Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Und nun verläßt die Furcht vor dem Schicksal sie nicht mehr. In der Nacht, die diesem Tage folgt, wispern die Spuklarven, die sie gesehen, durch ihr Zimmer, tasten sich in ihre wirren Träume; sie hört, wenn sie erwacht, die Möbel knacken, glaubt auf dem Gang, der nach Percyval Tarquansons Zimmern führt, schlurfende Schritte zu hören und sieht doch nichts als den öden, leeren Raum, als sie zitternd hinausschaut. Sie schellt und bittet Zelimene, ihr Lager in ihrem Zimmer aufzuschlagen. Und nun wird sie ruhiger. Aber als sie sich dann niederlegen will, huscht – – es ist nun schon die Stunde vor dem allerersten Morgengrauen – – ein blendender Lichtschein in ihr Zimmer. Als sie aufspringt, sieht sie den Strom erleuchtet von kreideweißen Scheinwerferbahnen, die Gittermasten mächtiger Schlachtschiffe, ab und zu einen grauen Rumpf, der eben aus dem Nebel 54 taucht, und nun, als das Licht wieder aufblitzt, eine unabsehbare Reihe von Panzern, die stumm den Strom hinabgleiten. Iowa, Wyoming, Thunderer, Bellerophon . . . sie erkennt sie nun alle. Kein Laut kommt von unten, auch die Schlepper vor ihren Stahltrossen lärmen nicht, stumme Lichtblitze nur leiten diese verstohlene Flotte von Gespensterschiffen, die unter der tintenschwarzen Wolke ihrer Schlote durch den Nebel dem Meere zu gleiten.

Nichts ist von diesem geheimnisvollen Auslaufen des atlantischen Geschwaders in den Zeitungen zu lesen. Da sie aber kaum der einzige Zeuge dieser nächtlichen Fahrt gewesen ist und da New York am kommenden Morgen die Ankerbojen bei Navy Point ungewohnterweise leer findet, da die Admiralität unbegreiflicherweise alles unterläßt, um der ganzen Angelegenheit ein harmloses Gewand zu geben, so verfällt New York von neuem in Verfolgungswahnsinn. Japan soll den Krieg, wie vor einem halben Jahrhundert den russischen, ohne Erklärung durch einen Ueberfall auf die Pazifikflotte eröffnet haben; das erste Treffen, natürlich mit ungünstigem Ausgang, hat bereits stattgefunden, das eben ausgelaufene atlantische Geschwader muß notwendigerweise zu spät kommen . . .

Die Gouverneurinsel ist am Abend von Booten umlagert; die Admiralität, von Presse, Börse und Mob in die Enge getrieben, läßt in der Nacht eine leidlich ungeschickte Erklärung anschlagen, daß von einer Kriegsgefahr nicht die Rede sei, daß die Flottenbewegung nur Uebungszwecken und gewissen Sicherungszielen diene . . .

Die unglückselige Wendung von den »gewissen Sicherungszwecken« wird noch am folgenden Morgen von der Presse, die im Solde einer ungeheueren Baissespekulation zu stehen scheint, zerpflückt, die ganze, vor Kriegsfurcht halbtolle Stadt klammert sich an diese 55 Worte, und die mühsam verhaltene Krise flackert in einer Weise auf, daß die Vorgänge der letzten Wochen wie ein harmloses Theaterspiel erscheinen.

Hätte die Frau, von der hier die Rede ist, Sinn für das, was sich in diesen Tagen in Manhattan abspielt, sie sähe Szenen, die für New York unerhört sind. Europa rächt sich sofort für seine nach dem Weltkriege erlebten Wirtschaftsnöte, es haut in zehn Stunden die amerikanischen Devisen bis zur Unkenntlichkeit zusammen, aus dem ganzen Lande treffen angstgehetzte Spekulanten ein, graubleiche Gestalten schleichen sich in Wallstreet über die Stufen des antiken Giebels, der Broadway ist wieder verstopft von einer rasenden Menge. In diesen Menschenpfropf steuert der Wagen von Jay Astor hinein – er hat ohne Kenntnis der Dinge am Morgen seine Besitzung bei Norwalk verlassen – er wird aus dem Wagen gezogen und, für Amerika ein unerhörter Fall, halb tot geprügelt. Die ersten Selbstmordgerüchte flackern auf, Elihu Grant soll heimlich Amerika verlassen und sich in Sicherheit gebracht haben, und daß er sich von neuem ausstellen läßt, hilft dieses Mal nichts: er wird von der rasenden Menge, die außer ihrem Geld nichts zu verlieren hat, mit Steinwürfen begrüßt und am Reden gehindert. Das Mammuthotel muß, um den Wehrlosen zu schützen, die Gitter schließen und um Regierungstruppen bitten.

Vom flachen Lande, aus den kleinen Städten der Zentralstaaten werden Negerverfolgungen gemeldet; da die Gefahr von Farbigen droht, ist kein auch nur von der Sonne verbrannter Mensch dort draußen seines Lebens sicher. Das Schlimmste ist, daß der Mob in Bewegung kommt. Die I. W. W.-PresseI. W. W. = »I woun't work«, eine schon vor dem Kriege gegründete, etwa dem Spartakusbunde gleichkommende Arbeiterliga, die jetzt nach dem Kriege rapide an Boden gewinnt., aus 56 ursprünglich belächelten Anfängen zu einer sozialen Großmacht herangewachsen, faßt an der gefährlichsten Stelle zu: sie erweckt das Mißtrauen der Arbeiter gegen die kleinen Banken, die jeder der Großbetriebe seit dem Weltkriege für seine Leute eingerichtet hat. Sie macht dunkle Andeutungen über Riesenunterschleife hier und da, sie setzt die Staatsanwaltschaft, die unter dem Drucke der Straße nachgeben muß, in Bewegung. Die Arbeitslosigkeit seit Wochen, die wütende Sorge um die in jenen Banken deponierten Ersparnisse, diese ganze, planmäßige Hetze bringen das ganze namenlose graue Bedienungspersonal der riesigen amerikanischen Wirtschaftsmaschinerie in Bewegung, und zum erstenmal zittert die bislang so sichere Gesellschaft vor den unabsehbaren, hemmungslos vermehrten Massen.

In Brooklyn knattern zum erstenmal in diesen Tagen Maschinengewehre, ein unglückseliger Bankbeamter wird in einem Sack in den Fluß geworfen; bewaffnete Arbeiter erscheinen am zweiten Tage, der ein Sonntag ist, in der Trinity-Kathedrale und verhindern den Geistlichen, der eine Beruhigungsrede hält, am Sprechen.

Dem Bankinstitut der Standard-Oil-Company widerfährt das Mißgeschick, daß ihm bei dem unseligen Andrang auf die Schalter für fünf Minuten die Zahlungsmittel ausgehen. Die wartende Menge heult auf, bricht die Schranken nieder, verwüstet das Innere und steckt in Brand, was brennbar ist: man sieht den Feuerschein die ganze Nacht hindurch wie ein Warnungszeichen für die ganze in ihren Fundamenten bebende Stadt über dem Fluß stehen. Da alles, was bisher die Maschinen, den Verkehr bedient hat, sich vor den Bankschaltern drängt, um zu retten, was zu retten ist, funktionieren in den schlimmsten Tagen die Telephone, die Untergrundbahnen nicht. Die 57 Lebensmittelzufuhr stockt, sabotierende Arbeiter bringen in der Nähe von Battery einen der wenigen noch laufenden Züge zum Entgleisen, der Zug brennt aus. Man läßt ihn stehen, wie er ist; man sperrt in der Nacht das ganze Viertel durch Truppen ab und schafft, um die Zahl der Opfer zu verheimlichen, die Toten in aller Stille fort. Es hilft nicht viel, daß schließlich die Regierungstruppen Blut fließen lassen: die Furcht vor dem Krieg, vor dem wirtschaftlichen Niedergang und die noch schlimmere vor der seit Jahrzehnten künstlich hinausgeschobenen sozialen Krisis lassen die ganze Union nicht mehr zur Ruhe kommen.

Nein, sie verläßt in diesen Tagen Blythebourne nicht. Die Krisis des Hauses Tarquanson spitzt sich nun scharf zu, sie bemerkt, daß in den Räumen des abwesenden Mallison Panik herrscht. Sie sieht den kleinen Mann von seiner letzten Europareise wiederkommen, bemerkt seinen gebeugten Rücken und das urplötzlich zusammengeschrumpfte Gesicht: ja, er ist seit seiner Abreise um Jahre gealtert.

Am selben Abend noch hält ein Wagen mit Uniformierten vor ihrem Haus. Es ist keine Verhaftung, aber der Generalstaatsanwalt wünscht Herrn Mallison selbst zu sprechen. Nach ein paar Stunden kommt der kleine Mann wieder, todmüde, abgespannt, ein wenig heruntergekommen in seinem Anzug, im ganzen höchst bemitleidenswert. Die Gründe für diese Rücksprache mit dem Generalstaatsanwalt erfährt sie erst eine Woche später. Vor der Hand wird sie in die Zimmer ihres Gatten gerufen. Percyval Tarquanson ist da, der sich unter dem Einfluß einer doppelten Morphiumration verhältnismäßig wohl befindet, Mallison und der Syndikus Meek. Es ist sehr feierlich, man macht ihr bei der kritischen Lage und dem ernsten Gesundheitszustande ihres Gatten vertrauliche Mitteilungen über die Depots, die zu ihren Gunsten für den schlimmsten Fall im Ausland angelegt sind. Auch das 58 läßt sie völlig kühl. Was geht sie das Schicksal dieser Menschen, dieser Stadt da draußen, was ihr eigener Wohlstand an? Und wieder verkriecht sie sich verstörten Blickes in ihr Zimmer und verbringt stumm und in sich verkrochen auch diese Nacht.

Am nächsten Tage verzeichnet »World« eine Meldung, die unter anderen Umständen New York für eine volle Woche alarmiert hätte, jetzt aber, inmitten der Krise, beinahe unbeachtet bleibt. Oben beim Columbus Circle, bei der 59. Straße, hat man endlich die seit Wochen vermißte Anna Holms, die Gattin irgendeines Zollbeamten, gefunden: als Leiche, ermordet von ihrem nachweisbaren Geliebten, einem malaiischen Korbflechter, mit einem Schnitt durch den Hals, zu einem jämmerlichen Bündel zusammengeschnürt und im Keller des Hauses in ein Faß verpackt. Man hat einen spärlichen Briefwechsel in aphoristischen Stelldicheinzetteln gefunden, man kennt auf diese Weise den Mörder, der sich irgendwo in den unterirdischen Kneipen des Negerviertels verbergen mag.

Und diese Meldung ist das erste, was sie aus der Verkrampfung der letzten Tage reißt. Sie jagt, kaum daß sie es gelesen hat, hinauf, drängt sich in die Menge, die Muße genug hat, schwatzend das Haus zu umstehen. Sie reißt alle Einzelheiten, die sie erhaschen kann, gierig an sich, sie treibt es so weit, daß sie sich beinahe der Kommission, die soeben zur Leichenschau erscheint, verdächtig macht. Aber als ihr dann aus den geöffneten Kellerluken der süßlich-furchtbare Brodem entgegenschlägt, den sie von den entsetzlichen Fleischmärkten Italiens kennt, da flüchtet sie totenblaß in den Wagen zurück. Und plötzlich greift wieder die Angst, eine entsetzliche Todesangst nach ihr: ach, geborgen, geschützt sein vor dem Schicksal, fort von dieser entsetzlichen Stadt, ja, ganz weit fort . . . Und plötzlich, überzeugt, das Richtige gefunden zu haben, läßt sie den Wagen herumreißen: zu Parker!

59 Und wieder steht sie in dem puritanischen Arbeitszimmer vor dem zarten, strahlenden Menschen: ach, ein Halt . . . eine Rettung! Und sie bettelt und fleht: Er muß heute noch sie begleiten . . . irgendwohin, in die Berge, an den Pazifik . . . nein, nein, doch lieber in die Berge. Aber auf jeden Fall fort, auf jeden Fall, heute noch . . .

Er ist erstaunt, er macht Einwände . . . die Arbeit hier, die Krise draußen. Ob denn das wirklich sein müsse. Da geschieht es plötzlich, daß sie die Hände vor das Gesicht schlägt und weint, statt aller Antwort ein wildes, haltloses Weinen. Da ist er bei ihr, und nun passiert es ihm, daß er liebkosend über ihr Haar streicht. Gleich darauf zieht er freilich erschrocken über sich selbst die Hand zurück. Gewiß wird er fahren, heute noch. Eine Tour in die Blancaberge . . . nicht wahr, sie hat ihr Klettern vom Vorjahr in der Dauphiné noch nicht vergessen? Ja, sofort wird er sich im Alpine Club alle nötigen Angaben machen und einen Führer geben lassen. Ja, er hat noch mehr Herrlichkeiten für sie: er wird seinen Wagen mitnehmen . . . Zelte, Schlafsäcke, die ganze Räuberromantik. Nur Zeit muß sie ihm jetzt lassen, für ein paar Stunden nur . . . in zwei Stunden ist er dann wieder bei ihr in Blythebourne.

Und wirklich bringt er sie so weit, daß unvermittelt ihre Stimmung wieder umschlägt und sie entzückt ist von allen verheißenen Herrlichkeiten und wie ein beschenktes Kind nach Hause fährt.

Es ist früher Nachmittag, der Zug geht erst in fünf Stunden, in fünf Stunden ist sie in einem Expreß geborgen, gerettet vor der quälenden Angst, gleichgültig, für wieviel Tage, gerettet, gerettet . . .

Als sie fröhlich singend ihre Ausrüstung in den Koffer legt, so sorgfältig, wie ein Kind seine Spielzeugkiste packt, stürzt jammernd Zelimene herein: ein 60 Herr, der sich nicht melden lassen . . . einfach hier eintreten will . . . dort ist er schon . . . dort . . .

Hinter der verängstigten Negerin steht, aus der Erde gestiegen wie der Satan, der Earl of Hensbarrow.

Ueberrascht durch die ungeheuerliche Unbekümmertheit, mit der er den Eintritt hier sich erzwungen hat, kann sie nur verwirrt stammeln.

»Sie? Hier . . . was wollen Sie? Was wollen Sie von mir?«

Er steht unbeweglich da – wieder die Statue aus dem »Don Juan«: »Beispielsweise, Violet Tarquanson abholen . . .«

Da erstarrt sie in ohnmächtiger Wut: »Was . . . hindert mich, Sie von meinen Leuten da vor die Tür führen zu lassen?«

»Doch wohl die Ueberzeugung, daß es sehr lächerlich wäre, wenn wir unser Spiel in Ihrem Garten dort fortsetzen wollten.«

Er ist unangreifbar für sie. Sie zittert vor Scham, vor Wut und Angst: »Der Earl of Hensbarrow wird einen langen Arm haben müssen. Ich verreise.«

Da reckt er den schlanken, ebenmäßigen Körper, das Vermächtnis des angelsächsischen Vaters: »Mein Arm ist lang. Aber ich werde ihn nicht ausstrecken. Violet Tarquanson wird von selbst kommen.« Er verbeugt sich lächelnd und geht. Da stürzt sie fassungslos aus dem Zimmer.

In der beginnenden Dämmerung kauert sie, gedemütigt, verprügelt. Der schreckhafte Spuk ist fort. Aber die Welt, aus der der andere da aufgestiegen, ein Satan ohne Hemmung und Scheu, die dunkle Welt fremder Menschheit streckt hundert Arme nach ihr aus. Ja, dort hinter dem Fenster am anderen Ufer die trotzigen Paläste mit den erborgten lächerlichen Burgfassaden: wer mag's wissen, ob nicht in jedem ein Mann 61 sitzt, der seinen täglichen Tag mit Morphium heizen muß? Und trotz dieser aufgeblähten Zivilisation, trotz des Heeres von Privatdetektiven, Butlern und Zofen pocht da ein farbiger Riese, und wenn er pocht, fallen die Quadermauern zusammen, unweigerlich, unweigerlich . . .

