Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Anfang war die Steppe mit Grasbränden und Klapperschlangen und der Hudson, der damals noch ganz kühl und klar über blitzende Glimmerschiefer sich ins Meer schlich; und selten, ganz selten ein brauner Steppenmensch auf einem jener Boote, die so ein seltsames Gemisch von Fahrzeug und Sarg darstellen.

Dann, nachdem im Süden Pizarro das Inkareich in Blut und christlicher Nächstenliebe ersäuft hatte, erschienen mit zahllosen Kindern, Bibelsprüchen und Radschloßflinten die ersten Siedler, und ich glaube nicht, daß es gut ist, viel von jener Auseinandersetzung zwischen Quäkertum und Urmenschheit zu sprechen. Sie ist nun einmal blutiger gewesen, als selbst Europas blutrünstige Indianerromane es wissen wollen, und an Ort und Stelle wollen die Sagen von unerhörten Greueln nicht verstummen, und man wird den Eindruck nicht los, als wüchse die Frucht der weizentragenden Ebenen von Kansas und Missouri nur auf einer dünnen Erdschicht und als wäre das, was man unter der Erde finden könnte, nichts anderes als Blut.

Dennoch: die Nachkommen der Menschheit, die ihren Stammbaum bis auf die Götter zurückführen konnte, sitzen wie seltene Tiere eines zoologischen Gartens in ihren Territorien im fernen Nordwesten und interessieren heute im wesentlichen nur noch 8 Schnapshändler und die Operateure der großen Filmkompagnien. Aus den Bretterbuden, deren Fugen man gegen die Schneestürme mit Moos verstopfte, wurden die Barockhäuser, die man noch heute südöstlich vom unteren Broadway finden kann und die dort genau so zeitgemäß wirken wie ein nach zweitausend Jahren zum Leben erwachter Pompejaner, der in den Ruinen seiner toten Stadt den Manager von Cooks Reisegesellschaft fragte, ob es sich wirklich bestätige, daß der Kaiser den Quintus Icilius Lentulus zum Quästor von Apulien ernannt habe.

Es ist schwer, auf amerikanischem Boden an dieses Faktum zu glauben, aber es ist wirklich so, daß Washington und seine Generäle noch jene edelgeformten dreispitzigen Hüte trugen, in denen die Revolution mit vollem Recht eine Negierung der sogenannten Menschenrechte witterte. Aber es ist auch nicht zu vergessen, daß dieses amerikanische Rokoko ein kurzlebiges Ding war und daß die nächste Generation sich schon in zahlungsfähige Moral, in Fortschritt und jene Vollbärte hüllte, mit denen die Ibsenregisseure von heute noch alle jene vor Tüchtigkeit und Gesinnungstrefflichkeit platzenden, aus Amerika rückkehrenden Menschen ausstatten.

Und so bleibt mir nur übrig, von dem heutigen New York zu sprechen, in dessen engen Straßenschluchten die Menschen auf irgendwelchen wahnsinnig gewordenen Vehikeln immer schneller durcheinander sausen um Futter, Macht und Liebe; wo sie denn das auch alles für sehr wichtig halten, bis sie an Magenkrebs, an einer Whiskyleber oder einer fabelhaften Subwaykatastrophe sterben und in die großen Leichenöfen des Calvaryfriedhofes geschoben werden und verdorren. Ich weiß, ich weiß, daß man auch dieses Amerika von heute nicht mit einem Schlagwort 9 abtun darf, ich weiß, daß man Faust sein kann, auch wenn man eine Dollarmillion zusammenrafft, ich kenne die rührenden Züge der früh ergrauenden Geldmenschen von dort drüben, wenn sie ein wenig wehmütig zurückschauen auf die Kulturgüter des alten Europa.

Aber ich kann nicht sagen, daß ich an die Zukunft dieser sich so ungeheuer wichtig gebärdenden Zivilisation mit jenem Optimismus glaube, mit dem ein Ingenieur in den Niagaraturbinen oder den Dampfkranen von Navy Point den großen Gott der Welt verehrt. Ich habe auf Trümmerstätten von Kulturen gestanden, die größer waren als die unsere, die wir als die einzige durchaus als ewig statuieren möchten und über deren Beständigkeit ich meine eigene und wahrscheinlich reichlich unpopuläre Meinung habe. Ich sehe den farbigen Mann in Tilbury Docks oder Hoboken die Riesendampfer der Welt entladen und weiß, daß er heute schon sich das seine denkt beim Anblick dieser brüllenden Städte und daß er zuweilen höhnisch in sich hinein lächelt, wenn er abends in den unterirdischen Dachsröhren seiner Kneipen verschwindet. Und manchmal, manchmal ist's mir heute schon, als wittere ich den Geruch der Blutsee, die einmal den kunstvollen Bau dieser Zivilisation fortschwemmt, dieser Zivilisation, die ja wie gesagt auch nur auf einem Blutmeer errichtet ist . . .

