Wilhelm Raabe
Gutmanns Reisen
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel.

So sind die Mädchen! Die Kleine war vollkommen im Recht: sie durfte nicht nur reizend-zornig, sie durfte einfach wütend werden, und sie tat es nicht. Schon als der kühle Schatten des Torbogens der Feste Koburg auf sie fiel, fiel es mit ihm ihr schwer aufs Herz, wie unverantwortlich ruchlos sie eben gehandelt, wie sehr sie sich an dem guten, guten, guten Onkel Laurian vergangen habe. Sie war dem Weinen nahe, aber hundertundfünfzig Schritte hielt sie es doch noch aus, ging weiter bergab und gab ihren besseren Gefühlen nicht nach. Aber oh, was hätte sie drum gegeben, wenn der Onkel Poltermann ihr nachgerufen hätte:

»Aber Kind, so lauf doch nicht so! . . .

Aber Kind, bist du denn eigentlich toll geworden? was würde Wunsiedel dazu sagen, wenn ich ihm das von dir erzählte?«

Und das Kind stand, wandte sich, kam dem Onkel Laurian mit offenen Armen entgegen, ohne sich im geringsten vor seinem jungen Begleiter zu zieren und rief halb schluchzend und halb lachend:

»Ach Gott, Onkele, es war zu dumm; aber die Tante Adele hat mich doch auch ein bißchen zu nervös gemacht!«

Daraufhin traten dem Onkel Poltermann die Tränen in die Augen, er drückte sein Goldherz an sich und wandte sich an den Kameralsupernumerar Gutmann mit den Worten:

»Und wir haben sie nach Koburg kommen lassen, um ihr ein Vergnügen zu machen. Und was machen wir? Schlechte Witze machen wir.« –

O wie weit war Herr Gutmann der Jüngere davon entfernt, in diesem Augenblicke einen Witz zu machen; einerlei, ob gut oder schlecht! Dazu schwamm er doch zu sehr in Gefühlen, in Licht, in Flimmer, in Farben, in Reise-Freiheit und Feste-Koburg-Stimmungen. Aber sagen mußte er was; und was sagte er? Selbstverständlich die erste beste Dummheit, die ihm auf die Zunge kam.

»O Fräulein, müßte ich denn nicht eigentlich auch nach meinem Papa sehen? Wenn einer Gewissensbisse heute morgen haben müßte! . . . Ich sitze mit meinem Papa doch wahrscheinlich viel länger auf an allen möglichen und unmöglichen Orten als Sie! Und so auch gestern abend! Wer heute morgen ein schlechter Sohn gewesen ist, das bin ich! So ganz ohne Hilfe und Beaufsichtigung! Mein einziger Trost kann der nur sein, daß sie sich in der Zwiebelmarktgasse einander gegenüber wohnen, der Herr Major und mein Alter: so werden sie sich ja hoffentlich wohl auch von den Fenstern aus, beim ersten Luftschöpfen, aneinander gehalten und sich nachher gegenseitig aufeinander gestützt haben! . . . Und dann . . . dann ist ja . . . wohl noch der – andere jüngere Herr –«

Fräulein legte lachend Herrn Poltermann das Händchen auf die Schulter (sie klopfte ihn sogar drauf) und rief:

»Onkele, wie hübsch könnten wir jetzt ohne meine Albernheit noch da oben sitzen, und nun sind wir schon wieder hier unten in der langweiligen Stadt, und was mich anbetrifft, so weiß ich jedenfalls wieder nicht, was ich mit der Zeit anfangen soll, ehe ihr euer neues deutsches Reich und Vaterland fertig habt. Es soll mich jetzt nur wundern, ob ihr auch allein – ohne mich zu Tische geht. Nun, das Geld für eine Semmel auf einer Bank am Wege habe ich ja wohl noch in der Tasche.«

Wenn Rache süß ist, so wußte dieser kleine Dämon sie im Mündchen hin- und herzuwenden und zu genießen wie einen Bonbon. Das Gesicht des Onkels war so trostlos, daß es die wütendste indianische Rothaut zum Mitleid bewegt haben würde. Wunsiedels weißestes Lämmchen rührte es wenig.

Herr Wilhelm Gutmann hätte es in der Tat gern gesehen, wenn jetzt die zwei verloren gegangenen oder vielmehr vergessen wordenen Väter sich angefunden hätten. Es war nun ungefähr elf Uhr, und die Zeit bis zur Table d'hôte im Löwen also noch lang. Sie wandelten, wie das nach dem entzückendsten Morgenspaziergang stets der Fall ist, etwas abgespannt, sonnenmüde, gähnerisch gestimmt nach der Zwiebelmarktgasse. Da standen sie noch einen Augenblick zusammen zwischen der Witwe Wellendorf und dem Schneider Daniel und wußten einander aber wenig zu sagen; bis natürlich wieder Klotilde das rechte Wort fand.