Parker kommt. »Ach, daß Sie da sind, Parker, daß Sie bei mir sind.« Und als er zu Mallison will, sich zu verabschieden: »Nein, nein, Sie sollen hier bleiben, nicht eine einzige Minute sollen Sie fort.«

Er ist zart genug, sie nicht zu fragen. Vielleicht ist er dem anderen draußen begegnet, vielleicht ahnt er die Zusammenhänge. Und zusammengekauert vor dem großen Menschen, der wie ein zuverlässiger Bernhardiner sie bewacht, verbringt sie zitternd die Stunden, die sie noch zu warten hat. –

Sie haben es nicht leicht, in Central Station ihren Zug zu erreichen. Die Trains aus dem Westen speien fassungslose, von der Krise nach New York gerufene Menschen aus: um Gottes Willen, und wenn es das Leben kostet, die Bankeinlagen, die Ersparnisse von Jahrzehnten, den erspekulierten Reichtum retten! Vierschrötige Bauern aus Illinois, aufgeregte italienische Makler, trostlos resignierte Kaftanjuden, eine Portugiesin, die von einem hysterischen Schreikrampf befallen wird, ein riesiger Holländer, der, von einer Hiobspost empfangen, ohnmächtig davongeschleppt wird von den Samaritern, aufgeregt fluchende bayerische Ansiedler aus Dakota. Der Selbstmord eines Finanzleviathans wird zum zehnten Male kolportiert, Tarquansons Name flattert durch die Luft und wird verschlungen von dem allgemeinen Gebrüll. Sprengbomben unter Exchange House, Negerverfolgungen in sämtlichen West- und Südstaaten, ein von der Menge niedergetretenes Italienerkind, das in den Schutz eines 62 Pfeilers geschleppt wird, Arm in Arm gefaßt eine Kette von Männern mit beruhigenden riesenlettrigen Plakaten des Stützungskomitees von Wallstreet auf dem Rücken. Und über dem ganzen Wahnsinn der irrsinnige Kreisel der Lichtreklame . . . Kangummi Spearmint . . . Boxerkämpfe in Coney Island . . . Automobilnabe »New departure« . . . Anaconda Copper Mices sinken nie im Kurse . . . Kaugummi Spearmint . . .

Als sie endlich in ihrem Schlafcoupé in Sicherheit ist, streckt sich, ohne daß sie den dazu gehörigen Körper sehen kann, ein langer, magerer, gelber Arm hinein. Sie schreit auf. Nein, es ist nur ein japanischer Orangenverkäufer, der einen Cent verdienen will. Sie nimmt Veronal und schläft abgrundtief. –

Am Morgen, als die atlasblaue Fläche des Eriesees vor ihr liegt, ist sie wieder die fröhliche, starke Violet Tarquanson. Nach dem Frühstück steckt Parker den Kopf hinein: »Violet ist mir nicht mehr böse?«

Sie fragt erstaunt, stellt endlich fest, daß er an die gestrige Szene, an das Liebkosen ihres Haares denkt. Statt aller Antwort fliegt ihm ein Kissen an den Kopf. »Wir werden nie Freunde, wenn Frederic William Parker nicht sein Ideal von unnahbaren amerikanischen Damen zu Hause läßt.« Er lacht, und nun erwidert er den Wurf, es gibt, zum Entsetzen der vorübergehenden Boys, eine regelrechte Kissenschlacht. Sie sieht ihm ins Gesicht, das frisch und gesund ist wie das eines Jungen, der sich zehn Stunden im Walde herumgetrieben hat. »Sie haben so gut geschlafen wie ich, Parker?«

Er schüttelt lachend den Kopf: »Zehn Stunden Nachtarbeit seit New York.« Damit ist er wieder zur Tür hinaus.

In Chicago, wo sich tausend Hände nach den letzten Blättern ausstrecken, kommt er mit einem Depeschenbündel wieder.

»Was gibt es?«

63 Er schüttelt mißvergnügt den Kopf. »Nicht viel Gutes.« Da sieht sie ihn ungnädig an: »Dann bitte ich Sie, das wenige Gute mitzunehmen und das übrige in New York zu lassen.« So schickt sie ihn fort. –

Am nächsten Tage liegt sie wohlverpackt auf der Plattform des Aussichtswagens. Die Kette häßlicher Fabrikstädte ist nun verschwunden, Nebraska dehnt unter der goldenen Herbstluft frisch gepflügte mächtige Ebenen, unbebaute Felder mit immer noch bunten Judasbäumen und dunklen niederen Gebüschflecken. Warmer Wind, der Sonne getrunken hat, flimmernde Luft am Horizont und dort in der Ferne, blauschwarz und klar, die mächtigen Wellen des heranflutenden Vorgebirges. Vergessen der Alp . . . leicht alles und hell . . .

In New Belfast, das sie am dritten Tage erreichen, kommt ihnen der bayerische Führer entgegen, prangend in der fremden Tracht wie ein kostbarer Hahn. Auf den Wagen müssen sie freilich noch warten einen vollen Tag. Aber sie ist entzückt von dem kleinen Nest, den winzigen Holzbaracken, dem Fort drüben mit den verwachsenen Wällen und verrosteten Kanonen: Erinnerungen an die Erobererzeit. Schließlich wittert sie in der Luft: es riecht entschieden nach Brand, und da irgendwo drüben steigt auch wirklich eine Rauchwolke auf und noch eine. Der Führer erzählt, ein wenig lallend übrigens, daß man gestern ein paar Negerläden angesteckt habe; mit gutem Grunde, ja, und morgen werde es noch mehr zu sehen geben.

Sie sieht ihn von der Seite an. Er riecht entschieden nach Whisky. Aber da ist das Gigantic Hotel, und sie lacht über die zehn Fuß hohe Holzbude mit der rattenunterwühlten Veranda. Aber auch hier hat der Wirt seine Niggerboys versteckt und flucht auf die Farbigen, die der Teufel aus den Südstaaten alle gerade hierher 64 schicke und die zum Schluß frech genug gewesen seien, für New Belfast sogar einen schwarzen Bürgermeister zu verlangen. Das und die Geschichte gestern . . .

Aber da verstummt er ebenfalls mit einem Seitenblick auf die Dame. Schüsse knallen in der Ferne, als sie essen, irgendwo auf dem Platz drüben grölen Betrunkene. Neugierde plagt sie, zu erfahren, was hinter allen diesen dunklen Andeutungen der Leute steckt, und sie erbettelt sich von Parker noch einen Gang durch die Stadt. Sie sehen die Brandstätten, wo gestern noch farbige, fleißige Gentlemen mit allen erdenklichen Herrlichkeiten der Erde gehandelt haben und wo nun die ganze Bescherung in den Kot gestampft ist und schwelend gen Himmel stinkt. Glimmende Balken glühen mit bösen Augen durch die Nacht, die ganze Straße ist verschmiert mit einem schlüpfrigen Brei aus zerrissenen Kleidungsstücken und ausgeschütteten Heringsfässern und dem Inhalt aufgeschlitzter Reissäcke, der das Pflaster wie mit Hagel geweißt hat. Drüben, wo ein Fabrikschornstein sich in das Dunkel reckt, fallen wieder Schüsse, ein Chorus grölt, eine Weiberstimme keift mit der Fistel. Und als sie auf den Platz zurückkommen, tagt dort beim Schein brennender Petroleumfässer eine seltsame Versammlung: Landleute, Arbeiter aus den nahen Minen, halbwüchsige Lümmel, die ganze Gesellschaft wie die Komparserie eines blutrünstigen Kinodramas. Der Demosthenes von New Belfast wird von starken Schultern über die Menge gehoben, man versteht nur einzelne Kraftworte seiner Hetzrede und das Beifallsgegröl, das den Pointen folgt. Ja, und da ist endlich die groteske Puppe eines Farbigen, aus Lumpen köstlich gestopft, angetan mit allen Attributen, mit denen der Neger sich gern behängt, und es gibt einen unendlichen Jubel, als man sie mit Petroleum begießt und verbrennt, wie sich das gehört.

65 Die ganze Stadt ist betrunken, behangen mit den Schätzen der geplünderten Magazine. Noch vor dem Gigantic Hotel stoßen sie auf einen zweifelhaft aussehenden Gentleman, angetan mit Schlapphut und Riesensporen. Er grölt sie an und schwankt und erzählt von den Heldentaten gestern, als man es den Niggern endlich einmal gezeigt habe, und klirrt schließlich auf das Pflaster in seiner ritterlichen Pracht und murmelt noch einige anerkennende und glücklicherweise nicht verständliche Worte für die Schönheit der Dame und beginnt zu schnarchen und ist nicht mehr zu sprechen.

Sie schläft lachend ein über das kleine turbulierte Nest. Aber als sie am Morgen sich ankleidet, hat sich das Bild auf dem Platz da unten merkwürdig verändert: man sieht bewaffnete Landleute vor dem Hause des Sheriffs, sie haben alle Zugänge zu dem Platz besetzt, die allgemeine Betrunkenheit ist fort. Dafür ballen sich in den Ecken Gruppen leise miteinander redender Menschen; man merkt es den verstörten Gesichtern an, daß die Erwartung irgendeines großen Spektakels auf der kleinen Stadt drückt. Und nun endlich erfährt Parker, noch ehe Violet Tarquanson sichtbar wird, was hinter den geheimnisvollen Andeutungen der Leute gestern gesteckt hat: in der Jutespinnerei dort unten in der kleinen Fabrikstadt, drei Meilen von New Belfast, hat ein farbiger Heizer vor drei Tagen eine Arbeiterin, ein Kind noch eigentlich, vergewaltigt. Und da der dortige Sheriff sich gegen eine Exekution im landesüblichen Sinne wehrt und um Regierungstruppen gebeten hat, bringt man den Nigger hierher. Hierher nach New Belfast, wo man Gott sei Dank noch vernünftig über derlei Dinge denkt, jawohl Herr . . . und der Wirt gießt einen ungeheuren Morgentrank hinunter und geht zur Tagesordnung über.

66 Parker läuft auf den Bahnhof, er will nicht, daß sie etwas von der häßlichen Geschichte erfährt und sieht. Aber der Wagen ist noch nicht da, er kann frühestens am Nachmittag mit dem Güterexpreß eintreffen, und Parker muß unverrichteter Sache abziehen. Als er zurückkommt, hat der Wirt der inzwischen erschienenen Dame die ganze Geschichte, die doch unzweifelhaft die Billigung einer amerikanischen Frau finden muß, erzählt. Sie zittert vor Erregung, als sie ihn kommen sieht: »Sie sollen es verhindern, Parker!«

Er zuckt die Achseln. Er ist alles andere, als ein brutaler Mensch, und wenn ein ordentliches Gericht den Schwarzen zu dreißig Kerkerjahren verurteilte, so wäre ihm das lieber als die Exekution durch Richter Lynch. Aber er ist schließlich Amerikaner mit leidlich gesundem Wirklichkeitssinn: »Einer muß Herr sein. Die anderen oder wir!« Und als sie aufbegehrt, zündet er sich umständlich die siebente Morgenpfeife an, zeigt auf den Platz unten: »Und wenn ich es wollte, glauben Sie wirklich, daß ich es könnte? Sehen Sie her!«

Da ist unten Bewegung in die bedrückte Menge gekommen. Diese Menschen dort, plötzlich von ihrer Erwartung befreit, drängen sich vor dem Gebäude des Sheriffs, wo es wirklich etwas Herrliches, etwas Ungeheuerliches zu sehen gibt . . . Da ist es also wirklich: die Regisseure dieses Tages haben, um jeden Zweifel an der Tat und ihrer Strafwürdigkeit niederzuschlagen, das Opfer des Negers Ismael Prym ausgestellt.

Die beiden sind nun unten auf dem Platz. Männer stehen schwatzend, die Hände in den Taschen, im Vorgeschmack der Wollust, die in einer ausgiebigen Rache liegt; Weiber schnattern durcheinander, betasten neugierig das kleine Menschenbündel dort in seinen bunten Tüchern.

67 Eine vollbusige kleine Slawin, wie sie sie in Brooklyn gesehen hat, ein Kindergesicht unter dem blauschwarzen Haar, und doch schon eine halberblühte Frau. Hinten kreischt eine Megäre im schlampigen Nachthabit weißer Proletarierinnen auf. Ja, der Täter rühmt sich der Tat, er rühmt sich, daß eine weiße Frau ihm gehorcht hat! Und dann schweigt man einen Augenblick still, um zu hören, was diese Dame dazu sagt.

Violet Tarquanson beugt sich nieder und schlägt das schmutzige Kopftuch da zurück. »Leidest du?«

Die andere schüttelt den Kopf.

»Hast du dich gewehrt?«

Nun versteht das kleine Menschenkind. Im näselnden Pidgeon kommt es zurück: »Er war stark.«

»Und?«

»Da habe ich mich nicht gewehrt.« Das sagte sie leise, durchaus ohne Empörung. Es ist wohl selbstverständlich, daß man einem Manne gehört, der stärker ist.

Sie sehen sich an, eine Frau die andere, Schicksal steht gegen Schicksal. Violet Tarquanson läßt ein paar Münzen in die kleine braune Hand gleiten, die ohne Dank und halb spielend hingenommen werden, wie alles übrige. Dann geht sie.

An der Grenze des Menschenknäuels trifft sie Parker wieder, der, die Situation begreifend, zurückgeblieben ist.

»Sind Sie noch immer empört?« fragt er.

»Vielleicht. Vielleicht nicht.«

»Mau wird ihn gleich bringen. Wollen Sie sehen?«

Sie nickt stumm.

»Aber man wird ihn töten?«

Sie denkt an das Kind mit der Weiberweisheit aller Erdenjahrtausende: »Das ist wohl eine Machtfrage. Wie alles.«

68 Sie haben nicht lange zu warten. Der Zug kommt. Der gefesselte Neger in der Mitte, Bewaffnete voraus, Bewaffnete hinterdrein, Farmer und Bisamrattenjäger, die, den Pogrom witternd, in die Stadt gekommen sind: ungebärdige Gesellen, Abkömmlinge der Landsknechte und verkommenen Mönche aus der Erobererzeit. Halbwüchsige Lümmel, aus der Sonntagsschule zu diesem Spektakel entlaufen, unter einem Quäkerhut ein Mensch, der es für seine Pflicht hält, den Neger Ismael Prym auf seinem letzten Gang zu begleiten. Dann brave Dollarmacher von New Belfast und Umgebung, spitzbäuchige Krämer, denen das Gewehr in der Hand zittert. Der Neger zwischen ihnen, in Fetzen gerissen die Kleider, die mißhandelte Haut überströmt von schwärzlichglänzenden Strömen geronnenen Blutes – ein prächtiger gefesselter Stier.

Violet Tarquanson sieht ihm ins Gesicht. Die Stirn flieht weit zurück, und mächtig springt der Unterkiefer nach vorn: er ist ein riesiger Menschenaffe. Steine fliegen, der Pöbel heult auf. Der Neger steht eine kleine Weile still, zuckt zusammen unter den Würfen, richtet sich mächtig auf, mißt einen Augenblick diese aus allen Stämmen Europas zusammengeknetete Menge mit unsäglichem Hohn. Der Neger Ismael Prym ist vor wenigen Tagen noch ein graugekleideter, organisierter Proletarier gewesen, der das Maul eines Kesselfeuers gestopft hat: eine Stunde wie die andere, einen Tag wie den anderen, ein Jahr wie das andere. Nun ist er ein gigantischer Gott seiner unerkannten Rasse geworden.

