Fritz Reck-Malleczewen
Die Dame aus New York
Fritz Reck-Malleczewen

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Am nächsten Tag wird New York und zwei Tage später ganz Amerika durch einen »World«-Artikel alarmiert, der endlich den wahren Grund für Elihu Grants Amerikareise enthüllt: dieser größte Industrielle der Welt, Präsident des in Europa aufgebauten Unitrustkonzerns hat am Tage nach seiner Ankunft im Mammuthotel einer Versammlung aller großen Finanzsaurier sehr ernste Enthüllungen über das große Gewitter gemacht, das sich in Ostasien, in Indien, in Afrika, in ganz Uebersee über der Weltwirtschaft zusammenzieht: eine von langer Hand vorbereitete Empörung der Neger aller Schattierungen gegen das, was man gemeinhin abendländische Kultur nennt, gegen Christentum, politische Bevormundung, gegen Import und Kolonisation. Eine verfluchte Idee, durch Wanderprediger asiatischer Sekten, durch die infam schlaue Diplomatie der beiden ostasiatischen Großstaaten über die ganze farbige Welt, in alle Chinesenkneipen San Franciscos, in das Hirn des letzten malaiischen Schauermannes in London, Singapoore und Argentinien getragen. Eine besondere Gefahr: auch Südamerika ist infiziert, die Spuren der Agitation an dieser Stelle laufen auch hier in den ostasiatischen Botschaftspalais in Washington zusammen.

Und wenn die Straße, das East End, dieses ganze, mechanisch arbeitende und an Fortschritt, Zukunft und Richards Einheitsweste glaubende New York diesen »Ostasiatische Katastrophe« überschriebenen Artikel 29 zunächst nicht beachtet, so ist die Wirkung auf die Börse um so verheerender. Man kann einen Aufstand auf den Philippinen und einen zweiten in Indien mit Maschinengewehren fortrasieren, aber der letzte Makler fühlt es instinktiv, daß man gegen eine ganze von religiösem Fanatismus aufgepeitschte Welt, gegen zwei Drittel der gesamten Erdbevölkerung, hinter der die beiden schwerbewaffneten Mächte Ostasiens stehen, machtlos ist. Und wenn man das alles niederwirft . . . kann man den Nigger zwingen, amerikanische und europäische Waren zu kaufen? Hier und drüben haben die Maschinen seit dem Weltkrieg ein ungeheueres Menschenheer erzeugt, das von den Maschinen lebt. Steht die Exportindustrie still, können beide Erdteile nicht mehr wie bisher die Rohstoffe der ganzen Welt an sich saugen, sie nicht mehr gegen die Bodenerzeugnisse aus Uebersee eintauschen, so ist nicht nur der Zusammenbruch eines anderthalb Jahrhunderte alten Wirtschaftssystems, so ist die Krise, die Hungersnot, die ungeheuerliche soziale Weltkatastrophe da. Oder kann man vielleicht den Chicagoer Arbeiter plötzlich zu einem Bauern machen mit Ochsen, Gänsen und Erdgeruch, he?

Die Papiere der überseeischen Industrieunternehmungen fallen gleich bei Eröffnung der Börse wie Theaterkulissen um, sie reißen die der jungen amerikanischen Schiffahrtsgesellschaften mit sich, die Katastrophe droht in der ersten Börsenstunde auf die einheimischen Werte überzugreifen. Wallstreet ist von einer wahnsinnigen Menschenmenge umlagert, die sich bis in die Nassaustraße, bis auf den Broadway anstaut. In der zweiten Stunde wird Wallstreet geschlossen, der Generalstaatsanwalt erscheint im World-Gebäude, er bittet um die Unterlage für den Artikel: man setzt ihm den Phonographen vor, den man in das 30 Mammuthotel eingeschmuggelt hat. Hier ist die Eröffnungsansprache Elihu Grants, hier ist der Vortrag seines Sekretärs Two, hier schlägt der in London lebende Astor einen finanziellen Druck auf die europäischen Regierungen zum Stellen von Hilfsheeren vor, hier erklärt Elihu Grant, was man in dem Artikel übrigens verschwiegen habe, daß er sich selbst über Abwehrmaßnahmen nicht im klaren sei, daß er zunächst nur habe warnen wollen . . .

Und während der Artikel in tausend Untergrundwagen, Bars, in den Inselbooten und Hobokenfähren gelesen wird, tauchen plötzlich die zu jeder katastrophalen Nachricht gehörigen Gerüchte auf, wachsen ins Gigantische und verwandeln an diesem Tag alles, was sonst in Wallstreet aus- und eingeht, in eine Versammlung von Wahnsinnigen. Der kleinasiatische Aufstand soll bereits auf Indien übergegriffen haben, in China hat ein wohlorganisierter Warenboykott eingesetzt, die japanische Flotte ist vor dem Panamakanal erschienen und der chinesische Agent Earl of Hensbarrow in Navy Point als Spion verhaftet.

Nach der Reihe erklären der japanische und britische Botschafter alles für einen Unsinn, der Gouverneur der Kanalzone dementiert, die chinesische Gesandtschaft gibt bekannt, daß der Earl of Hensbarrow zurzeit sich gar nicht in New York aufhalte. Aber am nächsten Tag genügt die Ermordung von drei europäischen Missionaren in Yünnan, um die Panik am Leben zu erhalten. Wallstreet bleibt geschlossen, die ersten Fabriken in East End entlassen ihre Arbeiter. Da seit dem auf den Weltkrieg gefolgten wirtschaftlichen Aufschwung jedes Ladenmädchen mit erborgten Geldern spekuliert, beginnt am dritten Tag der Sturm auf die Banken und fegt alle kleineren Unternehmen fort. Und wenn zunächst auch die Straße ruhig bleibt und die 31 Stützungsaktionen der Regierung wenigstens eine Arbeitslosigkeit größeren Stiles verhindert, so stehen doch bereits die Vergnügungsplätze auf den Inseln, die Varietés des Tenderloindistriktes leer und bei Wannamaker sind die Säle menschenleer wie die Trinitykathedrale an einem Wochentage.

