Wilhelm Raabe
Gutmanns Reisen
Wilhelm Raabe

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Achtes Kapitel.

Das Mädchen ist allerliebst und obendrein ein wirklich braves und verständiges Kind,« sagte Vater Gutmann vor der Tür. Auf dem Wege über die Gasse setzte er aber noch hinzu: »Übrigens lieb ist es mir doch, daß ich zu allen Vaterlandssorgen nach dem Letztgehörten auch auf dich, mein Sohn, nicht noch zu passen habe, von wegen leichtsinniger Reiseverplemperungsgelegenheit. Dieser unbekannte junge angenehme Herr, über dessen Mitkommen Fräulein sich sehr freuen würde, ist mir offen gestanden in dieser Hinsicht ein wahrer Trost. Auch wegen meiner späteren Verantwortlichkeit deiner Mutter gegenüber.«

»Mach mich nicht zu lächerlich; ich bitte dich allmählich doch ernstlich darum,« brummte der Sohn, und darauf brummte (zum erstenmal auf seinen neuen Reisen!) der Alte: »Na, du bist auch ein Muster, mit dem mich früher mehr als einer und mit Recht aus dem Kontor hätte schmeißen dürfen!« und vor der Tür des Schneidermeisters Daniel: »Und für diese Sorte sucht man noch in seinen alten Tagen einen neuen nationalen Kulturboden zuzurichten! Junge, verdirb du mir die Laune nicht; – öde mich nicht an, da ich endlich einmal wieder auf Reisen bin! Ich bitte allmählich auch dich recht darum! Kleinkrämer, Kleinstädter, Kleinstaatler, sind wir jetzt am Werke, das neue deutsche Reich zu gründen, und wenn so etwas nicht mit Nachdruck, Heiterkeit und Jugenddummheit geschehen kann, so – hättest du mich lieber zu Hause lassen sollen!«

Der Junge fiel dem Alten vor der Tür des Schneidermeisters Daniel, Zwiebelmarktgasse Numero elf in Koburg, um den Hals und küßte ihn auf beide Backen:

»Und dies deutsche Volk glauben sie unterkriegen zu können!«


Was könnte dieses herrliche deutsche Volk an dieser Stelle für eine wundervolle Bekanntschaft an seinem anderen Volksgenossen, dem Schneider Daniel in Koburg, an dessen Frau und dessen Hauswesen machen, wenn es das Geld dafür hätte! Aber ich fürchte leider, das Buch von Gutmanns neuen Reisen, wird ihr, der edlen deutschen Nation, der edelsten der Welt, jetzt schon zu dick und zu teuer. Ergeben, aus alter Erfahrung ergeben in die »pekuniäre« Armut der Denker- und Dichterrasse ziehen wir doch seufzend hier einen Strich durch den Reichtum unseres diesmaligen Quellenmaterials. Was ihm auch im Schoße der Zeiten verborgen liegen mag, dem deutschen Volke: in dieser Hinsicht können wir ganz ruhig sein, da kriegt keiner es unter. Ja: »Bildung macht frei,« sagte Meyer in Hildburghausen. »Aber billig muß sie sein,« sagt das deutsche Vaterland, und beide haben vollkommen recht. »Juchhe, wenn ich erst dreißig Jahre tot bin,« jauchzte Schopenhauer, der alte boshaftige »Holländer«! –

Sie haben ihr Gepäck unserem ganz besonderen Freunde Daniel und seiner Frau überliefert – hingeworfen; sie haben den Hausschlüssel von der Nummer elf der Zwiebelmarktgasse in der Tasche, sie haben wütenden Hunger und noch wütenderen Durst und sind ebenfalls auf dem Wege nach dem Löwen, kaum eine Viertelstunde nach ihrem Abschied von Fräulein Blume aus Wunsiedel. Wenn es begreiflich war, so sprach es doch nicht für sie, daß das »allerliebste Mädchen«, das »brave und verständige Kind«, kurz, das ganze hübsche Reiseabenteuerchen ihnen augenblicklich wieder vollständig Nebensache geworden war.

»Vor allen Dingen jetzt was Warmes, und dazu was Kühles, Wilhelm,« seufzte Vater Gutmann. »Das sage ich dir aber, Junge – Mäßigkeit! Bis jetzt hat Deutschland nur schwimmend durch jedwedes provinzielle landesübliche Getränke den festen Boden seiner hehren Zukunft zu erreichen erstrebt. Auch das muß anders werden! Von jetzt an mit nüchternstem Ernst ganz zur Sache!«

Der Sohn kannte den Vater gut genug von der heimatlichen Kegelbahn, aus den Parteiversammlungen und aus dem Klub der Optimaten her, um zu wissen, wie Germanien das meinte.

