Wilhelm Raabe
Gutmanns Reisen
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel.

Der im Löwen Fräulein Klotilde eben zu Tische führte, als Vater und Sohn Gutmann in den Eßsaal traten, das war Herr Alois von Pärnreuther. Wer aber das Fräulein hinter der Stuhllehne stehen ließ und um den Tisch rannte und mit ausgestreckten Händen dem jüngeren Gutmann entgegen, das war auch Herr Alois von Pärnreuther.

»Willi!«

»Herr . . . Sie . . . du . . . Herr von . . . Oh!«

Willi Gutmann hat schon verschiedene Male in diesen Reiseberichten mit offenem Munde gestanden. Jetzt stand er mit weitgeöffnetem da – beide Hände in den Händen des Ideals seines Lebens. Zweifelnd und doch mit aller Gewißheit erfüllt: er stand ihm wieder gegenüber, dem glänzenden, ritterlichen Vorbild seiner Kinder-, seiner Flegeljahre. Ja, er war es: der Wiener Legionär, der Barrikadenkämpfer – aus schwarzer Nacht, durch Blut und Tod zur goldenen Freiheit –

»Alter Junge, wie freue ich mich, dich wieder zu sehen, dich an mein Herz zu drücken!« rief er, der freudige, der blondgelockte, der gerührte Heros von Neunundvierzig und Fünfzig und drückte den Kameralsupernumerar Gutmann aus H. an seinen – Bauch! – –

Er war es! Gott sei Dank, aus den Schrecknissen jener Jahre, aus Nacht und Blut und Tod gerettet und dem äußern Anschein nach und dem von innen ausstrahlenden Behagen nach sehr gut gerettet! Und blondgelockt war er auch noch. Um eine glänzend heitere, weit nach dem Hinterkopf zu reichende Stirn legte sich ein lichter Kranz von gelben Löckchen. Und er trug einen hellen Rock und helle Hosen und helle Weste und eine blaue Krawatte. Kein anderer deutscher Volksgenosse in Koburg machte einen so freundlichen Eindruck, wie dieser österreichische Bruder. Etwas kurzatmig schien er zu sein; aber das konnte von der Aufregung, vom überströmenden Gefühl herrühren. –

Willi Gutmann hing jetzt an seinen breiten Schultern. More germanico gaben sie sich mehr als einen unnötigen, feuchten Männerkuß. Sie klopften einander zärtlichst auf den Rücken und alles rundum, Vater Gutmann, Vater Blume, Onkel Poltermann und die ganze Tischgesellschaft im Löwen sah bewegt diesem Wiederfinden zu. Auch Fräulein Klotilde Blume, auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, sah ihm zu. Erst als sie sich mit den übrigen, der Sache doch Fernerstehenden setzte, und die Teller und Löffel und Messer und Gabeln anfingen zu klappern, kamen sie zum Bewußtsein, wo sie sich befanden und daß sie der Tafelrunde ein zwar schönes, aber doch eigentlich zu wohlfeiles Schauspiel zum besten gaben. Sie setzten sich also auch.

Herr von Pärnreuther trippelte um den Tisch zu seinem Stuhl an der Seite Klotildens. Major Blume und Onkel Laurian suchten ihren Platz an der nämlichen Seite. Vater Gutmann und Sohn fanden den ihrigen Wunsiedel gegenüber. Das Schicksal konnte dieses gar nicht besser einrichten, und daß es dem erregten Knaben den alten Lützower vom gestrigen Abend an die Seite schob, war ebenfalls sehr freundlich von ihm und geschah vielleicht nicht ohne Absicht. Jetzt erfuhr Wilhelm Gutmann, wie das Wort »Nullum vinum nisi Hungaricum« den Freiheitsritter von Achtundvierzig mit Wunsiedel, mit dem Apotheker Poltermann und durch den mit dem Major Blume, seiner Frau und seinen Kindern – Fräulein Klotilde eingeschlossen – in Verbindung gebracht hatte. Jean Paul Friedrich Richter hatte wenig damit zu schaffen; wenn je der Onkel Laurian dessen hohen, heitern Schatten beschwor, pflegte seine Schwester, die Frau Majorin, gewöhnlich zu rufen: »Weißt du was, Laurian? Drehe lieber deine Daumen! Mit Sentimentalitäten wollen wir uns jetzt nicht langweilen; der Herr von Pärnreuther mit seinen Wiener Geschichten ist mir zehntausendmal amüsanter als dein ewiger Jean Paul. Der hat ja sein Teil von Ehre und seine Büste neben der Kirche hier; also laß uns endlich mit ihm in Ruhe. Erzählen Sie weiter, liebster Herr von Pärnreuther – Sie sind himmlisch, und unsereinem doch nicht gar zu hoch! Klotilde, ist er nicht zum Totlachen?«

Gar zu hoch war Herr Alois von Pärnreuther keinem, und ein herzensguter, braver, vergnüglicher Kerl war er, das stimmte ausnehmend, und erwies sich auch im Löwen zu Koburg über Tische so. Er tat sein möglichstes, auch in Koburg alle zum Sich-totlachen zu bringen; aber was seinen Freund Willi anbetraf, so gelang es ihm damit gar nicht. Der erinnerte sich nicht, jemals ungemütlicher zu Mittage gegessen zu haben, als wie heute. Und daran war Fräulein Klotilde Blume schuld. Denn die tat fremd in einer Weise, die wirklich zu Boden drücken mußte. Wo war der blaue Himmel, die Morgenfrische, die Sonne von der Feste Koburg, wo war die Hoffnung auf einen Tag, um den die Götter zwei junge Menschen beneiden durften, geblieben? Es fehlte gar nicht viel, daß Fräulein Blume Herrn Kameralsupernumerar Gutmann sich noch einmal von ihrem Papa, jetzt erst formell, hätte vorstellen lassen. Jetzt saß sie ja nun in dem vollen Vergnügen, was ihr für ihre Tugend in Koburg versprochen worden war, aber es schien ihr gar kein Vergnügen zu machen. Rundum guckte man nach dem hübschen Mädchen, und sie wußte das und durfte dreist ihr weiblich Behagen dran haben; aber sie saß so ernst, so aufrecht, so steif, daß nur die Tante Adele in dieser Hinsicht aufrichtig hätte sagen dürfen: »Kind, so gefällst du mir! so schickt es sich! Gottlob, meine Ermahnungen scheinen doch endlich angeschlagen zu haben!« –