Elihu Grant wütet gegen die Indiskretion der »World«, er hält Beruhigungskonferenzen ab, er läßt in der ersten Etage des Mammuthotels ein Loch in die Mauer brechen und sich in seinem Rollstuhl wie ein Götze des todsicher angelegten Kapitals ausstellen, er erreicht es durch das Schwergewicht seines persönlichen Kredites, daß die Krise vom vierten Tag an chronisch wird. Aber die niedergerittenen Kurse erholen sich nur langsam, das Publikum ist mißtrauisch und nervös, man fühlt, daß das große Gewitter erst im Anziehen ist, und über Amerika liegt seit diesen Tagen wie ein großer, qualliger Bullokfrosch lähmende Weltuntergangsstimmung. –

Man soll nicht glauben, daß diese große allgemeine Krise, die nur das Vorspiel zu einer viel größeren ist, die Verlegenheit des Tarquanson-Konzerns irgendwie behebt. Ganz und gar nicht. Die Zeichnungen der Bonds haben so gut wie ganz aufgehört, die Magalhãesminen fressen Geld, wie der Elefant Heubündel, und zehren sämtliche Barreserven und den Rest des Kredites auf. Dieser Joe Mallison wehrt sich gegen die steigende Flut wie ein Titan, und es ist zu bemerken, daß der unscheinbare ungarische Jude jetzt Beweise von persönlicher Größe gibt. Ein junger spanischer Physiker unterbreitet ihm eine Arbeit über eine ganz neue motorische Verwertung der Gezeiten: gut, er weist ihm außer einem mehrjährigen Stipendium unten in Sandy Hook ein fürstlich ausgestattetes Laboratorium zur Fortsetzung seiner Arbeiten an. Der 32 Präsident untersagt zwei Tage nach dem ominösen »World«-Artikel die Lieferung der von der chinesischen Regierung bestellten Geschütze: Joe Mallison entläßt, während in East-End gut die Hälfte der Schornsteine zu rauchen aufhört, keinen einzigen Arbeiter. Die Ingenieure berichten über Molybdänfunde und schlagen eine weitere unterseeische Bohrung vor – aber die Stollen werden noch weiter getrieben, es soll, wenn die Katastrophe unvermeidlich ist, wenigstens eine Katastrophe allerersten Ranges werden. Er pariert seit Wochen die ungeheueren Anforderungen der Minen durch gigantische Spekulationen, er verdient, was er an der kleinasiatischen Baumwollernte verloren hat, am Mais der Südstaaten, er hält – dieses Mal lächelt ihm das Glück noch einmal – zwei Tage vor der Wallstreetkrise das ganze mexikanische Silber in seiner Hand. Er ist heute in London und nach zwei Tagen in Petersburg und zeigt sich, während der unversöhnliche Whitening in seiner Presse malitiöse Bemerkungen über seine Abwesenheit macht, nach vier Tagen wieder in New York.

Trotzdem fühlt er, daß das Wasser ihm höher steigt, trotz aller dieser Erfolge, immer höher. Zum erstenmal in seinem Leben fühlt er ein unerklärliches Nachlassen seiner Spannkräfte, er entwirft, indem er Kübel schwarzen Kaffees trinkt und seine Füße auf Eis setzt, seinen letzten großzügigen Propagandaplan, und wenn es kein anderer tut, so sollen Varietémanager und gekaufte Kanzelredner das verängstigte Publikum davon überzeugen, daß der liebe Gott selber sein Geld in Magalhães-Radium-Mines angelegt hat. Er versucht vergebens, den dahindämmernden Percyval Tarquanson, der als ehemaliger Eisendreher noch heute eine gewisse Popularität genießt, nur ein einziges Mal, für vierundzwanzig Stunden nur, auf die Beine zu 33 bekommen, er sucht eine Audienz bei dem großen Elihu Grant nach und wird – am nächsten Tag läßt Whitening es in Groteskschrift melden – von dem hochmütigen Angelsachsen, der heute noch den ungarischen Outsider nicht leiden kann, abgewiesen. Und Joe Mallison sieht stöhnend vor Wut, daß er jetzt ohne gute Presse verloren ist, trotz allem, trotz allem . . . Er sieht diese verhaßte, blonde Frau, diese Violet Tarquanson, kokett die Beine übereinanderschlagen, wenn sie vor seinen Fenstern im Wagen sitzt: wozu, in drei Teufels Namen, ist diese Gans gut, wenn er sie diesem albernen Burschen da, diesem Whitening, nicht ins Bett werfen kann? –

Und während die Weltwirtschaft sich in Krämpfen windet, schüttelt sich das Leben der Frau, von der hier nun ausschließlich die Rede sein wird, in ganz anderen Fieberschauern. Man soll nicht denken, daß sie wie ein verliebter Backfisch dem Phantom, das an ihr vorübergestreift ist, nachschliche: sie sieht wohl den Namen des Earl of Hensbarrow auftauchen in Verbindung mit den ungeheuerlichen Spionagegerüchten, die in diesen Tagen die Oeffentlichkeit alarmieren, ohne daß sie das besonders beeindruckte. Wohl aber fühlt sie sich von einer unbekannten Unrast verfolgt, ohne zu wissen, was sie eigentlich umherhetzt: sie sitzt zehn Stunden zu Pferd, kommt durchnäßt nach Hause, springt nach zehn Minuten, wenn sie sich niedergelegt hat, wieder auf, jagt ihren Wagen weit hinaus auf die Ronkonkomasteppe, läßt an dem stillen See unter den Judasbäumen ein Feuer anzünden, springt, als das sorglich mitgenommene Abendessen gedeckt ist, wieder auf, jagt wieder nach New York zurück, läßt sich anziehen, erscheint auf fünf Minuten in der Oper, springt wieder auf und jagt nach Hause. Sie verfällt für ein paar Minuten in einen unruhigen Schlaf, träumt, daß sie 34 drei gefleckte Kinder unter unsäglichen Qualen gebiert, fährt auf, läßt Parker kommen, fährt in später Nacht mit ihm in eine der spiritistischen Sitzungen, die der Engländer Hobson seit einiger Zeit in New York veranstaltet. Dort erregt sie den Unwillen der Teilnehmer dadurch, daß sie gerade, als der Geist Mirza die Anwesenden mit Kaugummistückchen bombardiert, von einem Lachkrampf geschüttelt wird, schickt Parker fort, bricht zu Hause in tiefer Nacht vor der Schwelle ihres Gatten in haltloses Weinen aus, ohne zu wissen, warum. Und sie beginnt den sinnlosen Kreisel am nächsten Tag von neuem, indem sie den Reverend Elliot Stant zu sich bitten läßt, ihn unempfangen mit einer phantastischen Summe für die Negermission wieder davonschickt, dann in der Tierhandlung von Webster und Hathlam eine Herde von zwanzig Foxterriers erwirbt und am Nachmittag schwere, weiße Bordeauxweine trinkt, bis Zelimene die Berauschte auf den Divan bettet. –