Aber hier ist nur von den Symptomen dieser kommenden Dinge zu sprechen, und ich habe mich darauf zu beschränken, die Geschichte dieser schönen Violet Tarquanson zu erzählen. Und wenn ich es tue, so bin ich mir durchaus bewußt, daß ich eine grausam harte und bis zu einem gewissen Grade brutale Geschichte beginne. Aber da ich rechts und links die alten Begriffe stürzen und eine große Krise über die müde 10 gewordene Welt kommen sehe, da widerstrebt es mir, meinen allzu lyrischen Zeitgenossen gleich ein romantisches Lied zu singen und in der Seele einer Zeit zu wühlen, die gar keine Seele hat. Wir sind nun einmal hineingeboren in ein großes Morden, das, von oben betrachtet, vielleicht nur wie eine große Jahrmarktrauferei ausschauen mag, bei dem es doch aber gespaltene Schädel und grausame Wunden in zarten Leibern genug gibt. Und mir, der ich zu diesem Jahrmarkt eine schreckhaft tönende Orgel zu drehen habe – – mir sollte es nachgetragen werden, wenn die Figürchen blutbespritzt sind, die auf ihrer Platte tanzen?

*

Diese Violet Tarquanson, wer war sie anders als die Insassin einer jener Villen am untersten Hudson, die auf Genießen und Renaissancemenschentum berechnet sind und meistens doch erheblich mehr Jammer umschließen als Five Points und Whitechapel und alle Londoner und New Yorker Elendsviertel zusammengenommen. Das Luxusweib eines millionenbehafteten Kanonenfabrikanten, ja . . . aber ich kann versichern, daß hier nur wenig die Rede sein wird von dieser Ehe, die seit Jahren belächelt wurde und von diesem armen Percyval Tarquanson, vor dessen Vermögen zeitweilig die Börsen Europas zitterten und der jetzt doch nur ein armer, von dem ewigen »Get up« Amerikas verbrauchter und zuckerkrank gewordener Fleischklotz war. Da dies aber nicht die Geschichte eines Vermögens und noch weniger die eines New Yorker Salons ist, so muß ich füglich mit einem Ereignis beginnen, das, ohne eine schöne, launenhafte Frau nicht denkbar, der Ausgangspunkt von vielen anderen Ereignissen ist, von denen hier zu sprechen sein wird.

11 In der Metropolitanoper kokettiert an einem Abend des Spätsommers, der diesen Dingen vorausgeht, Violet Tarquanson mit Ward Whitening. Sie tut es zunächst aus Langeweile, wie sie im Notfalle auch mit dem Präsidenten des heiligen Synod oder einem indischen Säulenheiligen kokettiert hätte, sie spielt sich über alle Rätsel hinweg, die unten auf der Bühne ein berühmter Wotan einem noch berühmteren Mimen zu raten gibt, sie treibt es so weit, daß sich im ersten Zwischenakt die Gläser auf sie richten und daß man in den Logen über das merkwürdige Paar zu tuscheln beginnt. Gewiß, dieser Ward Whitening ist Präsident des Kolumbiapressekonzerns und er kann, wenn er will, morgen durch seine Blätterphalanx, von der »Manhattan-Post« bis zur »Evening Gazette« die Welt von der Tatsache überzeugen, daß die Sonne nicht im Osten, sondern im Westen aufgeht und daß Amerika nicht von Christoph Kolumbus, sondern von dem Liftboy James Pinkerton aus Utica im Staate New York entdeckt worden ist. Immerhin . . . die schöne, unnahbare Violet Tarquanson und dieser bleichsüchtige, verwachsene Mensch, der bisher jedes Liebeserlebnis unzenweise Cent für Cent hat bezahlen müssen . . . der Fall ist einfach lächerlich. Im zweiten Zwischenakt ist man indiskret genug, sich die Hälse nach diesem seltsamen Paar umzudrehen, man grinst im Orchester und wird sogar auf der Bühne unaufmerksam. Und oben spielt die, der diese Blicke gelten, ihr Spiel weiter, läßt das ganze wohl verteilte Feuerwerk von Lachen und Sentimentalität verpuffen, fühlt triumphierend, wie dieses erste unbezahlte Abenteuer ihren Partner einfach trunken macht, steht plötzlich im Dunkel der Erda-Szene auf, lächelt unbestimmt. »Mister Whitening begleitet mich noch ein Stück?« Er taumelt zu ihrem Coupé, er ist plötzlich 12 überzeugt, schön zu sein wie das Bildnis des Dorian Grey, er läßt, während draußen ein katastrophaler Sturzregen niedergeht, alle Hemmungen fallen, mit denen ein häßlicher Mensch gewohnheitsgemäß sich umpanzert, der ganze Wagen ist voller Ward Whitening, die Situation spitzt sich so zu, daß einfach etwas geschehen muß.

Was geschehen soll, geschieht dort, wo der »Bügeleisen« genannte Wolkenkratzer den Verkehrsströmen des Broadway und der fünften Straße sich entgegenstemmt. Hier nämlich geschieht es, daß er seine ewig feuchte Hand auf ihren nackten Arm legt, in Ermanglung einer anderen Ausdrucksmöglichkeit. Sie hat das nicht erwartet, sie zuckt zusammen, sie hebt plötzlich die Hand und schlägt ihm in dieses sinnige, ewig mißvergnügte Gesicht. Dann drückt sie auf den Knopf, der Wagen hält: »Der Herr hier wünscht auszusteigen.« Und dann fährt sie, während der Platzregen Ward Whitenings nagelneuen Zylinder durchweicht, lachend nach Hause und hat in fünf Minuten alles vergessen. –

Man kann nicht sagen, das New York über diese Angelegenheit gesprochen hätte. Erstens schwiegen die beiden Beteiligten und zweitens hatte New York bald darauf ganz andere Sorgen: einfach, weil unmittelbar hinter dieser Ohrfeigengeschichte jene Finanzkrise begann, die zunächst den Tarquanson-Konzern, hinterher aber das ganze amerikanische Nationalvermögen erschütterte.