Und wie er vorwärts schreitet zu seinem Tod zwischen gaffenden Kleinbürgern und Weibern, die ihre Kinder in die Höhe halten, da geschieht es, daß er plötzlich zu singen beginnt. Ein unverständliches Lied seiner Sprache, ein eintöniges, schallendes Sterbelied, dessen 69 Sinn er selbst vielleicht nicht mehr kennt – ein Totenlied, das ihm einst die säugende Mutter gesungen haben mag in den fernen, versunkenen Wäldern am Senegal.

Die weiße Frau sieht es und wendet sich ab. Wer kann so sterben hier, wie der Neger Ismael Prym stirbt? –

Der Richtplatz ist wohl weit von der Stadt, man kann heute derlei nicht mehr wie in den guten, alten amerikanischen Zeiten hübsch öffentlich auf dem Markt vornehmen, heute, wo es sentimentale Regierungsbeamte gibt mit modernem Rechtsbewußtsein. Nein, heute bleibt ihr das Grauen erspart, der Zug gleitet vorüber.

Und wieder steht sie am Fenster ihrer Karawanserei, hört drüben, wo der Zug verschwunden ist, im Sumpf die Bullocks den Lärm überschreien, sieht eine schwarze Wolke in den schwülen Tag hinaufklettern. Ihre Finger zittern leise auf der klebrigen Fensterscheibe: ja, nun ist es wohl schon geschehen, dort drüben hinter dem Fort vielleicht, daß ein Mensch den Tod überwunden hat . . .

Sie dreht sich um. Parker beugt sich über die eben eingetroffenen Zeitungen. Sie spricht ihn an: »Schlimmes?«

Er nickt stumm.

»Wallstreet?«

»Ja.«

»Und Mallison? Mister Tarquanson?«

Er zuckt die Achseln, geht eine Weile auf den morschen Dielen der Veranda auf und ab, sieht, wie drüben der Gewitterregen in Gang kommt.

»Es geht um mancherlei. Um Violet Tarquansons Besitz. Und um noch vieles andere.«

70 Sie bleibt stehen, wo sie ist. »Gut, Parker, ich werde kommen, wenn man mich zurückruft. Ich bin noch immer eine gehorsame Gattin, Parker, ich werde, wenn ich erst einmal arm bin, für 50 Cent in der Stunde im East-End Ihre Wäsche waschen. Aber solange man mich nicht ruft, interessiert mich das alles eigentlich nicht im mindesten.«

Draußen geht der Regen nieder, die statuarischen Gestalten der Regierungskavallerie ziehen in ihren nassen Mänteln vorüber, ganz bedächtig. Man kommt ja doch zu spät und hat eigentlich auch gar kein Interesse daran, zur Zeit zu kommen.

Sie zittert leise. Er ist zart und gütig wie immer: »War das da draußen heute nicht zu viel für Violet?«

Da steht sie mit geballten Fäusten vor ihm. »Was wissen Sie eigentlich von mir, Mensch! Was wißt ihr da überhaupt von euern Frauen? Haremsbesitzer, trotz Monogamie und patentierter amerikanischer Moral! Sehen Sie mich an, Parker: zehn Jahre erwachsen, zehn Jahre Ehe, von einem Weltende in das andere gejagt, von der Welt gesehen, was man gerade sehen kann aus der Theaterloge, vom Automobil, vom Ankleidezimmer aus. Und eines Morgens wacht man auf und sieht eure häßliche Stadt da drüben, wie sie wirklich ist: häßlich und sinnlos und im Grunde herzlich schwach. Und da steht ihr und haltet es für sehr unweiblich, daß ich in eure Leichenhäuser gehe und wissen will, was aus euch eigentlich wird, und daß ich es ertragen kann, zuzusehen, wie hier ein Mann zum Tode geht . . .«

»Ein Nigger . . . .«

»Ein Mann, Parker, ein Mann, der sich ein Weib in Teufels Namen mit Gewalt geholt hat . . . .«

»Ein Mann vom Schlage des Earl of Hensbarrow!« Er war aufgestanden, und nun zitterte seine Hand.

71 »Gut, ein Mann wie der Earl of Hensbarrow; lassen Ihre Berechnungen Ihnen wirklich Zeit, eifersüchtig zu sein, Parker?«

Da sieht sie ihn denn zum erstenmal mühsam um seine Haltung kämpfend durch das Zimmer laufen. Dann bleibt er stehen vor ihr: »Vielleicht!«

»Vielleicht? Dann wird es Zeit, Parker, daß Sie in die Arena zu steigen geruhen.«

»Mit einem Halbnigger!«

»Mit einem ganzen meinetwegen. Ach euer Stolz auf die weiße Haut! Und während ihr euch an der Börse rauft, stiehlt der Nigger euch eure Frauen, und wie ihr alle seid, Parker, verdient ihr auch nicht einmal etwas anderes, als Halbfarbige zu Kindern zu haben!«

Da sieht er sie, in seinem amerikanischen Reinlichkeitsgefühl gekränkt, fassungslos an: »Das ist Violet Tarquanson?«

»Das ist das Weib, Parker.«

»Und ich . . . was soll ich tun?«

Sie zuckt die Achseln, kühl und unsäglich schön. »Hier bin ich. Ueber meine Ehe wissen Sie Bescheid. Ganz New York macht sich ja wohl kaum Illusionen darüber. Ja, hier bin ich. Da sind Sie, dort drüben ist ein anderer. Sie haben Vorsprung. Wenn Sie stark genug sind, Parker.«

Sie stehen sich gegenüber.

»Gut, wir werden sehen.«

Damit geht sie in ihr Zimmer, froh, sich das Herz leicht geredet zu haben, endlich einmal. Draußen trommelt der Regen auf das Pflaster, eine ganze Sintflut, als sollte alle Schuld und alles Blut abgewaschen werden von der hadernden Welt. Sie legt sich nieder, sie schläft, sie hat so viel nachzuholen. Als sie wieder erwacht, ist es Nachmittag. Korrekte Posten stehen 72 drüben vor dem Amtsgebäude, der Sheriff und der Truppenführer sitzen nun wohl einträchtig an einem Bericht über den Negerpogrom in New Belfast. Die Wildwestgestalten schleudern über den Markt, die Krämer haben keine Gewehre mehr in der Hand, sondern betrinken sich in den Bars friedlich und sanft mit den Truppen. Im Sumpf schreien nun nach dem Regen die Bulloks noch lauter, der Neger Ismael Prym liegt nun wohl da drüben irgendwo hinter dem Fort San Jago in einem vergessenen Grabe und morgen werden über das alles drei Zeilen in den New Yorker Blättern zu lesen sein. –

Zwei Stunden später fliegen sie mit dem Wagen nach dem Süden, nebeneinander am Steuersitz, der Führer hinten stört sie kaum. Die Straße ist glatt und ohne Staub, sie atmet wohlig die laue Luft mit dem leichten Parfüm des Südens. Vor ihnen steht in nebeliger Ferne das Gebirge, blaue Luftburgen, auf denen man wandeln könnte ohne Erdennähe. Sattes Grün und strömendes Lebensgefühl jetzt nach der Auseinandersetzung – die Konflikte liegen weit hinter ihr. Sie überwinden die erste Hügelschwelle, sie hilft ihm in guter Kameradschaft die rasselnde Maschinerie den gefährlichen Steinpfad hochzuzwingen. Dann wieder geräuschloses Gleiten, und sie fliegen zwischen sumpfigen Niederungen hin, über denen das Gebirge nun schon höher steigt. Als sie sich wohlig mit geschlossenen Augen davontragen läßt, reißt er plötzlich den Wagen auf die andere Straßenseite. Sie erwacht aus ihren Träumen: »Was gibt es?«

»Ueberfahren.«

Sie legt die Hand auf die seine am Steuerrad. »Was haben Sie überfahren?«

73 Er steigt ohne weiteres aus, sie gehen eine Strecke zurück auf der feuchten Straße. Da krümmt und windet es sich in der Räderspur, ein mächtiger, zerschnittener Wurm, eine meterlange Schlange, getroffen vom Eisenschutz der Räder. Dünnes Reptilienblut und Eingeweidebrei sickern in den Schlamm. Das Schlangenhaupt mit den dreieckigen Pupillenschlitzen ist schon erstarrt im Tode. Aber hinten das Ende des bunten Leibes will das Leben noch nicht loslassen, peitscht hin und her in langen, ruhigen Meandern, in immer gleichen, langsam matter werdenden Windungen – eine stumme Totenfeier, ein stiller Abschied vom Leben. Sie steht und sieht zu. Was hat sie, daß sie plötzlich totenblaß geworden ist? Er fragt. er macht sich im stillen Vorwürfe, nicht weiter gefahren zu sein, er fragt weiter. Nein, er bekommt keine Antwort. Sie ist noch verstört, als sie längst wieder im Wagen sitzen. –

Am Abend erreichen sie vor der letzten unfahrbaren Steigung das Dorf, wo die vorausbestellten Maultiere sie erwarten. Sie mühen sich stundenlang im vollen Mond den Geröllpfad hinan. Dampfschwaden heißer Quellen steigen aus bodenlosen Schluchten, die Träger mit den beladenen Tieren tasten sich vorsichtig das schmale Band hinauf. Der Führer, gesprächig geworden vom dörflichen Whisky, erzählt grausliche Geschichten aus dem bayerischen Hochland, von verschollenen Toten, die er beim Klettern auf unzugänglichen Felsbändern gefunden hat, geht dann, da das Thema augenscheinlich unerwünscht ist, zu amüsanteren Dingen, zu den Darstellern der heimatlichen Passionsspiele und dem Glück des Jüngers Johannes bei amerikanischen Touristinnen über . . . Ja, und der Judas Ischarioth erst, der könne sich einfach des Andranges gar nicht erwehren . . . Seine Stimme schwankt wieder in leichtem Zungenschlag und er zieht ihren Arm näher an 74 sich heran, wenn er sie um einen in Dunkelheit vorspringenden Block führt. Sie schickt den betrunkenen Pfau nach hinten. Parker lächelt. »Sieht so der Mann aus, der Violet gefällt?«

Sie bleibt stehen. »Sollten Sie mich wirklich so mißverstanden haben?«

»Nein, aber ich suche es sehr ernsthaft zu ergründen.«

»Ist das so schwer?«

»Für mich: ja.«

Der Wald weicht auseinander. Im Mond steht nun ganz nahe die Wand der Blanca Hills, jeder Schroffen, jede Kaminreihe scharf sich abhebend im hellen Licht, alles wie aus silbrigem Buchenholz geschnitzt. Im halben Kreis umschließt das Gebirge eine weite Wiese, und der Wald schließt sie talwärts ab von aller Menschennähe: eine heroische große Landschaft, wert, daß die Götter auf ihr ruhten. Parker wählt die Lagerstätte, unmittelbar neben einem haushohen tannenbestandenen Steinblock. Aber die Führer, die hier die Nacht zuzubringen haben, protestieren; es gibt ein erregtes Hin- und Herreden in spanisch-englischem Pidgeon, das sie nicht versteht.

»Was ist, Parker? Ich bin müde!«

Er zuckt die Achseln. »Sie wollen nicht. Sehen Sie, sie bekreuzigen sich, die Dummköpfe.«

»Und weswegen?«

»Eine indianische Begräbnisstätte. Sie sind gute katholische Christen und fürchten Geister.«

»Dann sollen Sie ihnen den Willen lassen.«

Gut, sie ziehen näher an die Wand heran. Ein donnernder Bach kommt von oben, und die Reste einer verfallenen Hütte werfen spukhafte Schatten. Sie streckt sich wohlig neben das große Feuer, sieht eine Weile noch die Maultiertreiber in den weißen Decken mit der 75 roten Sonne wie Statuen um das Feuer hocken, hört die Tiere schnauben und bemerkt noch spöttisch, wie Parker, die Nähe ihres Leibes meidend, auf der anderen Seite des Feuers sich ausstreckt. Dann schläft sie.

Sie erwacht erst, als die Treiber längst fort sind. Sie fährt auf, springt singend über die dampfende Wiese mit ihrem ersten Sonnenstrahl und läßt sich den harten Sturz des kleinen Wasserfalles auf den Leib brausen. Dann gibt es wohltuende Arbeit für sie: das Errichten der Zelte, der große Feuerkral in der Mitte, das Auspacken und Ordnen der tausend Kleinigkeiten, ein Frühstück über dem Feuer, dessen Rauchsäule kerzengerade in der warmen Herbstluft zu dem rötlichen Tannengipfel steigt. Sie strahlt selbst in rosiger Morgenfrische: »So soll es immer sein, Parker!«

»War es nie so?«

»Wann sollte es wohl so gewesen sein? In Zermatt säßen wir jetzt in einer langweiligen Halle und Sie würden aus Rücksicht auf mich ihre Pfeife ausgehen lassen und ich würde überlegen, was ich anziehen sollte. Aber warten Sie . . .«

Sie verschwindet lachend im Zelt, kommt nach einer Weile in einem langen Seidenhemd heraus. »Sind Sie zufrieden mit mir?«

Er starrt entsetzt. Der Führer grinst und glotzt. »Achtung, Parker!«

Sie nestelt an den Knöpfen, die Seide knistert zur Erde, sie steht im nassen Badeanzug da und läßt sich von der Sonne bescheinen, bis der junge Leib dampft. Dann springt sie wieder in weiten Sätzen über die bunte Wiese, tollt ihre junge Kraft aus, kommt wie ein ermüdetes Füllen zurück und wirft sich wieder ins Gras.

76 »Ja, Parker, so müßte es immer sein: ein Feuer und Pferde und ein Mann, der mich beschützt. Und in der Nacht muß er aufwachen und schießen, wenn jemand die Pferde stehlen will. Und am Tage soll er einen Fisch im Bach dort angeln und ich werfe den Fisch in heißes Oel und wir essen und rauchen und lachen und liegen in der Sonne.« Und wieder schläft sie ein, ein großes Kind mit offenem lächelnden Munde.

Vor dem Essen kleidet sie sich an, hantiert an den Kochkesseln, schikaniert den Führer, der das Feuer nicht hochbringen kann, reicht jedem den vollen Teller. Es riecht nach Heidekraut und schwelendem Holz, und nur ein ganz ferner Spottvogel mokiert sich irgendwo über die große Stille. Sie wirft ihren Teller fort und springt auf.