Ich weiß, daß dieser Zustand dem oberflächlichen Beobachter sinnlos erscheinen mag. Ich weiß, daß ein Weib das Martyrium einer solchen Ehe, der sinnlosen Gebundenheit an einen Menschen, der eigentlich kein Mensch mehr ist, jahrelang stumm und beinahe fröhlich ertragen kann. Aber ich weiß auch, daß eines Tages ganz unerwartet die sinnlos vergeudete Jugend die Rechnung präsentiert. Ich weiß, daß das plötzlich erwachte, das empörte, das suchende Weib in diesem Zustand fast schutzlos der Hand preisgegeben ist, die nach ihrem Leben greift. Ich weiß, daß Legionen von Frauen dieses Erwachen kennen und es bleibt mir nur übrig, ihnen allen ein freundlicheres Geschick zu wünschen als dieses, von dem ich hier zu sprechen habe. –

35 An einem der letzten Septembertage ruft sie Parker an: sie will ihn draußen in den Werken bei der Arbeit aufsuchen. Er ist dringend beschäftigt, er prüft das Diagramm irgendeines neuen Maschinenungeheuers. Sie stampft wütend mit dem Fuße: dann will sie ihn in Teufels Namen bei seiner Maschinerie sehen. Sie fliegt, ohne gefrühstückt zu haben, durch den Herbstmorgen, an den Staatswerften vorüber, wo man seit Wochen schon fieberhaft arbeitet, vorüber an häßlichen Fabriken mit Höfen voll von verrostetem Eisenblech, durch die Vorstadtkolonien der gemütvollen deutschen Biergärten mit den verstaubten Gipsbüsten zwischen den Oleanderbüschen. Sie sitzt selbst am Steuer, sie genießt es, die endlosen Lastzüge zu überholen und die Trains mit dem brüllenden Vieh aus dem Westen, das den städtischen Schlachthäusern entgegenfährt; sie winkt animiert den grauen Arbeiterbataillonen zu, die stumpf von der Arbeit über die verräucherten Viadukte ziehen.

Und siehe, da zerfasert sich die gigantische Stadt, löst sich auf in Inseln bestialischer Mietskasernen, streckt längs geheimnisvoller Bretterzäune mit maßlos vergrößerten Unzüchtigkeiten schwarz beschotterte Wege in die dampfende Ebene, zeigt endlich in der grauen Ferne die kleine Stadt, die die Gunworks für sich bilden: ein Wald schlanker Kamine und trotziger Schmelzöfen, ganze Wellen unsymmetrischer, niedriger Hallen, das Gewirr der Industriegleise mit rauchenden Rangiermaschinen, schön gebaute Arbeiterhäuser mit schlampigen Proletarierfrauen und Bettsäcken zum Fenster hinaus, und darüber pilzförmig wie die eines Vulkanes, die undurchdringliche Wolke bituminöser amerikanischer Kohle, ein brauner Lichtfilter, daß die unberührte Steppe ringsum in fahlem Gelb liegt, als sähe man das alles durch das farbige Glas einer Moselflasche.

36 Sie wird im Portal wie eine regierende Fürstin empfangen, sie schreitet durch dreiundzwanzig bis auf einen Zoll gleich großer Fabrikhöfe, Lichtschächte, in die oben ein winziges Himmelsquadrat auf verrußte atrophische Bäume niederschaut; sie gelangt durch enge, atembeklemmende Tunnel in weite Maschinenhallen, wo man ihr den berühmten Preisboxer Nightingale zeigt, der vor kurzem den australischen Weltmeister Waard Bacher geworfen hat. Sie fragt vor den Feuerströmen der Gießhallen, ob es wirklich wahr sei, daß man da den befeuchteten Finger, ohne sich zu verbrennen, hineinhalten könne, und sie läßt sich schließlich in der Frühstückhalle mit kleinen Galizierinnen photographieren, die noch Kinderkleider tragen und eigentlich doch schon vollbusige Mütter der amerikanischen Zukunft sind. Ja, ja, weiter nur so: vielleicht ist es hier zu finden, das große unbekannte Leben, vielleicht hier . . .

Tief unter der Erde liegt der Raum, in dem Parker die neue Dampfturbine aufstellt, tief unter den Kesselanlagen, die ein kleines Dorf für sich bilden. Man führt sie den endlosen Schlauch eines engen Ganges, der sich immer tiefer hineinfrißt in die Erde mit seinen Eisenbetonwänden. Dann öffnet sich geräuschlos ein Eisenschott vor ihr, schließt sich wieder stumm: man läßt sie eine kleine Weile allein mit den Maschinenungeheuern.

Der Raum strahlt mit seinen weißen Wänden das kreidige Licht der Bogenlampen wieder, tot und starr. In diesem Licht schwingen still, an ihre Turbinen gekuppelt, acht . . . zehn . . . vierzehn Dynamos, die heiße Luft riecht brenzlich von den blauen Funken, die aus den Kupferbürsten stieben. Weiße Klinker, Nickelstahl, blitzsaubere Treppen, die zu den Turbinensteuern führen, marmorne Schaltbretter, die den Tod 37 bergen, einen ganz schnellen Tod . . . man braucht ja nur hinzufassen. Werkzeug an funkelndem Messing hängend, keine Oelkanne auch um einen Zoll nur von ihrem vorgeschriebenen Platz entfernt, kein Mensch, nur die ruhig schwingenden Maschinen, unabänderlich in ihrem Gang wie die Gestirne selbst. Der tiefe Baß der Turbinen singt in vielstimmigem Baß wie eine Sphärenmusik: wohltuend hirn- und seelenlos, losgelöst von Reflexion und Menschenwillen.

Doch . . . da steht vor einer der Turbinen ein Mensch, ein blaublusiger Monteur, der, ohne ein Glied, ein Auge nur zu bewegen, auf die Kupplung starrt, und sie hat ihn zunächst für eine Wachsfigur gehalten. Es ist ein vollblütiger Mensch mit dicken Lippen und fettem Bauch: seltsam nur . . . wirklich sehr seltsam: wie er da steht, sie nicht bemerkt . . . es ist wohl das kreidige Licht . . . ein Metallreflex auf seinem Gesicht . . . der aufgetriebene Leib . . . der Mensch hat ein bläuliches, gedunsenes Leichengesicht, ja, ja, er sieht wirklich aus wie eine gedunsene Leiche, ein ausgestopfter, schreckhafter Wachsmörder aus Tenderloins Panoptikum. Der Eindruck ist peinlich, sie schreit dem Menschen ins Ohr, sie will wissen, wo Parker ist. Statt einer Antwort drückt er auf einen Knopf, eine Scheibe leuchtet da hinten gespenstisch auf, ein Schott ganz hinten öffnet sich, ebenfalls geräuschlos, nach einem zweiten Raum.