»Gesegnete Mahlzeit, Herr Gutmann,« sagte sie. »Das war ein netter Morgen. Komm, Onkel Laurian.«

Der Jüngling grüßte verlegen und linkisch und fand sich wirklich, ohne daß er eigentlich recht wußte, wie es zugegangen war, in der Zwiebelmarktgasse allein. Darin allein stehenzubleiben, war wohl nicht angebracht. Gar nicht gut gelaunt stieg er in sein deutschbrüderliches Gastquartier hinauf, warf sich auf das kühle Roßhaarsofa und hatte die Unverschämtheit, nunmehr Verlassene-Waisen-Gefühle herauf zu beschwören und seinen vernachlässigten Erzeuger für seine jetzige Mißstimmung verantwortlich zu machen.

»Ob er mich wohl zum Essen abholt?« murmelte er vergrellt, aber dabei kam ihm ein lieblicheres Bild.

O, ebenfalls nur das Geld für einen Wecken in der Tasche zu haben, denselben zu kaufen und Fräulein Klotilde Blume mit dem ihrigen auf einer Bank im herzoglichen Schloßgarten zu finden! O, die Vorstellung des Göttermahls! O, wie würde Lucullus nicht bei, sondern in Gesellschaft von Luculla gespeist haben! Wie hätte der Koburger Löwe mit allen seinen kulinarischen Herrlichkeiten vor solcher offenen Tafel den Schwanz zwischen die Beine ziehen dürfen! – Der Jüngling erhob sich seufzend, die zauberische Idee blieb, was sie war, eine zauberische Idee. Da er denn jetzt gar nichts weiter mit sich anzufangen wußte, war er so gut und hielt ein Versprechen. Er schrieb an – seine Mutter! . . .

Er hatte das versprochen, er hielt sein Versprechen und die alte Frau sagte nachher, den Brief im Schoße: »Nein, so ein Goldherz! so treuherzig, so wahr! immer noch sein offenes Kinderherz! – – Ja, ja, verschiedene Söhne könnten sich an ihm und seinem Briefe ein gutes Beispiel nehmen.«

Wir dürfen leider den Brief nicht in unser Manuskript einheften, (wir haben ihn vor uns liegen!) das Buch würde viel zu dick dadurch. Wir müssen uns mit einem Auszug begnügen, und freilich genügt auch der.

Wilhelm meldete nach Hause, daß sie glücklich in Koburg angelangt seien, nach einer Reise, die durchaus nichts geboten habe, was den vernünftigen Menschen bewegen könne, von Hause abzureisen. Papa habe sogar bis Eisenach tatsächlich an Heimweh gelitten; von Eisenach an sei es, nach dem Mittagessen, etwas besser damit geworden. Vorzüglich habe auch die sehr lebendige politische Unterhaltung im Wagen viel zu seiner Auffrischung beigetragen. Daran habe er heftig teilgenommen und sei in Koburg angelangt mit der vollen Gewißheit, daß eigentlich jeder dort sein solle, um sein Wort bei der Neugestaltung des deutschen Volkes mitzureden.

Daß in Koburg gerade in diesem Augenblick drüben, jenseits der Gasse, ein allerliebstes, kleines Händchen die Gardine zurechtzupfte und sich mit den Resedatöpfen im Fenster beschäftigte, schrieb er nicht nach Hause. Dagegen teilte er mit, daß sie in der Zwiebelmarktgasse beim Herrn Schneidermeister Daniel ein recht annehmbares Quartier gefunden hätten, und daß Papa schon am Abend ihrer Ankunft eine recht interessante Bekanntschaft an einem sehr würdigen militärischen Herrn, einem Major Blume aus Wunsiedel, gemacht habe, und mit demselben eben noch eifrig an den Vorarbeiten für die erste große Generalversammlung des deutschen Nationalvereins in der herzoglichen Reitbahn sich beteilige. Er, diesmal der gute Sohn, habe sich dagegen mehr an den Schwager des Herrn Major angeschlossen, einen fast noch würdigeren älteren deutschen Landsmann, namens Herr Poltermann. Dieser Herr Poltermann werde wahrscheinlich auch in der Politik der nächsten Jahre noch eine bedeutende Rolle spielen; aber das sei es freilich nicht allein, was ihn (Wilhelm) zu diesem Herrn hingezogen habe. Herr Poltermann sei nicht bloß Politiker wie der Herr Major, sondern er habe auch noch Interesse für vieles andere. Er habe ein Auge für Schönheit im Menschenleben, in der Natur und in der Kunst, und – in seiner interessanten Begleitung habe er (wieder Willi), diesen ganzen ersten, schönen Koburger Morgen durch, die eingehendsten Forschungen in den geschichtlichen und anderen Sammlungen der Feste Koburg angestellt. Dann seien sie aber etwas ermüdet zu Hause angelangt. Wenn nun der Papa von seiner Sitzung gleichfalls nach Hause komme, werde man wohl zu Tische gehen, im Löwen, dem besten und recht guten Gasthofe der Stadt. Und auch billig. –