»Ich bin ausgeruht und satt, ich will etwas tun. Weshalb klettern wir nicht?«

Aber sie erfährt, daß es zu spät sei für die Wand, man könne sich auch nicht einmal an ihr versuchen heute, weil der Abstieg zu schwer sei und sie auf einem anderen Weg hinuntermüßten. Sie stampft mit dem Fuß. »Aber ich will nicht den ganzen Tag hier liegen, Parker, und zählen, wieviel Knöpfe ihr grauer Quäkerrock hat. Und wenn Sie nicht wollen, so werde ich eben allein in die Wand steigen.«

»Das wird Violet nicht tun.«

»Werden Sie mich etwa daran hindern?«

»Gewiß.«

»Und wie, wenn ich bitten darf?«

Er hüllte sich in eine mächtige Dampfwolke und sagt sehr bedächtig: »Ich werde nötigenfalls einen Zeltstrick nehmen und Ihnen mit Hilfe dieses Mannes da nötigenfalls die Hände und Füße fesseln.«

»Das würden Sie fertig bekommen, Parker? Das würden Sie wirklich fertig bekommen? Sollten Sie 77 am Ende wirklich ein Mann und kein amerikanischer Gentleman sein?«

»Ein Unterschied?«

»Unbedingt, Parker, unbedingt! Der Neger von gestern hätte es nicht einmal beim Binden genug sein lassen. Aber alles, was ich in New York kenne, hängt sich lieber auf, als daß es sich zu Zwangsmaßnahmen gegen eine Dame entschließt. Sie sind doch wenigstens schon beim Strick angelangt! Und nun vorwärts! Sie sollen mich zerstreuen, wenn Sie mich schon gefangen halten. Was haben Sie in Vorbereitung? Wollen wir aus Sebastian Gänseders bayerischem Filzhut eine Bouillon kochen oder wollen Sie beide mit Messern um mich raufen? Und soll ich dann das Blut des Besiegten trinken? Sie sollen mir also etwas vorzaubern, Parker, und in jedem Fall will ich etwas Neues sehen!«

»Gut, Violet soll Neues sehen.« Er führt sie gemächlich über die Wiese bis zu dem Wald, zieht sie an der Hand den Felsblock in die Höhe, an dem am Abend vorher die Maultiertreiber sich bekreuzigt haben. Oben umschließen Weimutskiefern ein saalgroßes Plateau. In der Mitte auf der weißen Steinbarre bleichen Knochen, zermürbt von der dünnen Luft, breitbackige Schädel und feine Handknöchelchen früh verstorbener Kinder, von Raubzeug und Menschen zu einem wüsten Haufen durcheinandergeworfen. Sie ist enttäuscht. »Nun, Parker, ich dachte doch wenigstens einen Häuptling in vollem Schmuck hier zu finden?«

»Der Schmuck hat hier wohl auch einmal gelegen, aber er wird nun wohl in einem New Yorker Museum sein.«

»Wie langweilig!«

»Oder die Leute unten haben die Toten ausgeplündert und handeln mit dem Schmuck. Was Sie sehen, ist aber wirklich eine Häuptlingsfamilie, und sie allein 78 hatte das Recht, in freier Sonne und Luft zu verwesen. Die Hörigen hat man in die Erde gescharrt.«

»Wo?«

»Hier zu unseren Füßen. Im Kreise um den König und die Königskinder herum.«

»Wie schön!«

»Warten Sie!« Er springt den Block hinab, läuft über die Wiese, kommt mit dem Eispickel zurück und findet sie unten am Fuß des Blockes wieder. »Sehen Sie, Parker, ich habe mich ins Licht echappiert. Ich habe Angst vor den Toten.«

»Sie tun nichts.«

»Vielleicht nicht, Parker . . . und doch vielleicht . . . wer will das wissen?«

Sie dreht sich ab, als er den Pickel in den Waldboden sausen läßt, sie mag das nicht sehen. Er hebelt die Steinplatte ab, gräbt weiter. »Hier ist er.«

Auf dem Waldboden hockt in dem einzigen Sonnenstrahl, der in dieses Dunkel fällt, die Mumie, hat die Knie an das Kinn gezogen, umschlingt mit den Armen die Knie, starr, wohlerhalten. Vorwelt und Würde noch jetzt, und in den leeren Augenhöhlen Hohn und eisige Ueberlegenheiten. Da muß sie wieder an den anderen denken und zuckt zusammen: »Sehen Sie, Parker, wie mich der Tod umspielt? Bei Ihnen in Brooklyn, gestern, hier . . . Halten Sie das alles für einen Zufall?«

»Fürchtet Violet sich vor dem Tod?«

»Ja, Parker, ich fürchte mich. Wie sollte ich nicht? Das ist auch gleichgültig. Wenn wir dann wirklich sterben, fürchten wir uns vielleicht nicht mehr. Aber sehen Sie, ich weiß, daß ich bald sterben werde.«

Er sieht sie fassungslos an, schlingt den Arm um sie, begehrt auf: »Weshalb sagen Sie das? Weshalb müssen Sie mir das sagen?«

79 Sie wehrt ihn sanft ab. »Ich danke Ihnen und ich weiß, daß es gut ist, von Ihnen beschützt zu werden. Aber ich glaube, Sie werden mir wohl nicht helfen können. Sehen Sie, ich habe stillgestanden, beinahe dreißig Jahre; und nun, wie der Wagen in Fahrt gekommen ist, fährt er zu schnell, und ich weiß, daß er zerbrechen wird.«

Er ist außer sich, er wütet gegen sich: Ja, wie hat er ihr das hier nur zeigen können, weswegen mußte er solch gedankenloser Trottel sein . . . er findet immer neue Scheltworte für sich.

Sie faßt ihn ruhig bei der Hand: »Lassen Sie doch, Parker. Sehen Sie, es tut doch gut, ihn zu sehen, wie er da sitzt. Eigentlich doch auch ein König. Wer von uns wird so aussehen im Tode? Sie nicht, und ich ganz gewiß nicht!«

»Sie! Ja, Sie ganz gewiß!«

»Weswegen?«

»Weil Violet mehr ist als wir anderen!«

»Ach, Parker, lassen wir das lieber . . . Betten wir ihn an seinen alten Platz. Sehen Sie, wie schön das ist: die Hörigen um ihren König! Kommen Sie, Parker, lassen wir ihn weiterschlafen.«

Er gehorcht und nimmt den leichten Leib auf den Arm, und sie senken ihn sanft hinab, wälzen auch mit vereinter Kraft die Platte wieder an ihre Stelle.

»Wie sagten Sie, Parker? Nur die Könige hatten das Recht, in freier Sonne und Luft zu vergehen? Sehen Sie, das möchte ich auch einmal. Aber das können wohl nur Könige.«

Sie gehen still und nachdenklich beide zum Kral zurück. Aber als der Abendwind aus dem Tal die silbrige Wand hinausstreicht, ist ihre gute Laune wieder da, und sie singt wieder und wirtschaftet am Feuer und hetzt mit ihren Koketterien die beiden Männer 80 durcheinander. Nur am Abend, als er das für sie bestimmte kleinere Zelt aufknöpft, zieht sie ein unzufriedenes Gesicht. »Nein, Parker, allein mag ich heute nicht liegen. Sie haben mich heute das Grauen gelehrt, im Dunkeln wenigstens, und Sie müssen wohl bei mir bleiben.«

Er sieht auf den verstohlen grinsenden Führer. »Aber der Mann dort?«

»Was geht der Mann mich an?« Und sie schlüpft wie eine Eidechse hinein, wühlt sich in den Schlafsack und liegt spitzbübisch lachend, die Hände unter dem Kopf, läßt, als er ihr gefolgt ist, die Taschenlampe aufleuchten, nestelt das schwedische Jagdmesser von ihrem Gürtel und legt es zwischen beide Schlafsäcke. »So, Parker: ein scharfes Schwert, zwischen mir und meinem Ritter, damit er in Frieden schlafen kann.«

»Man kann es leicht umwerfen!«

»Ja, Parker, es ist leicht und doch wieder nicht und wahrscheinlich kann es nur einer. Und nun sollen Sie daran denken, daß es gemütlich und warm hier ist und daß ich mich nicht zu fürchten brauche. Und von Rechts wegen müßten Sie mir jetzt eigentlich eine Gespenstergeschichte erzählen, und ich denke immer dabei: jetzt ist es draußen und wird die Tür aufreißen und nach mir fassen. Aber da ist mein mutiger Frederic William Parker und läßt es nicht herein. Aber ich denke, wir haben doch genug Grausiges heute gehabt und schlafen nun unbedingt ganz tief und sanft. Ja, so soll es sein; und damit sage ich Ihnen: Gute Nacht.«

Sie friert und kann nicht recht schlafen. Nach Mitternacht sieht sie einen Lichtschein durch die Zeltklappe fallen. Sie richtet sich auf: draußen kniet ihr Kamerad über dem Gepäck, holt ein Glasröhrchen hervor und führt eine Tablette zum Munde. Ah, er kann 81 es nicht ertragen, neben ihr zu liegen, er muß seinen Leib mit Veronal betäuben! Sie lacht auf. Wie lächerlich das ist . . . Ja, eigentlich fühlt sie einen Widerwillen gegen den großen Jungen dort. Sie will ihn nicht beschämen, sie stellt sich schlafend, als er zurückkehrt: aber es bleibt dabei, daß er ihr lächerlich erscheint und sie kann mit dieser plötzlichen Antipathie gegen ihn nicht fertig werden.

Allmählich kommt ihr dann doch der Schlaf. Und nun sieht sie in wirren Träumen sich gefesselt im Steppengras liegen und abgesattelte Pferde schnauben und Blumen duften in unsäglicher Süße. Und plötzlich beginnen neben ihr grimmige, nackte Männer zu raufen, haarbedeckte Brüste stemmen sich gegeneinander, fletschende Zähne bohren sich in des Gegners Fleisch. Und dann Messerblitzen und Blut und Todesgebrüll und Stöhnen . . . ein Arm reißt sie hoch, sie wird fortgetragen über die Steppe, fühlt einen heißen Atem . . . und da ist es plötzlich des anderen Gesicht, das sie ansieht, des schrecklichen anderen! Da jagt die Angst sie auf und sie erwacht mit einem Schrei. Sie sieht sich um: er ist noch immer da. Ach ja, dort draußen vor dem Zelt läuft er auf und ab über die Wiese in seiner Qual . . .

Am frühen Morgen weckt er sie. Er ist untadelig in seiner Haltung, sie nimmt sich vor, nicht zurückzukommen auf diese Nacht. Aber sie wird auch jetzt das Gefühl der Ablehnung nicht mehr los. –

Feingefiederte Wolken überqueren den Horizont, es ist sehr schwül, schon jetzt. Parker traut dem Wetter nicht und will nicht in die Wand heute. Sie stampft wütend mit dem Fuß. »Ich will hier meine Tage nicht verträumen! Hören Sie, ich will nicht!«

»Gut, dann werden wir uns beeilen müssen!«

82 Der Führer kommt, mißvergnügt in die Luft schnüffelnd. Ein Blick schmieriger Neugier streift sie, als er sie sieht. »Reinigen Sie meinen Schuh«, sagt sie ungnädig. Und der Sklav beugt sich gehorsam. –

Nach dem Frühstück winden sie sich schweigend über endlose Serpentinen die Moräne hinan, es ist unsäglich schwül, sie beugt den Rücken unter der ungewohnten Last. Dann nach einer Stunde eine kurze Rast, dicht bei dem Einstieg. Unten streckt das Amphitheater der Felsen mächtige Arme um ihre Wiese, unter den schwärzlichen Wäldern dehnt silbrig sich die Ebene. Ein Rauchstreif verflattert langsam dort unten: der Frühzug, der sich in einen Tunnel bohrt und im Bauch der Berge verschwindet. Morgenwind kommt und kühlt ihr den schweißbedeckten Körper. Sie hebt jauchzend die Arme, als der Führer ihr das Seil um den Körper knotet. Eine breite Steinrinne führt aufwärts in mäßigem Gefälle, sie kommen nun rasch vorwärts in fröhlichem Klettern. Dann steht sie aufatmend vor der ersten senkrechten Wand. Der Führer ist oben, ehe sie den Bastschuh am Fuße hat. »Kommt die Dame jetzt.«

Sie schiebt die Fußspitze in den schmalen Riß, krallt die Finger in winzige Steinmassen, zieht jubelnd sich Griff um Griff hinauf und fliegt die Wand empor, losgelöst von der Erde wie eine der Bergdohlen, die oben die drohenden Felstürme umsegeln.

Dann wieder schieben sie sich tastend, um dem Nachfolgenden keinen Stein hinabzuschicken, lange Kaminreihen hinan. Oben dehnt endlos sich die steinerne Gasse. Hohes Pfeifen schrillt durch die Luft, sie sieht dem Gemsrudel zu, das tausend Fuß über ihnen, den Kopf über den steil eingestemmten Beinen der Tiefe zugewandt, neugierig die nie gesehenen Menschen beobachtet. Da schmettert es klatschend, Stein gegen Stein, zerstiebt in Funken und Staubwolken, heult in höher 83 werdendem Singen wie tausend Granaten die Gasse hinab, auf sie zu. Sie schließt die Augen und wirft den Arm vor die Stirn, wird von dem Arm des anderen noch gerade zur Zeit auf die Seite gerissen. Da saust es vorbei, poltert wiederum gegen die Wände des Ganges und verprasselt endgültig tief, tief unten auf der Moräne.

Oben endet nach solch fröhlicher Stunde der Weg in schmalem Felsband, über dem in fürchterlichem Sturz, glatt und grifflos und absolut unersteigbar, die graue Wand des Berges sich türmt. Seitwärts wird das fußbreite Band, auf dem sie nun stehen, schmaler und schmaler, verliert sich schließlich in winzige Felszacken über dreitausend Fuß Tiefe: die schwere, kritische Stelle des Berges, die über Gelingen oder Mißlingen des Tages entscheidet. –

Die Männer beraten, erkunden sorgfältig: für die Dame findet sich etwas weiter unten ein leichter Weg, sie selbst nehmen die schwerere Traverse hier oben – die Zeit drängt.

Sie hört nicht zu, sie spielt mit den spärlichen Grashalmen, die ihr kärgliches Leben dem Stein hier abtrotzen, sieht dem verspäteten Liebesspiel gelber Falter zu. Dann beginnt der Führer, stiehlt sich das Band entlang, klammert sich mit harten Fingern an in die Wand, hängt, ohne daß die Füße einen Halt finden, über der Leere und verschwindet hinter einer vorspringenden Ecke.

»Die Dame jetzt!« Das kommt leise und dumpf, wie aus unendlicher Ferne.

Sie sieht sich zögernd nach Parker um. »Wie soll ich es machen?«

»Dort hinunter.« Er wird sie gut sichern mit dem Seil, dort, zwanzig Meter tiefer kann sie die Stelle 84 mühelos umgehen. Sie wirft eigensinnig den Kopf zurück: »Ich gehe den gleichen Weg, wie Sie.«

»Sie sind wahnsinnig!«

Sie steht ihn feindselig an: »Aber ich will Ihre Eselsbrücke nicht. Ihre am allerwenigsten, Parker!«

Ohne zu antworten, nimmt er ihren Arm. Dort hinab, es ist wirklich ganz einfach. Da stampft sie wütend mit dem Fuß: »Zwingen Sie mich doch, wenn Sie können!« Und sie knotet mit zitternden Fingern das Seil auseinander, steht im nächsten Augenblick frei, ungesichert auf dem schmalen Band. Da lenkt er plötzlich ein: »Gut, Sie sollen tun, was Sie wollen.« Und er wirft ruhig die Seilschlinge über sie, verschwindet nun selbst über die schmale Traverse, um dem Führer Bescheid zu geben,. kommt nach einer Weile zurück. »Gut, nun gehen Sie!«

Aber sie ist doch blaß geworden, als sie sich das Band entlang schiebt. Ehe sie sich entschließt, den letzten Schritt ins Leere zu tun, den Körper frei aushängen zu lassen über dem Abgrund, sieht sie nach Parker zurück. Der steht regungslos da, in scheinbarer Ruhe mächtige Rauchwolken ausstoßend, das Seil in seinen Händen strafft sich ganz fest. »Er fürchtet sich trotzdem vor dir«, denkt sie und krallt die Finger in die kleine Steinrinne oben und hängt im nächsten Augenblick frei über der Tiefe. Daß sie stürzend die beiden anderen in den Tod reißen kann, schießt ihr plötzlich durch den Kopf. Aber da ist nun nur noch der erbarmungslose Fels mit seinen winzigen Rippen, an denen sie hängt, sie stöhnt plötzlich auf in Todesangst, tastet, findet nichts mit der suchenden Hand und greift ins Leere. Die Arme zittern, ihre Kraft schwindet, sie sieht plötzlich die grausame Tiefe unter sich und muß an den Zerschellten denken, den sie im Vorjahre in der Dauphiné gesehen hat: ein kopfloses, zerrissenes 85 Fleischbündel, das die Führer im Sack davongetragen haben. Der Gedanke umzukehren, schießt ihr durch den Kopf, aber sie findet mit dem Fuß den Tritt nicht mehr, und hier ist nur die erbarmungslose Wand mit ihrem ungeheuren Fall. Den Fuß nach der anderen Seite führend, findet sie gerade noch zur rechten Zeit die winzige Felskonsole, die dem Kletterschuh ein wenig Halt gibt. Das Rufen des Führers erreicht sie endlich, das Seil zieht scharf an, sie schiebt sich langsam auf der breiter werdenden Traverse seitwärts, schwingt sich um eine letzte Felsnase und steht endlich geborgen auf breitem Band.