Er begleitet sie, ohne ein Wort zu sprechen, dorthin. Ist er, der Mensch, stumm? Nur um zu reden, spricht sie ihn ein zweites Mal an, und ohne zu wissen, was sie da spricht, fragt sie ihn plötzlich, ob er ganz gesund sei? Da lacht er über sein ganzes Gesicht: Gesund? Nun, das will er doch meinen! Da . . . er streift den Aermel zurück und läßt tätowierte Muskelgebirge 38 sehen . . . Teufel noch einmal . . . wenn er nicht auseinanderplatzt vor Gesundheit!

Aber sie ist doch erleichtert, als er sie in dem zweiten Raum allein läßt. Da ist wieder eine Dynamomaschine, ein wahres Mammut, und die anderen dahinter sind nur ihre Kinder, und still steht die kleine, fast zierliche Turbine neben ihr. Da ist Parker zu sehen, in weißem Mantel, tief in der Arbeit steckend, und er legt zierliche Nickelinstrumente an den schwärzlichen Stahl, pfeift fröhlich, zeichnet ab und zu einen Strich auf das ausgespannte Papier neben sich. Sie schleicht leise heran, schlägt ihn lustig auf die Schulter, er springt auf, lacht mit seinem Knabengesicht, er ist entzückt, sie so guter Dinge zu sehen heute, er strahlt selbst über seine gelungene Arbeit da.

Ja, da ist sie, seine kleine zierliche Turbine, sein letzter Entwurf, nicht größer als einer von Violet Tarquansons Lederkoffern und doch, so unglaublich das ist, stärker als die Leviathane da drüben zusammengenommen. Und wieder ist er ganz Fachmann; sie hört zu, will alles wissen, sie hört einen Vortrag darüber, wie es möglich war, achttausend Pferdekräfte zusammenzupressen in diesen kleinen Eisentopf; sie will wissen, was das eigentlich ist, ein Maschinendiagramm, sie ist plötzlich gelehrig wie die Schülerin einer Bostoner Mathematikklasse und überrascht ihn dann doch schließlich mit dem Vorschlag, die kleine Turbine hier einfach durch einen Riemen zusammenzukuppeln an die nächste große da drüben, beide gegeneinanderlaufen zu lassen, um zu sehen, welche nun wirklich stärker ist.

Er lacht. Ja, sie soll die Turbine laufen sehen, sie soll sie als erste ansteuern, jetzt gleich, er ist sofort fertig hier; und er ist wieder bei seinen Wasserwagen und Mikrometerschrauben.

39 Dann klettern sie zusammen die Treppe zur Steuerung hinan. Er drückt auf einen Knopf, der Mensch von vorhin erscheint. Den sieht sie nicht. Vor ihr klettert der Manometerzeiger, Parker legt ihre warme Hand auf das Eisenrad der Steuerung: dort ist der Tachometer, bis zu jener Zahl darf sein Zeiger steigen, zehn Touren zunächst . . . er führt ihre Hand, als sie die Maschine anlassen.

In dem runden Mantel unten beginnt es zu singen, kein Donnern und Tosen, sondern ein sanfter Orgelton . . . so geräuschlos läuft Parkers Wunderwerk. Sie ist entzückt über die gigantischen Kräfte, die sie da entfesselt hat, er steht und lacht still, wie nur Ingenieure sich über eine gelungene Arbeit freuen können.

Nicht weiter drehen jetzt, auf keinen Fall! Er ist schon wieder unten bei der Maschine, er prüft den seitlichen Ausschlag der Kupplungsscheiben, er horcht an dem Gehäuse herum wie ein Arzt an dem Brustkorb eines Lungenkranken, holt immer neue Instrumente aus seinem Samtbesteck hervor und legt sie an und malt schöne, blaue Kurven auf seine Tafeln. Hinten steht unbeweglich der Mann mit dem Leichengesicht.

Sie stampft oben ärgerlich mit dem Fuße. »Schneller . . . Parker . . . schneller . . .«

Und noch ehe er aufsieht, hat sie wahr und wahrhaftig an der Steuerung gedreht, freut sich wie ein Kind daran, daß der langweilige Tachometerzeiger endlich einmal sich von der Stelle rührt. Das feine Summen wird plötzlich höher, immer höher . . . zwanzig Touren, dreißig, vierzig . . . Parker springt entsetzt die Leiter hinauf und stellt den Dampf ab.

Und nun ist er wirklich erzürnt. Teufel, das sei doch wohl kein Spielzeug . . . die uneingestellte Steuerung . . . ob sie vielleicht wisse, daß sie hier alles auseinanderreißen könne mit ihrem Spielen? Den 40 ganzen Raum unter kochenden Dampf setzen? Ob die Kammräder da drinnen, wenn sie rissen und durch den Mantel kamen, wohl sehr sanft mit ihr umgehen würden, he?

Sie antwortet sehr ungnädig. Ob sie etwa gekommen sei, um eine Lebensversicherung abzuschließen? Ob sie sein Mündel sei, ob sie nicht das gute Recht habe, ihre Finger auf die nächstbeste Dynamobürste zu legen und sich vom Strom pulverisieren und von Doktor Solder wieder zusammenzusetzen und in dem Fabrikhof draußen beerdigen zu lassen? . . .

Sie lachen schließlich beide, er versucht es mit sanfter Diplomatie: sie könnten sich sicherlich beide zerreißen lassen. Aber da sei doch außer ihnen noch ein Dritter anwesend . . . Nick Pound da hinter ihnen, Vater von fünf Kindern!

Sie sieht sich um, sie zuckt zusammen. »Parker, ist er krank, dieser Mensch?«

Er schüttelt den Kopf. »Krank? Warum krank?«

»Parker, er wird bald sterben. Der Tod steht ihm zu.«

Er will lachen und bringt es nicht recht fertig. Ein eigentümliches Wort: »Der Tod steht ihm zu!« Ob sie etwa hellsichtig sei?

»O nein . . . aber doch, vielleicht, neuerdings . . . nein, nein, es ist nichts als eine Marotte.«

Sie stehen verlegen. Dann beginnt er wieder seine Ermahnungen. Sie kommen jetzt zur Prüfung der hohen Tourenzahlen . . . kein Ingenieur und kein Gott könne für einen Materialfehler im Stahl bürgen . . . das Getriebe müsse überlastet werden mit der zehnfachen Höchstgeschwindigkeit . . . dreißigtausend Atmosphären, die dann auf jedem Quadratzentimeter lasteten . . . nein, sie könne nicht länger hier bleiben, nicht jetzt, nur zehn Minuten lang . . .

