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Neunzehntes Kapitel

»Lieber Theodor!

Ich danke Dir für Deinen letzten Brief und hätte Dir schon längst wieder geschrieben, wenn nicht so viele Umstände vorhanden wären, die mich daran gehindert haben. Es ist zu kurz vor Weihnachten, und der Papa paßt einem um diese Jahreszeit mehr wie sonst auf die Finger, und Du hättest auch seit Deinem Abgang von der Schule wenigstens einmal in den Ferien nach Hause kommen können, dann brauchten wir uns gar nicht zu schreiben. Und eigentlich weiß ich auch gar nicht recht mehr, ob es sich noch recht schickt, daß wir noch so auf dem Brieffuße miteinander stehen, da ich doch nun auch schon im Mai fünfzehn geworden bin, wozu Du mir auch einen wirklich netten Brief geschrieben hast, was aber ein schreckliches Alter ist, worüber nur der Papa immer noch lacht, aber die Tante Philippine durchaus nicht. Die Tante Philippine ist ja, wie Du weißt, in ihrer Jugend Gouvernante in den vornehmsten Kreisen draußen bei Euch in der Welt gewesen und hat Dich leider immer gehaßt, und ich möchte wirklich wohl wissen, weshalb und was Du ihr eigentlich zuleide getan hast. Ich habe zwar gesagt: ›Der Papa findet nichts darin, Tantchen!‹ Aber sie hat gesagt: ›Puh, der Papa! Komm mir in diesen Dingen nicht mit Deinem Papa, Kind; denn das möchte ich wohl erfahren, wo der was drin fände, wenn es sich um Schicklichkeit und Anstandsgefühle und die notwendigste Höflichkeit in betreff unserer handelt!‹ Das kommt aber bloß daher, weil er, wie Du weißt, immer lateinisch spricht und zitiert, wenn sie zu Besuch kommt, und weil sie meint, er mokiere sich fortwährend über sie.