»Ich bin so lange nicht in der Welt und also auch nicht in Koburg gewesen, daß ich hier leider vollständig im Dunkeln tappe,« seufzte der greise Redivivus, der wieder aufgelebte Reisegreis. »Hast du eine Ahnung, was man jetzt hier tut, mein Kind?«

»Nach dem Löwen auf dem Steinwege geht man.«

»Freilich, da sitzen sie!« rief Vater Gutmann. »Dieser Onkel Poltrian oder Lauermann scheint mir nach den Sehnsuchtsseufzern des lieben jungen Dinges kein übler Herr zu sein. Für den Major spricht sein absolutes Vergessen seiner Pflichten gegen sein unglückliches Wurm, und beides spricht in der Tat für den Löwen. Das Getränk ist dort gut, wenn da so ein Onkel und so ein Vater solch ein herziges kleines Mädchen so vollständig aus den Augen verlieren! Uns, die die Geschichte eigentlich gar nichts anging, kam die Sache doch ruchlos vor. Aber was vergißt der Deutsche nicht, wenn er es irgendwo mal ausnehmend gemütlich findet?«

In Koburg waren an diesem Abend alle Hotels, Wirtshäuser, Kneipen und Schenken überfüllt und also auch der Löwe, dieses vornehmste Tier der Naturgeschichte und damaligen Koburger Gastgeberstatistik.

Wir könnten hier wiederum manche nette Einzelheit berichten, wenn nicht wiederum das Buch dadurch dem Leser zu teuer würde. Wie es sich machte, daß der alte frühere Lützowsche Reitersmann und jetzige Pastor Nodth dem Vater Gutmann und seinem Sohne die persönliche Bekanntschaft des Majors Blume und des Onkels Poltermann aus Wunsiedel vermittelte, das wäre wohl einer fröhlichen Schilderung wert; aber – na ja, wie gesagt! . . .

»Herr Pastor, das Vaterland!«

»Ja, aber das einige Vaterland, meine Herren!« lächelte freundlich der kleine, greise geistliche Herr und Kriegsheld. »Herr Poltermann und Sie, mein werter Herr Major, wie oft im Jahre dreizehn – an unsern Wachtfeuern gegen die lieben Herren Gegner aus Württemberg und Bayern haben wir –«

»Wenn ich die Ehre habe, Herrn Major Blume aus Wunsiedel vor mir zu sehen, so habe ich einen recht schönen Gruß zu bestellen. Mein Name ist Gutmann, und –«

»Mein Name ist freilich Blume,« sprach sehr überrascht der Major. »Wenn ich fragen darf, von wem –«

»Mein Sohn und ich haben das Vergnügen gehabt, mit Fräulein Tochter von Immelborn an bis hierher zu fahren. Auf hiesigem Bahnhofe –«

»Schwager Blume!« rief ein ebenfalls kleiner, dürrer, älterer Herr, mit beiden Armen und Händen hoch über dem Haupte. »O, das ist ja unverzeihlich! Wessen Uhr ist nun richtig gegangen? Dieses vergebe ich mir nie.«

»Ja, Donnerwetter, wer kann an solchem Tage immer nach der Uhr sehen?« rief der Major, in diesem Augenblick doch verstört die seinige herausreißend und zugleich hinter sich im Löwen nach seinem Hut hinauflangend.

»Machen sich die Herren weiter keine Sorgen,« beruhigte Vater Gutmann. »Fräulein war wohl ein wenig überrascht, keinen von der werten Verwandtschaft am Bahnhofe zu finden; aber mein Sohn und ich haben die freundliche Gelegenheit eifrig benutzt, uns der lieben jungen Dame zu verpflichten. Ich glaube, Herr Major, Sie können ruhig sitzen bleiben. Fräulein Klotilde befindet sich in vollkommener Sicherheit bei der Witwe Wellendorf, Zwiebelmarktgasse Numero zehn, und wir sind für die nächsten Tage hoffentlich angenehme Nachbarn. Mein Sohn und ich wohnen gegenüber in Numero elf: Schneidermeister Daniel.«

»Poltermann, das ist wieder mal deine Schuld!« schnarrte der Wunsiedler Major, langsam die Hand vom Hutnagel sinken lassend.

»Meine?« lallte der Onkel Laurian, diesem schändlichen Vorwurf gegenüber vollständig gebrochen und wehrlos.

»Ja, deine Schuld,« schnurrte der Vater Blume weiter. »Wer hat sich des Kindes von seiner Geburt an bemächtigt? Wer hat ihr den Namen Klotilde bei der Taufe aus dem Legationsrat Richter, aus unserm großen Landsmann und seinem Jean Paul, und aus dessen Hesperus angehängt? Wer hat Vater und Mutter das Mädchen aus der Hand genommen, um es, sozusagen, in seiner Apotheke für sich aufzuziehen? Herr Pastor, und Sie, mein werter Herr Gutmann, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf: Vater und Mutter hat das Kind nicht etwa um den Mann, sondern um den Onkel Poltermann aufgegeben und vergessen, und jetzt vergißt du so, zur rechten Zeit nach der Uhr zu sehen, und bleibst hier bei dem Herrn Pastor Nodth und mir im Löwen sitzen, anstatt zur rechten Zeit auf dem Bahnhofe zu sein! Und was hatten wir dem armen Geschöpf alles hier in Koburg zur Belohnung versprochen? Diese Geschichte kann ich nur einfach an meine Frau, deine Schwester, schreiben, Laurian! Ob sie sie glauben will, das ist ihre Sache.«

