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Siebentes Kapitel

Ei, wer das auch so vermöchte wie der alte Buchbindergesell! In seinem Gemüte, Kopfe und auf seinem – Kleistertische! Wir persönlich verlassen uns sehr darauf, daß wir Leuten erzählen, die wenigstens den guten Willen haben, uns mit ihrer Einsicht in den Zusammenhang der Dinge und Wissenschaften zu helfen; und somit – liegt denn jetzt wieder zwischen dem sonnigen Tage, von welchem die Rede war, und dem, von welchem nunmehr die Rede sein muß, manch ein anderer Tag, Sonnentage waren zureichend darunter, aber auch genügend Regentage; Nebel, Schnee und dergleichen meteorologische Vorkommnisse gar nicht zu erwähnen. Für schlechtes Wetter ist es nie »zu spät im Jahr«, und das beste ist, daß die Jugend, auch wenn sie zufällig ein noch so altes Gesicht mit auf die Welt gebracht hat, sich im Grunde gar wenig darum bekümmert.

Auf den Menschen in seinen glücklichsten Jahren hat das Wetter gottlob nie den Einfluß wie späterhin, wenn der verständige Mann zu seinen wechselnden Stimmungen alle Augenblicke auch noch nach dem Thermometer zu sehen hat oder (in allerneuester Zeit!) Mitglied eines Vereins zur Verbreitung von Grillenfang und Hypochondrie und für öffentliche Gesundheitspflege geworden ist. Der junge Pensionarius der Mutter Schubach und des Brusebergers befindet sich auch jetzt noch in seinen glücklichsten Jahren. Zu den Kindern rechnet er sich freilich schon lange nicht mehr, sondern fast zu sehr bereits zu den Erwachsenen. Also hat sich doch vieles verändert! Und nicht bloß an dem jungen Menschen, sondern auch an seiner Umgebung – an Ilmenthal im weitern und an seinem frühern väterlichen Besitztum in seiner nächsten Nähe, unter dem Fenster seines Scholarenstübchens.

So ist es. Wenn auch noch nicht die Hochflut da ist, so sind doch aus den ersten leisen Wellchen hohen, modernen Weltverkehrs recht erkleckliche Wellen geworden und das stille Tal zu etwas ganz anderm, als es noch vor kaum zehn Jahren war. »Unwiderruflich wächst das Kind«, und unwiderruflich verändert sich alles um es her, einerlei, ob es darauf achtet oder nicht.

Daß aber fremde, unbekannte Leute jetzt anfingen, ihren Aufenthalt in Ilmenthal zu nehmen, sollte dem jüngsten Sprößling der alten Stadtfamilie Rodburg vor allem deutlich werden. Von neuem ging sein Vaterhaus in andere Hände, das heißt an andere Besitzer über, und zwar diesmal an solche, die schon einer ganz neuen Gestaltung der Dinge und Zustände des Heimatortes angehörten und vor zehn Jahren noch das kleine Gemeinwesen durch ihr Erscheinen und Sichfestsetzen in die größeste Aufregung gebracht haben würden, während man sie jetzt bereits für etwas nahm, was selbstverständlich endlich »auch an uns hier« kommen mußte und worauf »wir eigentlich schon ein bißchen zu lange hatten passen müssen«.

Einiges Aufsehen machte der neue Schutzbürger freilich dessenungeachtet doch, sowohl am Kuhstiege diesseits der Ilme wie in den Gassen und Häusern an der Berglehne jenseits des rauschenden Gebirgsflüßchens. Er war wirklich ein wenig außergewöhnlich weit her, der neue Gastfreund von Ilmenthal und Eigentümer des Hauses Rodburg. Und obgleich die Stadt, wie gesagt, nunmehr schon auf allerlei Exotisches gefaßt war und sich, wie Dr. Drüding sagte, das Nil admirari als Motto zu nehmen bestrebte, so zwang der Herr Kriegszahlmeister Tieffenbacher sie doch, sich seinethalben und seines Hausstandes und Haushalts wegen dann und wann auf die Zehen zu stellen und den Hals gespannt nach dem Kuhstiege hinzudrehen.