41 Sie setzt es schließlich durch, daß sie von oben, von der Galerie her, wo sie einigermaßen sicher ist, zusehen darf. Ihr ist urplötzlich unbehaglich zumute. Sie hat keine Furcht, beileibe nicht, sie fühlt nur, seit sie den Menschen vorhin wiedergesehen hat, ein unbestimmtes Grauen. Sie sieht, wie er nach vorn kommt und die Prüfung unten beginnt. Die stumme Maschine beginnt wieder zu singen, höher, immer höher, sie kann von oben den Tourenzähler klettern sehen.

Parker ruft lachend ein paar gut gelaunte Worte herauf . . . ausgezeichnet, das Differential da drinnen, Stahl eigenster Synthese, jawohl . . . Die beiden sind um den summenden Brummkreisel wie Priester um ein Götzenbild beschäftigt. Nun ist der blaublusige Mensch wieder am Steuerrad . . . er legt die Hände auf . . . er hat weiche, teigige Leichenfinger . . . pfui, das ist widerlich . . . eine lächerliche Marotte . . . so, nun pfeifen hunderttausend Teufel dort unten, die ganze, tief in die Erde gesenkte Betonkasematte beginnt zu zittern.

Weshalb muß sie selbst zittern . . . weshalb? Es ist doch alles in Ordnung . . . zuverlässigster Stahl eigenster Synthese . . . Parkers Geheimnis, auf Bruchfestigkeit geprüft? Unten sind sie nun schon bei der Kupplung des Dynamos . . . eine Formsache nur noch . . . Ja, warum läuft sie plötzlich die Treppe hinab, über die weißen Fliesen, auf die Männer zu? Sie weiß nicht, was sie tut . . . irgendwo ist hier etwas Entsetzliches . . . der Tod . . . irgendwo hier . . . ein Gesicht ohne Augen in den Lichtreflexen des Nickels . . . da . . . da . . .

Und da eben, als sie die beiden ruhig arbeitenden Männer erreicht hat, kreischt es plötzlich auf in das helle Singen der Maschine, kracht in reißendem Bersten, pfeift an ihr vorüber, streift ihr Haar, . . . eine Staubwolke, die von oben niederstürzt . . . dort über ihr ist 42 es in die Decke gefahren. Sie steht einen Sekundenbruchteil starr: die Maschine singt ruhig ihr Lied weiter. Von den beiden Männern aber steht nur noch Parker aufrecht: der andere liegt auf dem Rücken, sucht mit den wahnsinnig arbeitenden Fingern auf dem Fliesenboden, will sie einkrampfen, hat auf dem dicken Leib einen handgroßen Blutfleck, der gierig um sich frißt.

Da ist Parker bei der Steuerung, die Turbine steht, die berühmte Turbine ist unverletzt. Ein Riß an den Kupplungsbolzen nur: zwei daumengroße Stahlsplitter . . . einer für sie, und der hat sie gestreift und ist in die Decke gefahren. Einer für Nick Pound mit seinen fünf Kindern . . . der sitzt in dem Bauch des Menschen da und hat ihm den Unterleib zerrissen, daß die Eingeweide sich durch das zerfetzte Gewebe drängen.

Aber sie ist ganz ruhig jetzt. Draußen schrillen Glocken, Menschen kommen den Gang entlang gelaufen. Sie beugt sich über Nick Pound, ihr Gesicht ist voller stummer Neugierde. Eine weißgeärmelte Hand faßt neben ihr nach dem Arm des Sterbenden, eine Morphiumspritze klirrt leise, kein Mensch spricht . . . So ist es gut . . . nun werden die Finger an der Hand, die armen, weißen Finger ruhig . . . das Gesicht wird ganz grau . . . das Leben versinkt.

Dann hört sie Parkers ruhige Stimme: »Muß Violet das alles sehen?«

Sie sieht ihm geradeaus ins Gesicht: »Ja, Parker, alles sehen, das Leben, Parker, und auch den Tod.«

Und sie begleiten den Zug durch den Gang. Der Totenwagen wartet. Der Weg ist kurz in Amerika von der Arbeit zur Morgue. –

In seinem Arbeitszimmer oben läuft sie auf und ab zwischen puritanischen Bureaumöbeln und den Elastizitätstabellen an der Wand. Das Fenster führt 43 hinaus zu einem trostlosen Lichtschacht, die Mauer gegenüber ist zwölf Fuß nur entfernt; in den Schacht drückt der Wind braunen Qualm nieder, man kann drüben hinter trüben Fenstern an endlosen Tischen anämische Mädchen verrostete Schrauben ordnen sehen. Sie lacht unvermittelt auf: »Ein schönes Leben in Ihren Höhlen hier. Wollen Sie mir sagen, wo der nächste Grashalm zu finden ist, den Sie noch am Leben gelassen haben, Parker?«

Er sieht sie ruhig an: »Das ist Amerika.«

Da blitzt sie einen blauen Blick zurück: »Ja, Parker, Amerika! Fortschritt . . . Baiseball am Sonntag . . . Aspirintabletten für die Mädchen da, wenn sie krank werden, und dann wieder Arbeit, Fortschritt und Altersversorgung, alles genau vorausberechnet, wie ihre Maschine da unten. Und ein Splitter, der ihre Differentialrechnungen zerfetzt, und ein Weib, das Ihnen das voraussagt . . .«

Er sieht trübselig zu Boden: »Sie haben es gewußt. Weshalb haben Sie es gewußt?«

»Weil ich ein Weib bin, Parker, und ein Weib mehr sieht, als in Ihren Tabellen dort steht.«

Er raucht gleichmütig seine Zigarette. Er versteht davon nichts. Er tut seine Arbeit . . . bitte sehr, kein Staatsanwalt wird den Vorfall da unten beanstanden, die Prüfung geht weiter, wenn Nick Pound nachher ersetzt ist. Er hat allenfalls dafür zu sorgen, daß sich Violet Tarquanson von dem Zwischenfall erholen kann. Aber als er sich umdreht, ist sie verschwunden. –

Vorn in der Pförtnerloge gibt man ihr Auskunft, wohin man Nick Pound geschafft hat: Calvary Cemetery, East, achte Halle. Sie dankt und fährt davon.

Als sie angelangt ist, schickt sie den Wagen fort. Sie meidet das große Portal mit den beiden Steinsphinxen, sie schleicht sich durch eine unscheinbare Hinterpforte zu den Toten. Das Feld, das sie dann 44 betritt, baumlos fast und gänzlich öde, ist das Feld der Namenlosen. Die Hügel dehnen sich unter dem Nebel, der plötzlich gefallen ist, unabsehbar ins unendliche Grau, schmucklos in den Sand der einstigen Hudsondüne gewühlt, zu unendlichen, numerierten Kolonnen aufmarschiert, Abfallprodukte der großen häßlichen Stadt.