Aber wie dumm, daß ich Dir hier von der Tante Stukenberg schreibe, da ich doch schon so wenig Zeit habe wegen meiner andern Weihnachtsarbeiten. Denn ich bin grade heute so kindisch, wie sie sagt, und so lustig und so vergnügt, und wahrscheinlich, weil ich eigentlich gar nicht weiß warum. Daß es jetzt in Ilmenthal regnet, ist es nicht, und daß in ein paar Tagen der Heilige Abend ist, ist es wohl mit, aber nicht ganz, und daß der Papa so schlau und gut und heimtückisch umgeht im Hause und mit den Augen zwinkert und mich am Ohr zupft und sagt: ›Nicht durchs Schlüsselloch gucken!‹ ist es auch nicht allein. Alles zusammen ist's! Und noch Unzähliges dazu; und es gibt doch nichts Schöneres und Lächerlicheres, als in der Welt und hier in Ilmenthal zu sein und aus jedem Fenster was anderes zu sehen und über alles zu lachen! Die Tante Philippine sagt: Es ist zu dumm, über alles zu lachen! Und manchmal mache ich mir wirklich auch rechte Vorwürfe und nehme mir fest vor, es nicht wieder zu tun; aber dann kann ich im nächsten Augenblick doch wieder nichts dafür. Aber wahrhaftig, zu dumm ist es, daß Du, wie der Bruseberger sagt, auch zu Weihnachten nicht nach Hause kommen kannst oder willst. Es war doch zu nett sonst. Dir putzte der Bruseberger und die Mutter Schubach den Baum an und mir mein Papa, aber wir besahen uns doch gegenseitig; und eigentlich der rechte Spaß ging erst an, wenn ich Dich auf der Treppe hörte, denn Tausendkünstler seid Ihr immer gewesen, Du und der Bruseberger, und ich habe noch alle die schönen Sachen und Dinger, die Ihr mir zu jedem Heiligen Christ erfunden und gepappt und gekleistert habt, und ich habe nie mit meiner Nadel und meinem Stickrahmen dagegen ankommen können. Ach, nun ist es, als seien hundert Jahre seitdem vergangen, und wer weiß, was sich demnächst auch nicht mehr schicken wird, nämlich daß ich Dir diesmal – – – o Gott, da war ich doch wirklich zu dumm! Aber Du brauchst doch nicht zu lachen, weil ich keine Zeit habe, um einen neuen Brief anzufangen, und mir nur mit der Dinte und einem Krickelkrackelkrusel über die letzte Reihe und meine Dummheit geholfen habe. Himmel, wenn hierbei die Tante Stukenberg mich ertappt hätte! Da hat es die schöne Frau Tieffenbacher in Deinem alten Vaterhause viel besser. Die macht sich aus nichts was und läßt alle Leute und auch die Tante Philippine reden. Sie tun da rund um mich her, als ob sie krank wäre und jedermann mit ihrer Krankheit ansteckte. Und sie sprechen hinter der Hand von ihr, und wenn ich dabei bin, wie neulich bei der Tante Philippine, machen sie dumme Redensarten, als ob man sich meinetwegen besonders in acht zu nehmen hätte und nicht schon zu Deiner Zeit oft die Rede davon gewesen wäre. Dein älterer Bruder ist auch immer noch sehr lustig; aber wir kommen nicht viel mehr mit ihm zusammen, und neulich ist er schrecklich grob gegen den Bruseberger geworden, und der Bruseberger ist zu meinem Papa gekommen, und ich habe meinen Papa auf und ab laufen hören, und als ich ihn gefragt habe, was denn passiert sei, hat er mich verstört angesehen, als ob er's wohl gewußt, aber vor großem Erschrecken gleich wieder vergessen habe. Zum Glück ist grade in diesem Augenblicke der Herr Kriegszahlmeister zum Besuche gekommen mit einem Kasten, den er übers Meer geschickt gekriegt hat, voll lauter Naturgeschichte. Da haben sie denn in meiner Gegenwart und vor meinen Augen alle beide die Köpfe darüber so rasch zusammengebracht, daß sie sich tüchtig an die Stirnen gestoßen haben; aber abgesehen davon, daß sie sie sich unbewußtlos fünf Minuten lang rieben, haben sie vor Eifer wohl wenig davon bemerkt. O, sie sind jetzt noch mehr wie zwei Brüder miteinander, und nach Dir erkundigt sich der Herr Kriegszahlmeister sehr teilnehmend, und gegen mich ist er ganz reizend und gut, und augenblicklich tut er sehr geheimnisvoll über etwas, das für mich sonst noch über den Ozean zum Heiligen Christ in der letzten Kiste mitgekommen sei, und ich bin natürlich sehr gespannt, wie Du Dir wohl denken kannst. Wie schön wäre es, wenn Du am Heiligen Abend mit dabei wärest und die Frau Romana bloß ein bißchen lieber wäre und sie sie zufrieden lassen könnten in der Stadt.

Weißt Du noch, wie wir sonst schon im Sommer unsere Christbäume im Walde, während der Papa was anderes suchte, uns aussuchten? Hast es wohl gänzlich vergessen bei Deinem jetzigen gelehrten Jus und unmenschlichen Fleiß (?) und so weit weg in Leipzig. Es war aber doch zu hübsch, in der Waldrosenzeit herumzulaufen und zu schreien: ›Nein, hier ist noch ein hübscherer, das soll meiner sein!‹ Wie es Dir roch, weiß ich nicht, mir roch's durch allen Thymian und alle Veilchen und alles Jelängerjelieber im Dickicht nach Wachslichtern. Herr Tieffenbacher hat zu seinem Unglück jetzt fast immer den Rheumatismus, sonst wäre der im Sommer vielleicht der einzige gewesen, der auch einen Sinn dafür gehabt hätte und mir, wie sonst Du, hätte suchen helfen können. Euer Leipzig liegt ja wohl ganz wie auf dem Präsentierteller im platten Lande? Wovon ich mir gar keine Vorstellung machen kann, weil ich mit dem Papa und Dir hier in den Bergen aufgezogen bin. Und in der Geographie habe ich immer meine schwache Seite gehabt, wenn ich auch ganz sicher erfahren habe, daß mich Dein Freund Buttermann wieder einmal das lateinische Minchen genannt hat. Wahrscheinlich aus Rache an meinem armen Papa, weil er das Latein jetzt lieber doch ganz aufgeben will und in seines Vaters Materialwarengeschäft treten, da er zu Michaelis wieder nicht durchgekommen ist! Ich schenke es ihm aber ganz sicher nicht! Was kann ich denn dazu, daß ich eigentlich immer wenig Mädchenumgang gehabt habe und mit dem Papa und Euch auf die gelehrten Wissenschaften angewiesen war?