Nun soll man beileibe nicht glauben, daß Percyval Tarquanson, Präsident der Hudson Gunworks, der Indisch-Sibirischen Bahn, der neugegründeten Magalhães-Radium-Mines, Besitzer paradiesischer Jagdgründe in Texas, Besitzer einer paradiesisch schönen Frau und vor allem Besitzer einer Morphiumspritze . . . 13 nein, man soll nicht glauben, daß dieser arme, leere Schlauch in die Geschäfte gepfuscht hätte. Der Tarquanson-Konzern, das war in Wirklichkeit niemand anderes als Joel Malachit, derselbe Joel Malachit, der vor beinahe vierzig Jahren als Fensterputzer in der Nassaustraße von Tarquanson entdeckt worden war. Joel Malachit, der inzwischen längst zu Joe Mallison, zu Tarquansons Privatsekretär geworden war, ein Finanztitan, der es fertig bekommen hatte, den Tarquanson-Konzern vom allmächtigen Stahltrust unabhängig zu machen, ein Jupiter der Weltwirtschaft, vor dessen Groll die Finanzminister der alten, seit dem Weltkrieg müde gewordenen Europastaaten zittern . . .

Und über diesen Mann, der unerschütterlich wie ein Büffel alles überstanden hat, was die seit dem Weltkrieg nie mehr recht zur Ruhe gekommene amerikanische Wirtschaft erschüttert hat . . . . diesen Mann trifft eine fast geheimnisvolle Katastrophe in einem Augenblick, wo er selbst bis zu einem gewissen Grad wehrlos ist.

Das ist so: irgendwo unten im Magalhãesarchipel, in Gebieten, die in den Atlanten noch mit den punktierten Linien unerforschter Gebiete umrissen sind, dort unten also, wo die Welt definitiv zu Ende ist, dort entdecken Chemiker und Ingenieure des Konzerns ungeheure Radiummengen, einen ganzen Kontinent dieses Metalles, wie ihn bis dahin kein Chemiker erträumt hat. Dann erscheint ein Heer von Missionaren, die zur besseren Ausbeutung dieser Riesenbescherung die Feuerländer zum Christentum bekehren, und während schon die Landmesser das ganze Gebiet abstecken, werden die Ministerien von Chile und Argentinien bestochen, bis eines Tages eine riesige Minenstadt mit gegossenen Betonhäusern, mit Bars, Kinos, 14 Friedhöfen, Patentkirchen und Bordellen neuesten Typs sich über die triefendnassen Eukalyptuswälder hebt. Der Tarquanson-Konzern strengt seinen ganzen Kredit an: er befolgt sein altes Prinzip, durch die Ausgabe von ganz kleinen Bonds das Kleinbürgertum heranzuziehen, er sorgt dafür, daß jeder maiszupfende Nigger in den Südstaaten, jedes Ladenmädchen von Wannamaker seine Radiumaktien hat. Bohrungen, fieberhaft betrieben, ergeben, daß die Erzlager sich weit unter die See fortsetzen; Joe Mallison, der ganze Arbeit und das alles mit einem einzigen Griff in wenigen Jahren ausheben will, treibt jetzt schon die Stollen weit unter das Meer, er gründet eine neue Siedlung bei den »drei Evangelisten«, er wirft das ganze Riesengewicht des hinter ihm stehenden Gesamtkapitales dort unten in die Antarktis. Und die Magalhãesstollen saufen das Geld des ganzen Konzerns, sie saugen wie ein Riesenexhaustor Dollar-, Pfund- und Rubelnoten aus den Taschen der kleinen Leute aller Länder in die Polarnacht hinunter. Und während in den entlegensten Dörfern der Bretagne, Polens, längs den Schienen der sibirischen Bahn sogar Plakate es hinausschreien, daß man den Fortschritt der ganzen Welt hemme, wenn man keine Magalhães-Radium-Aktien kaufe, während Mallison gar nicht daran denkt, daß ihm jetzt, gerade jetzt, jemand in den Arm fallen könne, da liest das erwachende New York eines Morgens in der »Manhattan Post« die Meldung, daß die chilenische Regierung ihre Einwilligung zum Abbau der Magalhãeslager versagt habe.

Die Meldung wird zunächst von der Börse nicht sonderlich beachtet, Wallstreet notiert die Tarquanson-Papiere allenfalls ein paar Cent niedriger, und am nächsten Tag wird die Meldung von der 15 »Manhattan Post« selbst widerrufen. Aber es vergehen kaum acht Tage, da schreit auf Madisonsquare ein zehnjähriger Knirps mit einem Stoß der »Manhattan Post« auf dem Arm die Nachricht aus, daß Radiummines einen ungeheuren Bluff bedeuteten und daß im ganzen Magalhãesarchipel kein Milligramm Radium zu finden sei. Die Zehntausende von Trambahnschaffnern, Dockarbeitern, Subwaykontrolleuren, die an Joe Mallison geglaubt haben wie an die Kugelform der Erde . . . alle diese Duodezkapitalisten können an diesem Morgen den Artikel einer europäischen Chemikerexzellenz lesen, daß Mallison einem geradezu tragischen Irrtum zum Opfer gefallen sei, daß es sich bei dem Magalhãeserz wohl um Uranverbindungen, auf keinen Fall aber um Radium handele. Und da eine ganze Legion von kleinen Galiziern den »Bluff des Tarquansonkonzerns« den ganzen Broadway von der 120. Straße bis Battery entlang ausbrüllen, so muß das alles notwendigerweise wahr sein und Wallstreet reagiert dieses Mal mit einem katastrophalen Sturz der Tarquanson-Papiere, der sich blitzschnell den Börsen der ganzen Union, ganz Europas mitteilt.

