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Achtzehntes Kapitel

Zu spät im Jahre! Da ist das Wort, welches dem kleinen Helden dieser Geschichte, dieser Ilmenthalias, an der Wiege gesungen wurde, noch einmal. Gesungen wurde? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Die Parzen singen bei ihrer Arbeit, und die Parzen haben mit dem Worte nimmer zu schaffen. Denen läuft nichts zu früh und nichts zu spät durch die Hände, über die Spindel und in die Schere. Es sind die Menschen in ihrem kurzen Dasein, die da sagen: »Zu früh! ... zu spät!«, heute verdrießlich, bekümmert, verzweifelnd, morgen schadenfroh und heimtückisch – häufiger weinerlich als frohlockend.

Die drei Damen, denen wir zu Anfang dieser Erzählung auf die Finger sahen, sind noch immer gleichgültig mit ödem Gesange bei der Arbeit und spinnen auch die Ilmenthaler Geschicke weiter, und Ilmenthal gedeiht, und unser kleiner Held, Theodor Rodburg, ist auch ganz wohl gediehen, wie merkwürdig das auch einem Teil der noch vorhandenen Zeugen seines kümmerlichen Eintrittes in diese Welt vorkommen mag. Wer von den Achselzuckern und Lächlern konnte es aber auch damals ahnen, daß das Schicksal es besser und behaglicher mit diesem letzten Sprößling aus dem alten Nest am Kuhstiege als mit irgendeinem andern draus im Sinne hatte?

Es war nicht unsere Aufgabe, von den Brüdern und Schwestern ausführlich weiter zu berichten. Sie hatten in ihrer Zerstreuung ein jeder und eine jede ihr Leben gehabt und ihr Teil mit Widerstreben oder mit Gier hingenommen oder hingegeben und waren so wenig wie andere vorher vom Schicksal um ihre Privatansicht befragt worden. Der eine von den Brüdern hatte mehrere Male Bankerott gemacht, und jetzt »ging es ihm ganz gut«. Es ging ihnen allen mit ihren Kindern im Grunde »ganz gut«, und bei diesem Worte wollen wir es bewenden lassen, ohne seiner Bedeutung im besondern weiter nachzuforschen. Auch zu diesen Geschwistern war wohl von Zeit zu Zeit die Nachricht gekommen, daß es dem jüngsten Nestling aus dem Hause am Kuhstiege »ganz gut« ergehe. Wie es damit sich verhielt, haben wir im Umwenden dieser Blätter des genauern erfahren und sind noch nicht ganz damit fertig. Daß er sich seines Glückes nicht rühmen durfte, versteht sich von selber; es genügte schon, daß um diese Stunde seines Daseins zuerst ihm ein klareres Verständnis des guten Loses, das er gezogen hatte, aufdämmerte. Sehr viele Glückspilze seinesgleichen kommen nie auch nur zu einer Ahnung hierüber, sondern leben bloß ruhig weiter und lassen eben – Gott einen guten Mann sein.

Von dem bösen Rodburg, dem in seiner Art vortrefflichen, wenn auch nicht besten Bruder Alexandros, wäre nun wohl noch ein langes und breites zu sagen; aber der geht ja eben ganz mit auf in der Geschichte von der Prinzessin Fisch, in der großen Geschichte von der Erziehung des Menschen durch die Phantasie, den Traum und die optische Täuschung des jungen Leibes und der kindischen Seele des Menschen! ...

Was wäre das für ein armes Menschenkind, für welches die Prinzessin Fisch nie ihre Rolle zu ihrer Zeit gespielt hätte! Professor Dr. Drüding täuscht sich nur sehr ergötzlich in seiner Weise, wenn er behauptet, er wisse durchaus nichts von der Person. Ihm vor allem tanzt sie voraus, tritt hinter ihm drein und wird ihn bis ans Ende seiner Tage an seiner vergnügten, höchst würdigen Schulmeisternase zupfen.