Glücklicherweise hatte sich der neue Mitbürger auf dem Rathause genügend legitimiert, und was noch mehr für ihn im Tal und diesseits und jenseits der Ilme an den Berghängen sprach, war, daß er sein jetziges Besitztum, ohne zu handeln, erstanden hatte. Ein noch helleres Licht fiel freilich hiervon auf den Verkäufer des Grundstückes. Dieser rieb sich nämlich nicht nur im geheimen die Hände und hielt sich von diesem Handel an selbst für einen der witzigsten Mannen von Ilmenthal, sondern wurde auch von den übrigen Mannen der Heimat dafür taxiert. An seinem Biertische, wo man ihn sonst ziemlich beiseite gelassen hatte, außer wenn man einen geduldigen alten Knaben und Schafskopf für einen wörtlichen oder tätlichen Jokus nötig hatte, stieg er recht in der Achtung der Menschheit, wurde mit Ernst und Respekt angesehen und bei jeglichem Güterverkauf an »die Fremden« um seinen Rat angegangen. Letztern hat er immer weislich und wohlerwogen gern erteilt und ist also heute noch schuld daran, daß an manchem Orte, wo sie gar nicht hingehört, unwiderruflich eine »Villa« steht und von den »Fremden« bewohnt wird und werden muß.

Er war natürlich auch der Mann, dem man im Anfange zutraute, daß er das meiste und Genaueste über die neuen Stadtbewohner wisse und sagen könne, wenn er nur wolle. Aber er zeigte sich auch darin viel schlauer, als man ihm bis dato zugetraut hatte: er wollte durchaus nicht. Daß er etwas wußte, soll hiermit freilich nicht behauptet werden.

»Wenn ich nur wüßte, was der Mensche hat!« sagte die Witwe Schubach, meinte aber nicht den handelsschlauen Exnachbar. »Mein Lebtage hab ich doch nicht gehört, daß der Mensch in den Jahren, wo er anfängt, auf den Stummeln zu kauen, gradeso ausgewechselt werden kann, wie wenn er in die Wiege gelegt wird. Manchmal denke ich wirklich, sie haben ihn mir auf dem letzten Jahrmarkt in Knillingen vertauscht, und das Ding, was hier im Hause umgeht und nichts sagt und vor sich hin brummelt, ist mein Bruseberger gar nicht mehr, sondern ganz was anderes aus 'nem alten Hexenmeister seiner Spukvorratskammer! Jedes Wort muß man ihm allmählich mit einer Winde aus dem Leibe holen, und dieses vor allem war doch sonst ganz gegen seine Natur. Ist das nicht auch deine Meinung, Thedor?«

»Vollkommen, Mutter!« lachte der Primaner Theodor Rodburg. »Hätte ihn Ovid, wissen Sie, Mama, Publius Ovidius Naso, der Kerl mit der langen Nase, gekannt, so hätte der unbedingt eine Metamorphose mehr besungen. Reine unter die Fische gegangen, Mutter Schubach!«

»Und erst an der Heftlade, Thedorchen!? Immer mit seiner Nase drüber weg am Fenster, bald in den Lüften und bald am Grunde unter dem Herrn Kriegszahlmeister seinen neuen Anpflanzungen und Kulturen. Muß er abführen, zur Ader lassen, oder hat er sonst den Balbierer nötig? Ich weiß es nicht; aber wissen will ich es allgemach, was er hat oder nicht hat! ... Es ist aber meine Idee wirklich, daß er von der Werkstatt was gesehen hat und sieht, was er in seiner Seele erst, wie er sagt, in einen Zusammenhang der Wissenschaften bringen muß; und wenn wir ihm dabei helfen können, Thedor, so wollen wir es doch ja tun. Es ist allgemeine Christenpflicht und in unserm Falle noch ein bißchen mehr. Du willst ihn gradeaus fragen? Schön! Bist grade lange genug bei uns, um annähernd genau zu wissen, um wieviel das einen weiter bringt zur augenblicklichen Erkenntnis. Das ist ja eben mein ewiger Verdruß und das Beste und das Schlimmste an dem Mann, daß man immer erst eine Ewigkeit bohren muß und selbst nachsinnieren, wo bei ihm und überhaupt unser Herrgott mal wieder 'nen Ast vor die Säge situwiert hat.«

