbarrow, unverwüstlich, aus Ebonitstahl gemacht, seit drei Tagen nur von ein paar Früchten und gelegentlichen philosophischen Opiumpfeifen lebend, empfängt sie in dem Hinterzimmer mit der gepolsterten Tür, das jedem Ohr unzugänglich ist. Er kennt diese Leute scheinbar alle, er kennt die Geste jeder Rasse, er spricht jede Sprache des asiatischen Völkergewimmels, er kann nach Bedarf gestikulieren oder eiskalt sein, je nach dem Partner, den er vor sich hat. Er ist bald Diplomat und bald brutaler als ein Metzger, er flüstert oder ballt die Faust. Hier ist das goldene Pfund, das die Kraft hat, den Erdball nach Belieben in der umgekehrten Richtung sich drehen zu lassen. Der andere will nicht Geld, er will aus dem Schmutz heraus, er will rehabilitiert sein? Gut, Asien ist dankbar, es hat Stellen im chinesischen Staatsdienst zu vergeben. Nur: schnelle Arbeit wird verlangt, zuverlässiges Material! Verrätst du dich den Weißen, hast du eine doppelte Zunge und gehst du etwa von hier zum britischen Residenten: deine Bewegungen, deine Wege werden kontrolliert, ohne daß du es weißt. Du bist ein umspionierter Spion, du hast ein Messer in den kurzen Rippen, ehe du mit einem Weißen ein Wort gesprochen hast . . .

191 Sie weiß wohl, was diese Leute zu bedeuten haben, sie ist gleichwohl eifersüchtig auf seine Geheimnisse. Es ist unerträglich, so vernachlässigt zu werden, es ist unerträglich, etwas nicht zu wissen, was der Freund weiß. Am dritten Tage treibt der Teufel sie, ihm eines der Morphiumpulver ins Teeglas zu schütten, die sie Percyval Tarquanson fortgenommen hat – für sich, für alle Fälle, für einen hypothetischen Selbstmord . . .

Der Earl of Hensbarrow trinkt in scheinbarer Unbefangenheit, er gähnt nach einer halben Stunde. Er ist so haarsträubend leichtsinnig, die Papiere auf dem Tisch liegen zu lassen, er streckt sich gegen seine Gewohnheit hier, in ihrem Zimmer, auf das Ruhebett. Sie hört seine regelmäßigen Atemzüge, sie schleicht auf leisen Sohlen heran, hier . . . hier ist die ominöse Mappe. Sie zerrt leise ein Aktenbündel hervor: er schläft ganz tief.

Sie blättert hastig, sie ist nach den ersten Griffen enttäuscht: chiffrierte Bogen, Zahlen, Kolonnen chinesischer Schriftzeichen, und auch die werden wohl mit mehrfachen Geheimnissen umpanzert sein, daß kein Weißer sie enträtseln kann.

Weiter . . . weiter! Sie will es wissen, sie muß etwas finden! Sie sieht nach ihm; da bemerkt sie, daß in dem unbeweglichen, gelben Gesicht ein weißes Auge sie ansieht. Es ist der Blick der lauernden Schlange. Sie schreit gellend auf vor Entsetzen. Im selben Augenblick springt er auf, er hat das haarscharfe Messer in der Hand, das neben dem Bett auf dem Tisch liegt. Sie jagt um den Tisch, sie ist gelähmt von Todesangst, sie schreit, schreit . . .

Bei der zweiten Runde faßt er sie, wirft sie zu Boden, wirft das Messer fort, würgt sie. Er kennt alle Künste der Henkertechnik, er preßt ihre Kehle gerade so lange zusammen, bis sie alle Todesängste des Erstickens durchkostet hat. Dann läßt er sie los und schlägt sie, 192 er schlägt sie so, wie er sie nie geschlagen hat: mit der Faust, mit der Reitpeitsche, die er zu fassen bekommt, mitten in das Gesicht schlägt er sie. Sie schreit, aber die gepolsterten Türen ersticken ihren Jammer, und da ist ja auch die gelbe, schreckliche Hand, die sie wieder würgen wird, wenn sie schreit.

Sie liegt leise wimmernd da und läßt den Jammer über sich ergehen. Schließlich, als er sich irgendwie gesättigt hat, liegt sie vor ihm, umschlingt bittend seine Knie. Er stößt sie mit einem Fußtritt von sich. Als sie sich erhebt, ist ihr Gesicht verunstaltet von den schwarzen Beulen, ihre Kleider sind zerrissen, bespien, besudelt: sie ist nichts mehr anderes, als ein gräßlich geschändetes Etwas, ein schmutziges Bündel zerrissener Lumpen.

Von dieser Stunde an wird sie in das hintere Zimmer gesperrt, wo niemand sie hören kann. Sie kriecht einmal – sie ist zu verprügelt, um aufrecht zu gehen – an die Tür: die Tür ist verschlossen, sie ist sozusagen seine Gefangene. So liegt sie wimmernd, halb besinnungslos einen Tag. Sie wagt den Blick nicht zu erheben, sie kann nicht klagen, sie weint nicht: sie ist zum Gegenstand degradiert, zu einem höchst widerwärtigen Gegenstand, der durch irgendwelche obszöne Situationen der Wollust dient und dann in den Pausen in einen schmutzigen Winkel geworfen wird . . .

Da von diesem kotigen Gegenstand nichts mehr zu fürchten ist, treibt er seine Verhandlungen von Stunde an mit tödlicher Gleichgültigkeit in ihrer Gegenwart. Am nächsten Tag kommt ein neuer Mann zu ihm. Sie liegt noch immer auf dem Ruhebett, sie hört den Menschen sprechen, ohne zu wissen, was er spricht, sie sieht seine Gestalt, ohne sich sagen zu können, daß es wirklich ein Mensch ist. Wenn sie ihn aber sehen könnte und in der Soziologie der Tropen Bescheid wüßte, sie würde 193 sich vor dem Menschen da wie vor einer Schlange verkriechen, mit der man in ein Zimmer gesperrt ist.

Es ist ein vielleicht noch junger Mensch in fadenscheinigem und nicht sauberem Tropenanzug, aber er hat nur noch schüttere Haarbüschel hier uns da über einer riesigen Glatze, er hat verfaulte Stummel statt der Zähne, und er riecht, wenn er spricht, aus diesem Mund wie eine Kloake. Er hat verfallene, verwüstete Züge und die ominöse, eingesunkene Sattelnase, er trägt beschmutzte Wäsche und seine Fingernägel sind schwarz. Er ist ein Weißer, aber es ist gleichgültig, ob er ein Holländer, ein Franzose oder ein Deutscher ist. Er gehört jener Schicht an, die man nur in den Tropen kennt: es ist gleichgültig, ob er Wechsel gefälscht, von den Erträgnissen eines farbigen Frauenzimmers gelebt hat, oder im Solde europafeindlicher Bewegung gestanden hat – die weiße Gesellschaft, die sich nur durch unerbittliche und pharisäerhafte Korrektheit gegen die Ueberzahl der anderen Rassen zu behaupten vermag, diese Rasse hat ihn ausgestoßen. Und eher wäre es denkbar, daß der britische Resident mit einem farbigen Schauermann auf der Terrasse des Ozeanhotels speiste, als daß der letzte, weiße Kommis den Gruß dieses Mannes erwiderte.

