Wilhelm Raabe
Der gute Tag
Wilhelm Raabe

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V.

Sie ging schmuck herfür aus ihrer Kammer und war lieblich anzuschauen. Ihre Augen waren wacker, ihre Heiterkeit machte den Eindruck alles Echten. Die große Tragödie wie das wahrhafte Volkslied bringen es nicht weiter in ihren Wirkungen. Auf den witzigen und den melancholischen Familienvater, ihre Frauen und Kinder sowie das ganze übrige Haus wirkte ihr Wesen wie ein Gemisch von beiden – Volkslied und Tragödie. Letztere aber hatte, des unvermeidlich heute sich in den Vordergrund drängenden Dialogs wegen, das Prä, wie – sich viele deutsche Honoratiorentöchter ausdrücken würden.

»Na gottlob, ich habe es gut«, sagte der witzige und zugleich gewitzigte Familienvater. »Ich gehe aufs Büro und überlasse es meinem unglücklichen Weibe, mit ihr fertig zu werden. Bis zum Mittagsessen habe ich es gut; für die Nachmittag- und Abendgefühle kann ich freilich nicht einstehen. Na, wie sagt Macbeth?

–   –   –   –   –   –   Komme, was kommen mag,
Zeit rennt und Stund auch durch den schlimmsten Tag!

Ich schicke meine eigene Lady Macbeth mit der Miete zu ihr, und ich hoffe und bin fest überzeugt, daß Ännchen sich, mir und uns nichts vergeben wird. O sie freute sich ja schon seit acht Tagen drauf, heute ihren Standpunkt zu behaupten!«

Der schlimmste Tag! Ja, so schlecht-mißtrauisch ist die Welt, selbst der echtesten, ursprünglichsten Herzensnaivetät gegenüber, was sich alle die merken mögen, welche darin, dadurch und darauf ihr Wirken gründen, und was allen denen recht gibt, die das Gegenteil tun und also behaglich und meistens auch in guten Geldverhältnissen durch die böse Welt kommen. –

Viel eiliger denn sonst goß der witzige Familienvater den Trunk der Zichorie hinunter; auch die Zeitung las er heut nicht im Kreise der Seinigen; er schob sie in die Brusttasche und nahm sie mit nach dem Büro. Er ging oder lief vielmehr, und sein Weib sah ihm nach, aber nicht wie sonst nach ihrer lieben Gewohnheit aus dem Fenster; denn dazu ärgerte sie sich diesmal doch ein wenig zu sehr über ihn.

Währenddem wuchsen Fräulein die Schwingen, von denen sie in ihren nächtlichen Träumen getragen worden war, immer mehr nach innen; je weiter der Tag vorrückte, desto gehobener empfand sie sich; und als sie gegen elf Uhr den Schritt des melancholischen Familienvaters vor ihrer Tür vernahm, war hier eine Steigerung kaum noch möglich.

Der melancholische Familienvater sollte das Glück genießen, der erste zu sein, der mit der Miete kam. Er war sonst das, was man einen vierschrötigen Passagier nennt; aber jetzt schlich er her wie ein naschend Kind, was er gar nicht nötig gehabt hätte; denn er war höchlichst willkommen und durfte dreist den größten Löffel mitbringen, um den Rahm der heutigen frommen Denkart Fräuleins abzuschöpfen. Es blieb für die andern Hausgenossen immer noch genug übrig, und selbst das Ausscharren des Topfes konnte noch einer ganzen Familie den Appetit für lange Wochen verderben. Der bängliche Näscher klopfte an, und Fräulein rief: »Herein!«

Sie hatte schon auf ihn gewartet und sich auf ihn gefreut, und nicht auf ihn allein. Sie erwartete heute noch manchen Besuch aus ihrem Hause und freute sich darauf.