In Leipzig scheint wohl immer die Sonne? Hier hängen heute auf allen Seiten die Nebel an den Bergen, und alles ist grau. Und die englische Familie, die uns seit dem Sommer an der Ilme gegenüber wohnt, was sonst die Bullenkuhle hieß, aber jetzt viel hübscher die Esplanade, und welche die sechs Töchter hat wie die Orgelpfeifen, geht glücklicherweise jetzt eben grade in einer langen Reihe spazieren. Sie tragen sich alle gleich, die sechs Mädchen – graue Jacke mit Pelz, dunkelblaue Röcke und rote Strümpfe und ponceau Taubenflügel auf dem Barett –, und sind heute das einzige Bunte in unserer ländlichen Landschaft. Und sie haben alle den Schnupfen trotz unseres gesunden Klimas. Die Krähen sind auch schon da und – – o Theodor, welch ein Unglück! Der alte Herr Tieffenbacher ist beim Papa im Nebenzimmer und weint!!! Die Tür ist zwar zu, aber er weint!!! Ich horche ganz gewiß nicht, aber ich höre Ihn ganz genau weinen, und es ist schrecklich, denn ich habe noch nie einen Mann weinen hören: meine Mutter ist mir ja so früh gestorben, daß ich von dem Papa dabei nichts weiß. O Gott, und da kommt auch schon die Tante Philippine ganz eilig an der Ilme herunter; ich kann jetzt nicht weiterschreiben.

 

Nachmittags und abends.

Mir zittern noch immer alle Glieder. Da ganz Ilmenthal es weiß, tue ich keine Sünde, wenn ich es auch Dir melde. Die Frau Romana ist vorige Nacht entführt worden, o Theodor, und Dein Bruder Alexander hat sie entführt! O, und nun ist es doch ganz anders, als wenn man so was bloß liest und gedruckt sieht und sich selbst in das Verhältnis und Schreckliche und Romantische hineinversetzt. Und der Papa hat heute morgen bloß den Kopf in die Tür gesteckt mit einem Gesicht wie Jüngstes Gericht und großes Examen und gesagt mit einem Ton wie noch nie: ›Kind, ich gehe mal aus! Du bleibst zu Hause! Du tust mir keinen Schritt aus dem Hause!‹ – O Gott, grade als ob auch ich auf der Stelle böse Absichten hätte und mir die Glieder noch nicht genug bebten!!! O Gott, als ob ich jetzt die geringste Lust dazu hätte. Die Tante Stukenberg hat gleich mit dem Papa sprechen wollen, aber er hat diesmal gar keine Zeit und keinen alten Klassiker für sie übrig gehabt; und da ist sie denn natürlich zu mir gekommen und hat mich bloß angesehen, und bis an meinen Tod kann ich den Blick nicht vergessen. Aber Zeit hat sie gottlob heute nicht zum Bleiben gehabt, und wir haben zwei Stunden später gegessen, und der Papa eigentlich gar nicht.

Wer konnte an einem solchen Tage auch Appetit haben? Diese Angst! Und auch um Dich, Theodor; denn im letzten Grunde gehörst Du doch auch mit dazu, und eben schlägt es vier Uhr, und eben kommt der Bruseberger von Euerer Seite her über die Ilmebrücke und trifft wieder auf meinen Papa, und sie kehren miteinander um und gehen wahrscheinlich jetzt wieder zum Herrn Kriegszahlmeister. Alle Leute sehen ihnen nach, und jetzt erzählt unsere Jungfer: der Herr Kriegszahlmeister hat schon überall hintelegraphieren lassen, denn seit diesem Sommer kann man das schon von Ilmenthal aus, und auch dies ist so schrecklich und merkwürdig, denn in den bisherigen Märchenbüchern und Entführungsgeschichten war noch gar nicht darauf gerechnet, und es waren auch gewöhnlich lauter Prinzessinnen und Königssöhne oder Zauberer.