Dieser Mensch nun ist, der Teufel mag ahnen, durch welche Machinationen, im Besitz dessen, was dem Earl of Hensbarrow und Nationalasien an Wissenswertem noch fehlt: er kennt nicht nur die Stärke der gesamten Garnisonen, die England in Indien und den Settlements unterhält – er besitzt Kopien der gesamten Aufmarschpläne, Pläne für die Transporte auf der indisch-sibirischen Bahn, Verzeichnisse der Munitionsbestände, Pläne von allen jenen Dingen, die in den allergeheimsten Archiven der Londoner Admiralität schlummern.

194 Der Earl of Hensbarrow feilscht volle acht Stunden um diese Pläne. Sie kommen trotzdem, während des ganzen Nachmittages, zu keinem Resultat. Gegen Abend, nach dem Essen, versucht der Earl of Hensbarrow es mit Alkohol, mit Opium, mit allen Alkaloiden, die sich in solchen Fällen versuchen lassen: er bekommt den anderen, den er »Edward« nennt, nicht einmal so weit, daß er seine Forderungen erfährt. Hier sind die Pläne . . . Ja, bitte sehr . . . auf sauberem, blauem Pauspapier kopiert; der Earl of Hensbarrow darf auf den umfangreichen Aktenbündeln wohl die geheimen Chiffrierungen der britischen Admiralität sehen, diese Zeichen, die ihm wohlbekannt sind. Er darf aber die Akten nicht in die Hand nehmen . . . o nein, beileibe nicht . . .

Sie sitzen sich schließlich im Halbdunkel gegenüber.

Der Kerl drüben vertilgt einen Ozean von Whisky, das Zimmer ist voller schwärzlichen Pfeifendampfes: er ist ebenso immun gegen alle Gifte der Welt wie sein farbiger Partner. Der Earl of Hensbarrow bietet Summen, die er vor seiner Regierung eigentlich nicht mehr verantworten kann, ein Heer von Weibern aller Farben, Bodenflächen von respektablem Ausmaß unten in Yünnan, wo die Gummispekulationen in den letzten Jahren den Bodenpreis wahnsinnig in die Höhe getrieben haben. Er kann unbedingt alle Ehrungen durch seine Regierung zusagen . . . gewiß, er kann heute, wo die japanische und die chinesische Regierung im Einverständnis miteinander handeln, mit einiger Sicherheit versprechen, daß der Mikado gewisse Titel . . .

Aber dieser Edward schnüffelt nur mißmutig in der Luft herum. Das alles . . . Geld, Weiber, Legitimierung durch Asien, ist doch selbstverständlich; er will das, was er weiter nicht ausspricht, was für ihn doch aber das letzte Ziel ist: die Rehabilitierung durch diese verfluchte Gesellschaft, die ihn ausgestoßen hat. Ah, dieses Ausgestoßensein, diese verfluchte 195 Schmach eines Lebens beseitigen, irgendwie, gleichgültig, wie . . .

Der Earl of Hensbarrow ist bewandert genug in der Psychologie des Kolonialmenschen, um das richtig zu erkennen. Er überlegt: er kann doch nicht diesem Edward den Hosenbandorden verschaffen . . . nein, das kann auch er nicht! Er kann nicht einmal einen Lakaien des englischen Gouverneurs zwingen, dem Menschen da die Hand zu geben. Er hat da drüben ein breites Messer liegen, und damit könnte man diesem Edward hier, an Ort und Stelle, die Kehle abschneiden, wenn man nicht zufällig in einem Hotel wäre, vor dem immerhin Schutzleute vorüberkommen. Man könnte ihn auch allenfalls drüben am Signalberg in einem der Hohlwege von einer soliden, gelben Hand erwürgen lassen und ihm die Papiere abnehmen lassen. Aber man weiß nicht, ob er dann gerade diese Papiere noch bei sich hat, ob er sie nicht der Gegenseite zum Kauf anbietet . . . Diese Papiere sind unersetzlich, er darf sie nicht mehr zu diesem Hotelportal hinaustragen, nein, er darf es nicht . . .

Sie öffnen die Tür zu ihrem Zimmer, sie beginnen von anderen Dingen zu sprechen, sie flüstern in der Dunkelheit, man sieht ihre Zigaretten wie einsame Leuchtfeuer glimmen. Sie gehen wieder hinaus, sie bleiben wieder lange fort. Sie schielt nach der Tür. Die Tür ist geöffnet. Wenn man aus der Tür herausläuft, könnte man bei dem weißen Posten vor dem Arsenal, bei dem englischen Residenten Schutz suchen. Nicht Rache nehmen . . . o nein, man ist viel zu sehr verprügelt, um so weit zu denken! Ach, nur Schutz suchen, um nicht mehr geprügelt, nicht mehr gewürgt, – ach, um Gottes willen nicht mehr gewürgt zu werden!

Mau kann nicht zur Tür hinaus, die Glieder schmerzen zu sehr, man ist zu stumpf geworden. Man hat bei den Weißen nichts mehr zu suchen, weil man 196 die Geliebte eines Farbigen – ein Edward ins Weibliche übersetzt, geworden ist. Man kann auch nicht, weil man ja doch erwischt würde, wenn man den Türdrücker in der Hand hätte. Und man hat solche Angst vor dem Tod, ach, eine schreckliche, früher nie gekannte Angst . . .

Sie zuckt vor einem leichten Geräusch zusammen, sie macht Licht. Es ist die Schlange in ihrem Kästchen, das da neben ihr auf dem Tisch steht. Sie faßt es an mit zitternden Händen, die Schlange schlägt in plötzlicher Wut mit dem Leib gegen das Holz. Nun brauchte man nur den Deckel aufzureißen, das Giftmaul mit den Zähnen würde aufklappen, die Zähne würden sich einbohren . . .

Im selben Augenblick, als sie es denkt, öffnet sich nebenan die Tür. Sie hört den Earl of Hensbarrow leise lachen, ganz leicht und kurz. Eine Gestalt kommt näher.

»Wenn es gefällig ist, schöne Frau . . .«

Die Gestalt ist ganz nah. Sie spürt eine Hand auf den Kissen, sie spürt den Kloakendunst dieses Atems. Sie bringt einen Schrei heraus. Da ist die andere Gestalt bei ihr.

»Laß den Unsinn . . .«

Die gelbe Faust faßt zu, die gelbe Faust würgt wieder. Man kann nicht atmen . . . man hat Furcht vor dem Tod . . . entsetzliche Angst . . . man will nicht sterben, man kann es nicht, kann nicht, kann nicht . . .

Man wird ja alles tun, was die gelbe Faust will. Die Faust löst sich. Das Weib ist demütig. Der Earl of Hensbarrow verschwindet. Und bei Juno liegt – übelriechend, im Leben schon halb eine Leiche – der Sauhirt.