Sie hat sich verklettert, sie ist zu tief gelandet, es dauert noch eine ganze Weile, bis sie neben dem knurrenden Führer steht. Nach drei Minuten kommt dann lässig und in voller Ruhe Parker. Sie sieht ihm lachend ins Gesicht: »Habe ich mir etwa zu viel zugemutet?«

»Ja.«

»Und warum, wenn ich Sie fragen darf?«

»Weil Sie uns eine halbe Stunde aufgehalten haben.« Sie sieht ungläubig auf die Uhr, sie kann es eigentlich nicht fassen. »Was gehen mich dreißig Minuten an?«

Er zeigt ernst auf die bleigraue Wand, die sich über der Ebene auftürmt. »Ihre dreißig Minuten werden uns zu schaffen geben heute.«.

Da wirft sie den Kopf zurück. »Und weswegen haben Sie mich nicht zu dem anderen Weg gezwungen, Parker?«

Er antwortet nicht. Sie haben Eile, der Führer ist nervös. Drüben stehen die fürchterlichen Zacken der unbezwungenen Blanca Hills in bleiernem Grau, daß die Schneefelder plötzlich aufleuchten in schreckhaftem Weiß. Die Eisäxte warnen mit feinem Summen, aus 86 der Ebene tönt leise und tief der erste Donner. Vor ihnen wühlt eine Schlucht sich tief in den Berg hinein, sie ist vollgestopft mit Geröll, sie müssen bei jedem Schritt die Steine entfernen. Es ist dunkel hier in dieser Fuchsröhre, so dunkel, daß die Blitze schon stärker sind als das fahle Tageslicht. Der Schweiß durchnäßt ihren Anzug, sie bleibt auf einer Steinstufe erschöpft stehen. »Parker, ich bin sehr müde.«

Er beladet sich hilfsbereit mit ihrem Gepäck. Nein, jetzt nicht stehen bleiben . . . auf keinen Fall! Erste Tropfen kommen schwer von oben, heißer Wind heult durch den Kamin, jagt seinen Geröllstaub in ihre brennenden Augen. Sie ringen noch eine volle Stunde mit dem Fels. Aber als sie aufatmend oben auf dem nächsten Band stehen, hat der Berg sie betrogen und über ihrem Stand, unabsehbar weit, schießt eine neue Kaminreihe empor.

Der Führer flucht in hemmungslosem Bayerisch auf die ganze Unternehmung und auf den Eigensinn der Dame. Sie dreht ihm den Rücken: »Bringen Sie ihn zur Ruhe, Parker!«

»Er hat eine Frau und Kinder!«

»Dann sollen Frau und Kinder sich hinterher an Tarquanson wenden!«

Aber da fährt der erste Strahl, Blitz und klirrender Knall in den Fels, sein blaues Feuer kommt durch das Metall der Schuhsohlen bis in ihre Leiber. Und dann bricht aus der blitzbefreiten Wolke die Regenboe, in unendlichem Wasserschwall: sie können kaum Luft für ihre Lungen finden in all dem Wasser. In der tintenschwarzen Nacht dringen sie in die neue Schlucht ein, suchen mit hastigen Händen, schwingen sich in plötzlich erwachender Kraft über die Steinmassen empor in verbissenem Wettlauf mit dem Tod. Wasser rieselt in feinen Rinnsalen ihnen über den Grund der Kluft 87 entgegen, wird zum kräftigen Bach. Eine Lawine faustgroßer Steine stiebt die Schlucht hinab, setzt, auf der Steinstufe oben aufschlagend, über sie hinweg. Ein Nachzügler löst sich träge dicht über ihnen, wird von Parker dicht vor der erschöpften Frau pariert, sie sieht beim nächtlichen Blitz einen dünnen Blutbach unter der zerfetzten Lederkappe über das bewegungslose Gesicht rinnen. »Dank Ihnen.«

Er hört nichts, er ist schon auf der nächsten Terrasse, reißt sie hastig zu sich herauf, drückt sie hart an die Wand. Von oben poltert das Wasser, zum Gießbach geworden, die Schlucht hinab, übergießt sie mit Bottichgüssen und wirft mit neuen Steinen nach ihnen. Sie schließt entsetzt die Augen, fühlt sich von seiner Faust von neuem zur Seite geworfen, daß ihr Kopf gegen den Fels schlägt, sieht nichts mehr, fühlt nur, wie sich die Leiber der beiden anderen hart gegen sie schmiegen. Als dann Parkers Taschenlampe aufleuchtet, sieht sie die enge Nische, in die er sie gerettet hat: ein enger Keller eigentlich, und sie liegt eingepreßt zwischen den beiden anderen und kann kaum Luft finden in ihrem Verließ. Aber es schützt sie doch vor dem Gießbach, der jetzt die Schlucht herunterkommt. Da draußen jagt es in heillosem Chaos vorbei, wirft zimmergroße Blöcke die Schlucht hinab, daß sie im Funkenregen zerstieben und weit unten verprasseln in unbekannten Tiefen.

»Fürchtet Violet sich?« Er muß den Mund dicht an ihr Ohr bringen, um das Gebrüll draußen zu überschreien.

»Ja.«

»Keine Gefahr!« – Aber sie merkt doch, wie er zusammenzuckt, jedesmal, wenn ein neuer Block den Kamin herunterkommt. So liegt sie zitternd und verängstigt Stunde um Stunde und erstarrt schließlich in ihrer Erschöpfung und Todesfurcht. Als sie schließlich erwacht, ist es da draußen still geworden. Der 88 Wind heult nicht mehr und nur noch ein kleines Rinnsal rieselt über die Steine. Es ist eiskalt, sie kann sehen, daß grünes Mondlicht auf frisch gefallenem Schnee liegt.

Nun ist sie wieder guter Laune: »Wir waren geborgen hier wie in Abrahams Schoß!«

Er lacht. »Nur, daß der alte Gentleman uns einen Felsblock hätte herabschicken können und der Block hätte sich in der Schlucht verklemmt, hier gerade vor unserem Unterschlupf; und wir wären eingesperrt gewesen für den Rest unserer Tage, und wir Männer wären ritterlich zuerst verhungert, damit Violet Tarquanson sich von unserem Fleisch hätte nähren können, ein paar Tage lang.«

Aber sie bringt es nicht zum Lachen, sie zittert ganz erbärmlich. Er hält ihr die Whiskyflasche hin. Sie kriechen aus dem niederen Eingang ins Freie, lassen den schnarchenden Führer liegen, wo er liegt. Draußen packt er den Spirituskocher aus und beginnt Schnee zu schmelzen. Sie wärmt die Hände über der Flamme: »Whisky ist gut, Parker, aber Feuer ist noch besser und ist beinahe schon Leben; und mir ist, als hätte die ganze Nacht durch ihr alter Gentleman neben mir gelegen.«

Er schüttet den frischen Kaffee in das siedende Wasser, reicht ihr den Becher: »Das ist gut gegen solche Gedanken.«

»Ja, das ist wohl gut. Aber als ich da drinnen lag, konnte ich mit der Hand im Felsboden eine Spalte fühlen. Da ging es ganz tief hinein in den Berg zu den Unterirdischen, und da blies die ganze Nacht ein eisiger Hauch zu mir herauf . . . Parker, ich friere noch immer, und sie sollen mir noch mehr zu trinken geben.«

Er lächelte: »Haben Sie sich wirklich so sehr gefürchtet?«

»Natürlich habe ich. Unten, als ich am Fels über dem Abgrund hing und hier oben, als die Steine 89 flogen. Ihre Sportdamen von Harward College hätten sich nicht gefürchtet . . .«

»Zum Teufel mit ihnen!«

»Ach nein, sagen Sie das nicht Parker, sie sind bessere Kameraden, sie haben keine Marotten und benehmen sich immer als Damen, und man braucht sich auch nicht zu fürchten vor ihnen, wenn man die Nacht mit Ihnen in einem Zelt schlafen muß . . .«

Er zuckt zusammen in der Erinnerung an die letzte Nacht. Aber da steht sie dicht vor ihm und sieht ihm ehrlich ins Gesicht: »Nein, mein guter Junge, Sie sind schon recht so, wie Sie sind, und ohne das lägen wir jetzt vielleicht zu dritt dort unter Geröll und Schnee . . . Aber Parker, wenn wir zusammengingen, wir beide . . . ich will ja nicht sagen, daß Sie so würden, wie Tarquanson ist . . . aber Ihr ganzes Leben wäre doch darauf eingestellt, die Menschen künftig auf dreihundert statt auf hundertundfünfzig Meilen totzuschießen oder dieses Gebirge fortzuschaffen und dafür eine häßliche Fabrikstadt anzulegen, wie Ihr häßliches New York. Und sehen Sie, Parker, wenn ich sage, ›ich bin ein Weib‹, dann sage ich auch, ›ich bin ein Stück Natur‹, ich bin die Luft, die geht, und die Erde, die man lassen muß, wie sie ist. Und Sie würden mich zu einer Treibhauspflanze machen, ja, gerade so, wie die anderen dort unten . . .«

Er steht da, resigniert, den Blick gesenkt. »Sie haben recht: ich bin nicht anders als die anderen.«

»Sehen Sie, es ist gut, daß Sie das selbst sagen. Und wir bleiben gute Kameraden, und ich verspreche Ihnen, daß ich Frederic William Parker rufen werde, wenn wieder einmal Steine von oben kommen und ich mich verstiegen habe.«

»Wohin geht Violet?«

Sie dehnt die Arme und saugt wohlig die scharfe, kalte Luft ein und sieht in den roten Morgen über der 90 Ebene. »Weiß nicht, Parker, aber ich glaube, weit fort.«

»Zu dem anderen?«

»Wer sagt Ihnen das? Mein Leben beginnt nun erst. Wie soll ich wissen, wohin es treibt?« –

Dann, als die Sonne den leichten Schneeschleier der Hänge fortzuküssen beginnt, steigen sie aufwärts, rasten auf dem tischgroßen Gipfel, mitten in dem Singen der erwachenden, großen Welt. Sie hört mechanisch dem Geschwätz des Führers zu, der ihr jetzt, nach der überstandenen Gefahr, Elogen sagt wegen ihrer Kletterleistung. Sie wendet sich, ohne zu antworten, an Parker: »Glauben Sie, daß es jetzt da unten noch schlimm steht in New York?«

Er zuckt die Achseln. »Ich habe Vorsorge getroffen, daß wichtige Nachrichten mir zum Lager herauf gebracht werden.«

»Vor zwei Tagen hätte ich Sie deswegen gescholten. Nun bin ich Ihnen doch dankbar.«

»Und Sie werden wirklich nach New York zurück, sowie man Sie ruft?«

»Gewiß, Parker. Ich kann es nun tun. Ich bin ganz ruhig jetzt und im klaren über allerlei. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht mehr zu fürchten vor New York.«

Der Rückweg vermeidet die Felswände des Anstieges, umschlingt mit weiten Firnfeldern den Gipfel. Sie fahren, auf die Eisäxte gestützt, zu Tal, sie haben sich nur wenig abzumühen mit den unterbrechenden Felsbarrieren, sausen über sonnige Flächen, von denen mächtig das wärmende Licht zurückflutet. Dann Stufenschlag auf tödlich steiler, vereister Firnfläche und wieder das fröhliche Gleiten durch Sonne und Wind.

Als sie die letzte niedere Wand hinter sich haben, späht sie mit dem Glase nach ihrem Lagerplatz. »Ich 91 glaube etwas dort zu sehen, Parker, nein, ich täusche mich nicht.« Er nimmt das Glas, und nun zittert seine Hand leise, als er's an das Auge hält.

Sie gehen über die Wiese. Drüben winkt, schreit ihnen etwas zu, kommt herangelaufen, schwenkt etwas in der Hand. Es ist ein zwerghaft verkümmerter Mensch, und die Krankheit, die sein Gesicht entstellt, hat ihm an der Stelle der Nase ein einziges Loch gelassen, über dem winzige, boshafte Augen stehen.

Sie scherzt, als sie den Menschen sieht. »Ein merkwürdiger Bote, Parker, und eigentlich sieht er so aus, als habe er schon im Grabe gelegen.«

Er antwortet nicht. Das Telegramm in seiner Hand zittert. Der Kerl vor ihnen, ungeduldig auf den Lohn wartend, tritt von einem Fuß auf den anderen.

Sie entfaltet das Blatt. Es ist ein ganz kurzer Hilfeschrei. »Komm schnell.« Und der Name des Mannes, der ihr so unendlich fremd klingt.

Aber als sie sich abwendet und sich ganz ruhig an ihrem Gepäck zu schaffen macht, da verläßt ihren Kameraden nun doch seine Haltung und er stammelt und schluchzt beinahe: »Was wird mit dir . . . du . . . wohin gehst du . . .?«

Sie ist ganz gelassen, als sie erwidert:

»Hinunter in ein tiefes Tal. Aber was hat das zu sagen, Parker?«

*

Die Sehnsucht der Masse, ihr Weltzentrum, verschiebt sich unter dem Druck einer unsichtbaren Hand mit dem Wandel der Geschlechter: die Propheten kommender Dinge, die Agitatoren unserer Tage sollten nicht ganz vergessen, daß soziale Ziele, technische Verbesserungen, den früher oder später nach uns kommenden Generationen ebenso gleichgültig sein werden, wie 92 heute etwa dem Neger die Stromregulierung des Kongo eine müßige Spielerei bedeutet. Ich bin überzeugt, daß etwa der trojanische Krieg, der doch vor anderen uns näher liegenden Kriegen den Vorzug hatte, daß er wenigstens um ein schönes Frauenzimmer und nicht um das Vorrecht eines europäischen Staates geführt wurde, den letzten Samojeden durch seine Industrie mit den Segnungen der Zahnbürste zu versorgen . . . Ja, ich bin ohne weiteres überzeugt, daß die Motive dieses Krieges heute kein Verständnis bei der Masse fänden. Und ich glaube gern, daß jener Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts, der seinen animierten Tafelgenossen eine gerade vorübergehende schöne Frau als den Weltmittelpunkt vorstellte, heute ohne weiteres auf die Schalter der Großbanken zeigen würde, durch die, wie durch die Ostien eines Weltherzens, das Blut unserer Tage aus- und einströmt.

Trotzdem ist es ein eigenes Ding damit: diese großen Kapitalien, von der Maschinenwirtschaft zusammengeballt, wachsen durchaus automatenhaft und hirnlos, und ob ihre Besitzer sich ihnen zu Liebe entmannen oder den Sinn des Lebens in Tiefseeforschungen oder der Anlage von Volksuniversitäten sehen, ist für dieses Wachstum gleichgültig. Konnte nicht der gealterte Pierpont Morgan, statt sich um Ohio und Baltimore zu kümmern, gotische Altäre und sonstige wesentliche Bestandteile verschollener Kulturen aufkaufen, ohne daß deswegen sein Vermögen aufhört zu wuchern wie eine bösartige Geschwulst? Sieht man nicht einen Epigonen der klassischen Geldmacher seine Tage mit der Beantwortung der Frage verbringen, ob die Sehnerven sämtlicher Heuschreckenarten sich kreuzen, und stand nicht ein anderer derselben Kaste jahrelang auf einer Londoner Brücke, um endlich einen Schleppdampfer zu erwischen, dessen Führer es 93 vergessen hatte, den Schornstein vor dem zu niedrigen Brückenbogen umzulegen?