In Blythebourne unten, wo ihn die Nachricht erreicht, brüllt Joe Mallison wie ein gereizter Büffel auf, er fährt nach Wallstreet, um den Dammbruch zu stopfen. Er saust zum Generalstaatsanwalt, der gerade in Long-Island ist: der Generalstaatsanwalt verspricht Erhebungen. Er braust zu Ward Whitening in den Zentralpark, Ward Whitening zuckt die Achseln und läßt das Manuskript kommen und verspricht Erhebungen. Und während alles Erhebungen verspricht, während die europäischen Kabel mit Anfragen und Dementis überlastet sind, während die europäische Exzellenz auch wirklich erklärt, daß sie dem Artikel ganz fern stehe, während Whitening tatsächlich zwei Tage später in der»Tribune« erklären läßt, daß er wirklich 16 einer bedauerlichen und noch aufzuklärenden Mystifikation zum Opfer gefallen sei, stoppt mit einem Schlage das mißtrauisch gewordene Publikum den Ankauf der Magalhães-Radium-Papiere vollkommen.

Gewiß, das ist zunächst nur ein Nadelstich in die Haut eines Elefanten, ein Zwischenfall, der kraft der notwendigen Propaganda morgen vergessen sein wird. Aber sowie Mallison über den Berg zu sein glaubt, setzt die Whitening-Presse mit neuen Anfeindungen ein: heute ist ein Teil der Schächte ersoffen, morgen irritieren Nachrichten von großen Streiks in der Minenstadt die Käufer. Und da in diesem Stadium das ganze Unternehmen empfindlich gegen eine schlechte Presse ist wie eine gestrandete Qualle gegen die Julisonne, da zugleich die hartnäckig sich erhaltenden Nachrichten über kurz bevorstehende Aufstände in Indien den Börsen der ganzen Welt den Magen verderben, so wird während dieses glutheißen Sommers aus dem Stecknadelstich ein respektables, eiterndes Geschwür, und in Wallstreet erzählt man sich, daß Joe Mallison weiße Haare bekommen habe in diesen letzten Wochen . . .

Und dann folgt auf diesen glühenden New Yorker Sommer der erste Frühherbstmorgen, und in dem weitläufigen Haus oben auf den Blythebournebergen dehnt die schöne Frau, von der ich hier erzählen will, den nackten Leib in der prickelndfrischen Morgenluft, sieht, wie unten auf dem Hudson die Nebelschleier zerreißen und die Spitze der Freiheitstatue über den Dämpfen funkelt. Die Inseln drüben liegen wie Phantome über dem Wasser und New York steht da mit seinen Turmhäusern wie ein Wald gothischer Kathedralen und schließt die Signale der Trambahnen und die Hupenschreie und das Donnern der Lastwagen zusammen zu einem einzigen machtvollen Brausen und schickt als Sendboten seiner Geschäftigkeit nur die 17 blitzschnellen Motorboote herüber, die zwischen Battery und den Inseln hin und her sausen. Und plötzlich schreit ein tiefes, vorweltliches Gebrüll durch den Nebel, der Ton eines sieghaften Mammuts: ein Ozeandampfer schiebt sich, zwei Schlepper vor dem Bug, durch das Grau, und sie kann an der Reedereiflagge sehen, daß er zuerst nach Kingston und dann nach Colon und dann nach Belem gehen wird, wo einmal das amerikanische Paradies gewesen ist und wo heute noch alles Leben ausgebrütet wird im heißen Schlamm der Amazonasmündung. Der Ton ist seltsam stark und lockt und ruft, sie hört ihn noch, als die kleine Negerzofe Zelimene ihr auf dem Diwan die schlanken Glieder knetet und verschnörkelte Niggerlieder von der liberischen Küste summt. Sie hört es aufschreien immer wieder, immer wieder, bis es endlich versinkt, da unten bei Sandy Hook, wo der Dampfer schon die ersten langen Atlantikwellen übernimmt.

Da springt sie plötzlich auf, wirbelt zärtlich die kleine Schwarze durch das Zimmer: »Ja, du bist eine gute Magd, du . . .« Und dann kommt der Fechtlehrer, der einmal ein italienischer Abbate gewesen ist und irgendwelche fabelhaften Laster in New York versteckt, und sie wechselt mit ihm in ihrem knappen Trikot blitzschnelle Florettstöße und trifft ihn lachend vor die Brust, daß der Alte mit unnachahmlichem Theaterpathos hintüberfällt und daliegt in seiner mageren Schönheit wie ein gefällter Gott. Sie beugt sich über ihn und muß plötzlich an Ward Whitenings graues Mitessergesicht denken und fragt sich plötzlich, warum alle amerikanischen Männer die gleichen Züge und dieselben langweiligen Gesten und die gleichen immer degoutanten Schmeicheleien für eine schöne Frau haben. Aber da springt vor ihr der Alte plötzlich auf 18 und umfängt, zu einem anbetenden Faun geworden, ihre Knie und kriecht huldigend ihr noch auf den Knien nach, als sie sich losmacht und lachend zur Tür hinauswirbelt.