*

197 Der britische Resident, der an diesem Abend an Bord des Schlachtschiffes »Bellerophon« Gast der heimkehrenden Offiziere des dritten ostasiatischen Geschwaders ist, sieht mitten in einer Rede, in denen er die heimkehrenden Kameraden begrüßt, neben sich eine Ordonnanz seines Adjutanten stehen. Der Brite beendet zunächst einmal seine Rede . . . warum denn auch nicht, was soll denn los sein? . . . Wahrscheinlich hat sich der französische Admiral über eine mangelhafte Salutierung der Trikolore beklagt, oder in Georgetown hat es unliebsames Aufsehen bei der Christenheit erregt, daß britische Offiziere öffentlich ein Hoch auf den lieben Gott ausgebracht und seine Ernennung zum Oberst à la suite des dreiundvierzigsten Linienregiments Sr. Majestät proklamiert haben. Der alte Herr zieht sich mit dem Blatt auf das Achterdeck zurück, öffnet, steckt es ruhig zu sich und läßt sich nach einer Viertelstunde wegen dringender Geschäfte entschuldigen.

Nach einer Viertelstunde saust ein Motorrad mit einem seiner Adjutanten nach der nagelneuen Kaserne der Zweiundvierziger oben beim Signalberg; der Offizier springt ab, geht zum Wachthabenden, läßt den Hornisten wecken, reißt dem Mann, als er das anbefohlene Alarmsignal blasen will, das wie ein in Musik gesetztes Erdbeben klingt, das Instrument vom Mund und befiehlt, die Leute in aller Stille in den Zimmern zu wecken, schnellstens, ohne jedes Aufsehen. Tommy fährt aus den Betten: was zum Teufel ist denn schon wieder los? Der Alte im Gouvernement leidet an Blähungen und verwechselt diese Blähungen mit Wolken am politischen Horizont Großbritanniens! Aber da wird richtig die ganze Maschinerie des Regimentes mit kleiner und großer Bagage in Bewegung gesetzt, und etwas muß doch da los sein, zum Donnerwetternocheinmal . . .

Inzwischen ist auch das Schwesterregiment auf den Beinen. Das Räderwerk dreht sich präzis, auf den 198 Schienen stehen urplötzlich nach zwei Stunden fertige Eisenbahnzüge, die Bataillone werden noch in tiefer Nacht eingeladen. Die Züge dampfen ab – nach Norden, in die Settlements hinein, kein Mensch weiß wozu und für welche Zeit. –

Die ganze Angelegenheit hat sich, wie gesagt, in tiefer Nacht vollzogen. Singapoore schläft, der französische Klub feiert ebenfalls ein Fest, die Lupanare werden in ihrem Betrieb nicht gestört. Und nur der einem Kolonialregiment anhangende Apparat von Frauen, der Marschschritt der Regimenter auf den Straßen ist schuld daran, daß unvermeidlicherweise sich ein paar Menschen auf dem Bahnhofsplatz einfinden, für deren Auge das alles eigentlich nicht bestimmt ist. Das Bankett auf dem »Bellerophon«, der in der ganzen britischen Flotte traditionellerweise »Billy Ruphon« genannt wird – das Fest wird vorzeitig abgebrochen. Nach einer halben Stunde soll auf dem ganzen Geschwader Dampf aufgemacht werden, und der Rauch liegt als tintenschwarze Wolke über Singapoore, über Johore, über der ganzen Bai. In der Druckerei des Gouverneurs drehen sich derweil die Walzen über roten Plakaten. Auf den Plakaten, die morgen in aller Frühe an allen Ecken kleben werden, ist zu lesen, daß über Singapoore, über die ganzen Straits Settlements das Standrecht verhängt ist, daß der Tod alles bedroht, was mittelbar oder unmittelbar die Ruhe und die Sicherheit des großen britischen Imperiums gefährdet.

Gut, der Earl of Hensbarrow hat diese Entwicklung der Dinge durchaus vorausgesehen. Sie ist ein wenig schneller gekommen, als er sich's gedacht hat; aber dafür klopft an die Pforte des Hotels im Superkargostil mitten in der Nacht mit verabredetem Zeichen ein harmloser, malayischer Lastträger. Der Mann wird eingelassen, klopft oben, wo der Earl of Hensbarrow haust, ein zweites Mal. Die Frau wird aus der verzweifelten Betäubung gerissen, sie hat beim Packen der 199 Koffer zu helfen, in einer Stunde hat alles fertig zu sein. Sie tut es mit zerprügelten Gliedern, sie weiß, was geschieht, wenn sie schreit, wenn sie fortzulaufen versucht. Sie vergißt den Kasten mit dem Karait nicht, sie birgt ihn wie einen Schatz in ihren Koffern. In einer Stunde, ganz wie es befohlen, werden die Koffer heruntergeschafft. Drei farbige Nachtgespenster nehmen die Koffer auf die Schultern, man geht durch einsame, ausgestorbene Gassen dem Hafen zu.

Edward, der Dritte in ihrem Bund, bleibt auch jetzt bei ihnen . . . wie sollte er nicht, jetzt, wo es für Leute seiner Kaste und seines Metiers nicht gut wäre, in Singapoore zu bleiben? Am Kai liegt ein Küstendampfer vertäut, er stinkt nach Fischen, er hat eine ganze Mannschaft von solchen Edwards an Bord, er ist so schmutzig, daß die Hand klebt, wenn man seine Reeling anfaßt. Er hat auch Kabinen, eine Kabine für die weiße Frau. Die Kabine hat einen entsetzlichen Waschtisch und einen zerbrochenen Spiegel, sie hat auch ein Bett mit einer Wäsche, der mindestens dreißig Generationen farbiger Passagiere anzusehen sind. Es tut nichts . . . man ist ein Vieh . . . der gelbe Koch, der nebenan in der Küche den Brei eines Omelettes auf seiner schweißtriefenden Brust knetet, hat eine Flasche mit Reisschnaps. Man bittet um der Gottesliebe willen um einen, um drei Schnäpse . . . man trinkt, man ist angenehm betäubt, betrunken, man ist ein Vieh . . . Ja, ja, man liegt mit zerzausten Haaren in den schmutzstarrenden Laken und merkt nicht, daß der fürchterliche Kasten sich aus dem Hafen stiehlt, lange, ehe noch eines der britischen Patrouillenboote Dampf hat. –

Und nun . . . Ja, es ist nicht zu bezweifeln, daß allen späteren Ereignissen zum Trotz diese Fahrt nach Norden durch die südchinesische See den dunkelsten Teil des Weges darstellt, der dieser Frau vorgeschrieben ist. Ich weiß auch, wieviel wohltätiger es wäre, davon nicht zu sprechen . . . aber wie soll ich den 200 Jammer der Kreatur verschweigen, wo die ganze Zeit, alles um mich herum aus Körperqual und Blut und Entbehren so gellend nach Erbarmen schreit? –

Ja, diese Frau hat nun zwei Herren, zwei Besitzer, sie sitzt zwischen beiden bei Tisch. Sie nimmt – man kocht auf dem chinesischen Küstenfahrer selbstverständlich landesübliche Speisen – mit den landesüblichen Instrumenten dieses mongolische Essen, das eine tödliche Aehnlichkeit mit gekochtem Hundekot hat. Sie muß, da sie nicht eine elegante Dame, sondern eine weiße Sklavin ist, unter den Augen gelber Menschen Arbeiten tun, die ein chinesischer Boy mit Entrüstung verweigern würde. Sie ist abwechselnd Dienerin und Gegenstand von Liebkosungen, sie sieht, daß sie ein mißhandeltes und gedunsenes Gesicht hat, sie schminkt sich auf Verlangen wie eine Dirne, sie tut, um nicht geschlagen zu werden, alle von ihr verlangten Abscheulichkeiten. Sie fühlt sich nun auch nicht eigentlich elend, sie wird gleichgültiger von Tag zu Tag, sie fühlt sogar ein gewisses animalisches Wohlbehagen . . . man ist eben schmutzig, und es liegt durchaus nichts daran, wenn man nun noch schmutziger wird.