Da nun die Vermehrung dieser großen Geldmassen sich so mechanisch vollzieht wie alles in unseren Tagen, Essen, Kindererzeugen und Sterben eingeschlossen, so ist der Fortbestand der Riesenvermögen trotz dieser mechanischen Vermehrung den gleichen Zufällen ausgesetzt, wie die Maschine und der Automat. Und wie kein noch so vollkommenes Schottensystem das Sinken der Titanic verhindern konnte, wie trotz aller unbezweifelten chemischen Formeln und untadeligen Sicherheitsmaßnahmen in New Jersey eine neugegründete Munitionsstadt mit Banken, Kinotheatern, Kirchen und soundso viel Tausend Menschen in die Lust fliegt, weil ein scheinbarer Zufall es so will, so unterliegen die großen Kapitalien als Produkt der Maschine folgerichtig den gleichen Katastrophen, wie diese Maschinen selbst ihm unterliegen.

Es erscheint mir lächerlich, einen einzelnen Menschen für diese Katastrophen verantwortlich zu machen; und es entspricht vielfach nur dem menschlichen Bedürfnis nach einer Prügelpuppe, wenn man den Chefingenieur einer explodierten Fabrik, den Leiter eines zusammenbrechenden Bankhauses einsperrt. Die nur scheinbar geknechtete Natur rächt sich auf See durch einen unter Wasser treibenden Eisberg ebenso wie an jenem Eisengitter der New Yorker Börse, das man aus mir unbekannten Gründen den »Pitt« genannt hat. Und wenn hunderttausend bis dahin vernünftige Menschen, die bislang auf ein Börsenpapier geschworen haben, plötzlich aus einem Spleen, einer »Meinung«, einer zur Panik gewordenen geheimen Zeitangst heraus dieses Papier für Makulatur erklären, spielen da nicht oft die gleichen unheimlichen und durchaus unkontrollierbaren Motoren, die seinerzeit die Kreuzzüge, den Flagellantismus, den Gleichheitswahnsinn der Menschheit in Bewegung setzten und eine ganze Generation antrieben, 94 sich durch dreißig Jahre in Pest, Hunger und Tod zu hetzen, weil man damals gerade die Frage für sehr wichtig hielt, ob der Priester allein oder auch der Laie den Wein des Abendmahles trinken dürfe?

*

Ein Zufall ist in diesem Sinne natürlich die Ohrfeige, die Violet Tarquanson an Ward Whitening verabfolgt hat, ein Zufall, daß unmittelbar nach dieser unglückseligen Geschichte der Tarquanson-Konzern seinen ganzen Kredit bis zum letzten Cent in Anspruch nehmen muß und sich der Ungnade eines in seiner Eitelkeit gekränkten Pressemagnaten aussetzt, ein Zufall, daß die allgemeine Krise New York gerade jetzt in ein Narrenhaus verwandelt, und ein infamer Zufall das, was dann die letzte Katastrophe herbeizuführen scheint.

Joe Mallison hat während seiner letzten Europareise alles Mißgeschick pariert. Er ist sehr angegriffen, er fühlt zum erstenmal in seinem Leben, daß es so etwas wie »Müde sein« gibt, er vernachlässigt, was allgemein auffällt, sein Aeußeres und bekommt, als er mit seinen Maklern drüben verhandelt, einen unmotivierten Weinkrampf, der am nächsten Tag den Gesprächsstoff für die Londoner Börse abgibt. Trotzdem hat er gerade jetzt ein Glück, wie er es nie gehabt, nie erträumt hat, das Schicksal äfft diesen Galoppin des Geldes ein letztes Mal: er hat an der kleinasiatischen Baumwolle, wie gesagt, verloren, aber er hat es mit dem Mais der Südstaaten reichlich wieder eingebracht und mit dem mexikanischen Silber mehr verdient, als die Radiumminen in den nächsten Tagen verschlingen werden. Er fährt wieder nach Petersburg, er kauft ohne besondere Ueberlegung den langsamen Russen das ganze sibirische Kupfer ab. Nach drei Tagen ist die europäische Presse voll von Rüstungsnachrichten, die ostasiatischen Mächte, die Arsenale von Kioto schreien 95 nach Kupfer, die japanischen Agenten betteln im geheimen um Material, die Zwischenhändler überbieten sich, und Joe Mallison ist großmütig genug, die Preise zu diktieren. Und trotzdem ist er fertig, wie Percyval Tarquanson ein ausgepumpter Schlauch, als er in Hoboken wieder an Land geht, an demselben Tage, an dem Violet Tarquanson und Parker New York verlassen.

Am Landungssteg empfängt ihn an jenem Tage sein Sekretär: eine Nachricht aus der »Tribune«-Redaktion, wo man seit ein paar Monaten Agenten unterhält. Eine Widergabe der Ueberschriften für das nächste Morgenblatt: »Riesenunterschleife in den Tarquanson-Arbeiterbanken« – »Joe Mallison in New York nicht aufzufinden« – »Das Direktorium verhaftet« . . .

Er hat das eigentlich schon lange erwarten müssen: nicht nur Whitenings Blätter, sondern die ganze Großpresse suchen in diesen Tagen nach Opfertieren für die Straße, sie wittern Korruption, wie man seit einem Jahrhundert in Amerika in gemessenen Abständen Korruption gewittert hat, sie wahren aus Angst vor der arbeitslosen, murrenden Masse ihre Popularität, indem sie in diese Betriebsbanken hineinriechen, die die amerikanische Industrie zur rascheren Verbürgerlichung des Proletariates seit dem Weltkrieg für die eigenen Arbeiter gegründet hat. Die Standard-Oil-Company, die Bethlehem Steelworks sind in den letzten Tagen einer solchen öffentlichen Untersuchung in Presseartikeln unterzogen worden . . . nun ist eben der Tarquanson-Konzern an die Reihe gekommen, und unbegreiflich ist eigentlich nur, daß Whitening dieses Mal so spät erst die Giftzähne aufklappt.

Der Sekretär ist mit dieser Nachricht an den Dampfer gekommen, er erwartet selbstverständlich sofort die Vorbereitung einer Abwehraktion. Joe Mallison klettert in den Wagen, sitzt mit schlaffem, grauem Gesicht gewissermaßen auf dem Rücken in den Polstern, 96 er schleicht zu derselben Stunde, als Violet Tarquanson zu einer Tour in den Blanca Hills ihre Koffer packt, kampfunfähig und wie ein verprügelter Hund nach Haus.

Er versucht zu arbeiten, er will wenigstens den Stoß bewältigen, der sich in seiner Abwesenheit angesammelt hat. Er ißt, trinkt, spritzt in diesen Stunden alle Alkaloide der Welt in sich hinein, die in seinem Körper versammelten Gifte werden zu guter Letzt Dynamit in Mallisons Leib bilden und ihn in die Luft sprengen: er ist trotzdem fertig mit seinen Nerven, er streckt alle vier von sich wie ein abgejagtes Pferd – er kann nicht mehr. Der Sekretär wartet noch immer mit dem Stenogrammheft: jetzt zum Teufel muß doch endlich das Diktat für die Dementis, vielleicht für den Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft kommen! Nichts davon: Joe Mallison sieht seit einer halben Stunde mit trüben, wässerigen Augen in die Lampe, faselt etwas von schlechtem Wetter, das auf ihm drücke, und bittet, ja, zum Teufel bittet, ihn allein zu lassen, und schließt sich in seinem Zimmer ein.

Nach ein paar Stunden holt ihn dann der Wagen des Staatsanwalts ab. Der Prokurator empfängt ihn höflich, es ist ihm außerordentlich peinlich, er hat natürlich im Grunde Angst vor dem Geldmenschen mit der feisten, brutalen Hand. Und nun könnte Joe Mallison auftrumpfen . . ., hier die Bilanzen . . . bitte sehr, ist eine Einsicht in die Depoträume, in die Tresors gefällig . . .? Und wo zum Teufel sind die Unterlagen für dieses Idiotengeschwätz von Betrug und Verhaftung und weswegen duldet der Staatsanwalt diese Belästigungen des Tarquanson-Konzerns nun seit soundso viel Monaten, und was vor allem denkt er gegen Ward Whitening zu tun? . . .

Nichts von alledem: Joe Mallison ist so fertig mit seinen Nerven, daß er graubleich, mit zitternden Händen und in nicht ganz sauberer Wäsche vor dem 97 Beamten erscheint. Die atavistische Angst des kleinen gehetzten Ostjuden vor Behörden und Polizeimännern ist in ihm erwacht, er windet sich hin und her, er stottert, er ist demütig, wo er mit der Faust auf den Tisch schlagen könnte, er bringt es so weit, daß dieser Staatsanwalt trotz aller stimmenden Rechnungen, trotz aller Unterlagen mißtrauisch wird und sich erst am nächsten Tage an Ort und Stelle kopfschüttelnd davon überzeugt, daß die angefochtene Bank in musterhafter Ordnung ist.

In dieser, dem zweiten Tage folgenden Nacht schließt Joe Mallison sich wieder ein, kramt in einem Kasten mit vergilbten Photographien längst verschollener und vergessener ungarischer Verwandter . . . ein alter Gebetsriemen . . . ein Stein, der einmal auf einem verfallenen Judengrab in Pebete im Komitat Komore gelegen hat . . . Sentimentalitäten für ein amerikanisches Hirn, Humbug, Stuß, Nonsens, mein Herr, mit denen man nicht einen Cent verdient zwischen San Francisco und Sandy Hook . . .

Am nächsten Tage, als das Licht zu sinken beginnt, schreit eine Kinderstimme, deren Inhaber ängstlich seine Stöße mit der »Manhattan-Post« an das winzige Körperchen drückt, klipp und klar die Zahlungseinstellung des Tarquanson-Konzerns aus. Das geschieht bei dem Battery-Aquarium, wo sich immer ein paar atrophische Krokodile hinter dicken Glasscheiben über New York langweilen; es geschieht um rush-hour, also zu einer Stunde, wo alle diese von Hoboken, der Brücke, den Fähren ausgespienen Menschenmassen in den Subway-Trichter von City Hall Place strömen.

Die große Krise ist durchaus noch nicht vergessen, gewiß nicht. Das Gewitter hat ein paar kleine Banken fortgefegt, das Publikum ist noch immer in Panikstimmung, die Ostseite droht wie ein fletschendes 98 Untier: dieses aber ist der erste Bankerott eines großen Unternehmens, eine Katastrophe, die Dutzende von Großbanken schwer erschüttern, ein paar Tausend Industrielle tödlich verwundet, einem Heer von Maklern und Kleinspekulanten den Genossen Browning in die Hand drücken, fast eine volle über den ganzen amerikanischen Kontinent verteilte Arbeitermillion um die Bankeinlagen und um die Arbeit bringen muß . . .

»Mallison verhaftet« . . . »Der Tarquanson-Konzern hüllt sich in Schweigen« . . . der Kleineisenhändler Hektor Gumbiner reißt nachweislich als erster diese ominöse Nummer an sich, brüllt auf, daß man es bis zum Gebäude der Hamburg-Amerika-Linie hören kann, rast, die Zeitung wie eine Fahne schwenkend, bis zur Ecke der West Street, stößt dort bereits auf eine Gruppe von dreißig, vierzig total besessenen Menschen, die diese gleiche Nummer sich gegenseitig aus der Hand reißen, ganz seltsame Luftsprünge machen, mit genau den gleichen unartikulierten Lauten aufeinander einschreien, wie Hektor Gumbiner sie eben ausgestoßen hat, und plötzlich wie absolut Wahnsinnige den Broadway nach Norden entlang rasen.

»Der Staatsanwalt bei Mallison« – »Mallison verhaftet« – fast vor jedem Haus am unteren Broadway schreit ein solch metergroßer Verkünder des jüngsten Tages . . . zwei von ihnen werden am gleichen Abend zertreten, zerrissen von der wahnsinnigen Menge, in den Friedhöfen abgeliefert. Inzwischen wächst diese Menge zum Hochwasserstrom, sie stößt am Madison Square auf eine zweite Menschenwelle, die hier, im Presseviertel, die Nachricht von den erleuchteten Tafeln gelesen hat und die Katastrophe offenbar abzuwenden gedenkt, indem sie brüllend den Broadway in umgekehrter Richtung, von Norden nach Süden durchrast. Bei dem Zusammenprall gibt es 99 ein Getöse, wie wenn zwei Schnellzugmaschinen in voller Fahrt gegeneinanderstoßen; man sieht, genau so wie bei aufeinanderprallenden Wasserwellen, an der Kollisionsstelle Menschen buchstäblich in die Höhe spritzen, man muß in der Nacht große Blutflecken von dem Granit des Wolworth-Hauses abwaschen. Wieviel Leute in der Straßenmitte erdrückt werden, läßt sich nicht einmal ahnen; ein Erleuchteter gibt schließlich die Parole aus, Percyval Tarquanson in Blythbourne einen Besuch abzustatten. Die Menge brüllt wieder auf, macht gehorsam kehrt, flutet – Arbeiter, Börsenmenschen, Varietékünstler, spekulierende Reverends, Ladenmädchen, Neger, galizische Juden und deutsche Dampferstewards – südöstlich über die Brooklynbrücke. Hier wird sie in dem Engpaß von der Polizei aufgefangen und in fünf, sechs der schlecht gepflasterten Straßen dieser Gegend auseinandergetrieben, hat ihre Stoßkraft verloren, überläßt sich ihren Instinkten, trinkt Whisky, geht nach Hause, um sich eine Kugel in den Kopf zu treiben; italienische Arbeiter schwören mit blutunterlaufenen Augen, mit Percyval Tarquanson noch abzurechnen, morgen . . . Jawohl, morgen . . . ein Spottlied auf Mallison entsteht in ein paar Minuten . . . die Deutschen besetzen eines ihrer Bierlokale am Fluß zu einer großzügigen Protestaktion und organisieren eine Vereinigung der Tarquanson-Gläubiger.

In Blythebourne trifft ein Kommando Regierungstruppen ein . . . Percyval Tarquanson bekommt eine neue Morphiumspritze . . . Joe Mallison hängt den Telephonhörer aus . . . eine Bankerotterklärung? . . . So, so . . . auch eine Bedrohung durch die Straße . . . sonst alles in Ordnung? . . . Und er verfällt wieder in seine Lethargie. Ein Sekretär kommt . . . die erste telegraphische Zahlungsaufforderung ist soeben von 100 der South Pacific Line eingelaufen . . . Die Frachtraten für die letzten Transporte. Der dicke, hilflose Mensch schreckt aus seinem Ledersessel auf: Geld? . . . Aber bitte, bitte . . . er kritzelt eine Unterschrift und starrt im nächsten Augenblick wieder mit seinen trostlosen Bierkirschenaugen ins Leere. Hetze von allen Seiten . . . nutzlos . . . nutzlos . . . kann nicht mehr . . . ausgepumpt . . . müde . . . müde . . . nutzlos . . .

Am Morgen knallt in seinem Arbeitszimmer eine kleine Automaticpistole, mit dem kurzen, trockenen Knall, den diese Dinger machen. Und auf dem Madison Square leuchtet, dieses Mal mit einem verzweifelt richtigen Hintergrund, die Nachricht auf, daß in Blythebourne Joe Mallison mit einem Loch in seiner Schläfe in seinem Sessel sitze. –

Und nun ist an jenem Morgen, an dem Violet Tarquanson und Parker auf der Central Station eintreffen, der Teufel los. Die Nachricht von Mallisons Tode empfängt sie beim Aussteigen. »Parker mit Violet Tarquanson durchgegangen« – »Ungeheure Passiva« – das ist der Untertitel zu den weiteren Skandalnachrichten. Ihr Wagen, den sie telegraphisch an den Bahnhof bestellt haben, ist nicht da. Eine Zofe heult ihnen entgegen: Amerika ist sittlich entrüstet, die beiden zusammen zu sehen, obwohl es sie eigentlich nicht hier vermuten sollte. Ein Steinwurf trifft Parker; der Nigger auf dem Sitz des nächsten Mietwagens, der sie fahren soll, rührt keinen Finger, als er ihn anspricht.