Sie bleibt, als sie mitten durch die Reihen geht, vor einem ganz frisch zugeschütteten Grabe stehen; von dem Vorbesitzer, den man seine sieben vorgeschriebenen Jahre hat schlafen lassen, ist noch ein brauner Wirbelknochen im Sande zu finden. Ein uniformierter Mensch patroulliert auf und ab in dem feuchten Grau, sie will plötzlich wissen, wen man hier neulich begraben hat. Der Mann zieht ein Buch vor, sucht, findet, sieht sie mißtrauisch an, erkennt Violet Tarquanson, zieht die Mütze, gibt ihr die Auskunft, daß man hier eine unbekannte Frau begraben habe, die bei Hell Gate aus dem Wasser gezogen sei. Sie dankt, bricht von der einsamen Krüppelkiefer einen Zweig, legt ihn auf das Grab und geht. Der Mann grüßt wieder, schüttelt den Kopf, sieht ihr nach, als sie ihre elegante Morgentoilette durch den feuchten Sand schleift.

Sie geht geraden Weges zu auf die große romanische Halle. Häßliche Steinmassen türmen sich und das Lamm Gottes ist allenthalben in Goldmosaik auf dunkelblauem Grund zu sehen. Und da steht ein goldbetreßter Portier, der die Halle bewacht und wahr und wahrhaftig Metalltränen aus echtem Silber auf dem Rock trägt und so aussieht, als würde er gleich sagen, wer diese Halle gestiftet und wieviel Millionen sie gekostet hat. Sie will aber nur wissen, ob Nick Pound schon da ist, und er macht ein hochmütiges Gesicht und erkennt sie dann ebenfalls – wie sollte er Violet Tarquanson nicht erkennen – und holt einen Menschen herbei. Ja, Nick Pound ist bereits 45 eingetroffen, und man gibt ihr einen Führer mit, um ihr Nick Pound zu zeigen.

Unter der Kuppel, die sie passieren, stehen Leidtragende um einen phantastisch-häßlichen Sarg, ein silberbronzierter Engel kniet auf dem Deckel, ein Meßner mit einem Lustmördergesicht trägt ein Kreuz, ein Priester kommt in Geschwindschritt, er hat noch zweiundzwanzig Menschen unter die Erde zu schaffen an diesem Tage. Man kann durch das Fenster die Essen des Krematoriums leicht qualmen sehen in unentwegtem Großbetrieb, und hinten wartet schon der nächste Leichenkondukt auf die Erledigung des ersten, und über allem breitet – eine groteske Gotteslästerung – in abscheulichem Barock ein mächtiger Holzkruzifixus die Arme. I am the life and the resurrection...

Dann aber, in dem engen Gang hinter der Halle, schlägt ihr der unabänderliche Duft verwesender Leichname entgegen. Nick Pound ist als Ire ein Sohn der römischen Kirche gewesen, und hier wie in Rom stellt die Kirche ihre Toten vor die Lebenden und hat ihre in Jahrhunderten erprobten Absichten dabei. Da liegen sie hinter großen Spiegelscheiben in ihren Särgen zwischen Blattpflanzen, die man auch in den Schaufenstern von Metzgerläden sieht, hochgekurbelt durch einen sinnreichen Mechanismus, daß man ihnen ins Antlitz sehen muß. Da sind alte, vom Magenkrebs zerfressene Spittlerinnen und blutjunge Hafenarbeiter, und eine diskrete Binde verhüllt ihnen die Todeswunde, von der gestern in der Unfallchronik der »World« die Rede war in geziemender Kürze. Junge Weiber, die gestern noch in den Schaubuden von Coney Island mit dem Kautschukball für zehn Cent nach einem Negergesicht geworfen haben, bäumen sich auf gegen den jachen Tod und wollen noch nicht an ihn glauben, und die beiden italienischen Auswandererkinder, die auf Long Island gestorben 46 sind, berufen sich vergebens darauf, daß noch die Bräune der apulischen Sonne auf ihrem Gesicht ist, und zufrieden scheinende, von ihren Sterbekassen ausgestattete Kleinbürger falten die Hände über einem nutzlosen Bauch und einem billigen Rosenkranz.

Und da ist auch Nick Pound und er ist – auch Calvary Cemetery arbeitet schnell – nun schon sauber hergerichtet in seinem Totenhemd und hat es schon ganz und gar vergessen, daß er sich noch vor zwei Stunden lebhaft dafür interessierte, ob Parkers Turbine 80 oder 100 Sekundenumdrehungen gemacht hat. Er ist nun gar nicht mehr behäbig, er ist urplötzlich zu einer kleinen Puppe zusammengeschrumpft, er sieht nun wirklich so marionettenhaft und wächsern aus, wie sie ihn am Morgen gesehen hat, als er noch lebte.

Und wie sie ihn da so liegen sieht, den armen Sklaven, gar nicht mehr teilhaftig des großen Narrentanzes da draußen und versunken in einen bodenlosen Abgrund – da fühlt sie zum erstenmal in ihrem Leben die grenzenlose Ueberlegenheit, die unausweichliche Tatsache des Todes und fühlt plötzlich, daß sie dem allen nicht gewachsen ist, und dreht sich auf den Hacken und läuft davon.

Und wieder beginnt sie das rastlose Wandern der letzten Tage. Sie geht instinktiv westwärts, sie streift die Peripherie des Niggerviertels, sieht einmal den oberen Hudson aufblitzen, verliert die Richtung, kommt in ein armseliges, von russischen Juden bewohntes Viertel und verliert sich schließlich in dem gewaltigen Weichbild der Viermillionenstadt. Eisenbahnarbeiter kommen von der Schicht, blicken der eleganten Frau in dem derangierten Kleid nach. Sie wendet sich wieder, kommt an einem Golfplatz vorbei, steht wieder in einer unvermittelt aus unbebautem Land aufgestiegenen Insel gleichförmiger 47 Häuser, fühlt sich grenzenlos erschöpft und steht plötzlich in einem der alle Freuden des Paradieses verheißenden Salons.