Dann beginnt der tägliche Morgen ihrer Ehe, die keine Ehe ist: die Meldung, daß die Wachtelhündin Yela sieben Junge zur Welt gebracht, und daß Tarquanson diese Nacht wie gewöhnlich im notdürftigsten Morphiumrausch überstanden hat. Der Chefingenieur Parker bittet sie, an diesem Vormittag mit ihm die neue Rennjacht Rhadames zu besichtigen, ja . . . und da ist ein nonchalant mit der Schreibmaschine geschriebener Wisch, ein Zettel, auf dem Joe Mallison sie, die Herrin des Hauses, um eine Unterredung bitten läßt . . . Jetzt, sofort, die Sache erlaube nicht den mindesten Aufschub.

Sie zerreißt den Fetzen und wird dunkelrot vor Zorn: sie wird es diesen ungarischen Juden lehren, wie man mit ihr, mit Violet Parker, umgeht . . . Und sie braust wie ein blonder Racheengel hinüber in den Flügel, wo der kleine Mann, vor dem das ganze Haus zittert, sich niedergelassen hat mit seinem Stab von Sekretären, Telegraphisten und Maschinenschreiberinnen. Sie geht durch drei Räume mit bleichsüchtigen, nervösen Menschen, sie schiebt den anmeldenden Boy ohne weiteres beiseite. Joe Mallison thront wie ein assyrischer Flügelochse über seinen Papieren, er denkt nicht im mindesten daran, sie eines Blickes zu würdigen oder ihr einen Stuhl anzubieten: er schreit, während er Unterschriften erledigt, der Reihe nach in sechs verschiedene Telephontrichter . . . hier ist die eben von der drahtlosen Station eingelaufene Nachricht, daß Elihu Grants Luftschiff soeben in Reichweite gekommen sei und am heutigen Nachmittag New York erreichen dürfe, dort liegt die Kabeldepesche, die den 19 Ausbruch des lange erwarteten kleinasiatischen Aufstandes meldet, was gleichbedeutend ist mit dem Fehlschlagen seiner eigenen Baummollspekulation, von der die halbe Welt spricht . . . Mister Beecher nebenan hat noch seine Antwort an die russische Regierung zu bearbeiten, mit der er, um seine Verlegenheit zu verdecken, Scheinverhandlungen wegen eines Ankaufes der Eremitagegalerie angeknüpft hat . . . . drei anonyme Briefe mit Attentatsandrohungen wandern in den Papierkorb . . . eine Unterschrift unter den Ankaufsauftrag für die Maisernte der Südstaaten, die den Ausfall der fehlgeschlagenen kleinasiatischen Spekulation decken muß . . . nun hat er eine Minute Zeit für diese Frau, die die Unverschämtheit gehabt hat, unangemeldet bei ihm einzutreten.

Sie kommt nicht erst zu Wort . . . oh nein, er steht wie ein dickleibiger, kleiner Napoleon mit übereinandergeschlagenen Armen da und spricht mit einer Bulletinstimme, die man einfach nicht unterbrechen kann. Erstens wird heute abend Herr und Frau Tarquanson in der Festvorstellung anwesend sein, die die Oper zu Ehren Elihu Grants veranstaltet . . . Jawohl, auch Herr Tarquanson, wenn es gefällig ist, ohne Rücksicht auf seinen leidenden Zustand, die Anwesenheit des ersten Finanzmannes der Welt verlange das einfach. Zweitens: ihre, Violet Tarquansons Privatausgaben – hier überschlägt sich seine fette Stimme: es sei einfach nicht zu verantworten, was sie allein im letzten Monat ausgegeben habe und er werde auch ohne das Einverständnis ihres Gatten Mittel und Wege finden, diese Ausgaben einzuschränken, nein . . . er bitte dringend, ihn nicht zu unterbrechen, zum Donnerwetternocheinmal . . .

Und dann noch ein Drittes, der Napoleon wühlt in Briefen, wird plötzlich höflicher, er senkt die Stimme, 20 er bekommt plötzlich den unsäglich traurigen Blick seiner Rasse, die Stimme bittet leise, und in diesem Augenblick sieht sie, daß wirklich sich da eine dicke, weiße Haarsträhne in den schwarzen Assyrierbart geschlichen hat: Joe Mallison bitte sie dringend, inständig, Herrn Ward Whitening gut, in Gottes Namen freundschaftlich zu behandeln.

Sie sieht ihn fassungslos an und nun endlich will sie ihrem Aerger die Ventile öffnen. Aber als sie begreift, daß dieser Mensch da es fertig bekommt, sie ohne weiteres mit Ward Whitening zu verkuppeln um irgendwelcher Geschäfte, die sie nicht im mindesten interessieren, da lacht sie ihm geradeaus ins Gesicht und fegt plötzlich mit einem einzigen übermütigen Handgriff diesen ganzen Schreibtisch leer . . . Briefstöße, Depeschen, Tintenfässer, Telephonapparate, alles, alles . . . so, nun hat sie ihm doch gezeigt, wer Violet Tarquanson ist und läßt ihn in seiner Sprachlosigkeit stehen und ist hinaus zur Tür. Und die Rennyacht Rhadames, die man ihr angeboten hat, wird sie nun erst recht kaufen, heute noch, ja . . . ja . . .