»Go on idiot!« . . .

Violet Tarquanson läßt sich herbei, zuzuschlagen, mit harten Fäusten einen brutalen Boxerhieb. Da es ein Farbiger ist, ist der umgebende Pöbel plötzlich umgestimmt, der Nigger kuscht und muß wohl oder übel ankurbeln.

101 Vor ihrem Hause, von den Taxusbäumen der Auffahrt versteckt, hält der wohlbekannte schwarze Wagen mit dem bronzierten Kreuz auf der Tür. In den Gängen schwatzen die erregten Dienstboten durcheinander, nehmen kaum Notiz von ihrem Kommen. Ihr Kutscher hat sich betrunken, belästigt die kleine Negerin, die Türen hinter ihr bleiben offen stehen, von außen schaut der gaffende Pöbel in das Haus. In Mallisons Zimmer ist eben die Leichenschau beendet, Uniformierte kommen ihr entgegen. Das verhüllte Etwas dort . . . sie läßt die grüne Decke heben, sieht ein zusammengeschrumpftes und über den Tod offenbar grenzenlos erstauntes Gesicht, einen lächerlich und nutzlos hin und her schwappenden Leib . . . Joe Mallison verläßt seine Werkstatt für immer . . .

Dann, als der Tote fort ist, fährt sie wie Blitz und Donner in die Unordnung des Hauses. Das Bureau Mallisons ist auseinandergelaufen. Gut: den Leuten ist telephonisch anzukündigen, daß sie entlassen sind, wenn sie nicht binnen einer Stunde sich hier gemeldet haben. Vor dem Hause rottet sich neuerdings wieder Pöbel zusammen: sie erbittet und erhält von neuem polizeilichen Schutz. Der polnische Chauffeur Tarquansons, der sie am Morgen nicht abgeholt hat, grölt betrunken durch das Haus, als sie ihn rufen läßt, er antwortet frech, er macht Miene, handgreiflich zu werden. Neben ihr liegt vom letzten Ritt auf dem Taburett die Reitpeitsche, sie holt aus, auf dem Gesicht eines amerikanischen Bürgers gibt es einen hellroten Streifen. Der riesige Leiblakai Tarquansons pflanzt sich neben ihr auf, der geprügelte Sklave kriecht in sich zusammen, das Haus kommt langsam wieder in Ordnung.

Herr Percyval Tarquanson ist erwacht und hat den dringenden Wunsch, seine Gattin zu sehen . . . Nein, sie bedauert, sie ist ernstlich verhindert. Ein eiskaltes 102 Bad, ein Frühstück, im Stehen eingenommen. Sie betritt mit Parker zusammen die Räume des Toten. Herr Soaper, der erste Sekretär, wird telephonisch herbeigerufen. Sie läßt sich sämtliche Fächer öffnen . . . Briefe . . . Bankausweise . . . chiffrierte Depeschen . . . was soll sie beginnen mit dem Wust? Erst als Soaper kommt, klärt sich das alles: ein Notizbuch mit den letzten Börsenaufzeichnungen des Toten . . . Kaufleute großen Stiles kommen mit derlei ja wohl aus.

Parker hält das abgegriffene Heft in der Hand: wenn es so steht, kommt der Tarquanson-Konzern über die nächsten Wochen, vielleicht über die ganze Krise hinweg. Und weswegen – er schlägt mit der Faust auf den Tisch – weswegen zum Teufel hat sich Joe Mallison dann eigentlich davon gemacht? Der Sekretär zuckt die Achseln: Privatangelegenheiten, die ihn durchaus nichts angehen. Violet Tarquanson klingelt: hier, auf dem blauen Teppich ist noch ein letzter vertrockneter Blutspritzer, man soll das fortwischen. Weiter . . .

Der Propagandaplan, der den Radiumminen wieder den notwendigen Kredit beschaffen sollte, ein Meisterstück der Reklamekunst, raffiniert mit den Bestandteilen der amerikanischen Psyche rechnend, vom lieben Gott beginnend bis zu der Popularität, die der ehemalige Eisendreher Tarquanson aus Brooklyn heute noch hat. Sie sieht hinein, zieht die Stirn kraus: Tarquanson an der Börse zeigen? Wie sollte dieser arme Leichnam wohl belebt werden?

Die Telephonscheiben stören fortwährend, Anfragen, Forderungsanmeldungen aus halb Europa und ganz Amerika: Whitenings Falschmeldung über den Zusammenbruch ist um diese Stunde auf den Börsen der ganzen Welt bekannt, die ganze Weltfinanz gibt sich ein Stelldichein in den Mikrophonen. Sie gibt die Anweisung, alle abzustellen, sie untersagt jeden Verkehr des Hauses mit der Außenwelt. Sie schlägt ein zweites 103 Mal ihres Gatten dringende Bitte ab, ihn zu sehen. Nein, unter keinen Umständen jetzt. Weiter, weiter.

Die Korrespondenz mit Whitening. Sie horcht bei dem Namen auf. Sie erinnert sich nur ihrer eigenen Episode, sie weiß von allen weiteren Dingen nichts. Das ist fabelhaft interessant: sie läßt sich jeden Brief vorlesen, jeden Zeitungsausschnitt im Original bringen. Nach zwei Stunden weiß sie dann Bescheid: an diesem häßlichen Zwerg also ist Joe Mallison gestorben?

Ein Bote der in Manhattan gelegenen Tarquanson-Office kommt: Wallstreet ist auch heute geschlossen, in den umliegenden Straßen wird eine Outsiderbörse abgehalten. Die Zahlungen, die Soaper noch heute geleistet hat, haben die ersten Zweifel an Whitenings Alarmnachrichten aufkommen lassen, die Presse gibt auf Anfragen keine Auskunft, alles schreit durcheinander, der Wahnsinn ist vollkommen. Sie schickt schließlich die drei Menschen fort. Parker sieht sie im Hinausgehen besorgt an: sie ist nun schon seit dem frühen Morgen mit diesen Dingen beschäftigt, von denen sie nichts versteht, sie muß ruhen, unbedingt. Aber ihre Augen schließen sich plötzlich messerschmal, auf der Stirn erscheint eine tiefe Furche, die er dort nie gesehen hat. Sie schiebt ihn wortlos zur Tür hinaus.

Sie bleibt ein paar Stunden allein, weiß der Teufel, was sie da drinnen treibt. Draußen drücken sich die Domestiken flüsternd an der Tür vorbei. Einmal öffnet sich diese Tür, sie reicht einen Brief heraus: »Sofort zu bestellen.« Als der Mensch mit dem Billett davongeht, ruft sie ihn zurück, nimmt ihm den Brief ab, läßt Parker kommen. »Sie sind mir verantwortlich dafür, daß der Brief auf dem schnellsten Wege an seine Adresse kommt.« Sie ist so kurz angebunden dabei, als gäbe sie einem Maschinenschreiber einen Auftrag. Im nächsten Augenblick hat sie die Tür hinter sich 104 zugezogen. Parker bleibt mit dem Brief draußen. Der Brief trägt Ward Whitenings Adresse.

Dann wieder sieht man sie am Abend bei Percyval Tarquanson eintreten, dem man bis zur Stunde von der Katastrophe nichts gesagt hat. Er sitzt halb angekleidet in seinem Lehnstuhl, man kann unter den Fettpanzern seines Fleisches noch jetzt in diesen plumpen Gliedern den ehemaligen Metallarbeiter erkennen. Sie sagt ihm alles so unverschleiert, so brutal, wie es ihr möglich ist, sie malt die Lage viel schwärzer, als sie in Wirklichkeit ist. Da knickt er völlig zusammen. Er hat in der letzten Zeit, seit es ihm besser geht, ab und zu bei Mallison vorgesprochen, er hat sehr ernste Auseinandersetzungen mit ihm gehabt. Aber er hat das alles für eine Bagatelle, in Gottes Namen für einen ernsthaften Verlust gehalten. Ein völliger Zusammenbruch . . . wie soll sich dieser egoistische, seit Jahren ausschließlich seiner Krankheit lebende Mensch noch einen Zusammenbruch, den Zustand der Verarmung, vorstellen? Er sitzt träge da, klagt Mallison an, der ihn verlassen habe, fragt nach tausend Einzelheiten und kommt doch immer wieder auf seine jämmerliche Weisheit zurück: »Ich will nicht arm werden . . . nein, ich will nicht . . .«

»Du wirst nicht arm werden.« Das wirft sie ihm wie einem Bettler eine schmutzige Münze hin und reißt sich los und geht. Draußen läßt sie den Wagen kommen, steigt im letzten Augenblick noch einmal aus, gibt Befehl, den Doktor da Bisticci, Tarquansons Arzt, zu bestellen: jetzt, sofort, er hat sich in drei Stunden hier einzufinden, nötigenfalls soll er gegen seinen Willen hierher geschafft werden . . . Als sie wieder in den Wagen steigen will, tritt ihr plötzlich aus dem Dunkel Parker entgegen.

»Ich werde Violet begleiten.«

105 Sie sieht ihn, schon vom Sitz aus, hochmütig an: »Gut, ein Stück sollen Sie mitkommen; unterwegs werde ich Sie dann auf die Straße setzen.«

Er würgt die Bitterkeit herunter. Sie fahren die fünfte Straße entlang nach Norden, ohne ein Wort zu wechseln. Als sie beim Zentralpark aussteigt und dort, wo eine ungeheure Bogenlichtorgie Whitenings Renaissancepalast verkündigt, den Wagen zurückschickt, fällt ihm plötzlich ihr Brief von vorhin ein. Da trifft ein wahnsinniger Gedanke ihn wie ein Peitschenhieb, er bleibt stehen, er ist totenblaß.

»Was haben Sie, Parker?«

Er würgt an einer Antwort, bringt kein Wort heraus. Sie sagt obenhin: »Ein kleines Stück, bis zu den Teichen dort, mögen Sie mich immerhin begleiten.«

Es ist unsäglich schwül, die letzte allzu späte Sommernacht vor dem definitiven Herbst. Moderndes Laub, Verwesungsgerüche, in den Büschen am Wasser heißblütiges Flüstern unsichtbarer Liebespaare. Zwischen den Buschhecken leuchten die fürchterlichen Bauten der Dynastie Vanderbilt auf; ein betrunkener schwedischer Steuermann, der sich hierher verirrt hat, grölt ein starkes Lied, streift im Dunkeln den Arm der Frau, daß sie seinen heißen Atem spürt. Donner grollt über dem fernen Ozean, ein greller Blitz zeigt ihr für Sekundenbruchteile auf den Bänken Menschenpaare in grotesker Verknotung. Der Lichtkreis vor Ward Whitenings Sommerhaus ist nun schon ganz nahe. Nun bleibt sie stehen und will ihn fortschicken. Da schreit er auf, ringt mit ihr, hält ihren Arm fest, daß er ihr fast das Kleid in Fetzen reißt: »Wer ist Violet Tarquanson, daß sie um Geld zu Ward Whitening geht?«

Da reißt sie den Schmuck von ihrem Hals, schleudert ihn auf die Steinplatten, daß die Perlen, die einmal eine indische Fürstin geschmückt haben, mit schrillem Laut umherfahren: »So viel, Parker . . . so viel gilt mir Tarquanson und Tarquansons Geld!«

106 Sie steht da mit zitternden Nasenflügeln wie eine edelgezüchtete Stute: »Ob ich zu diesem da gehe, oder zu einem anderen von euch . . . immer das gleiche! Schwächlinge seid ihr alle, alle kleine Tarquansons! Ich bin stärker wie ihr . . . Ja, daß ich stärker bin, das ist die ganze Rechnung!«

»Und morgen weiß es ganz New York!« Er stöhnt fassungslos, die Fäuste vor die Stirn gepreßt.

Da betont sie messerscharf jedes Wort: »Bilden Sie sich ein, ich vermumme mich wie ein kleines Ladenmädchen, das zum Rendezvous schleicht? Möge es in Teufels Namen jeder Liftboy morgen wissen, wie Violet Tarquanson sich Whitenings gute Presse erkauft hat! Ich lache über euern New Yorker Skandal! Und wenn ich sehe, daß sie vor ihm zittern, Parker, dann könnte ich sie schlagen! Gehen Sie jetzt! Ja. Sie sollen gehen!«

Sie schreit die letzten Worte, unbekümmert um die ringsum aufhorchenden Liebespaare, sie hat den Arm erhoben, als wollte sie wirklich zuschlagen. Er bleibt zögernd stehen, als könne er das alles noch nicht glauben. Aber wie er sie so vor sich sieht, außer sich, unbezähmbar, unkenntlich für ihn seit diesem letzten Morgen, da ergreift ihn so etwas wie ein Grauen vor dem Weib, und er läuft plötzlich in das Dunkel zurück.

Ein rotgoldener Lakai öffnet ihr und führt sie den Gang entlang, der zu Ward Whitenings Zimmern führt. Dieser Diener ist der einzige Zeuge dieses Besuches: der Herr dieses Hauses empfängt sie mit der Diskretion eines galanten Junggesellen. Sie schlägt trotzdem unbekümmert den Schleier zurück, der Mensch erkennt sie, er öffnet die letzte Tür, zwischen Grinsen und Erschrecken schwankend.

Sie betritt einen weiten, matt erleuchteten Raum, in dem armdicke Teppiche jeden Laut verhallen lassen. Auf dem Gobelin im Hintergrund sieht man Jupiters kraftstrotzende Glieder um Antiopes blühenden Leib sich schlingen. Vor diesem Hintergrund steht, den 107 verbogenen Körper in einen schwarzen Renaissancemantel gehüllt, Ward Whitening. Das gedämpfte Licht läßt ihn merkwürdig jung erscheinen: wie eine junge Leiche freilich, das kreidige Gesicht, angedorben schon, ehe sich seine Züge voll ausgeprägt haben, scheint merkwürdig von Todesfarben umspielt in diesem grünlichen Licht. Sie sieht wieder auf den schwarzen Mantel, muß lächeln über die Maskerade, tritt aber dann kühl wie eine Marmorgöttin auf ihn zu. »Wir wissen ja wohl beide Bescheid, Whitening! Ich bin gekommen, um eine Rechnung zu bezahlen, und bitte Sie, mir gleich die Quittung auszustellen.«

Die Spannung des Augenblicks würgt seine Kehle, er schweigt, tritt dann ein paar Schritte auf sie zu. Da richtet sie sich auf: »Ich habe schon bemerkt, daß Sie vorher Ihre Quittung auszustellen hätten.«

Er zittert in Wollust und Furcht: »Und was verlangt Violet Tarquanson von mir?«

Sie diktiert ihre Bedingungen ganz kühl: »Sie werden morgen in aller Frühe durch besondere Ausgaben Ihrer Blätter beweisen, daß in den Magalhães-Minen nie gestreikt wurde, daß die Gruben gesund wie die Bäder von Long Island, daß die Erzlager unerschöpflich sind, und daß Ihre Reporter Amerika wochenlang belogen haben. Sie haben Angst vor der Straße? Gut, Sie werden sich also für Geld einen Menschen kaufen, den man an Ihrer Stelle totschlägt. Sie werden dafür sorgen, daß die Verfasser Ihrer Artikel verhaftet werden . . . Ja, das ist Ihre Sache . . . und Sie werden morgen in aller Frühe diese Verhaftung nach London und Paris mitteilen. Sie werden morgen den Leuten einhämmern, daß Magalhães-Radium-Mines das Papier des kleinen Mannes sind, daß Percyval Tarquanson ein Bild der Jugendkraft, daß es Ehrenpflicht der Union ist, ihm durch die Krise zu helfen. Mit einem 108 Wort, mein Herr . . . Sie werden sich öffentlich in den Straßenkot legen und beweisen, daß Sie ein Lügner sind.«

Er zuckt zusammen, er bringt es schließlich zu einem faden Lächeln. »Und wenn ich morgen . . . verstehen Sie . . . morgen dieses Programm nicht einhalte?«

Er kann nicht einmal brutal sein, denkt sie und lächelt. »Gegen diese Eventualität wird mich eben das Papier schützen, das Sie jetzt unterzeichnen werden.« Damit tritt sie ans Licht und hält ihm das ausgefertigte Papier hin. Er starrt fassungslos auf die ungeheuerliche Zahl, die sie da hingemalt hat: »Und was wird morgen aus diesem Papier?«

»Es wandert morgen, wenn Sie Wort halten, vor Ihren Augen ins Feuer. Andernfalls . . . bezahlen Sie.«

In ihm erwacht Whitening der Großvater, der in Wisconsin den in die Stadt kommenden Farmern Korinthen zugewogen hat. Er lächelt überlegen, als er antwortet. »Und wenn ich nun nicht unterschreibe?«

Sie dreht sich wortlos ab und ist schon an der Tür.