O Theodor, daß es auch diesmal grade Dein Bruder sein muß!!!! Und der liebe alte Herr Tieffenbacher! – Von der Frau Romana spreche ich gar nicht mehr; von der ist es einfach zu schlecht! Ich habe sie auch nie gern gemocht; das brauche ich jetzt nicht mehr zu verschweigen. Ich habe mir lange genug auf unsern Spaziergängen und wissenschaftlichen Exkursionen Vorwürfe darüber gemacht, daß ich sie immer weniger mochte und sie mich von Anfang an gar nicht. Gewissensbisse brauche ich mir nun nicht mehr zu machen, aber dafür bringt sie mich jetzt zum Weinen, und das ist eigentlich doch noch schlimmer. Das ganze Weihnachtsfest ist jetzt ganz verdorben; denn dies verwindet keiner von uns bis dahin, wie ich den Papa kenne, und weil er immer Deinen Familiennamen so ganz genau zu unserer Familie gerechnet hat! Ich sehe es ja wohl ein, für diesmal ist es für Dich viel behaglicher, daß Du in Leipzig bleibst. Ich schreibe hier jetzt in die Dämmerung hinein aus purer Angst und Aufregung; und der Papa kommt auch gar nicht wieder nach Hause. Vielleicht reist er gar mit dem Herrn Kriegszahlmeister hinter Deinem Bruder und dem Telegraphen her. An mich wird er freilich zuletzt denken, und am Ende sehne ich mich gar noch nach der Tante Philippine und neuen genauen Nachrichten von der, obgleich ich ganz gewiß nicht weiß, was die mir helfen soll, als daß sie mich noch immer angstvoller und eigensinniger und böser macht. Der ist ja alles wie ein Stück unechten Musselins unter der Seife und in der Probewäsche!

Nun ist es schon so spät am Abend, daß ich die Buchstaben nicht mehr auf dem Briefbogen sehen kann, und wenn ich heute morgen schon gewußt hätte, was ich schreiben würde, hätte ich gar nicht geschrieben. Jetzt schreibe ich aus Angst blind darauflos und verderbe mir die Augen, und gewiß auch ganz unorthographisch. Gott sei Dank, da bringt Marie mir die Lampe, und ich sehe sie an, denn ich sehe, daß sie mir was sagen will, und zittere und bebe. Aber ich soll sie fragen, und den Gefallen tue ich ihr nicht, und erst in der Tür steckt sie nochmals den Kopf herein und flüstert: ›Fräulein!‹ ...

O Gott und Himmel, Theodor, weißt Du, was es war? Sie haben unsern lieben, armen Herrn Tieffenbacher dreimal zur Ader lassen müssen, und er liegt doch und kann nicht sprechen und soll sehr schlecht aufsein!!!... Am liebsten möchte ich gar nichts mehr hören und habe auch eben den Kopf eine Viertelstunde zwischen die Sofakissen gesteckt. Wenn ich nur gewiß wüßte, daß die andern Dir schrieben und Dir freundlicher schrieben als ich, schickte ich diesen schrecklichen, schrecklichen Brief um keinen Preis ganz gewiß nicht ab. O lieber Theodor, ich kann ja nichts dafür! Und ich wollte heute abend noch die Pantoffeln für den Papa fertig sticken! Bitte, bleibe Du nur gesund und nimm es Dir nicht zu sehr zu Herzen und schreibe Du uns bald wieder!