Am siebenten Tage, als schon das gelbe Wasser der Jangtsekiangmündung, auf Hunderte von Kilometern in das Meer hinausgeschwemmt, um das kleine Schiff herum steht, lagert eine mächtige Rauchwolke am Nordhimmel. Aus der Rauchwand tauchen Gittermaste, Schlote, graue niedere Schiffsrümpfe hervor, von denen Englands Flagge weht. Mit dem Glas kann man die drohenden Mordmaschinen und auf dem Achterdeck die weißgekleideten untadeligen Gentlemen der britischen Majestät sehen, man sieht einen Rumpf nach dem anderen auftauchen aus der Sepiawolke: Kreuzer, Zerstörer, Linienschiffe in unabsehbarer Zahl.

Die Chinesen an Bord stecken die Köpfe zusammen: das ist das ganze in Shanghai stationierte 201 Geschwader! Es ist auf dem Marsch nach dem Süden, es wird wohl seine Gründe zu diesem Marsche haben . . .

Dann flutet ihnen Vater Jangtsekiang entgegen, unfaßbar, mit ungeheueren Armen, eine ganze Wasserwelt des unbekannten Asien hinunterspülend zum Meer. Der wacklige kleine Kasten ächzt die Küste entlang, mitten durch den Archipel fetter Schlamminseln, auf denen sagenhafte Reptilherden sich sonnen und mit unbeweglichen Augen auf die bewegte Welt starren. Ganze Inseln, mit Heliotropbüschen bestanden, losgerissen vielleicht oben in den Strommäandern von Hu-Pe, fliegen vorüber, und große rosafarbene Sumpfvögel mit nacktem Hals tauchen auf bei dem Ruderschlag nackter Fischer, die hier seit Jahrtausenden ihr Handwerk treiben – unberührt von der Zeit, von den großen europäischen Dampfern, die an ihnen vorüberziehen – immer, der Zeit zum Trotz, mit dem gleichen ehrwürdigen Werkzeug der ersten Menschen.

Dann biegen sie in den Kanal ein. In Tschin-Kiang, das sie mit größter Eile wie Diebe passieren, rumoren noch die Winden der Schiffe aller Flaggen, ziehen Kisten mit Klavieren, Automobilen und Chemikalien hervor aus den Laderäumen, und geben sich alle erdenkliche Mühe, das unermeßliche China zu zivilisieren, in dem dann doch alles spurlos versinkt wie ein Kiesel, den man in die achttausend Meter Wasser der Tuskaroratiefe versenkt. Kirschrote Steuerleute stehen oben bei den Ladeluken und machen sich bei jeder Kiste einen Bleistiftstrich in ihre Bücher, und weißleinene Handelsbübchen, die jüngsten Clerks der großen Ueberseehäuser, gehen selbstsicher über Deck und sind alte erfahrene Tropenleute und sehen hochmütig auf den kleinen schmutzigen Dampfer hinab, der sich da den sausenden Strom hinanquält.

Aber dann, in den einsamen Stromstrecken hinter Nanking und Taiping scheint Europa sich nicht mehr sicher zu fühlen. Da England offenbar Wichtigeres zu 202 tun hat, so arbeiten sich französische Kanonenboote, die letzten, die die Republik in dem gärenden Hinterland von Saigon entbehren konnte, den Strom hinauf, ankern nächtlings, die Ueberfälle der Küste vermeidend, vor gespannten Ketten mitten im Strom. Der dünnbärtige Pariser Offizier, der am ersten Tag die Papiere des Chinesen kontrolliert und sich von der Korrektheit des regelmäßigen nach Hankou bestimmten Küstendampfers überzeugt, heuchelt blasierte Gleichgültigkeit. Aber von den Saigonesen, mit denen er an Bord gekommen ist, kann man erfahren, daß diese ganze verfluchte Küste, dieses verwachsene Sumpfland bis zu den Bergen in Bewegung ist. Ueberfälle auf die schwachen Trupps, die die Europäer an Land setzen können, nächtliche Schüsse auf die haltenden Boote, . . . ein Ueberfall auf den letzten nach Hankou bestimmten belgischen Dampfer, den man beinahe unter den französischen Kanonen ausgeraubt hat . . . eine Abschlachtung sämtlicher Missionare oben bei den Seen: der Earl of Hensbarrow ist zufrieden mit den Dingen und lächelt spöttisch, wenn nächtlings die französischen Granaten da irgendwo in die Wälder dröhnen, in denen der allgegenwärtige und unsichtbare Feind ja doch nicht zu erfassen ist.

Sie lebt leidlich unbehelligt in diesen letzten Tagen der Fahrt. Für den Earl of Hensbarrow ist sie nicht vorhanden, er begegnet ihr mit der tödlichen Verachtung, die der Zuhälter für eine ihm gleichgültig gewordene Dirne hat. Das schmutzige Tier, an das sie leihweise abgetreten ist, verbirgt sich abwechselnd unter der Mattenladung des Dampfers vor den Kontrollbooten und betrinkt sich desto sinnloser, wenn die Gefahr vorüber ist. Einmal – das ist zwei Tage vor Hankou – trifft sie ihn abends in einem Wortwechsel mit dem Earl of Hensbarrow, in einem schreienden heftigen Streit, der in blitzschnellem, bösem Küstenchinesisch geführt wird. Hätte sie noch Sinn für die 203 Dinge, sie wüßte, was hier vor sich geht: dieser Mensch hat verraten, was er zu verraten hatte, er ist überflüssig, er ist lästig geworden – man wird sich seiner mit einem Fußtritt entledigen, wenn er seinen weiteren Lohn verlangen sollte . . .

Die beiden Männer stehen sich auf dem Achterdeck gegenüber. Der Weiße schreit, der Geifer steht ihm vor dem Mund, er stampft mit dem Fuß, er erreicht es, daß die ganze gelbe Mannschaft sich grinsend um die beiden versammelt, er ist unvorsichtig genug, mit der gestikulierenden Hand den Arm des anderen zu fassen. Der Earl of Hensbarrow hebt diesen Arm und schlägt zu, ein einziges Mal, brutal, metzgerhaft. Edward überschlägt sich, liegt am Boden, die Chinesen lachen. Der Mensch rafft sich auf und schleicht sich verprügelt und giftig davon.

Das ist, wie gesagt, kurz vor Hankou.