Damit grüßte das Goldherz, bat Mama, sich ja um nichts zu ängstigen, schob den treuherzig kindlich aufrichtigen Bericht ins Kuvert, leckte mit einem Seufzer und einem Blick nach den Fenstern der Witwe Wellendorf an die Briefmarke, schrieb ohne die geringsten Gewissensbisse die Adresse und sandte mit der Leistung den Lehrjungen des Meisters Daniel nach dem nächsten Briefkasten. Der Schlingel! –

Er lag, mit den Händen unterm Kopf, seiner so wohl abgetanen Kindespflicht froh, in dem, was einige einen süßen Halbtraum, andere einen träumerischen Dusel nennen, auf dem Roßhaarsofa, als sich auf der Treppe ein etwas schwerfälliger Tritt und ein sehr schwermütiger Gesang:

»Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus –«

vernehmen ließen.

»Da ist der Alte,« murmelte der treffliche Sohn. »Und wie es scheint, recht vergnügt. Na, meinetwegen!«

Die Tür wurde aufgerissen und in der Tat, fröhlichen, hochleuchtenden Antlitzes trat Vater Gutmann ein und sprach, ohne den geringsten Vorwurf in Miene und Stimme kundzugeben:

»So? Bist du endlich wieder da, Junge? pietätloser Bursche! Na, wo hast du dich denn herumgetrieben, wenn man fragen darf?«

»Die Sammlungen der Feste Koburg besehen.«

»Solus?«

»N, n, nein; – mit Herrn Poltermann und – und Fräulein Blume, unserer kleinen Bekanntschaft von gestern!«

»So?« sprach Vater Gutmann, seine Zustimmung nickend. Dann hielt er sich aber nicht länger in der ruhigen Kundgebung seiner Morgenerlebnisse. Er schwang den Hut, den Stock und das Sacktuch in die Luft und schrie: »Junge, wenn ich's heraus habe, was ich heute morgen für eine Bekanntschaft gemacht oder vielmehr erneuert habe, dann wird es dir leid tun, daß du doch nicht lieber bei mir geblieben bist! Rate, wen ich im Löwen wiedergefunden habe?«

»Ja, zum Henker, wer kann deine Bekanntschaften alle kennen? Wenn ich bloß an Eisenach und die Frau –«

»Dummes Zeug! Dieser fällt in ganz anderer Weise in deine Bekanntschaft mit! Ahnst du, wer mit meinem Freunde Blume und deinem Freunde Poltermann aus Wunsiedel gekommen ist, um unserer gemeinschaftlichen, wirklich allerliebsten kleinen Freundin hier in Koburg ein Vergnügen machen zu helfen? Weißt du, wer lieber im Löwen abgestiegen ist und nur heftigen Kopfwehs und großer Reiseabspannung wegen nicht mit bei Tische sein konnte?«

Gutmann junior hatte längst beide Beine vom Roßhaarsofa herunter und beide Füße auf dem Boden und murrte gespannt, aber gar nicht freudig-erwartungsvoll zum Vater emporblickend:

»Nun? Mach der Sache ein Ende! Welchen alten Mitsünder deiner besseren Tage hast du wieder aufgegabelt?«

»Ihn!« rief Vater Gutmann. »Wie deine Mutter es vorgeahnt – es ahnungsvoll für möglich gehalten hatte: Ihn! . . . unsern Pärnreuther! unsern Flüchtling vorm grausen Windischgrätz! unsern edlen Schleswig-Holstein-Kämpfer! unsern Alois! unsern guten, braven, heroischen, alten Jungen, unsern Alois von Pärnreuther aus Wien. Er ist inkognito hier, das heißt, er hat sich nicht in die Präsenzliste eintragen lassen; denn kriegen sie es zu Hause bei ihm gedruckt zu lesen, daß er hier gewesen ist, so hängen sie ihn diesmal nicht, aber sie prügeln ihn zu Tode, und sein Geschäft ist auch futsch!«