Es ist wahrlich kein leerer Titel, was vor diesem Buche steht! Mit der Prinzessin Fisch, dem urewigen, großen, unentbehrlichen pädagogischen Zauberspuk, haben wir es auf jeder Seite desselben zu tun, und auf diesem gegenwärtigen Blatt hat sie ihr nützlich erziehlich Werk an dem von uns von der Eselsbank aufgegriffenen Abc-Schützen, unserm guten Freunde Theodor Rodburg vom Kuhstiege, zu einem beträchtlichen Teil bereits vollendet. Sie hat dem armen Tropf mit ihrer magischen Hand über das alte Gesicht gestrichen, und es hat sich unter der wunderlichen, anreizenden, erregenden Berührung merklich zu seinem Vorteil ins Jugendliche, ins Jünglingshafte verändert. Und hatte ihm die Schwester der wunderschönen Dame, die Enttäuschung, das Ärgernis oder wie sie hundert Namen führt, den alten Kopf für geraume Zeit beträchtlich niedergeduckt, so war das nur geschehen, um ihm Gelegenheit zu geben, ihn desto jünger und straffer aufzurichten. Des Brusebergers Thedor sah um ein bedeutendes wackerer und heller in das Leben, und des Brusebergers Prophezeiung über die Aussicht in den exväterlichen Garten, den Robinson-Crusoe-Garten, war vollständig in Erfüllung gegangen: hatte diese Aussicht den Jungen geschüttelt, so hatte sie ihn doch zu recht geschüttelt, und er war reif für eine höhere Schule des Daseins.

Dahin entließen sie ihn denn auch. Das heißt fürs erste nach der Universität Leipzig, die, da sie immer noch eine deutsche war, immer noch zu den bessern Erziehungsanstalten unter den Völkern der Erde gehörte und nicht ohne Grund selber sich dazu rechnete.

»Viele Schätze von der Art, so die Motten und der Rost viel seltener als die unnötigen Ausgaben im Leben fressen, haben wir dir von Vormundschafts wegen nicht zu überweisen, mein Sohn«, sprach Professor Drüding. »Das ist nun deine Sache, wie du damit durchs Triennium und nachher ins weitere bürgerliche Leben hineinkommst. Ich hatte meinerzeit weniger denn nichts, denn ich hatte meinerzeit noch eine verkrüppelte Schwester teilweise zu erhalten während meiner Studienzeit, Gott habe sie selig, die Gute! Es hat wohl selten ein fressender Appetit einem Menschen einer lieben, wenn auch etwas mißtrauischen Verwandten wegen so viele Gewissensbisse verursacht wie damals der meinige mir. Nun, nun, man hat sich eben durchgehungert! ... Oder geht meinem Florinchen und mir heute in meinen alten Tagen etwas an meinem Behagen – ohne die Götter versuchen zu wollen! – ab?«

Der Abiturient konnte nur wünschen, sich bereits auch schon so weit in das Behagen hineingebracht zu haben; augenblicklich aber hielten dafür noch viel zuviele gelöste, halb gelöste und gar nicht gelöste Lebensfragen sich das Widerspiel in seinem jungen Hirn und Herzen.

Er hatte auch vom Papa Pepe, der Frau Romana und dem Bruder Alexander Abschied zu nehmen und wurde der schönen Frau gegenüber damit ganz natürlicherweise am leichtesten fertig. Sie hatte den blöden, unansehnlichen Jungen aus dem ärmlichen Nachbarhause gar nicht beachtet, und er hatte nach dem Wort des Brusebergers sie sich so nach und nach immer genauer besehen. Die Märchengestalt aus der blauen Weite, aus der »täuschend entlegenen Ferne«, die Verkörperung aller seiner kindischen Zaubergartenphantasien war allgemach zu einer gewöhnlichen und noch dazu recht ältlichen Erdenmadam geworden. Dorothea wusch hier nicht mehr ihre silbernen Füße in dem Waldstrom der Sierra, sie machte sich höchstens mit der übrigen Landstraßenkneipengesellschaft über den Ritter Quijote lustig und würde ohne Anstand mit Vergnügen ihre Hand dazu geboten haben, denselben auf einem spanischen Ochsenkarren in die Welt der Wirklichkeit zurückzubefördern.