Im Garten vor ihrem Fenster wartet Frederic William Parker, rotbäckig wie ein junges Mädchen, Chefingenieur der Tarquanson-Gunworks trotz seiner fünfundzwanzig Jahre kraft der Konstruktion des berühmten, 200 Seemeilen schießenden Schiffsgeschützes, mit dem die Gunworks in diesem Herbst die japanische Flotte ausstatten. Sie ist mit einem Satz auf dem wagerechten Wallnußbaumast, dicht vor ihrem Fensterbrett: »Geben Sie acht, Parker, ich komme!« Aber er wird tiefrot, als er von unten ihre schlanken Pagenbeine sieht, und wendet den Blick, als er ihr den Arm entgegenstreckt. Da ist sie mit einem Sprung unten bei ihm, lachend wie ein übermütiger Junge: »Amerikanische Kavaliere! Zu viel Galanterie 21 oder zu wenig . . . Rot werden oder uns verkuppeln! Den Mittelweg, Parker . . . ich will den Mittelweg sehen . . .«

Dann trägt der Wagen sie in rasender Fahrt durch Brooklyn Navy Yard zu. New York drüben hat sich den Schlaf aus den Augen gerieben, verschlingt in den Tunneln unterhalb der Brooklynbrücke endlose Expreßzüge, speit graue Menschenströme aus den Schachten der Subwaystationen und mahlt hier, wo östlich der Brücke beide Städte sich zu vermählen scheinen, Limousinen, Lastwagen, Tramways zu einem heulenden Chaos zusammen und hüllt das alles ein in einen heillosen Nebel von Benzingas und Fabrikrauch, der mit dem frischen Nord von den Werften drüben kommt. Sie genießt das Zittern des rasenden Wagens und die Virtuosität, mit der der ehemalige österreichische Offizier auf dem Führersitz ihn haarscharf hindurchsteuert zwischen den mit 40 Stundenmeilen dahinfegenden Ungeheuern der anderen Straßenseite.

Wie es aber auch geschehen mag, ob da wirklich einmal einer von den Zeitungsverkäufern, die in dem brüllenden Chaos nach Kunden jagen, erfaßt ist von den tödlichen Gummirädern, ob eines von den messinggeschmückten, schweren Lastpferden New Yorks zusammengebrochen ist unter dem atemlosen »Vorwärts« . . . es geschieht hier in den schlechtgepflasterten Straßen bei Flatbush-Station, daß sich da vorn die Hand eines riesigen Wachtmannes hebt und daß das ganze Chaos plötzlich stille steht, daß die Wagenzüge im Augenblick sich in endloser Reihe bis in die Delangeystraße hinein stauen. Ein Zeitungsjunge windet sich wirklich zwischen den Rädern hindurch, er kriecht wahr und wahrhaftig unter der Kuppelung zweier Tramwagen weiter, die ihn im nächsten Augenblick zermalmen können, verdient einen Cent mit dem 22 illustrierten Blatt, das er glücklich bei ihr anbringt, und verschwindet wieder unter den Rädern.

Sie blättert gelangweilt: das feine irritierende Parfüm der New Yorker Druckerschwärze . . . das Bild der Siegergruppe im letzten Baseballspiel . . . haarsträubende Einzelheiten über kleinasiatische Europäermorde . . . mitten im Text die Versicherung, daß Doktor Roberts »Cartilagin« in zwei Tagen die Körperlänge um zehn Zentimeter erhöhe . . . in seinem Fahrstuhl der gelähmte blinde Elihu Grant, der heute erwartet wird. Der größte Amerikaner, der die alte europäische Kultur vernichtet und einen Wald von Fabrikschloten an ihre Stelle gesetzt hat, Elihu Grant, dem zuliebe sie heute abend in der Oper sitzen soll . . . sie gähnt gelangweilt und wirft das Blatt fort und stampft mit dem Fuß über den Aufenthalt.

Da aber geschieht etwas Seltsames. Sie fühlt plötzlich, daß in dieser vom Zufall zusammengeführten und im nächsten Augenblicke wieder in ihre menschlichen Moleküle auseinandergetriebenen Menge sie jemand anstarrt, sie fühlt in dem Knäuel von Mensch und Tier ein Augenpaar, sie wird unruhig, sucht, findet schließlich unmittelbar neben ihrem Wagen ein gelbes, lackstrahlendes Riesengefährt: Lakaien auf den Vordersitzen, ein schwarzer Wappendrache auf dem Schlag . . . und . . . da ist es ja . . . auf dem Hintersitz der Mensch, der sie gezwungen hat, sich umzuschauen. Ein untadeliger Straßenanzug und eine gelbe Mongolenhaut dazu . . . der lange Gliederbau des Angelsachsen und darüber die eingefallene Nase des Mongolen, breite Backenknochen und leere tiefe Augenhöhlen . . . das Skelettgesicht, das alle Chinesen gemeinsam haben mit dem Knochenmann: nichts will zueinander passen, alles ist seltsam und unheimlich, und sie erschrickt und will sich verstecken vor diesem 23 Augenpaar. Aber dieser Blick, dieser eiskalte, traurige Raubtierblick ist stärker als sie, und ob sie will oder nicht, sie muß plötzlich eine stumme Zwiesprache halten mit dem fremden Menschen da: »Ja, ja . . . du bist der Tod . . . oder vielleicht, vielleicht bist du das Leben . . . du, ja, ich habe Angst vor dir . . .«