Gewiß, New York ist gefährlich hier. In New York, wo alles sich auf eine unromantische Note einstellt, sind die Viertel, für die die Kriminalpolizei sich mit Recht interessiert, weder verfallen noch ärmlich, und die Menschen, die hier aus- und eingehen, unauffällig und beinahe korrekt. Die Kneipe, die sie betritt, ist beinahe spießerhaft: ein Wirt, der, den Hut auf dem Kopf, mit hemdärmeligen deutschen Kellnern spricht, die obszönen Synkopen einer Niggermusik, nach der in der Mitte vier bildschöne, stirnlockige Burschen tanzen . . . ein paar kleine Löcher in den Spiegeln mit den ebenso ominösen sternförmigen Rissen ringsum, im übrigen aber scheinbar teilnahmlose, gleichgültige Menschen mit amerikanischen Einheitsgesichtern. Ein paar verkrachte europäische Offiziere und flüchtige Advokaten im Uebergangsstadium zum unterirdischen New York, ein paar, jedermann bekannte Detektive, die hier ohne weiteres geduldet werden . . . alles unter vulkanischen Rauchwolken an den Tischen gerekelt. Daß die Spuren des berühmten, bald nach dem Weltkriege erfolgten Attentates auf das Morgan-Haus, daß die ewig ungeklärte Mordaffäre Becker zu dem unscheinbaren Publikum dieses Raumes führt, ahnt sie nicht.

Sie wird absolut nicht beachtet. Der Wirt stellt wortlos eines jener »Schoner« genannten Biergläser vor sie hin, die wie auf Glasstiele gesetzte Goldfischbassins aussehen . . . ein ganzes Aquarium voller Fünfcentbier . . . man müßte die ganze elegante Violet Tarquanson inwendig aushöhlen, um diesen Ozean unterzubringen. Sie lacht glücklich wie ein Kind, sie hat Nick Pound und den Tod vergessen bis auf weiteres, sie bekommt für 20 Cent ein halbes gepökeltes Rind vorgesetzt; Hinky Dink, der 48 Athletenveteran, erscheint im Lokal und er setzt mit Recht voraus, daß man ihn kennt, er setzt sich, ein riesiger Fleischturm, an ihren Tisch, er trinkt wortlos ihr Glas leer, er entblößt in gemessenen Abständen, ohne ein Wort zu verlieren, einen Arm und reicht ihn zum allseitigen Bewundern herum: ja . . . so stark ist Hinky Dink noch heute! Bis er, ein besoffener Riese, bei einem sentimentalen Song der Musik mit tränendem Auge unter den Tisch fällt und schluchzend vor Ergriffenheit die Melodie mitgrölt.

Und nun . . . vielleicht ist es nur ein Rauchring gewesen, dessen Wandern durch die heiße Luft sie mit den Augen gefolgt ist . . . vielleicht ist es ein überlautes Lachen aus dem Nebenraum: in jedem Falle geschieht es, daß ihr Blick in eben diesen Nebenraum fällt und daß sie dort, mitten unter rauchenden, schwatzenden, pokernden Menschen, plötzlich den Mann erkennt, der vor soundso viel Wochen bei Flatbush Station ihren Arm liebkost hat.

Das dauert nur eine Sekunde – – der dicke Qualm legt sich gleich darauf zwischen sie und diesen Raum, ein baumlanger Nigger steht auf und man kann nichts mehr sehen. Vielleicht war es auch eine Täuschung . . . was hat schließlich der elegante Exot in dieser unterirdischen Kneipe zu suchen? Aber wenn sie damit ihrem Leben auch ein Jahr hinzufügen würde – – um keinen Preis würde sie dort hineingehen und sich vergewissern! Sie ist so tödlich erschrocken, daß sie nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken kann. Dann springt sie auf, wirft den ersten besten Schein auf den Tisch und stürzt hinaus.

Daß unmittelbar hinter ihr die Tür geht und daß ein Mensch ihr nachschleicht, merkt sie zunächst nicht. Erst, als sie ein beträchtliches Stück gelaufen ist und von fern den Fluß wieder sieht, der sie von den Villen 49 Riversides, von der guten amerikanischen Sicherheit trennt, erst da hört sie diese Schritte hinter sich. Sie wagt nicht einmal, sich umzublicken . . . nein . . . nein . . . nur nicht diesem Blick, diesem plötzlich aus der Vergessenheit aufgetauchten Antlitz von neuem begegnen müssen, auch von fern nicht!

Die Straße vor ihr dehnt sich endlos, fast menschenleer zwischen zwei riesigen Steinkasten. In hirnloser Angst vor dem Verfolger biegt sie in die erste beste Seitengasse. Diese Gasse ist kurz, sie besteht eigentlich nur aus einem einzigen Haus an jeder Seite; was dahinter kommt, ist ein Rasenweg mit unendlich langen niedrigen Magazinen, mit Lattenzäunen und den Gattern unbenützter Golfplätze zu beiden Seiten. Sie tut nicht gut, hier zu gehen: die Zahl derer, die in dem riesigen New York in einem einzigen Jahre spurlos verschwinden, übertrifft erheblich die Toten des Burenkrieges, und gut die Hälfte findet man hinterher als kümmerliche Menschenreste nach Jahren in solchen lange nicht geöffneten Reservespeichern, in den Ankleidekabinen unbenutzter Sportplätze wieder, wenn die Toten von den Lebenden längst vergessen sind.

Sie fühlt auch instinktiv, daß hier Uebles schon geschehen ist und noch geschehen kann. Gleichwohl treibt sie die namenlose Angst . . . nicht vor dem Tode, auch nicht vor einer bestimmten Gewalttat . . . nein, nur die Furcht vor dem Schicksal, das sie hinter sich wittert, just hierher. Sie ist erschöpft, sie kann nicht mehr laufen. Sie verfällt in Schritt, bleibt lauschend stehen, läuft wieder, erreicht schließlich die Ecke dieses endlosen Magazines und läuft, um diese Ecke biegend, geradeswegs einem dort stehenden Menschen in die Arme.

Das geschieht so rasch, daß sie zunächst nicht zur Besinnung kommt. Es ist kein Strolch . . . beileibe nicht . . . wer wird zerlumpt einhergehen unter 50 Gentlemen? Aber er breitet, als er die für diese Gegend unwahrscheinlich elegante Dame auf sich zukommen sieht, einfach die Arme aus: guten Tag . . . schönes Wetter heute . . . angenehme Gegend hier, nicht wahr?

Es soll gar nicht gesagt werden, daß diese Begegnung notwendigerweise mit einem Raubmorde oder irgendeinem anderen schweren Delikt geendet hätte, durchaus nicht; vielleicht wäre es mit ein paar Banknoten abgetan gewesen, vielleicht hat es sich auch nur um einen der in diesen Schuppen und verlassenen Gartenhäusern wohnenden, mit dem Wirtschaftssystem New Yorks unzufriedenen Naturphilosophen gehandelt, der sich mit dem Schreck dieser Frau begnügt und ihr hinterher den Weg zur nächsten Hudsonfähre gezeigt hätte.