Und ausnahmsweise hatte der diesmalige und jugendliche Ritter mit Hülfe bester, treuester Freunde zur Genüge deutsche Witterung von der Sachlage bekommen. Als unser netter Amadis seine Abschiedsbesuche am Kuhstiege machte, sah er so vollständig über die Prinzessin Fisch hinweg wie sie vordem über ihn und ärgerte sie doch ein wenig dadurch. Von dem alten Kriegszahlmeister des armen, auch schlimm von seiner Prinzessin Fisch getäuschten Kaisers Maximilian von Mexiko nahm er Abschied gleichfalls wie ein echter Germane, das heißt voll von Sorgen, Ängsten und Selbstvorwürfen über Zustände, die er nicht gemacht und an denen er nichts ändern konnte. Glücklicher- und gerechterweise machte ihm Papa Pepe die Sache leicht. In gewohnter Weise redete Herr Joseph Tieffenbacher zu sich selber und setzte sich seine Zustände auseinander. Und da er mit denselben gottlob doch ziemlich zufrieden war, so durfte ihm sein Besucher nur zuhören und seine Ansichten, Bedenken, Urteile und Schlüsse mit einem stillen Seufzer für sich behalten.

»Ja, es ist eine unruhige Welt«, erzählte er sich. »Niemand sitzt seinen Stuhl recht warm, und tut er's mal, so ist's auch wieder nicht das Behagliche – da kommt der Rheumatismus dazu, von dem ich dieses Frühjahr wieder recht ordentlich auszustehen hatte, lieber Juvenis und junger Herr Nachbar und Studiosus juris! Hm, da geht nun der auch ins Weite, und es war doch so ein angenehmes Verhältnis zwischen ihm und mir geworden. Sein Herr Bruder bleibt wohl noch einige Zeit, um Ilmenthal zu verschönern und für uns, auch für mich, zu einem nicht nur zuträglichen und interessanten, sondern auch in pekuniärer Hinsicht lohnenden Aufenthaltsort zu machen. Was sollte aus dem armen Frauele, der Romana, und mir werden, wenn auch er eines Tages nach abgewickelten – oder – hm, hm, verwickelten Geschäften ginge? Wer würde dann außer mir mit dem armen Kindle noch in seiner Muttersprache reden können? Sie könnten wohl das unnötige Geschwätz über mich alten Mann unterwegs lassen. Aber dies kann ja der Mensch eben nicht – habe es vielleicht selber nicht immer gekonnt. Jeder muß seine Unterhaltung haben, das war in Bödelfingen so und ist in Triest, in Wien, in Mexiko, in Paris und in Ilmenthal an der Ilme so. Da ist es denn eben ein Glück, daß der alte Tieffenbacher in seiner Sackgasse zu seinem Rheumatismus seine Käfer und seine Pflanzenkunde hat, Sackgasse! Sackgasse! Jaja, dieser junge Mensch, dieser Herr Theodor, weiß noch wenig davon, in welche Sackgassen sich die weitesten und breitesten Wege, die der Mensch auf dieser Erde laufen kann, verlieren. Wird's aber auch schon erfahren! Wird's erfahren, wird's erfahren! Bin von Bödelfingen abgelaufen und sitze heute am Kuhstiege zu Ilmenthal und kann nicht herunter – kann nicht herunter, kann nicht herunter ... hm, hm, wenn ich's noch wollte! ... Will es aber bei genauester Überlegung nicht mehr! Wußte es freilich noch nicht, als ich neulich vom Boulevard Sebastopol auf den Wunsch von Freund und Frau wieder einmal den Wohnsitz verlegte, daß es die letzte Etappe sein würde, weiß es aber ganz genau, ganz genau. Habe auch mit dem lieben, trefflichen Freund, dem Herrn Professor, darüber gesprochen, liebes Kind. Der Herr Professor, der niemals aus Ilmenthal herausgekommen ist, ist ganz meiner Meinung. Wollen es also bei unsern letzten Leiden und Freuden ganz in der Stille bewenden lassen, wir alten Sünder. Jaja, dieser junge Herr Nachbar – da guckt er schon nach der Tür – hat noch mehrere Abschiedsvisiten zu machen, wird eines Tages wiederkommen und den alten Joseph Tieffenbacher nicht mehr in seines Vaters Hause und Garten vorfinden. He, he, he, wird sich dann vielleicht neben seinem seligen Herrn Papa auch an den närrischen alten Papa Pepe erinnern und an seine liebe Frau Mutter, von der Herr Nachbar Bruseberger und der Professor so viel Gutes und Betrübtes zu erzählen hatten. Alte Sünder und alte Sünden! Wird auch seinen Kerbstock voll mitbringen, der junge Mann, wenn er ans Siebenzigste herangelangt ist und sich auf seiner letzten Etappe die Sache noch mal überlegt, einerlei, ob er vorher noch weiter ins Universum hineinpromenierte oder ob er sich nach zurückgelegten Studien in Bödelfin – ei, was sage ich? – in seiner wirklich der Gesundheit recht zusagenden kindlichen Heimat und Geburtsstätte für sein Leben besetzte. Wird vielleicht dann auch seinen Rheumatismus pflegen wollen, und wünsche ihm dann zum Trost eine gleiche, brave und anteilnehmende Nachbarschaft, wie sie der alte Tieffenbacher nach all seinen Märschen, Strapazen, Viktorien und Schiffbrüchen in der Welt ganz per Gelegenheit am Kuhstiege in Ilmenthal gefunden hat. Und nun, mein lieber Sohn und hoffnungsvoller junger Nachbar, gehe hin mit meinen herzlichsten Wünschen für dein jetziges und späteres Wohlergehen. Ich brauche dir nicht zu raten, etwas zu lernen in wissenschaftlicher Beziehung, dahingegen aber würde ich gern wünschen, daß du in philosophischer und gemütlicher Hinsicht seinerzeit dir ein Exempel an deinem alten Freund hier im Lehnstuhl mit seinem umwickelten Knie nehmen und das Deinige in sittlicher Richtung tragen lerntest. Adios, adios, querido! Hasta mas ver! Auf ein baldiges Wiedersehen – und einen recht vergnügten Sommer – deinerseits! Würde dich gern mit den übrigen zur Post begleiten, wenn dies fatale Ziehen durch diese dummen, abgelaufenen Beine nicht wäre. Zieht vielleicht den Papa Pepe, das alte, wieder mal beim Fazit nicht recht stimmende Menschenexempel, den Joseph Tieffenbacher aus Bödelfingen, noch vor der nächsten Möglichkeit eines gemütlichen Wiedersehens ein bißchen zu tief in die Botanik, das heißt unter die Grasnarbe da drüben an der Ilme – er weiß schon wo, der Jüngling. Na, na, abwarten! Alles mit möglichster Ruhe abwarten, Caballero!«