Der Schüler fragte den grauen Weisen doch, und zwar durch die Tür, die ihre beiden Arbeitsstuben miteinander verband und die beiden Arbeitstische am Fenster bis jetzt miteinander im ununterbrochenen, offenherzigen Verkehr gehalten hatte:

»Sie könnten es endlich doch wenigstens mir beichten, alter Klopfstock, was Sie seit etzlichen Wochen in die Melaneholey scheucht. Haben Sie, wie ich meine, jetzt endlich einmal mehr Geister heraufbeschworen, als Sie mit unserm Freund F. von Schönholz bändigen können, oder haben Sie, wie die Mutter Schubach behauptet, Ihre prähistorische Gesundheitsmaßregel versäumt und sich nicht zur richtigen Zeit schröpfen lassen? Brusebergerchen, Sie machen uns wirklich Sorge.«

Der Bruseberger brummelte erst etwas Unverständliches, sodann brummte er lauter:

»Ich bitte Sie, Thedor; bleiben Sie doch endlich einmal ruhig bei Ihrem Geschäft und reden Sie mir keine Dummheiten in das meinige hinein.« (Sie nannte er seinen Schützling aus »Erziehungsrücksichten« wie die Herren Lehrer, Dr. Drüding ausgenommen, vom Eintritt in die Sekunda an.) »Nichts habe ich heraufbeschworen, und was von Teufelsspuk von selber aus dem Boden steigt, das hoffe ich mit Gottes Hülfe für mein Teil wohl noch unterzukriegen. Mit der Schröpferei ist das ganz eine naseweise Dummheit, mein Söhnchen, und Sie setzen mir den Schnepper noch lange nicht an, mein Kind.«

»Nun faßt er auch das wieder symbolisch auf!« rief Herr Theodor Rodburg lachend, »O, werden Sie nicht grimmig, Bruseberger; es war ja nur ein Spaß, und ich für mein Teil weiß es ganz genau, wer es uns angetan hat! Die schöne Dame ist's! Unsere jetzige Nachbarin! Und, o Bruseberger, die hat es mir auch angetan. Da geht sie wieder durch meines Vaters Garten, o Bruseberger –«

Der Altgesell der Witwe Schubach stand plötzlich, mit dem Kleistertopf in der einen Hand und dem Kleisterpinsel in der andern, auf der Schwelle der Verbindungstür und faßte seinen Pflegling im allerrichtigsten Moment, nämlich mit dickem, rotem Kopf und den glänzendsten Augen an seinem Fenster, – weit vorgebeugt über den Tisch und das umgestoßene Dintenfaß und den im Schwarzen Meer schwimmenden Cicero. Eine ziemliche Weile betrachtete er sich den Verlegenen, sprach sodann: »Das ist mir eine schöne Bescherung!« wendete sich in seine eigene Arbeitsstube zurück und schnarrte von seinem Arbeitstisch aus:

»Erst die Karnickel und nachher im Zusammenhang der Dinge alles andere! Fürs erste aber, Thedor, hielte ich noch ein bißchen fest an dem Gedanken ans Abiturientenexamen. Wie wär's denn, wenn wir wirklich mal etwas ganz Nagelneues aufs Tapet brächten, wenn wir sozusagen zum allererstenmal in der Welt die Hauptsache zum Hauptsächlichen machten und die beigegebenen Bilder und Kupfer, die Allotria meine ich, erst hintenan hefteten? Der Herr Kriegszahlmeister Tieffenbacher ist übrigens, beiläufig, mir ein recht lieber, solider und sozialer Nachbar; – allen Respekt, ein sehr würdiger und respektabler Herr, der Herr Kriegszahlmeister, und sehr interessant nebenbei für Ilmenthal, Thedor; – ich rechnete mich aber lieber nicht in dieser Beziehung ganz und gar zu unserer hochlöblichen Schildbürgerei, Thedorchen!«