Und siehe und siehe: als sie sich zusammenduckt wie der Schneidervogel vor der heranzüngelnden Kobra, da kommt von drüben, unter dem Pelzwerk der Decke hervor eine gelbe Hand, eine lange, gelbe Hand . . . mager und krallig, eine Skeletthand, die nach ihrem Arm greift und ihn festhält: und diese Berührung, liebkosend und demütigend, obszön und streichelnd, durchzuckt ihren Arm, sie windet sich und wehrt sich und hält plötzlich still und kann den Arm nicht fortnehmen . . .

Das dauert nur eine kurze Weile. Parker hat nichts gesehen. Parker wendet den Kopf erst, als die Hand wieder fort ist, er grüßt höflich, der Fremde dankt mit der eisigen Verachtung, deren nur der Chinese bei der Begegnung mit dem Weißen fähig ist. Im selben Augenblick hebt wieder ein Uniformierter den Arm, zweihundert Hupen schreien in wahnsinnigen Sekunden durcheinander, die Motoren springen an, der Wagen gleitet vorwärts, das gelbe Gespenst ist verschwunden.

Sie muß das Tosen ringsum überschreien, als sie Parker mit aller Harmlosigkeit fragt, wen er da gegrüßt habe. Sie hört zum erstenmal den Namen des anderen: Earl of Hensbarrow, Agent der chinesischen Gesandtschaft . . . englischer Vater, der sich in Kolonialdiensten mit einer Mongolin verheiratet habe . . .

Sie will mehr wissen, sie kämpft mit irgendeiner quälenden Neugierde. Auf den schlecht gepflasterten Straßen bei Navy Point, wo der Wagen ganz langsam 24 fährt, stellt sie ihren Begleiter noch einmal: »Ich will mehr wissen von Ihrem Chinesen, Parker!«

Er sieht sie von der Seite an. Was denn? Einer der üblichen Gesandtschaftsspione, von dem man allerlei und nicht viel Gutes erzählt, ein Geheimagent im Diplomatenfrack, der im Auftrage seiner Regierung die Spionage der Chinesenviertel organisiert, um den die Regierung der Union sich viel zu wenig kümmere. Ja, und ein mangeur de femme, und weiße Frauen sollten sich in acht nehmen vor ihm . . .

Er fließt über vor New Yorker Moral. Aber da ist Navy Point und da liegt die Segelyacht Rhadames auf ihren Hellingen, und Parker ist plötzlich ganz Fachmann und spricht von dem Lateralplan des schneeweißen Bootes und dem vielleicht etwas hoch gelegenen Metazentrum der Besegelung. Sie klettert hinein und zieht gewissenhaft alle Mahagonischubladen der Kajüte auf und ist entzückt über den Toilettentisch, der da für sie eingebaut ist. Und natürlich kauft sie für eine abenteuerliche Summe das Boot, das sie nie betreten wird . . .

Die Sonne ist mit dem Nebel fertig geworden, als sie nach Hause fährt. Silbergraue, große, brummende Wagen jagen Hell Gate und der Peripherie zu, die Dampfhämmer der Werften dröhnen, an den Ketten der Kräne hoch oben über dem Wasser hängen die winzigen Figürchen der Arbeiter, ein Schutzmann ist in das Wasser eines der Docks gefallen und schwimmt unter den Lachsalven der Straße filzhelmbewehrt an die Kaimauer, die Südsonne liegt auf weißen Yachtsegeln und den fröhlichen Flaggen Amerikas. Das ist lustig und sie läßt eine kurze Weile halten und hat den Earl of Hensbarrow längst vergessen. Sie wendet sich wieder ab von dem fröhlichen Bild und zuckt zusammen, als sie bemerkt, daß sie auf dem Platz bei 25 Flatbush Station hält. Hier war es . . . Ja, ja, hier . . . und sie glaubt plötzlich wieder den Druck der fremden Hand auf ihrem Fleisch zu spüren. Sie stellt den Mann am Steuerrad zur Rede, was ihm einfiele, plötzlich zu halten, sie bestreitet, daß es auf ihren Befehl geschehen sei, und fährt in quälender Unrast nach Hause.

