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Fünfzehntes Kapitel

Sie können in viel südlicher gelegenen Luftkurorten zwischen Pauli Bekenntnis und Maria Reinigung mit recht rot- und blaugefrorenen Nasen herumlaufen; in Ilmenthal an der Ilme, dem allerjüngsten Sanatorium, nahm der Wintergott um diese Jahreszeit bis jetzt noch nicht die mindeste Rücksicht auf den guten und lukrativen Ruf der Erdstelle. Es war bitterkalt an der Ilme, und Fremde wie Einheimische merkten diese für manche Zustände und Leiden freilich auch äußerst gesunde Temperatur bis in das Mark der Knochen und hatten sich, ein jeglicher so gut er konnte, mit ihr abzufinden.

Professor Dr. Drüding erwachte am Morgen nach der im vorigen Kapitel geschilderten Unterhaltung zwischen seinem Mündel und Lieblingsschüler und dessen Pflegemutter aus einem wundervollen botanischen Traume, in welchem er mit seinem »prächtigen« neuen Freunde, dem alten mexikanischen Finanzbeamten Don José Tieffenbacher, in dem allertropischsten Urwald spazierengegangen war und endlich das langgesuchte Gewächse gefunden hatte, das bis dahin noch niemand gekannt hatte, und das unbedingt als Drüdingia seinem Namen Unsterblichkeit verlieh.

Aus diesem Traume erwachend, sah er seine Fenster gänzlich mit den schönsten Eisblumen bedeckt und unter diesen ein zweites Exemplar der fabelhaften Spezies, die er bald nach Mitternacht grade unterm Äquator selig aus dem Boden gezogen und seiner Botanisierkapsel einverleibt hatte.

Es bedurfte einer ziemlichen Zeit, bis er sich das Ding ganz klargemacht und sich vollständig in die Wirklichkeit des neuen Ilmenthaler Frosttages gefunden hatte.

»Hm, hm, ei, ei, – na, ich danke!« sagte er fast wie sein Schüler Theodor nach Mitternacht, aber doch gleich mit einem viel fröhlichern Ausdruck. »Brr!« sagte er, vor dem glitzernden Fenster sich die Hände reibend. »Nun freilich, eine seltsame Phantasie, aber – doch auch gar nicht übel! Glaciala Drüdingia! He, he, he! Famos! Und was für ein herrliches, gesundes Wetter! Werde unbedingt mit dem Kinde den Herrn Kriegszahlmeister zum Spaziergang in unsere exotische Flora, den Wald im Rauhfrost, abholen. Auch der Knabe Theodorus mag uns more consueto begleiten.«

Leider hatte diesmal wieder in der »Tacitusstunde« der Knabe Theodor »heftiges Kopfweh« und der Alte nicht das geringste Behagen an seinem Lieblingsschüler und Mündel. Derselbe blieb in jeder Beziehung hinter allem, was man heute von ihm verlangte, zurück. Wir wissen den Grund davon, aber Professor Drüding kannte ihn nicht, und was der Junge vorschützte, um seine Zerstreutheit zu bemänteln, konnte er keineswegs »für voll gelten lassen«.

»Zu meiner Zeit hatte niemand Kopfweh, das heißt bei so jungen Jahren«, sprach er in seiner Klasse, und zu Hause sagte er:

»Florina, dein Freund hat mir beinahe, und noch dazu so kurz vor seinem Abiturientenexamen, das ganze Behagen am heutigen kostbaren Tage verdorben, der Schlingel! Kopfweh! Zu meiner Zeit war das alles dummes Zeug, und höchstens nannte man es nichtsnutzige Faulheit.«

Fräulein Florinchen Drüding, der die scharfe Kälte des Tages gleichfalls merkwürdig gutzutun schien, machte ob diesem ein gar betrübtes Gesichtchen, und trotz allem Sonnenschein im Tal und auf den weißen, glänzenden Bergen verfinsterte es sich um ein merkliches, als der Papa hinzufügte:

»Ich habe also dem Träumer dringend angeraten, uns heute Nachmittag lieber nicht zu begleiten, sondern seine Gesundheit ja recht zu schonen und zu Hause über seinen Büchern zu bedenken, daß nach dem Ovidius der Gott Janus über alle Ein- und Ausgänge zu wachen hatte und daß ebendieser Gott – schon nach den Saliarischen Gedichten der Gott der Götter – wie der Doktor Drüding zwei Gesichter habe, deren eines den Frieden und das andere den Krieg bedeute. Kopfweh bei dieser herrlichen Januarluft und so kurz vor dem Examen!«

»Aber vielleicht hat er doch Kopfweh, Papa?!« sagte Florine betrübt, sich noch einmal mit dem verpönten Wort heranwagend; doch der menschenkundige Scholarch von Ilmenthal an der Ilme brummte:

»Wolle mir nicht auch etwas weismachen, puella. Überhaupt weiß ich nicht, was eigentlich in den letzten Zeiten mit diesem Knaben oder Jüngling vorgegangen ist. Manchmal kommt mir der Gedanke, als sei sein Herr Bruder, unser früherer, nicht ganz im Guten von uns geschiedener Alexander Rodburg – Rodburg der Ältere – ja, leider der böse Rodburg, nicht nur für die Stadt und ihre Umgebung, sondern auch für unsern Freund und meinen Pupillus nicht durchaus zu günstiger Stunde aus der Fremde heimgekehrt. Nun, da wäre es denn um so mehr ein Glück, daß wir ihn, unsern Theodor, demnächst in eine andere Luft bringen können. Seine Fundamenta sowohl in sittlicher wie auch in wissenschaftlicher Beziehung sind gottlob nicht unsolide gelegt, und am Ende ist dieses doch die Hauptsache und –«

»O, dann kann er heute nachmittag doch mit uns und Herrn Tieffenbacher nach dem Hasenhaus gehen!« rief die Kleine schmollend und schmeichlerisch.

»O Weiber! o Frauenzimmer!« rief der alte Gelehrte. »Wie sehr hat unser Schiller recht, wenn er bemerkt, daß ihr immer wieder auf euer erstes Wort zurückkommt, woraus hervorgeht, daß ihr leider nie zu gleicher Zeit mehr denn eine Vorstellung in euch zur Darstellung zu bringen vermögt.«

»Das ist eben unser solides Fundament, Papa!« rief der Backfisch mit so solidem und zugleich lächelnd-fröhlichem Talent für die Abtrumpfung des männlichen Geschlechtes, daß der graue Erzeuger höchst verwundert darob auf seinem Sofa ein ebenso dichtes Gewölke um sich ausbreitete wie ein von seiner nächsten Angehörigen in Erstaunen versetzter Jupiter Herkeios auf seinem Ida.

Der Pupillus ging aber dessenungeachtet heute nicht mit nach der Hasenschenke. Nach einem appetitlosen, melancholischen Mittagsessen mit dem Bruseberger und der Mutter Schubach versaß er den ganzen Mittwochnachmittag auf seiner Stube und begnügte sich mit dem Rauhfrost an den Bäumen und Büschen seines weiland väterlichen Gartens vor seinem Fenster. Vergnüglich war ihm nicht zumute und noch weniger heroisch. Weinerlich und ratlos war ihm zumute – widerspenstig-ratlos, und das war das Beste daran; denn es wäre sehr schlimm und ein recht betrübtes Anzeichen für die Solidität seines Fundaments gewesen, wenn er sich bei seinen Jahren unter den obwaltenden Umständen sogleich und irgendwie zu helfen verstanden hätte.

Da war es doch besser, daß er in seiner Verstörung hülflos sitzen blieb, mechanisch in seinen Griechen und Römern blätterte und es andern überließ, wie und wann sie diese Geschichte von der Prinzessin Fisch auch für ihn mit zu Ende bringen wollten.