Der Schüler rettete seinen Markus Tullius aus der germanischen Dinte, aber er hatte sich nimmer so tief – nach der germanischen Schülerredensart – in derselben gefühlt wie in diesem Augenblicke. Dazu fühlte er sich merkwürdig tief in seinen wunderbarsten Empfindungen gekränkt und wußte sich, wie stets in dieser Lebensepoche, gar nicht dabei selber zu Hülfe zu kommen. –

Es war eine Wildnis gewesen, das Phantasie-Versuchsfeld des jüngsten Rodburgs, sodann hatte der spekulative Handschuhmacher den trivialsten Haus- und Küchengarten draus gemacht, und jetzt war wiederum ein anderes daraus geworden. Das Haus hatte sich bedeutend weniger verändert als der Garten. Wir haben es hier nur mit der Rückseite des Gebäudes zu tun, und auf die verwendet der gute, aber sparsame Bürger wenig oder gar nichts. Rückt ihm von der Straßenseite her dann und wann die Polizei von wegen Verwahrlosung und öffentlichem Ärgernis auf den Hals, so tut er, was er kann; aber das ist nie mehr, als er muß. Nach hinten hinaus hat ihm, Gott sei Dank, keiner was zu sagen, und so bleibt da durchschnittlich alles beim alten durch die Generationen, und der Regen wäscht und die Sonne trocknet; und die Vermalung und Verschalung, das Mauer- und Balkenwerk, kurz, alles, was dazu gehört, hält sich oder vergeht, wie es kann und gleichfalls muß. Diesem Prozeß war auch das Haus des Notars Rodburg durch alle Instanzen gefolgt, und bis jetzt schienen auch die neuen Bewohner wenig den rechten Willen zu haben, dem Verfall Einhalt zu tun; aber ein Gartenliebhaber schien der Herr Kriegszahlmeister Tieffenbacher im höchsten Maße zu sein. Das war aber auch gar nicht anders möglich; denn nur in einen wirklichen, wahren Zaubergarten hinein paßte die wunderschöne junge Frau und Dame, die er sich nach dem »langweiligen« Ilmenthal mitgebracht hatte, und zwar aus der allerromantischsten Ferne.

Und das Schicksal hatte es natürlich gewollt, daß der Ilmenthaler Schuljunge die schöne Nachbarin den ersten Blick auf ihr neues Besitztum tun sah. Von seinem Fenster aus hatte er sie in seines Vaters Garten hineinschreiten und ihr langes Gewand sich nachziehen sehen, und der lateinische Autor vor ihm war die nächste Stunde hindurch darob sehr zu kurz in seinem Rechte gekommen, obgleich er zufällig grade Quintus Horatius Flaccus hieß und sonst eigentlich kein übler Poet für die Gelegenheit war.

Die Frau stand und hielt in der Sonne die Hand über die Augen, ihr neues Besitztum betrachtend. Sie blickte über die Kohl- und Kartoffelanpflanzungen des vorigen Eigentümers hin, sie sah an den Hauswänden und Mauern der Nachbarschaft empor, und zuletzt sah sie auch zu dem blauen Himmel über ihr hinauf, wie der jugendliche Lauscher an seinem Fenster meinte. Er hätte dreist darauf schwören dürfen, daß sie recht verdrießlich die Zähne auf die Unterlippe setzte; er schwor aber auf nichts, was ihm die Illusion von höchster Anmut und Güte hätte stören können; er zitierte bloß mit klingender Seele aus dem klassischen Lyriker auf dem zerkratzten, zerschnittenen, dinte-überspritzten deutschen Schülerarbeitstische:

»Intermissa Venus diu
Rursus bella moves.
Parce, precor, precor!«

und das war sein vollständiges, wundervolles, eselhaftes Recht! ... O, was würden wir dem zahlen, der uns die unschuldige, wundervolle, auf Goldwolken über olympische Disteln herfallende Eselhaftigkeit des armen Jungen, und wenn auch nur auf eine sonnige Stunde an einem blauen Sommermorgen, zurückgeben könnte!

In den ad usum scholarum edierten Ausgaben des alten Poeten fehlt stets diese erste Ode des vierten Buches; aber, gottlob, es sind auch noch andere Editionen in den Händen der schüchternen Jugend, und großen Schaden haben sie wirklich noch nicht angerichtet.


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