Deine getreue Freundin
Florine Drüding.«

 

Dieser Brief des armen kleinen »lateinischen« Backfischleins blieb der erste und der letzte, welchen der Leipziger Student über das ihn so nahe angehende Ilmenthaler Drama aus der Heimat durch die Post erhielt. Nachdem er anderthalb Tage damit in größester Aufregung herumgelaufen war, schrieb er an den Bruseberger um noch nähere Auskunft in der festen Überzeugung, dieselbe darauf sofort zu erhalten, und irrte sich wieder hierin. Der Kuhstieg ließ ihn hierbei, wie er meinte, in unverantwortlicher Weise im Stich, und er, der doch nichts dafür konnte, der für alle Familiensünden »zu spät« in die Welt gekommen sein sollte, wurde jetzt im erhöhten Maße in keinem Augenblick das Gefühl von der Seele los, daß er für alles, was das Haus Rodburg anbetraf, mit verantwortlich sei bis zum Äußersten. Von neuem überkam ihn jene wahrhafte Verbrecherstimmung, die er schon von seinem Schülerstübchen aus kennengelernt hatte, und je nervöser er es versuchte, sich davon zu befreien, desto tiefer arbeitete er sich hinein. Immer erstickender fühlte er um sich her die klebrigen Fäden, welche die böse Spinne »öffentliche Meinung« jetzt daheim über ihn und alles, was zu ihm gehört hatte und gehörte, spann. Daß seine Professoren in ihren Häusern wahrscheinlich bereits Äpfel versilberten und Nüsse vergoldeten und also keine Vorlesungen mehr hielten, gereichte ihm gar nicht zum Trost. Er wäre doch nicht imstande gewesen, der unendlichen Menschheitsschlauheit, die sie ihm juristisch von ihren Kathedern vortrugen, das nötige Ohr zu leihen und das richtige Verständnis entgegenzubringen. Es waren eben Tage, wo er vor aller Menschenklugheit, Schlauheit, Feinheit und Findigkeit ein echtes und gerechtes Grauen empfand und am liebsten auf alles Wiederbegegnen mit dergleichen Vorzügen seiner Nächsten für immer Verzicht geleistet hätte. Die Unruhe trieb ihn von seiner Stube ins Freie, und dann hielt er's doch auch wieder in den schönsten Teilen des Rosentals nicht aus. Das schlimmste war, daß er ein ganz unnötiges Grauen hatte, der vergnügte, aber ein wenig nichtsnutzige Bruder und seine gelbe Frau Prinzessin (ja, er sah's jetzt ein daß sie immer sehr gelb ausgesehen hatte!) könnten ihm an der nächsten Ecke dieser lebendigen Gassen und selbst im Winter hübschen Spazierwege der Stadt Leipzig plötzlich entgegentreten. Und immer von neuem hatte er es sich zu überlegen, wie es dann mit ihm den beiden gegenüber sein werde!

Florinchens Brief ließ er nicht aus der Tasche und griff häufig danach. Trotz seines betrüblichen Inhalts war er doch ohne Frage der einzige Trost in dieser öden Unruhe.

»Sie bekümmert sich doch noch um mich! ... Der Himmel lohne es dem guten Kinde! ... Und wenn mich sonst niemand mehr in dem Nest, dem Ilmenthal, zu sehen wünscht – sie weiß vielleicht nicht, was sie tut, aber sie schämt sich doch nicht, es mir schriftlich zu geben, daß sie meine Freundin bleiben will! ... Welch ein lieber, guter Brief! – Wie das Herzensmädchen auf einmal besser zu schreiben versteht als irgendein schriftgelehrtes großes und kleines Tier in der ganzen weiten Welt! Und wie ihr das Schändliche, die heillose Halunkerei selbst so unvermutet in ihr liebes, liebes Weihnachtsherz hineinbricht und ihr so niederträchtig schon im voraus alle Lichter an ihrem – unserm Weihnachtsbaum ausbläst! ... Es ist zum Heulen, es ist tragischer als alles übrige. Weiß Gott, das ist es! ... O Gott, und bin ich denn auch daran mit schuld?«

Nach noch einem übeln Tage voll angsthafter Ratlosigkeit, einem Tage, an welchem er wiederum vergeblich auf einen Brief von den ältern Freunden in der Heimat gewartet hatte, fand er sich am Abend im Theater, fast ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war. Hier aber war denn freilich in der gegenwärtigen Epoche der herrlichen Entwickelung höchster Kunst der Komödie und Tragödie der richtige Ort für ihn, um sich nicht nur Beruhigung, sondern auch guten Rat zu holen.