In dieser Nacht stoppt der Dampfer seine Fahrt. Irgendwo ist der Himmel rot von dem Brande der britischen Farmen am Liangtse, man hört irgendwo das Rumoren eines Maximgeschützes; im Brandschein, der gelb und rot auf dem schwarzen Wasser liegt, kommt geräuschlos eine schwarze Dschunke und legt sich außenbords an. Ueber den Steg zwischen beiden Schiffen kommen seltsame Gestalten: ein offenbar weißer Mensch, der weiß Gott welche physiognomische Geheimnisse hinter einer gelben Ledermaske versteckt, ein baumlanger Nordchinese mit Blutflecken aus den weiten Aermeln, ein kleines, gelbes, als chinesischer Fischer verkleidetes Männchen mit altklugem Gesicht, der sich sichtlich Mühe gibt, die präzisen Bewegungen des japanischen Offiziers zu verbergen. Das taucht auf aus der Nacht, schwimmt eine Weile neben dem Dampfer, nimmt geheimnisvolle Kisten, die unter der Ladung hervorgeholt werden, an Bord, verschwindet wieder lautlos im Dunkeln und macht einer zweiten Dschunke, einer dritten, noch unzähligen anderen Platz: 204 jede nimmt die aus dem Süden hierher geschaffte Munition an Bord für das Morden, dessen Geräusche von den weiten Uferebenen die ganze Nacht zu dem Schiff herüberschallen.

In den Millionenstädten Hankou und Wutschang freilich scheint Europa sich noch sehr sicher zu fühlen. Hat man denn diese Ueberfälle auf ein paar Farmen und Missionsstationen nicht oft genug schon erlebt? Lebt man nicht in einer zivilisierten Stadt mit Trambahnen und Asphaltstraßen, und gibt es nicht für den Notfall reguläre chinesische Truppen, die der fanatisierten Banden da draußen sofort Herr werden können?

 

Ein amerikanischer Dampfer kommt mit ihnen zusammen ein, er senkt vor dem chinesischen mitten im Strom zwischen den beiden Städten ankernden Kreuzer die Flagge: Man lebt ja im tiefsten Frieden mit China. Der Hafen lärmt wie sonst, Damen der französischen Kolonie, eine große Fähre bunter, girrender Vögel, lassen sich zu einem Ausflug nach Wutschang übersetzen. Die Kamine des nagelneuen, von Amerikanern angelegten Fabrikviertels qualmen wie sonst, aus den offenen Fenstern der kobaltblauen chinesischen Mietkasernen dudeln wie sonst Grammophone – es ist alles wie sonst, und wenn da draußen ein paar Missionaren die Hälse durchschnitten sind, so ist man trotzdem hier in den europäischen Kolonien bereit, jeden für einen Idioten zu erklären, der an Unruhen in dieser zivilisierten Industriestadt denkt.

Sie legen in Wutschang, in dem alten Winkel des Hafens an, aus dem China sich nicht vertreiben läßt, zwischen abscheulichen Dschunken, die wie Schweineställe riechen, auf denen die Beulenpest nie ausstirbt. Der Kai, über den sie gehen, ist vernachlässigt und verfallen, die alten, grell bemalten Schuppen sehen so aus, als ob sie Nacht für Nacht einen Lustmord, einen Raubanfall zu sehen bekämen. Ehrwürdige Ratten von 205 gigantischer Größe huschen über den Weg, und mitten auf der Straße, die starren Beine in die Luft streckend, liegt ein totes Pferd, dem die Hitze den Leib zu einer riesigen Pauke gebläht hat.

Sie erregen merkwürdiges Aufsehen mit ihrem Kommen; Tausende neugieriger Chinesen drängen sich am Kai, gelbe Proletarier in europäischen Anzügen, Soldaten, Fischer, auch brillenbewehrte Beamte mit weißen Marquisbärten sind da . . . der Earl of Hensbarrow wird wie ein kaiserlicher Prinz empfangen. Dabei wächst diese Menge, die sie begleitet, von einer Gasse zur anderen. Sie dringen ein in das unlösbare Labyrinth des alten Wutschang unter Girlanden von Schweinekutteln, die man zum Trocknen über die Straße gespannt hat, vorüber an tragbaren Spielhöllen, in denen man von feinem Abendessen bis zu herrlichen messinggefaßten Handspiegeln alle Schätze der Welt gewinnen kann; vorbei an Akrobatentruppen, die auf himmelhohen Stelzen über der Menge schweben, und vorbei an hockenden Fantanspielern und Verbrechern, die vor irgendeinem Gefängnis mit dem Holzbrett um den Hals knien. Hunde jagen ihnen Rudel hochbeiniger Läuferschweine entgegen, und durch röhrenenge Gassen kann man den See mit schwimmenden Tingeltangeln und Flößen sehen, auf denen ganze Familien hausen – hier, wo nicht für alle Platz auf der Erde ist. China ist unermeßlich und übermächtig, es drängt und stößt, um atmen und leben zu können, es kreischt aus den offenen Türen der Holzhäuser, aus denen es wie aus Spülkanälen riecht, es johlt und handelt und lacht und zankt, daß sie wie betäubt unten den Laternenketten und den bunten Straßenschildern der Krämer in ihrem Zuge geht.

Sie kommen zu einem ehrwürdigen Yamen aus morschen Balken, es riecht nach Lack und verdorbenem Essen und mindestens drei Jahrtausenden. Sie durchschreiten vier staubige Höfe mit bunten Sonnensegeln, 206 sie kommen durch enge knarrende Holzgänge und wankende Stiegen . . . es wird unmöglich sein, sich jemals aus diesem hölzernen Dachsbau in das Freie zu finden.

Was sie hier soll, wie lange sie hier bleiben wird, erfährt sie nicht; von dem Earl of Hensbarrow, der in dieser Stunde ganz andere Dinge zu betreiben hat, erhascht sie nicht ein einziges Wort. Man hat immerhin gesorgt für sie: irgendwo in den Höfen übergibt man sie einer mongolischen Dienerin, einem steinalten Weib. Die Alte geht schwatzend voran, sie kann sich wenigstens leidlich mit ihr verständigen in dem englisch-chinesischen Pidgeon, das sie spricht. Das Zimmer, in das man sie bringt, ist weit, das Zimmer öffnet sich mit einem einzigen breiten Fenster auf den Hafen und die große Stadt auf der anderen Seite. Es ist trotzdem dumpf und eng hier, es ist eigentlich, trotz des großen chinesischen Bettes, eine Gefängniszelle. Aber die Alte, die der Nebenfrau des Earl of Hensbarrow beim Auskleiden hilft, versichert, daß das Haus ein Glückshaus sei, weil man seinerzeit, als es gebaut wurde, vor vielen hundert Jahren eine ungetreue Frau in seinen Fundamenten eingemauert habe, und erst neulich habe man drüben in dem ersten Hof unter den Steinen ihre Knochen gefunden.

Sie läßt sich auskleiden und von der Alten das Haar in zwei langen chinesischen Zöpfen flechten und sinkt todmüde auf das Bett. Aber als das Weib sich dann zum Gehen anschickt, da fürchtet sie sich plötzlich vor dem unbekannten Haus, vor der eingemauerten Frau, vor allen chinesischen Geistern, die durch die verstaubten Gänge da draußen schleichen mögen. Da bittet sie denn die Alte, wie einst in San Francisco die Negerin, bei ihr zu bleiben, und erreicht es auch, daß die andere sich da irgendwo auf dem Boden ausstreckt.