»Nein! Nein!«

Nun ist er bei ihr, er umfängt ihren Leib in fliegender Angst, zerrt ihre Hand von der Tür zurück. »Hier, hier!« . . . Die Feder knarrt über das Papier. Sie nimmt das Papier mit spitzen Fingern, ohne ihm selbst einen Blick zu schenken.

Seine Arme umspannen vergeblich ihren blühenden Leib: ein Sauhirt, der das Marmorbild einer Nymphe umarmt. Sie lacht brutal und zynisch, sie quält ihn mit ihrem Spott bis zur Raserei, als er so versagt in ihren Armen. Sie ist unberührt, wie sie gekommen ist, als sie sich zum Gehen wendet. Er liegt, stöhnend vor Scham und Wut, da. Im Scheine des einsamen 109 Lichts steht sie und nestelt an ihrer Tasche. »Geben Sie acht, Whitening!«

Er blickt auf und sieht in das schwarze Auge einer Pistole, schreit auf, wirft sich auf den Teppich vor ihr nieder: »Ja, schießen Sie, in Teufels Namen . . . schießen Sie, ich bin ein Kothaufen!«

Er lacht schrill auf in seiner Verzweiflung, daß es in dem mächtigen Renaissancekamin widerklingt, der einst die großen Laster des Florentiner Medicäerpalais gesehen hat. Sie wirft ihm lachend die winzige Waffe zu: »Sie ist ungeladen, Whitening, sie ist ungeladen! Und in zwei Stunden müssen Ihre Rotationsmaschinen arbeiten, vergessen Sie nicht: in zwei Stunden . . .«

Und sie ist fort. Drinnen krallt er in nutzloser Verzweiflung seine Hände in den Teppich, als er ihren Schritt verhallen hört. –

Sie verläßt das Haus, ohne sich nach dem Schatten umzuschauen, der da hinter ihr ruhelos durch den Lichtschein des Fensters wandert. Ein wilder Uebermut ist plötzlich über sie gekommen, sie pfeift – unerhört für eine New Yorker Dame – einen Gassenhauer, als sie durch den Zentralpark geht. Daß sich von den dunklen Steinmassen des Hauses, das sie eben verlassen, eine kleine, dunkle Gestalt abgelöst hat, ihr nachschleicht mit leichten Kinderfüßen auf ihrem Weg, merkt sie zunächst nicht.

Sie geht den gleichen Weg zurück, den sie gekommen ist, stößt aber dann am Madison Square auf die Menschenmasse, die hier, seit Tagen die nächste Hiobsbotschaft erwartend, die Telegrammtafeln der Zeitungen umlagert: ein dicker Menschenpfropf, aufrecht stehend, auf den Steinen hockend, absolut undurchdringlich. Murmeln, gestikulierende Hände, ab und zu eine unmotiviert über die Köpfe hinweg geschriene Zahl, irgendwo ein leise weinendes Weib, Niggerelemente, hornbebrillte japanische 110 Bankbuchhalter, blaß von den Bogenlampen beleuchtete amerikanische Einheitsgesichter unter amerikanischen Einheitshüten, und wieder über dieser spukhaften Versammlung der Wechsel der leuchtenden Buchstaben auf den Tafeln, gespenstisch selber und stumm.

Sie bleibt eine Weile stehen. Drüben neben dem Riesenbau des verstorbenen Jacques Pulitzer reckt sich der noch protzigere der »Manhattan-Post«, und auf seinen Tafeln wird morgen zu lesen sein, daß alle Angst um die Tarquanson-Papiere grundlos gewesen ist, und es ist nicht zu bezweifeln, daß diese Nachricht wichtiger erscheinen wird als eine gewisse andere, die auch in der Nacht, wenn auch nur von Engelsmund und nicht von elektrischer Glühlampenschrift, der Menschheit verkündet wurde und hinter der auch ein Weiberschoß steckte . . .

Sie lacht plötzlich ein gellendes, gotteslästerliches Lachen. Ein baumlanger Arbeiter vor ihr sieht sich nach ihr um, sieht ihr unter den Hut, glaubt sie zu erkennen. Im nächsten Augenblick beginnt es um sie zu murmeln. Percyval Tarquanson falliert, und sein Weib geht nächtlings in Manhattan spazieren . . .

Sie stiehlt sich schnell in die fünfte Straße zurück, wandert weiter, durchläuft die ganze Strecke bis zur Brücke. Und hier, in den stilleren Straßen geschieht es, daß sie endlich den unermüdlichen Kinderschritt, der seit dem Zentralpark sie verfolgt, hinter sich bemerkt, näher, immer näher . . . Sie bleibt schließlich stehen, sieht die kleine Gestalt auf sich zukommen, bemerkt schiefe, schmale Mongolenaugen in dem zu groß geratenen Kinderschädel, eine Hand, die sich bettelnd nach ihr ausstreckt: »Einen Cent . . . einen einzigen Cent!«

Als sie die Münze in die geöffnete Hand gleiten läßt, bleibt in der ihren ein zusammengefalteter Zettel. Im Laternenschein liest sie die sorgfältig hingemalten Worte: »Violet Tarquanson, 15. Oktober, 7 Uhr abends, Nr. 39 Grave-Street.«

111 Während sie noch liest, verklingt schon der Schritt des Boten drüben in der Finsternis. Oh, sie weiß, von wem er gekommen ist, sie weiß es, ohne daß sie fragen müßte . . .

Wieder liest sie den Zettel: ein Rendezvous morgen in einem unmöglichen Winkel, ein Rendezvous, bei dem man sie nicht erst fragt, ob sie kommen will! Wie er sie umschleicht, der Fremde, ah, wie er sie umschleicht!

Sie steckt den Zettel ein. Sie zahlt eine Schuld an die Vergangenheit, an die Gegenwart, an ihre Rasse zurück: was weiß sie noch von morgen? Nicht denken daran, überhaupt nicht denken! Und sie läuft plötzlich aus der dunklen Straße, vor der sie sich zu fürchten beginnt, der Brücke zu.

Zu Hause schläft sie angekleidet zwei Stunden, wird um Mitternacht von Zelimene aufgerüttelt, hört Bisticcis Stimme im Vorzimmer. Als sie ihn zu sich rufen lassen will, drängt Soaper an dem Italiener sich vorüber. Der Mann ist verstört, knittert ein Papier in den zitternden Händen. Sie entreißt ihm den Fetzen: ah, das erste Telephonat aus der Stadt, von Soaper soeben aufgenommen. Whitening ist an der Arbeit, er bezahlt seine kümmerliche Schäferstunde: »Sämtliche Baissenachrichten über den Tarquansonkonzern ohne Grundlage« – »Erfindungen eines verbrecherischen Reporters« – »Man erwartet eine stürmische Steigerung der Kurse« –

Sie hat das alles erst am Morgen von den Leitartikeln erwartet. Der Mann hat es sehr eilig, er läßt das alles hier schon durch seine Telegrammtafeln verkünden, er zittert wohl um das Papier mit der abenteuerlichen Summe, das da auf ihrer Brust knistert . . . Weiter: »Außerordentliche Börse in London.« Nein, er übertreibt entschieden: die Nachricht kann in Europa unmöglich schon bekannt sein. Immerhin: jeder Buchstabe eine gewonnene Schlacht! Weiter: eine persönliche 112 Bemerkung des Sekretärs der City: »Man bringt Hochs auf Herrn Tarquanson aus. Es wird eine Demolierung der Whitening-Blätter befürchtet.« Sehr wahrscheinlich, Whitening wird einige schwarze Böcke in die Wüste schicken und sein Bankkonto für Schmerzensgelder in Bewegung setzen müssen . . .

Soaper tritt erregt von einem Fuß auf den andern: »Wenn morgen Herr Tarquanson . . .«

»Herr Tarquanson wird morgen in Wallstreet zu sehen sein.«

»Er wird . . .«

»Ja, er wird. Sie sollen alles dafür vorbereiten.«

Der Mann ist von Mallison her an allerlei gewöhnt: diese Frau, die zwei Tage lang im Zug gesessen und seit dem Morgen des dritten wie eine Rotationsmaschine arbeitet, ist Mallisons würdig.

Ja, sie fühlt wirklich keine Spur einer Ermüdung, ihr ist, als würde sie heute noch die Welt erobern – die ganze Wirtschaft eines Kontinents ist in dieser Stunde abhängig von ihr.

Der kleine elegante Italiener, um seiner berühmten Stoffwechselarbeiten und um seines historischen Namens willen für Amerika für Harvard erworben, läuft ungeduldig im Vorzimmer auf und ab. Man hat ihn fast gewaltsam von einem intimen Abendessen à deux geholt, er ist begreiflicherweise schlecht gelaunt. Er spielt nervös mit dem Stichdegen in der Hand, den er in ihrem Vorzimmer gefunden hat, im Halbdunkel der farbigen Lampe sieht er wie ein Condottiere der Zeit aus, an die sein Name erinnert. Sie lächelt ihm entgegen: »Wen wollen Sie durchbohren, Marchese?«

Er verneigt sich geschmeidig: »Alles, was sich zwischen Frau Tarquanson und mich stellt!«

»Das ist nicht viel.«

Die Waffe klirrt zu Boden. »Was ist es? Was?«

»Kurz und gut: sie sollen Herrn Tarquanson für 113 morgen, für zwei Börsenstunden, nur mit leidlichem Wohlbefinden . . . sagen wir mit Haltung, ausstatten.«

Er krümmt den rundlichen Körper zusammen. »Die Wissenschaft kann alles, was eine schöne Frau verlangt.«

»Und . . . die Mittel dazu?«

Da überbietet er sich in Versicherungen. Die Namen sämtlicher Stimulantien und Alkaloide der Chemie schwirren durch den Raum . . . eine Bagatelle, schöne Frau, eine Bagatelle! Wie, es geht Herrn Tarquanson seit Monaten leidlich gut, kraft seiner Kunst, und man sollte nicht die Mittel haben, den Schmerz . . . die Ermüdung . . . in Teufels Namen sogar den Tod zu betrügen für eine Weile?

»Ich bin korrekt, Marchese, sehr korrekt. Sie wissen, wie es um Herrn Tarquanson steht. Ihr Mittel . . . nun, es wird ihm nicht schaden?«

Da hat sie einen Ozean von Beredsamkeit entfesselt. Das Leiden des Herrn Tarquanson, gewiß . . . er ist außerdem Morphinist, sehr bedauerlich . . . die Hinzuziehung eines neuen Alkaloides, von Kokain etwa, könnte in diesem Stadium des Leidens immerhin gewisse Gefahren in sich schließen, ohne Zweifel. Aber – und nun wird aus der gelehrten Disputation eine wundervolle südländische Volksrede mit gestikulierenden Händen und ergreifender Mimik – ja, er begreift sehr wohl, welch wichtige Rolle ihr Gatte in den nächsten Tagen spielen mag . . . Ja, liegt nicht, lasten nicht in diesem Augenblick die Sorgen eines ganzen Volkes auf Herrn Tarquanson? Hieße es nicht unverantwortlich handeln, sich dem Kampf für das allgemeine Wohl zu entziehen, um jene geringe Gefahr zu vermeiden? Und würde – um bei dem Wohl des Patienten selbst zu bleiben – sein Zustand unter dem Eindruck eines großen Vermögensverlustes sich nicht viel mehr 114 verschlimmern, unter dem Eindruck, daß seine Gattin unter dem Umschwung der Verhältnisse litte? Was sie ihrem Gatten zudächte, wäre die Rolle eines Helden, eines Helden, der sich einsetze für das allgemeine Wohl, für sein Haus . . .

Er ist erschöpft, als er zu Ende ist. Sie lächelt: »Ich glaube den Helden bis hierher schnarchen zu hören. Gehen wir zu ihm.«

Nein, sie hat sich getäuscht: Percyval Tarquanson ist wach. Er schrickt zusammen, als er den Arzt sieht: »Weshalb hat man Sie gerufen? Was wollen Sie mit mir tun?«

Der Italiener verbeugt sich: »Das Beste, das denkbar Beste!« Und er lauscht auf die Herztöne, nickt befriedigt: »Warum nicht? Sie übertreffen meine Erwartungen, mein Herr. Warum also nicht? Ich bitte Sie, warum nicht?«

Der Kranke hat sich dem Weibe zugewandt. Wieder die hilfesuchende Stimme: »Und auch du sagst, daß es nicht so schlimm steht, daß ich nicht arm werde?«

»Nicht, wenn du morgen tust, was ich will. Merk es dir: was ich will . . .« Sie rettet sich vor einem neuen Zärtlichkeitsausbruch nach der Tür. In ihrem Zimmer stellt sie noch einmal den Italiener.

»Ich brauche ihn um neun Uhr. Wann wollen Sie mit ihm beginnen?«

»Nach fünf Stunden, oder nach sechs.«

»Gut, Sie werden also die Nacht in diesen Zimmern hier verbringen.« Er wird plötzlich um eine Nuance blasser. »Um für alle Fälle zur Hand zu sein«, vollendet sie in scheinbarer Unbefangenheit und streicht ihr Kleid zurecht. Wieder hat er das Florett an sich gerissen und führt einen Lufthieb. »Ganz recht, um für alle Fälle zur Hand zu sein!« Er begleitet seine Zweideutigkeit mit unnachahmlicher Grimasse und ist verschwunden.

115 Dann zwei weitere Stunden Arbeit mit Soaper, drüben in den verwaisten Räumen Mallisons, Anweisungen für die Makler, die Verteilung der Rollen, der Zeitpunkt für Mallisons Eintreffen, der Nachrichtendienst: der ganze Regieplan wird fertiggestellt. Auch jetzt ist sie nicht müde: der Wagen donnert dahin, er fliegt einen steilen Hang hinab, sie hat nicht einmal Zeit zu sehen, wo die Fahrt enden wird.

Zwei Stunden Ruhe bleiben ihr, als sie sich zurückzieht. Drüben, an der anderen Front des Hauses, wandert hinter den erleuchteten Fenstern ein ruheloser Schatten auf und ab; das leise Klingen einer hohen Stimme kommt zu ihr: der Italiener, der seine sündhaften Gedanken mit einem obszönen Chanson beruhigt. Zwei kämpfende Katzen schreien draußen durch die Nacht, ganz hinten versinkt das Lichtband des letzten Subwayzuges in irgendeinem Tunnel: überall die gleiche Jagd nach der Macht und dem Weibe . . .

Als sie sich dann entkleidet, fällt ihr mit Ward Whitenings Papier das Billett des Fremden entgegen. Ja, hier hat die Hand gelegen, vor der sie sich gefürchtet hat durch lange Wochen, hier . . .

»Du umschleichst mich, und ich werde dir ja doch nicht entgehen. Ich zahle eine Schuld und werde frei. Wenn du aber stark bist . . . nun, liebe Hand . . . ich fürchte mich nicht mehr vor dir.«

*


 << zurück weiter >>