Im Hause auf den Blythbournebergen ist, als sie heimkehrt, der Teufel los: Percyval Tarquanson hat in seiner diabetischen Gier nach Süßigkeiten einen ganzen Baumkuchen verschlungen und wälzt sich in schwerer Migräne und ist beim besten Willen nicht imstande, in der Oper zu erscheinen. Joe Mallison tobt durch das Haus, stellt sie zur Rede, stampft mit dem Fuß und organisiert einen Ueberwachungsdienst, der in Zukunft solche Exzesse des Kranken zu verhindern hat, zum Donnerwetternocheinmal . . . Sie lacht ihn aus, wie sie bisher alles lachend in ihrem Leben erledigt hat. Aber als sie dann das Schlafzimmer ihres Gatten betritt, vergeht ihr plötzlich das Lachen: sie bemerkt zum erstenmal in ihrer Ehe, daß da nicht ein bemitleidenswerter Kranker, sondern ein schlecht riechendes, nach dem Erbrechen notdürftig gesäubertes Fleischbündel mit schlaffen Zügen und einer feisten weichen Hand liegt, die sich angstvoll an ihren Arm klammert, als hielte sie den letzten Rest dieses verbrauchten Lebens fest: »Ach ja . . . bleib hier . . . bleibe bei mir . . .«

Und plötzlich übermannt sie der Ekel und sie löst mit brutalem Griff die Finger und läuft aus dem Zimmer. Sie schlägt das Windspiel Bosco, das ihren Weg kreuzt, sie knurrt Parker an, der sich am Telephon vorsorglich nach ihrem Nachhausekommen erkundigt, sie schilt unter irgendeinem Vorwande Zelimene, daß 26 die kleine Negerin fassungslos weinend sich in einem Winkel verkriecht.

Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und wandert rastlos auf und ab, den ganzen Nachmittag entlang, sie sieht über der verdämmernden Bucht Elihu Grants silberfunkelndes Luftschiff erscheinen und nordwärts dem Zentralpark zusteuern. Irgendwo hinter dem aufglühenden Manhattanturm liegt dort drüben die Metropolitan-Opera, wo sie sich jetzt langweilen sollte inmitten ihrer Kaste. Ja . . . gewiß, da ist diese ganze dünnblütig gewordene amerikanische Geldaristokratie . . . ein müdes Geschlecht von Erben: der züchtet in unendlicher Langweile tropische Giftschlangen und der sammelt Kesselpauken und Whitening mit dem grämlichen Gesicht über dem verunstalteten Kinderkörper schafft Stein um Stein alte Renaissancepaläste von Florenz nach dem Zentralpark herüber, und der letzte Enkel der letzten Gould hat sich's in den Kopf gesetzt, einen Boticelli von mindestens 20 Quadratfuß Fläche aufzuspüren, und läßt es sich von den europäischen Trödlern zum zehntenmal sagen, daß es dergleichen nicht gäbe und daß er sich einen solchen Boticelli dann eben herstellen lassen müsse. Und sie alle versammelt um diesen Elihu Grant, diesen gelähmten Blinden, von dem man weiß, daß sein Leiblakai ihn säubern muß, wenn er in seinem Kot liegt, ja doch, ja . . . Ein gelähmter Blinder, ein armes Tier, das sie alle, das die Welt beherrscht . . . Und plötzlich langt eine gelbe, knochenmagere Riesenhand in den Saal, fegt diese armen Dégénérés fort samt ihrem Milliardengötzen, langt nach den kostbaren, zarten Luxusfrauen, die da wie zerbrechliche Porzellanfiguren in ihren Logen sitzen, wirbelt sie dann durch die Luft, reißt sie fort und . . . Sie springt auf, wandert auf und ab, bleibt vor 27 dem Spiegel stehen, reißt mit wenigen Griffen, daß die zarten Gewebe bersten, sich die Kleider vom Leib, steht nackt vor dem Spiegel, betrachtet ihren Körper, der biegsam und elastisch ist wie der einer jungen Stute. Ah, diese plötzliche, zum erstenmal gefühlte Wut gegen diese nutzlose Ehe . . . diese Angst, gealtert zu sein in zehn verkümmerten Jahren . . .

Sie ruft die verweinte Zofe herein: »Sag', ob ich noch jung bin, Zelimene, sag' es schnell . . .«

Und sie liebkost die kleine Negerin, als sie ihr, glückstrahlend über die wiedergewonnene Gunst der Herrin, ihr mit tausend Schwüren ihre Schönheit versichert, preßt den Kopf mit dem schwarzen Krollhaar gegen ihre Brust und schiebt das kleine Geschöpf sanft zur Tür hinaus.

Dann geht sie ans Fenster und lauscht hinaus. Der Ventilator summt, der drüben im anderen Flügel die ganze Nacht laufen muß, damit Percyval Tarquanson schlafen kann. Noch weiter drüben lärmt New York. Wieder geht ein Dampfer durch die Bucht, mit einem dreifachen, schönen Diadem klarer Lichtreihen geschmückt, brüllt wieder, wie an diesem Morgen, zu ihr herauf, lockend und stark. Drüben in Manhattan jagen sich an den Wänden die ungeheueren Lichtblitze der Reklamebilder . . . der Indianerkopf der Petroleumminen, der Frosch der Pembrookepneumatiks, die Versicherung, daß auf Carters Leberpastillen die Gesundheit der ganzen Union beruhe, und zuletzt . . . sie kann das mit dem Stativglas ganz deutlich verfolgen . . . blitzt die funkelnde Hand der Ostasien-Tea-Company auf, steht eine Weile in der samtschwarzen Nacht und ist verschwunden.

Sie lächelt plötzlich und wendet sich ab. »Eine Hand, die mein Fleisch liebkoste . . . Sieh zu, ob du mich halten kannst, liebe Hand . . .«

28 Und sie geht an den Toilettentisch und nimmt zum erstenmal seit langen Jahren ein Schlafpulver und streckt sich auf ihren Divan und schläft in wirren Träumen ihrer Zukunft entgegen.

*


 << zurück weiter >>