Als dann der junge Ritter zu Hause über diesen Besuch, und was der Alte gesagt hatte, Bericht abstattete, meinte der Bruseberger: »Läßt sich wohl hören. Ist auch eine Philosophie im Zusammenhange der Dinge! Vier sichere Wände im Alter um sich her, gute Luft drinnen und draußen, nicht rauchende Öfen, ein wohlgepolsterter Lehnstuhl nach allen Strapazen bei Krankheitsanfällen und eine gute, verständige Nachbarschaft sind wohl eine gute Sache für 'nen abgebrauchten, müden Mann; – gehört aber eben auch doch die Meisterin Schubach zu all der Behaglichkeit oder – wollen mal sagen, für einen andern Fall, ein gutes, liebes Weib, was die Landessprache als Muttersprache versteht und in dem richtigen Alter und Verständnis zu dem Racker von Rheumatismus steht und keine anderweitige Unterhaltung und Aufrichtung bei dem Großvaterstuhl nötig hat. Was meinen Sie, Mutter Schubach?«

»Meine Idee ist, daß dies jetzo ganz unnötige und überflüssige Redensarten vor unserm jungen Herrn sind«, meinte die Mutter Schubach.

Der Bruder Alexander war augenblicklich verreist, als man den Studenten nach dem Posthofe geleitete. Er befand sich als finanzverständiges Mitglied einer Abordnung der Ilmenthaler Bürgerschaft in »allgemach auf die Nägel brennenden« Ilmenthaler Eisenbahnangelegenheiten in der Landeshauptstadt. Leider war dies nicht der einzige Grund, daß sich die Brüder nicht wiedersahen.


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