Wenn der Vater Blume seinen Hut hängen ließ, so hatte der Onkel Laurian den seinigen in zitternder Hast vom Nagel gerissen. Auf die schändlichen Insinuationen des Schwagers und das schalkhafte Lächeln des alten Lützowers hatte er keine Antwort, dagegen befand er sich in der Phantasie schon nach raschestem Lauf in der Zwiebelmarktgasse, hielt das arme vergessene Lamm – sein Lamm, sein Patchen in den Armen und ächzte ihm zu:

»Ich verzeihe mir dies niemals! Dein Vater sagt, ich sei schuld daran, und er hat recht, – ja, doppelt und dreifach recht! Ich, ich, ich bin es gewesen, du armes Würmle, der dich vergessen – ich bin der schlechte Onkel, der dich vernachlässigt, verleugnet hat, trotz allem, was er dir versprochen hatte!«

Er wollte eben aus der Tür des Gastzimmers im Löwen, als ihn ein anderer schlechter Mensch, Vater und Gatte noch einmal von seiner Pflicht zurückhielt, sogar mit körperlicher Gewalt; wenn auch anschmeichelnd, so doch am Rockschoß:

»Aber mein bester Herr! mein wertester Herr Poltermann, wenn ich Sie versichere, daß die junge Dame vollkommen in Sicherheit, aufs herzigste untergebracht ist bei der Witwe Wellendorf? wenn ich Ihnen mein Ehrenwort darauf gebe, (Sie können auch meinen Sohn fragen) daß sie in ihrer jetzigen Stimmung gar keinen von Ihnen zu sehen verlangt? wenn ich Ihnen meinen Eid darauf ablege, daß sie nach der Reise und nach den letzten schweren Tagen bei der Tante Adele wahrscheinlich sofort zu Neste geschlüpft – zu Bette gegangen ist? werden Sie uns – dann – hierauf auch – verlassen, um in dieser großen Zeit einen unnötig einsamen, verdrießlichen Abend in der Zwiebelmarktgasse zu versitzen?«

Der Onkel Laurian sah kläglich ratsuchend im Kreise umher, sein Auge heftete sich auf den alten Pastor Nodth, den ritterlichen Kameraden Theodor Körners. Dieser würdige geistliche Herr mußte ihm beipflichten, beispringen und ihn sofort nach der Zwiebelmarktgasse schicken.

Auch der tat es nicht!

Ja, so ein Lützowscher Jäger, wenn er auch noch so sehr Pastor geworden ist!

»Mein verehrter Herr,« lachte der freundliche Greis, »ich glaube, Sie könnten wirklich noch ein wenig sitzen bleiben. Wenn diese Herren versichern, daß das liebe Kind gut aufgehoben ist, so sehe ich wirklich nicht ein, weshalb Sie gehen wollen. Ein Vergnügen können Sie an diesem Abend der lieben jungen Dame hier in Koburg doch nicht mehr machen, und wenn Sie es ihr auch noch so fest versprochen haben. Bleiben Sie noch ein wenig; denn was Ihre vorhin geäußerten Ansichten über ein Wahlkaisertum anbetrifft, so –«

Der Onkel Laurian setzte sich wahrhaftig wieder hin! blieb wirklich noch ein wenig! Sie blieben alle noch ein wenig beieinander und lernten sich von Stunde zu Stunde immer besser kennen und trotz aller politischen Meinungsverschiedenheiten immer besser schätzen.

Der einzige, der wenig sagte und gar nicht schrie, war der Kameralsupernumerar Gutmann. Er war aber auch der einzige jüngere Mann in der Gesellschaft im Löwen. Und das hatte wohl seinen Grund: denn wer von noch beförderungsfähigen und -süchtigen jungen im Staatsdienste stehenden Germanen nach Koburg zu der ersten Generalversammlung des deutschen Nationalvereins ging, der tat das wahrlich nicht ohne Gefahr für sein bürgerliches Wohlsein und sein späteres Stellungnehmen in der Beamtenrangliste seines ihn besonders angehenden Staates.

Übrigens hatte auch Herr Wilhelm Gutmann den ganzen Abend durch, dem Onkel Laurian und dem Herrn Major Blume aus Wunsiedel gegenüber, die Frage auf den Lippen: wo sich denn eigentlich der angenehme junge Mensch aufhalte, den sie mitgebracht hatten nach Koburg, um Fräulein Nichte und Fräulein Tochter durch ihn eine ganz besondere Freude zu machen?

Auch damit kam er nicht heraus.

 


 


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