Trotzdem kann sie nicht schlafen. Draußen vor den Fenstern lärmt und tobt China, China, das auch in der 207 Nacht summt wie ein aufgestörter Bienenkorb. Wagen humpeln in der Ferne, und das Singen und die Rufe der Wasserträger wollen nicht verstummen die ganze Nacht. Katze und Hunde in Liebesnot . . . Hilferufe, weiß Gott von welchem einsamen Kai . . . der Lärm der Kneipen drüben in der exotischen Proletarierstadt, deren Mietkasernen mit den erleuchteten Stiegenhäusern ruhelos im Strom sich spiegeln . . . Heulen der Dampfsirenen, Grammophongedudel und die knochenharten Akkorde der elektrischen Klaviere, die Todesschreie geschlachteter Tiere . . . alles vereint zu einer Wolke unerträglicher Lebensfülle . . .

Es ist spät in der Nacht, als sie, plötzlich aufgepeitscht von einem rätselhaften Unbehagen, aus dem Bette fährt. Sie lauscht, sie geht ans Fenster. Was war das dort? Weshalb schleichen dort unten durch die Höfe rätselhafte Schatten, weshalb sieht sie es dort, auf den fernen Hafendämmen sich bewegen, undefinierbar, dicht gedrängt, eine Versammlung schwarzer, drohender Nachtgespenster? Lichter blitzen drüben auf und verschwinden wieder . . . wohl ein Signallicht des ankernden Schiffes auf dem Strom. Aber diese Nacht ist unerträglich heiß, sie riecht nach dem Grabe, nach Verwesung; Lemuren schleichen durch die Nacht . . . Ja, ja, es ist wohl der Tod, der sie nicht schlafen läßt, der Tod, der da irgendwo im Dunkel sich verbirgt.

Sie will die Alte wecken: die Alte schläft abgrundtief, kein Kanonenschuß könnte sie in diesem Schlaf stören. Was soll sie tun? Soll sie um Hilfe rufen? Soll sie etwa zum Earl of Hensbarrow gehen und ihm sagen, daß sie sich fürchtet? Ach, nun fühlt sie plötzlich ihre ungeheuere Verlassenheit, und wühlt sich in ihre Decke und krampft ihre Glieder zusammen und liegt in stiller Verzweiflung, bis sie endlich wieder einschläft. Am frühen Morgen erwacht sie von irgendeinem verworrenen Geräusch in ihrer Nähe. Es ist, als sei das ganze Haus mitten in der Nacht lebendig 208 geworden . . . Ja, nun hört sie deutlich Schritte, Rufen auf den Gängen, draußen auf den Höfen vor ihrem Fenster, überall. Ein Schatten huscht durch das Zimmer, die Tür geht: die Alte, die plötzlich das Zimmer verlassen hat. Was ist? Was ist? Weshalb ist das Zimmer so unnatürlich hell? So geht doch die Sonne nicht auf in den Tropen? Da gellt scharf und knapp wie ein Peitschenknall ein einzelner Schuß durch die Nacht und zerrt sie hoch aus ihrer Verschlafenheit. Sie springt wieder ans Fenster. Das also hat dieser Schein bedeutet: drüben in Hankou, ganz weit an dem jenseitigen Kai, leuchtet eine Riesenfackel auf, stiebt in Funken gen Himmel, gießt ihre Weißglut über das ganze Ufer, die Hallen, die Krane . . . man kann jeden Ziegel der Speicher drüben erkennen. Und nun sieht sie, daß es einer der Dampfer ist, die dort vertäut liegen, und er brennt – vielleicht hat er Benzin oder Petroleum geladen – wie eine Strohgarbe aus.

Was ist? Was haben diese Leuchtkugeln zu bedeuten, die da drüben aufsteigen von den anderen Schiffen, von dem großen Amerikaner, den sie gestern zu Anker gehen sah? Da prasseln als Antwort drüben einzelne Schüsse auf . . . ganz weit, vielleicht in den Bergen drüben . . . nun kommt es näher, verschmilzt zu ganzen Salven, zu einem einzigen Höllenlärm. Und wieder die roten und die grünen Raketen, Scheinwerferarme, die den Strom absuchen, Boote, die in ihrer Lichtbahn sichtbar werden und verschwinden, und . . . auf dem taghell erleuchteten Kai winzige Figürchen, die wie hurtiges Spielzeug durcheinanderpurzeln . . . Was ist? . . . Was ist? . . . Was soll das Geheul der Menschen dort auf dem diesseitigen Ufer bedeuten?

Als sie so am Fenster steht, schlägt dicht neben ihr eine verirrte Kugel ein, durchbohrt die papierdünne chinesische Wand, hüllt das ganze Zimmer in Kalkstaub. Sie verkriecht sich zitternd hinter ihrem Bett, 209 ja, ja . . . sie schreit vor Angst, sie will nicht sterben, will nicht, will nicht . . . Es fehlt ihr etwas für den Tod, der Tod ist schrecklich, ihr ganzer früherer Todesmut war eine Lüge, eine einzige, große Lüge . . .

»Ich will nicht sterben!« Sie schreit, stöhnt, liegt jammervoll und elend auf dem staubigen Boden. Draußen geht der Höllenlärm weiter; nun ist es ganz nah, nun schießt es auch hier, auf dem diesseitigen Ufer. Eine einzige, gewaltige Detonation scheint die ganze Erde auseinanderzureißen, der rote Schein in der Zimmerecke wird heller, es johlt, brüllt, lacht aus den Höfen und schreit mit hohen chinesischen Fistelstimmen durcheinander. Sie kriecht auf allen Vieren – wenn man aufrecht geht, kann man getroffen werden und sterben – nach der Tür. Die Tür ist verschlossen. Sie rüttelt, sie liegt im Hemd auf den Knien, schreit und schluchzt. »Wo bist du? Weshalb siehst du nicht meine Not?« Sie schreit und wimmert und bettelt leise, sie kriecht ermattet in sich zusammen, verfällt schließlich, während draußen der Weltuntergang andauert, in hilflose Betäubung. –

Wie lange sie so gelegen hat, weiß sie hinterher nicht. Es ist ganz hell, als sie aufgerüttelt wird. Das ist das alte Weib, und sie hat keine sanfte Hand. Was ist? Sie soll sich anziehen, schnell . . . da: die Alte hält ihr chinesische Kleider hin. Sie will nach ihrem Reisekleid greifen, bei Changarnier et ses fils am Broadway gemacht. Nein, diese hier! Die Alte reißt sie am Arm: hier sind karierte chinesische Frauenhosen, hier ist alles übrige. Sie schlüpft schließlich gehorsam hinein, nimmt den Mantel, läßt sich das Gesicht verhüllen.

Einmal während dieser Toilette sieht sie hinaus. Drüben ist es nun still geworden, einzelne Schüsse nur knallen noch. Eine Brandwolke liegt über Hankou, vermischt sich mit den Stromnebeln zu einem grauen Chaos, es riecht nach verbrannten Haaren, nach dem Auspuff von tausend Automobilen, man kann die 210 brenzliche Luft kaum atmen. Das Schiff drüben ist nun wohl ganz ausgebrannt, es glost nur noch in matter Glut. Der große Amerikaner von gestern ist fort, weiß Gott, wo er geblieben sein mag . . . Mitten im Strom ankern, urplötzlich aufgetaucht, niedere eisengraue Schiffe: man kann deutlich den schwarzen Drachen Chinas auf den Flaggen sehen.