Er hatte gestanden, jetzt saß er wieder. Er war vom Stuhle aufgesprungen. Mit einem Pinselstrich aus einem lachenden ein weinendes Kind, oder umgekehrt, zu machen, ist kein Kunststück, obgleich es als solches durch die Anekdotenbücher geht: aber das Gesicht Wilhelms in diesem Momente zu malen, dazu hätte man Herkomer kommen lassen können, und wenn der nichts ausgerichtet hätte, Lenbach und Angeli und Gussow und wie sie heute sonst alle heißen mögen.

»Pärnreuther! . . . unser, unser Pärnreuther und Alois!« stammelte der Sohn erstaunt, während der Vater immerfort einen Tanz freudiger Aufregung um ihn her aufführte.

»Ja, Pärnreuther! Unser Alois, unser Heros, unser Held! Deiner Mutter liebenswürdiger, mitleidswerter, lorbeergekrönter, hübscher, lockiger, vergnügter Heros! Junge, das glückliche Zusammentreffen mit ihrem Wiener armen Liebling wird alles bei ihr entschuldigen, was wir zwei jetzt noch in der Fremde ausfressen mögen, wenn – wir es in das rechte Licht stellen. Blumes in Wunsiedel sind ebenso entzückt von ihm, wie wir es vor zehn Jahren waren. Und was das reizende kleine Mädchen anbetrifft, nun, so hat der Major –«

»Was hat der Major?« wollte Herr Wilhelm Gutmann losschreien, bezwang sich jedoch und stammelte nur: »Aber – wie kommt der Mensch – der Freund – euer Freund, Papa, denn nach Wunsiedel? Wie gerät er nach Wunsiedel und zu dem Herrn Major und – seiner – Familie?«

»Aus demselben Grunde wie damals zu uns. Nein! gar nicht. Aus ganz entgegengesetztem! Damals trieb ihn der Krieg, die Revolution, der Windischgrätz. Jeden Morgen fragte ja deine Mama: Und diesen wahren Engel von jungen Menschen haben sie wie einen Hund am Strick in die Höhe ziehen wollen? Diesem richtigen Kindergemüt haben sie neun Gewehrkugeln in sein lustiges, unschuldiges Herz plazieren wollen? – Jetzt treibt ihn der Friede, und er treibt friedlich sein Geschäft. Seine Jurisprudenz hat er natürlich an den Nagel hängen müssen, nach seiner endlichen Begnadigung. Angestellt hätten sie ihn nicht, und so ist er jetzt Weinhändler. Du kennst den Esterhazykeller in Wien nicht; aber ich kenne ihn. Darin hat er, in einen Pelz vermummt, unterirdisch bei trübem Ampelschein seine heimatliche Existenz von neuem begründet und Süßen und Herben ohne Unterschied der politischen Richtung verschenkt. Bis sich die Gemüter vollkommen beruhigt hatten und er wieder mit seinem braven, lachenden Gesicht ins volle helle Tageslicht steigen konnte. Sein Schicksal hat ihn so auf seine jetzige Tätigkeit hingewiesen. Seine geschäftliche Verbindung mit den Grafen und Fürsten von Esterhazy hat sich erweitert. Er schenkt ihren Süßen und Herben nicht mehr schoppenweise, sondern ist Großhändler; – na, du wirst dich wundern: derselbe prächtige, ritterliche Kerl wie Anno Neunundvierzig-Fünfzig, nur in etwas anderer Fasson. Er freut sich sehr, dich, seinen kleinen Freund Willi, wieder ans Herz schließen zu können. Er ist ein Löwe, er wohnt hier im Löwen und er hat im Löwen für uns alle bereits Plätze belegt für die Table d'hôte. Wie er nach Wunsiedel gekommen ist, kannst du bei Tisch von der Familie Blume selbst hören. Die Mama Blume schwärmt jetzt gerade so für ihn im Jahre Sechzig, wie deine Mama im Jahre Fünfzig für ihn schwärmte. Ja, diese Wiener, diese unwiderstehlichen, deutschen österreichischen Brüder!«

»Die Sache ist wundervoll!« rief Herr Gutmann der Jüngere. »Wann werden wir denn übrigens im Löwen zu Tische erwartet? Wenn ich auch kein Löwe bin, so habe ich doch einen Löwenhunger und könnte den ersten besten anfressen!«

 


 


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