Aber da er sie festhält und da sie mit ihrem Humor und ihrer Kaltblütigkeit das Wertvollste verloren hat, was sich in New York unter den gegebenen Umständen verlieren läßt, so schlägt sie mit ihren Fäusten um sich. Der Mensch da knurrt auf: so verkehrt man nicht unter Gentlemen! Er hebt die Hand, es gibt ein kurzes Ringen, bei dem sie sofort hier, in einer wenig empfehlenswerten und von Menschen wenig betretenen Gegend des Brooklyner Weichbildes am Boden, zu Füßen eines wildfremden Menschen liegt.

Daß sie eigentlich vor einem ganz anderen geflohen ist, hat sie in diesem Augenblick ganz und gar vergessen. Sie starrt fassungslos dieses Ungeheuer da an: ein Riesenkerl, ein Herkules mit zu klein geratenem Schädel . . . der ganze Mensch sieht wie ein großer, runder Ofen aus, auf den man einen Apfel gelegt hat. Sie hört ein paar Worte in einem fremden, gutturalen Idiom, der Koloß beugt sich über sie, sieht sich dieses fremde, hierher verflatterte Wesen 51 zunächst einmal in aller Ruhe an. Aber wie sie entsetzt in dieses pockennarbige Gesicht sieht und diesen unangenehmen Atem spürt, da geschieht es plötzlich, daß Schritte, dieselben Schritte, die sie hierher verfolgt haben, zu hören sind . . . hier, ganz nahe. Und plötzlich – – sie kann nicht sehen, wie das eigentlich geschieht, wird der Mensch da hochgerissen von einer unbekannten Hand und zur Seite geschleudert. Sie ist frei, sie kann sich aufrichten. Sie ist halb betäubt, sie weiß noch immer nicht recht, wie sie eigentlich hierher gekommen ist: dieses hier ist ein morscher Bretterzaun . . . ganz weit sind die Riesenkräne der Werften sichtbar . . . ein Zug Stare fliegt über den Platz . . . Ja, dort haben sich zwei wütende Mannsbilder am Boden verknäuelt und raufen erbittert um das Weib.

Sie kann nicht sehen, wer dieser mysteriöse Retter eigentlich ist, sie hat nicht einmal Zeit, an ein Entwischen zu denken. Dort vor ihr rauft man mit Faustschlägen und verhaltenem Fluchen und Stöhnen nur eine ganz kurze Weile; dann liegt der Mensch, der sie hier festgehalten hat, auf dem Boden, der Unbekannte kniet auf ihm, ein Schlag ist zu hören, unter dem der zu klein geratene Schädel wie eine Melone aufschwillt . . . der Besiegte wird freigegeben und zieht es vor, sich sehr rasch über den Bretterzaun davonzumachen. Als Sieger in diesem Kampf steht vor ihr so selbstverständlich, als hätte ein Gott ihn da hingestellt, nicht in einem untadeligen europäischen Straßenanzug, sondern so blutig und ölbefleckt, als käme er direkt aus den Marinedocks bei Navy Point – der Earl of Hensbarrow.

Das Weitere entwickelt sich dann ganz selbstverständlich: er beugt sich – er hat trotz der gelben Haut die langen Bewegungen des Angelsachsen – über ihre Hand, als stünden sie in ihrem Empfangszimmer in Blythebourne. Ja, er bedauert aufrichtig diese ganze Episode, er hat sie an einem Ort bemerkt, 52 der ihm für Violet Tarquanson ungeeignet erschienen ist, er ist ihr nachgegangen und freut sich, zur Zeit gekommen zu sein. Damit hat er ihren Arm genommen und setzt sich ohne weiteres mit ihr in Bewegung.

Sie sieht von der Seite an dem gigantischen Menschen empor, sie nimmt sich zusammen und fragt leichthin, woher er ihren Namen kenne.

Statt aller Antwort lächelt er, ganz abscheulich wie ein greulicher Riese lächelt der furchtbare Mensch; er zieht ihren Arm dicht an seinen Leib, es ist dieselbe obszöne und zärtliche Liebkosung, mit der er sie vor Wochen bei Flathbush Station berührt hat.

Sie wagt nicht mehr, ihn anzureden, sie wagt auch nicht, den Arm aus dem seinen zu ziehen. Sie biegen nicht nach der Straße ab, sie wandern über nie befahrene Graswege zwischen Schuttplätzen und den Ruinen einer verfallenen Ziegelei auf die Stadt zu. Sie ist ganz in seiner Hand hier. Sie sieht ihn von der Seite an: Wo willst du Schrecklicher hin mit Violet Tarquanson? Warum bist du vermummt? Weshalb verbirgst du dich hier, wo du nicht hingehörst? Weshalb schleichst du mir nach, weshalb belauerst du meine Wege? Weshalb bist du stumm, wo ich doch tausend Fragen an dich zu richten habe? Nein, nein . . . nicht fragen, nur deinem Blick nicht mehr begegnen, Schrecklicher . . .

Er schweigt wirklich den ganzen langen Weg. Die gelbe, wohlgepflegte und nun künstlich mit Oel und Maschinenstaub verschmutzte Hand liegt unbeweglich auf ihrem Arm. Keine Erklärung über seine merkwürdige Vermummung, kein Wort von dem, was ihn in diese Gegend geführt hat. Er liefert sie ab, ehe die Vorstadt wieder beginnt. Dort, zweihundert Schritte vor ihnen warten vor dem Varieté »Mirabella« Wagen mit schwatzenden Führern, sie ist in 53 Sicherheit hier. Damit will er gehen. Er hat wohl seine Gründe, sich in diesem Anzug nicht gerade an der Seite einer in New York bekannten Dame zu zeigen.

Als er stillsteht, heuchelt sie noch einmal Gleichmut und Leichtigkeit und dankt ihm und spricht die Hoffnung aus, ihm diesen Dank noch einmal bei sich, in ihrem Hause in Blythebourne sagen zu können.

Er sagt ganz einfach: »Ich werde kommen«, und neigt dazu statuenhaft und ganz greulich den Kopf, genau so wie das Standbild des Komturs, wenn es Don Juan auf dem nächtlichen Friedhofe sein Erscheinen beim Gastmahl zusagt. Da faßt sie wieder das helle Entsetzen und sie läuft ohne Rücksicht auf die Straße in atemlosem Jagen auf die Menschen dort bei den Wagen zu und läßt sich halb von Sinnen vor Angst nach Hause fahren.

*


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