Die Alte treibt zur Eile, sie gibt nur mürrische Auskunft: ja, nun geht es zu Ende mit den Fremden, ihre Schiffe sind fort, sie kommen nie wieder; der Stromgott ist über Nacht gekommen, der Stromgott hat die Macht der Weißen zerbrochen.

Sie will wissen, was der Stromgott zu bedeuten hat. Die Alte wiederholt eigensinnig immer die gleichen Worte, sie drängt die weiße Frau nach der Tür. An der Tür wird Violet Tarquanson wieder von ihrer Angst erfaßt, sie will nicht gehen, sie will hier bleiben, sie klammert sich an den Türpfosten. Die Alte keift: es ist befohlen, daß sie mitgeht, es ist Zeit! Sie macht ihre Hände los und stößt sie auf den Gang hinaus.

Die Gänge sind voller Menschen: mongolische Soldaten, Polizisten, Beamte, alle bis an die Zähne bewaffnet, auch die Höfe sind voll von ihnen; Pferde schnauben dazwischen und Sänften drängen sich durch das Chaos; einem kleinen, japanischen Offizier, der kommandierend durch den Hof schreitet, wird ehrerbietig Platz gemacht. Irgendwo, dem Ausgang nahe, steigen sie in eine bereitstehende Sänfte. Die Alte zieht den Schleier vor dem Gesicht der weißen Frau fest, sie selbst sitzt wie eine Pagode neben ihr. Der Tragstuhl wird aufgehoben und verläßt mit dem ganzen übrigen Zug den Yamen.

Unmittelbar vor dem Tor halten in Sänften und zu Pferde die Würdenträger der Stadt, der Provinz. Distriktsbeamte in ihrer Tracht, alte Generäle in der historischen Uniform der kaiserlichen Truppen, dann wieder anspruchslose Japaner in Khaki . . . und dort 211 irgendwo taucht auch der Earl of Hensbarrow auf. Vorüber . . . sie sind schon in den engen Gassen, die auf den See zu führen.

Aber diese Gassen haben ein anderes Gesicht als gestern: die Barbiere, die vor den Häusern ihre Kunden bedienten, sind verschwunden, die Gaukler sind fort und die Wasserträger – undurchdringlich und starr schiebt sich China zwischen den Holzhäusern hindurch . . . kahl rasierte Köpfe, alle grausam ernst, alle dem Tode ähnlich, alle fanatisiert von etwas Ungeheuerlichem, Wunderbarem. Verschollene Sekten, die Europa längst ausgestorben wähnte, sind aufgetaucht und glotzen mit schreckhaften, langbärtigen Masken, Kultbeamte, als gespenstische Guggelmänner vermummt, tragen die Gabeln und Aexte der Höllenrichter. Soldaten flankieren die Sänften der Mandarinen, alles drängt den Hügel hinan, wo die Priester das Wunder verkünden, den Gott, den über Nacht der heilige Strom gesandt hat. –

Den Hügel krönen uralte Mauern, zwischen zerbröckelndem Ziegelwerk reckt sich mit geschnäbelten Dachecken drei Stockwerke hoch die Pagode. Es windet sich singend und vorweltliche Instrumente schlagend, den Hügel hinan, vorbei an hockenden Volksheiligen, die wortlos seit Jahrzehnten dem Leben zuschauen, verschwinden die Würdenträger in der Vorhalle. Wolken süßer Weihrauchdüfte lodern auf, hinter prasselndem Räucherwerk verkünden Fanatiker aller Sekten das Wunder des geheimnisvollen Schutzgottes.

»Hör' es nun, China, von Yünnans Küsten bis zu Tibets Eisbergen, hör' es, großes Asien: ist er nicht gekommen, deine Freiheit dir anzukündigen? Haben die Fremden nicht deine Ahnenbilder zerschlagen, nicht für die Wege ihrer Feuerwagen die Gräber aufgewühlt, haben sie nicht deinen Kindern die Augen geraubt für 212 die Bilder ihrer Zauberkasten?Anmerkung: In China glaubt man noch heute, daß die Europäer zum Photographieren den Kindern der Eingeborenen die Augen rauben. Ebenso amputiert der europäische Arzt nur, um sich die Kraft der abgeschnittenen Glieder anzueignen. Verstümmeln ihre Aerzte nicht deine Leiber, um sich deine Kraft zu stehlen, heiliges Volk? Sieh um dich: wo sind sie hin, die Fremden? Sind ihre Schiffe nicht geflohen und rötet nicht der Brand ihrer Maschinenhäuser, ihrer Farmen, der Kirchen ihrer Lügenpriester den nächtlichen Himmel?« –

Die Gesichter verzerren sich in wildem Krampf, Nägel krallen sich in das eigene Fleisch, scharfe Messer, von verzückten Händen geführt, ritzen die Haut der heiligen Prediger. Blutstreifen gerinnen auf gelben Schädeln, verunstalten die verzerrten Gesichter vollends zu gespenstischen Fratzen, Blutbäche rieseln die Steinfliesen hinab, werden von wilden Hunden geleckt und geküßt von verzückten Menschen. »Ja, wo fühlen wir eine Qual, wenn nicht deine, gemartertes Volk? Welch' Blut soll fließen, wenn nicht das deiner fremden Peiniger?« –

Die Menge drängt in den Tempel, gibt der Sänfte der vornehmen, verschleierten Frau Raum; sie kann nun hineinsehen in das Dunkel der Pagode. Gelbe Vorhänge, von Streben gestützt, verhüllen das Geheimnis des Stromgottes, leiernde Gebete und vorweltlicher Gesang fluten durch den Raum. Dann fällt der Vorhang, der Gott des Stromes ist enthüllt.

Der Gott des Stromes ist eine riesige Eidechse, ein grünes, träges Reptil, von frommen Fischern vor ein paar Tagen gefangen, von den Priestern mit grellen Tonfarben bemalt. Die gelben Augen stieren in die Menge, die Menge ist nun totenstill und wirft sich in den Staub. Vor der dummen, blöden Kreatur, die 213 man zu einem schreckhaften Götzen gemacht hat, pressen gelehrte Mandarinen, die einst auf Pariser Universitätsbänken graugekleidete, emsige Studenten waren, die Gesichter auf den Steinboden. Vor der blöden Echse, in gelbem leuchtenden Seidengewand, liegt der Earl of Hensbarrow, der einmal in untadeligem Frack in einer New Yorker Opernloge gesessen hat – zur Kreatur geworden wie die anderen.

Und wie zu den Vornehmen das Volk in den Bezirk der Pagode drängt und in der Halle mit dem blöde glotzenden Reptil Zehntausende von rasierten Köpfen im Staube liegen, da kommt plötzlich von unten, vom Fuß des Hügels, erregtes Schreien. Die Betenden liegen noch immer regungslos vor dem gottlosen Zauber dort. Aber das Rufen wird stärker, Schreie der Verzückung gellen durch die heilige Stille, werden schließlich zu einer Wolke von Brüllen und Wahnsinn. Da heben die Köpfe sich und gaffen: wer wagt es, die heilige Stille zu stören?