Der Zufall konnte ihn gar nicht besser führen. Es wurde ein Stück gegeben, in welchem ein ganz ähnlicher Konflikt wie der, in welchen er sich ganz und gar mit verwickelt fühlte, zur Verhandlung kam, und zwar natürlich in bekannter, geistreicher, modernster Weise mit vielen guten und schlimmen Witzen, Redensarten und Zweideutigkeiten, die vom Publikum rundum durch alle Stände, Alter und Geschlechter aufs heftigste belacht und beklatscht wurden. Es waren auch sehr treffliche Künstler und Künstlerinnen auf der Bühne beschäftigt, die in diesem Falle genau begriffen, was der Dichter wollte. Der junge ratlose Lebenskünstler vor der Bühne geriet in ein Schwanken zwischen Schein und Wirklichkeit, das in seinen Erregungen nahe an die Zustände bei einem hitzigen Fieber grenzte.

Ein fast in körperliche Übelkeit übergehender moralischer Ekel an allen Dingen und Menschen vor ihm und um ihn her überwältigte seine junge Seele Es war ja alles wahr, was er sah und hörte, und doch und grade deshalb alles nur Komödie! ... Echteste Komödie, wundervollster, wahrhaftigster Schein alles! ... Es war wirklich zum Lachen und wirklich eine so große Beruhigung, daß sehr wenig in der Welt der Mühe, der Sehnsucht und des Schweißes der Edeln wert war. Wahrlich, die Prinzessin seiner Träume, seines Schüler- und Poetenstübchens erblickte der Knabe nicht auf den Brettern und in dem Gaslicht vor ihm, aber dafür sah er etwas viel Naturalistischeres: die Frau Romana, die – einerlei ob romanische, deutsche oder slawische Erdenfrau – Prinzessin Fisch in ihrer ganzen »für den Erfolg verwendbaren« alltäglichen, abgenutzten, verbrauchten, abgedroschenen Seltenheit!

Mit einem wahren Haß dachte er um diese trostlose Abendstunde unter dem Gewieher um ihn her an die kleine Stube Tür an Tür mit der Werkstatt des Brusebergers im Hause der Mutter Schubach am Kuhstiege zu Ilmenthal. Hätte er sie jetzt auf Nimmerwiederauftauchen in der Erinnerung und der Welt herunterdrücken können, so hätte ihm das sicherlich für einen Moment einen freiern Atemzug möglich gemacht. Aber schlimm wäre das doch gewesen. Und grade weil ihm die Erinnerung in diesem Augenblick so widerwärtig war, stand ihm der alte, gute, träumerische Unterschlupf mit all seinen Einzelheiten und Erlebnissen desto deutlicher vor der Seele und bewahrte sich unverwüstlich seinen eigenen Schein, während die Leute in dem grellen Licht auf der Bühne weiter lachten, tobten, seufzten, wüteten, kreischten und grinsten und alle Gesten und Laute der Wirklichkeit so täuschend als möglich nachahmten.

»Ich setze nie wieder einen Fuß nach Ilmenthal zurück!« murmelte Theodor Rodburg, aus letzter, vollständiger Betäubung unter dem Beifallslärm des »eminenten Lacherfolgs« und in dem Getümmel des Aufbruchs umher mit den andern von seinem lehrreichen Sitze emporfahrend. Es waren ganz ähnliche Redensarten die letzten Stunden durch auf dem Schauplatze vor ihm häufig gefallen und immer an der richtigen Stelle und stets mit dem rechten komischen Nachklang und -klapp. Eh, unsere moderne Komödie versteht es schon, sich treu an das Leben zu schmiegen und nichts vorzubringen, was nicht auf der Hand liegt.

Gegen Mitternacht ging noch ein Zug, mit welchem man gegen sechs Uhr morgens einen Knotenpunkt erreichen konnte, wo man freilich einen recht langen Aufenthalt hatte, bis es in der Richtung nach Ilmenthal weiterging. Studiosus juris Rodburg benutzte diesen Zug. Er hatte es nicht länger ausgehalten ohne weitere Nachrichten von Hause, da er bei seiner Zurückkunft aus dem Theater wiederum keinen Brief vom Bruseberger oder sonst wem aus Ilmenthal vorgefunden hatte.


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