Einmal kam ihm der Gedanke, zu seinem Bruder zu laufen und all sein kindlich Sehnen, Träumen und Verlangen und sein frisch knabenhaft schuldlos Mitwissen um Sünde, Tod und Verderbnis vor ihm auszuschreien und ihn anzurufen: »So hilf mir doch jetzt und sage mir, was ich zu denken, zu tun und zu lassen habe!«

Da sprang er wohl auf von seinem Stuhl, aber er fiel sogleich wieder auf denselben zurück und nahm den konfusen jungen Adamskopf von neuem in beide Fäuste. In diesem Augenblick sah er zum ersten Male den Bruder Alexander, den so sieghaft, zutraulich, gemütlich aus allen Wundern und Weiten nach Hause und zu ihm gekommenen bösen Rodburg, mit ganz andern und vielleicht den rechten Augen. Daß er sich vor dem überlegenen Lächeln und dem satirisch-begütigenden Spott des Weltmanns dabei auch recht sehr fürchtete, das war ganz Nebensache.

Als ein richtiger Sünder vor dem Herrn aber schrak er zusammen, als gegen drei Uhr sein Name in dem Garten unter seinem Fenster gerufen wurde und er die Stimme des braven alten Herrn Nachbars erkannte, der wanderfertig, warmbepelzt drunten im sonnenbeschienenen Schnee stand und wie ein anderer, aber sorgenloserer Schulknabe, trotz aller buntesten Abenteuer seines Lebens, auch in das neueste, den Winternachmittagsspaziergang nach dem Ilmenthaler Hasenhaus, voll zappelnden Enthusiasmus hineinwinkte.

»Eh Söhnele! Noch nicht marschfertig? Ist das nicht eine Witterung, bei der das älteste Herz aufgehen muß? Viva Ilmenthal! Adelante! En avant auf der ganzen Linie! Keine Idee von Rheumatismus! Durch alle Knochen und Muskulatur ganz Ilmenthaler deutscher Turnverein! Von Rechts wegen solltest du, Bühle, schon längst an meine Tür geklopft und mich herausgetrommelt haben! ... Kopfweh? ... Dummes Zeug! ... Professor Drüding und Cicero de officinalibus? ... Das ist ja niederträchtig!«

In der vollen Bedeutung des Wortes senkte der gute Alte die Ohren betrübt, als er vernahm, daß sein guter und gelehrtester Freund, Professor Doktor Drüding, es übers Herz gebracht habe, auch an einem solchen Tage die Pflicht übers Vergnügen zu setzen und den kleinen, angenehmen Nachbar an seine Bücher.

Mehrmals stapfte er brummend den verschneiten Gartenweg auf und nieder, bis er von neuem unter dem Fenster des Scholaren stehenblieb und mit dem Finger auf dem Mund und einem etwas weniger sonnigen Lächeln emporflüsterte:

»Pst, Büble! Welcher Klassiker, welcher antike Grieche oder Römer hat eigentlich den Satz erfunden: Wer weiß, wozu es gut ist? ... Weißt du es? Nun, mein Romanele hat nämlich gleicherweise, wenn auch nicht des künftigen Examens halben, Kopfweh und bleibt zu Hause. Den ganzen lieben, langen Nachmittag magst du meinetwegen alles mögliche Versäumte nachholen, aber in der Dämmerung wird sie sich sehr freuen, wenn du ihr ein Stündle Gesellschaft leistest. Nachher bringe ich deinen Tyrannen und sein Töchterlein von dem Hasenhaus nach dem Kuhstiege mit. Wir machen einen vergnügten Abend draus – einen deutschen Freundesabend im Familienkreise, und dein Bruder Alexander wird auch mit zugegen sein.«

In diesem Moment bekam im Zusammenhang der Dinge der Bruseberger nebenan einen heftigen Hustenanfall. Es mußte ihm unbedingt irgend etwas in die unrechte Kehle gekommen sein, und vor ziemlich kurzer Zeit noch würde sein junger Stubennachbar sofort zärtlich zugesprungen sein, um ihn nach Urväterhausheilmethode auf den Rücken zu klopfen und das Ding wieder ins gleiche zu bringen. Heute war es der Bruseberger, der nach einer Weile und nachdem sich sein Husten von selber gesänftigt hatte, den Kopf in die Tür neben seiner Werkstatt schob.

»Pst, Thedor. Ich habe es mir eben noch einmal überlegt; – es ist doch nicht deine Sache, den Deckel vom Topfe zu tun. Sieh bloß zu, daß du uns jedenfalls zu Ostern aus dem Hause kommst. Ich werde heute abend noch über diese meine neue Ansicht die nötigen Worte mit der Meisterin reden.«


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