Und siehe und siehe: in der flimmernden Niederung unten am Fuße des Steilhanges sieht man einen einzelnen Reiter auf kleinem, mongolischem Schimmel sich hineinzwängen in die Menschenmauer, rücksichtslos um sich hauen auf Bettler und andächtige, schlitzäugige Paria, daß die Menschengasse schreiend sich öffnet. Das kleine Pferd krallt sich in den ausgedörrten Lehm des Steilhanges, es ist halb wahnsinnig unter den Hieben des Menschen auf seinem Rücken; es stößt kleine, schmierige Mongolenkinder um, die nichts von der Bedeutung des Stromgottes wissen und mit den Zöpfen der betenden Gläubigen spielen, es setzt über die Daliegenden hinweg und steigt vor dem letzten Hang, unmittelbar unter dem Tempel mit schneidendem Trompetenschrei kerzengerade in die Luft. Der Reiter hängt auf seinem Rücken, er kreischt selbst auf wie ein Raubvogel und zwingt mit einem einzigen Hieb, der die Haut des Halses spaltet, das erschöpfte Tier hinauf. Das steht 214 eine Weile, den Bruchteil einer Sekunde, schreit noch einmal auf, als flehe es um Erbarmen, und läßt einen Blutstrom aus den Nüstern schießen, wälzt sich, den Reiter begrabend, am Boden, und seine Beine wirbeln, ehe es verendet, wie Windmühlenflügel durch die Luft.

Der Reiter . . . wer ist der Reiter? Trägt sein zerfetztes Kleid nicht die alten Farben der unüberwindlichen Truppen, die man so lange nicht gesehen? Wo kam er her? Kam er von dem fernen Hochland von Khor, wo die alten Königswiegen Asiens stehen, von den fernen Grenzen des Reiches? Ist er ein Mensch oder ein Gesandter des Himmels wie der grüne Gott hinter seinen Glasscheiben? Da strecken sich hilfreiche Hände nach dem Daliegenden aus, ziehen ihn unter der verendenden Mähre hervor . . . der erschöpfte Mensch, das letzte Glied einer Staffette, die unabhängig von den Telegraphendrähten der Europäer in diesen Tagen die Nachrichten durch das ganze bebende Asien trägt . . . der graubleiche Bote wird auf den Armen in den Tempel getragen.

Zerrissen ist nun die heilige Stille, vergessen in seinem Käfig nun der Stromgott. Zehntausende wahnsinniger Menschen drängen heran, schreien aufeinander ein, gestikulieren mit knochendürren, nackten Armen, reißen sich gegenseitig im Kampf um den Platz da vorn die Kleider in Fetzen und verstummen dann doch plötzlich vor der Stimme, die von oben, von der Plattform des Tempels die Botschaft des Reiters hinausruft.

Die fremde Frau, eingekeilt in die Menschenmauer, sieht oben den einstigen Geliebten stehen. Dort steht er zwischen Priestern und ehrwürdigen Beamten, der Bastard zweier Rassen, und nur sie sieht das unmerkliche Lächeln um seine Mundwinkel: der Theatercoup, wohl vorbereitet von Mandarinen und Pfaffen, hier . . . in Tschunting . . . überall in den Südprovinzen, in allen Orten, wo es gilt, Europa zu 215 schlachten . . . überall beginnt um diese Stunde das wohlvorbereitete Riesentheater aus Fanatismus und Fremdenhaß zu spielen.

Der Reiter, erschöpft und zitternd noch immer, erscheint nun selbst dort oben, er wird gestützt, er will sprechen und kann doch nur noch lallen. Aber auf der Plattform die Stimme des Rufers, die seine Botschaft verkündet, diese Stimme bringt das allgemeine Geschrei zum Verstummen. Die Stimme ist bis zum Fuß des Hügels zu hören, und China saugt die Worte in sich, wie zur Regenzeit der ausgedörrte Boden ersten Wasserguß.

»Horch auf, heiliges Volk: Fünf Tage ist es her, daß man in Saigon die Fremden verjagte und daß Hunde ihre Leiber fraßen. Vor drei Tagen aber – merk es dir – stand mit dem fernen Afghanistan Indien und Parma auf! Die dich so tief demütigten, die Briten, sahen in Bombay und Delhi den Brand ihrer Häuser. Meuternde Shiks tragen die Hoden ihrer Offiziere zur Kette gereiht um den Hals, und die fetten Fürsten Indiens liegen erwürgt in ihren Palästen. Auf ihre Schiffe geflohen sind ihre Beamten, und das Teufelswerk ihrer Maschinen und die Macht ihrer Kampfelefanten ist zerstoben unter Asiens Faust. Denkst du daran, wie du ihre Schiffe beludest mit dem Raub, den sie deinem Lande stahlen? Wie du die Feuer ihrer Kessel speistest und vor ihren Wagen trabtest, ein geduldiges Zugtier? Wie du die Peitsche fühltest, wenn dein Fuß müde wurde? Wo, China, ist die Grabesruhe deiner Väter? Haben sich nicht die Pfähle der teuflischen Sprachdrähte in ihre Särge gebohrt? Wanderten nicht deine Ahnentafeln, die Geräte deiner Gelehrten, die Bilder deiner verödeten Tempel zu ihren Händlern? Wurde dein Leib nicht magerer, damit sie fetter wurden? Mußtest du nicht in Höhlen kriechen, auf den Flößen deiner Ströme wohnen, damit sie ihre Paläste, ihre Gärten bauten 216 auf den Trümmern deiner Tempel? Merke denn auf und öffne dein Ohr! Von den Inseln im Norden kommt eine andere Botschaft: Asien zerfleischt sich nicht mehr, Japan ist nicht mehr dein Feind wie vor Jahren! Sein Arm hält die Schiffe der Fremden zurück, sein Schwert beschützt dich, wofern du hier den Boden säuberst von ihren Spuren!«

Und siehe: noch während der Mensch da die Worte hinausschreit, die jedes mongolische Hirn seit dem ersten Lebenstage, seit fünf Generationen gedacht hat, da erhebt es sich schwefelgelb und schwarz über dem Strom, über der Stadt drüben, reckt sich, von Stichflammen in die Höhe geblasen, blitzschnell hoch und steht wie eine riesige Hand über der ganzen Versammlung.

Es sind nur die Benzintanks der Standard-Oil-Company, die in dieser Stunde entzündet werden, es ist nichts weiter als der Theatercoup eines politischen Regisseurs, wie ein Bühnengewitter im richtigen Augenblick aus der Versenkung losgelassen. Aber plötzlich recken sich dreißigtausend gelbe Arme zu der Wolke hinauf, die ja doch nur ein Zeichen des Himmels ist. Und plötzlich denkt niemand mehr an den Stromgott, und plötzlich ist es nur der eine Brunstschrei, abzurechnen mit den Fremden für immer, das Werk dieser Nacht gründlich zu beenden, das zu tun, was man seit der Geburt sich erträumt hat: vor jedem europäischen Hause den Kopf des Besitzers auf der Stange zu sehen, die Arme bis zu den Ellenbogen in ihr Blut zu tauchen, endlich, endlich . . .

Es ist nicht notwendig, daß die geheimen Ordner dieser Versammlung ihr Stichwort sagen, man weiß ohne sie, wohin man nun zu gehen hat. Es fegt den Hügel hinunter, es rast in die Stadt zurück, es wird 217 urplötzlich, ohne zu wissen woher, seine Waffen und seine Führer haben. Und plötzlich, mitten aus dem Größenwahnsinn seiner Zivilisation heraus, muß Europa zum letzten Kampf antreten.

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