Wilhelm Raabe
Gutmanns Reisen
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel.

Wo willst du hin, mein Junge?« fragte anderthalb Stunden später Vater Gutmann, zu gleicher Zeit vergeblich den Versuch machend, sein Kind am Rockschoß auf seinem Platze festzuhalten. Der Ausschuß hatte sich natürlich sehr geirrt in seiner Hoffnung, daß man seinen Antrag unberedet annehmen und über alle andern sofort zur Tagesordnung übergehen werde. Dazu war man doch nicht nach Koburg gekommen! Sie standen alle auf ihren Anträgen, und das einzige, wozu der Ausschuß die Zustimmung der Versammlung erlangt hatte, war der Beschluß, daß jeder wenigstens nicht länger als zehn Minuten lang seine Meinung sagen dürfe.

Nun hatten schon geredet: Herr Dr. med. Lüning aus Rheda, Herr Dr. jur. Rückert aus Jena, Herr Obergerichtsanwalt Ladenburg aus Mannheim, Herr Rechtsanwalt Schüler aus Ichtershausen, Herr Geheimrat Welcker (der alte Welcker) aus Heidelberg, Herr Obergerichtsanwalt Weber aus Stade, und das Wort hatte Herr Advokat Dr. Braunfels aus Frankfurt am Main.

Letzterer hatte eben gesagt: »Ziemt es sich, daß die Braut um den Bräutigam werben muß, ohne daß dieser nur mit einem Zeichen zu verstehen gibt, daß er die Braut begehre? Ist Deutschland nicht wert, daß der Freier um es werbe?« und hatte damit als der erste die vergönnten zehn Minuten Seelenerleichterung überschritten, als – gerade infolge seines Wortes – Herr Wilhelm Gutmann es nicht länger im geschlossenen Raume aushielt, sondern, wenn auch nur für einen Augenblick, hinaus wollte – mußte. Ob ihn Doktor Braunfels' zierliches Gleichnis ganz besonders an die Zwiebelmarktgasse und an Wunsiedel, an ein hübsches, kleines Mädchen in der erstern und aus dem letztern, an einen Sonne-Wonne-Morgen auf der Feste Koburg, an die Sonne, das Licht, das Leben überhaupt da draußen vor dem herzoglichen Reithause, erinnerte, können wir ja wohl noch dahingestellt sein lassen?

»Du gibst wohl mal einen Augenblick hier für mich mit acht, Alois. Ich bin sofort zurück; aber ich muß wenigstens fünf Minuten lang draußen Luft schöpfen!«

»Du bleibst unbedingt hier! Diesen Redner hörst du noch zu Ende! Wenn einer bis jetzt meine Meinung trifft, ist der das! ›Der Staat werde an Deutschlands Spitze gestellt, der es verdient!‹ Bravo, bravo! Willi, ich lasse dich nicht von mir! Hier bleibst du, – weiter reden, Herr Doktor!«

Dem Griffe des Vaters hatte der Knabe seinen Rockschoß entwunden, der ihn auf seinen Sitz niederdrückenden Hand des Freundes und Kindheitsideals hatte er sich zu fügen. Er hatte auch noch den Redakteur Reuß aus Nürnberg zu hören, der sehr vernünftig den Verein nur für eine »Vorbereitung« erklärte, und wurde ins Freie erst durch den Bankdirektor Amelung aus Stettin errettet.

Dem Mann hatte er in der Tat durch sein ganzes späteres Erdenleben eine freundliche, eine sehr freundliche Erinnerung zu bewahren! Und er hat es auch getan. Wenn später in der Familie von den Häusern Habsburg und Hohenzollern, von den Häusern Gutmann und Blume und von dem guten alten Haus Alois von Pärnreuther die Rede gewesen ist, dann hat Herr Wilhelm Gutmann jedesmal den Bankdirektor Amelung aus Stettin gesegnet.

»So sitze doch ruhig, Willi!« murrte Herr Alois. »Nur noch diesen einen Redner, und ich gehe mit. Ich hole mir Klotilde aus dem Schmollwinkel, – du sollst mal sehen, was für ein Mittel ich habe, das Kind vergnügt – sehr vergnügt – vergnügt fürs ganze Leben zu machen! Du sollst dabei sein, Willi; und wer weiß, unter welchen vergnügten Umständen ich dich noch in Wien bei uns sehe . . . Kruzitürken, was sagt der Mann da?«

»Ich glaube, daß der Staat Österreich zerfallen wird und zerfallen muß,« donnerte Herr Amelung von der Rednertribüne. »Seine historische Mission ist erfüllt, seit die Türken, gegen deren Vordringen es Europa zu verteidigen hatte, nicht mehr aggressiv sind. Wir können von dem Staate Österreich nichts hoffen und wollen nichts von ihm wissen. Wir wollen die zum deutschen Bunde gehörigen Brüder Österreichs für Deutschland erhalten, wir werden sie mit offenen Armen empfangen, sobald sie in den Bundesstaat eintreten können, aber wir können mit der Konstituierung der deutschen Einheit nicht warten bis zu der, hoffe ich, baldigen Zertrümmerung des Hauses Habsburg.«

Beifall, Murren, und der Ruf:

»Das ist stark!«

Auf beiden Füßen stand Alois von Pärnreuther, beide Arme, beide Fäuste hatte er hoch in den Lüften, und vergeblich versuchte jetzt sein Freund Willi ihn auf seinen Sitz herniederzuziehen.

»Es ist zu stark!« schrie er, und das Wort des Präsidenten:

»Ich ersuche den Redner, sich zu mäßigen,« galt nicht ihm.

»Ich glaube nicht, etwas gesagt zu haben, was irgend anstößig sein könnte,« meinte Herr Amelung.

»Ich ersuche den Redner fortzufahren,« sprach Herr von Bennigsen, und wenn Herr Wilhelm Gutmann irgend einen Augenblick benutzen wollte, Fräulein Klotilde Blume selber in der Zwiebelmarktgasse aufzusuchen und sie nicht von dem heroischen Freunde abholen zu lassen, so war derselbe jetzt gekommen.

Zu seiner ewigen politischen Schande müssen wir sagen, daß er ihn benutzte. Von der Tür aus sah er noch einmal zurück, sah Pärnreuther hoch aufgeschnellt in den Armen seines Vaters, des Vaters Blume und des Onkels Poltermann zappeln und – seufzte jauchzend aufatmend: »So! . . . Nun hat er ja fürs erste noch eine andere Beschäftigung als mit – mit – ihrem Vergnügen in Koburg!« . . .

Er war draußen, blieb fürs erste draußen und vernahm also auch nicht Amelungs sehr richtiges Wort:

»Wie die Verhältnisse sich entwickeln werden, das können wir alle nicht wissen, aber davon bin ich überzeugt, daß bei der ersten großen Veranlassung, bei dem ersten äußeren Kriege, Preußen im Interesse seiner eigenen Selbsterhaltung gezwungen sein wird, das Programm des Nationalvereins zu realisieren, mag seine Regierung dann geführt werden von wem sie wolle, von Bismarck-Schönhausen oder von Schwerin.«

 


 


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