Natürlich war an diesem Mittage im Speisesaale des Löwen trotz aller deutschen Eß- und Trink-Heiterkeit die Unterhaltung politisch. Und das war noch der einzige Trost Willis. Schon platzten Anschauungen, Parteistellungen, Grundsätze, Stammeseigentümlichkeiten im bösen und im guten Sinne aufeinander ein. Noch klangen beruhigend die Gläser dazwischen; aber auch schrillere Töne mischten sich bereits ein, und auf diese richtete sich die Aufmerksamkeit des jungen Norddeutschen mit Vorliebe. Dieses lenkte ihn noch am ersten ab von der ein Viertel verliebten, ein Viertel freundschaftlichen und zwei Viertel verdrossenen Beobachtung seines Gegenübers. Man war bei den Krachmandeln angekommen und Alois schlug eben Klotilden vor, ein Vielliebchen mit ihm zu essen, als die Worte Großdeutsch und Kleindeutsch wie Blitze über die Tafel fuhren und erhöhter Gesprächsdonner ihnen nachrollte.

Herr Alois von Pärnreuther ließ die hübsche Herausforderung noch. »Einen Augenblick, Fräulein Klotilde!« rief er zärtlich, füllte sein Glas, hob es dem Vater Gutmann, hob es dem Sohn Gutmann zu und rief fast noch zärtlicher:

»Großdeutschland in alle Ewigkeit! Durch Nacht und Blut zur goldenen Freiheit: ein Herz, ein Volk, ein Land! O mein greiser Wohltäter, Erretter, Beschützer! O Willi, mein lieber, alter kleiner Willi, deine Mutter soll leben, und Großdeutschland daneben – Klotilde – Onkel Laurian, mein bester Herr Major, Großdeutschland für immer! Teure Klotilde, unsere Mama in Wunsiedel natürlich auch eingeschlossen in das eine, treue, deutsche Herz!«

Dagegen ließ sich unter den uns besonders ans treue deutsche Herz gewachsenen Leuten der Wirtstafel im Löwen nichts machen; obgleich Vater und Sohn Gutmann gerade nicht nach Koburg gereist waren, um auf Großdeutschland ein Hoch auszubringen.

Die Gläser von hüben und drüben klangen melodisch zusammen, und als Willi sich wieder setzte, flüsterte ihm sein Nachbar, der alte Lützower Reiter, Pastor Nodth, zu:

»Sagen Sie mir um Gottes willen, wer ist denn dieser treffliche, entzückte, dicke – junge Herr drüben?«

Der Kameralsupernumerar setzte es ihm so kurz und so gut als möglich auseinander, worauf der tapfere Greis kopfschüttelnd lächelte:

»Hm, hm, hm! ei, ei, ei! nun, nun, nun, da will ich nur wünschen, daß dieser wirklich prächtige, dieser liebe Herr aus Österreich seine jetzigen Gefühle für uns alle hier auch dann festhält, wenn die Verhandlungen der nächsten Tage nicht ganz seinen eben geäußerten idealen Anschauungen entsprechen sollten. Hoffentlich geht er nach Schluß dieser ersten Generalversammlung des deutschen Nationalvereins nur etwas enttäuscht und nicht ganz und gar wütend nach Hause.«

Willi Gutmann murmelte, er hoffe etwas Ähnliches; wenn er aber den alten Freiheitskämpfer an seiner Seite gestern abend schon gern gehabt hatte, so schloß er ihn von seiner jetzigen Anmerkung an völlig ins Herz. Warum? – Nun, nun, nun! ei, ei, ei! hm, hm, hm! –

»Sie gehen doch mit nach dem Schützenhause, meine Herren?« fragte Major Blume über den Tisch. »Ganz Koburg wird da sein, um seine jetzigen Gäste sich etwas genauer zu besehen. Sehr hübsche Mädchen in Koburg, Herr Supernumerar. Aber alle unterm Schutz von Mama oder Tante; also etwas Vorsicht, junger Herr!«

»Und vor allem keine Politik im Schützenhause!« rief der Onkel Poltermann. »Mag heute abend in der Vorversammlung der Sturm losbrechen, mag er morgen tosen – heute Nachmittag noch Friede, Kaffee, Kuchen und Konzertmusik auf vollkommen neutralem Grund und Boden!«

»Natürlich!« lachte Vater Gutmann. »Mein Junge und ich werden doch wohl keinen unnötigen Krakeel anfangen?«

Darauf wünschten sie sich allesamt eine gesegnete Mahlzeit. Herr Alois von Pärnreuther und der Onkel Laurian geleiteten Fräulein Klotilde nach der Zwiebelmarktgasse. Gutmann senior und Major Blume setzten sich im Löwen zu einer Partie Schach hin, und Gutmann junior fand auch an diesem Ort ein schwarzes Roßhaarsofa, auf welches er sich mit dem Fränkischen Kurier legte. Bis fünf Uhr nachmittags hatte er Zeit, hinter dem Blatt seine Gefühle für das Koburger Schützenhaus zu ordnen.

 


 


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