»Ah, Herr Kaesewieter, wie glücklich machen Sie mich endlich einmal!« hauchte sie lächelnd. »Daß es Ihnen, Ihrer lieben Frau und den süßen Kleinen nach Wunsch geht, weiß ich freilich aus dem ewigen muntern Lärmen und Getrappel über meinem Kopfe; aber Sie, Herr Kaesewieter, sieht man dessenungeachtet so selten, daß man wahrhaftig mit Sehnsucht den ersten Tag im Vierteljahr herbeiwünscht.«

»Was Sie sagen, Fräulein!« rief Herr Kaesewieter trübsinnig, und matt fügte er hinzu: »Jaja – ei freilich; es mag wohl Leute geben, die gern den Tag jede Woche einmal erlebten. Das ist aber nicht bloß Geschmackssache, sondern es kommt da vielmehr auf den Standpunkt an. Mein Standpunkt ist's leider nicht! Übrigens, Fräulein, komme ich –«

»Bitte, nehmen Sie doch gefälligst Platz, Herr Kaesewieter«, flötete Fräulein Adelgunde, und der melancholische Familienvater nahm, seine Brieftasche hervorziehend, wirklich Platz; – er seufzte, der Stuhl seufzte; Fräulein aber saß sanft, weich, unsagbar milde auf dem Sofa, legte eine ihrer Stricknadeln an den leise vibrierenden Nasenflügel, nickte ermutigend und räusperte sich – das größtmöglichste Zutrauen erweckend. –

Herr Kaesewieter räusperte sich gleichfalls und fing an, seine Talerscheine aufzuzählen. Eine Erfrischung wurde ihm zwar nicht dabei angeboten; aber er durfte dreist an dem Daumen lecken und nach einem bänglichen Griff an die immer trockener werdende Kehle einen feuchten Blick zur Stubendecke hinaufsenden.

Grade über seinem Kopfe hielt dort oben seine Gattin krampfhaft den Atem an und die Köpfe ihrer vier kleinen Mädchen an sich gedrückt. Auf die Gefahr hin, die armen Würmer selber zu ersticken, erstickte sie jeden Laut derselben, um des tödlichen Genusses dieses Lauschens willen.

»Jetzt ist er dabei! jetzt ist er am Werke!« stöhnte sie. »Jetzt muß es sich entscheiden!«...

Und es entschied sich. –

Donnernd wurde drunten ein Stuhl gerückt. Dumpf dröhnend erschallte des Gatten Stimme. Dazwischen ein recht helles Gekreisch! Eine Tür wurde aufgerissen und mit Macht zugeschlagen.

Fräulein hatte gesteigert. –

Der Schritt des Gatten polterte auf der Treppe; – da war er, und zwar nicht im mindesten mehr melancholisch, sondern in lustigster Wut und Raserei. Nun durfte er sich auf das Sofa setzen, und er tat's; das heißt, krachend warf er sich drauf: kein Sanguiniker hätte ihm das im höchsten Jubel so nachgemacht.

»Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an,
Wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt,
Und froher kehr ich, wenn ich es gemustert,
Zu meinem schönern Eigentum zurück –,

lispelte drunten Fräulein, ruhig weiterstrickend. Sie hatte nicht einmal ein Auge fallen lassen. Eine Parze konnte sie um ihre Seelenruhe beneiden.

Droben schrie der Vater Kaesewieter: »Hu, der Satan!... Weib, wir ziehen aus!«.......

Auch wir ziehen aus; d. h. frische Luft oder auch nur andere Luft wird uns zu einem unerläßlichen Bedürfnis. Wir verlassen das Haus, atmen in der menschenwimmelnden Gasse (ja selbst da!) aus tiefer Brust und suchen den witzigen Familienvater in seiner Schreibstube auf. Eine Erfrischung da zu hoffen, wo sie sonst niemand sucht, ist immer etwas Seltenes. Seltene Menschen sind immer etwas Rares in der Welt, und es ist an und für sich hübsch und eine wahre Erfrischung, sich plötzlich mitten unter solchen zu finden und sich dreist zu ihnen rechnen zu dürfen.

Doch auch auf dem Büro herrschte eine gedrückte Stimmung und war die Luft schwül. Scritto nel tempo del scirocco, während des Schirokko geschrieben, sagen die Italiener von einem langweiligen Buch: wie geistreich, munter und vergnüglich zu lesen mußten nun die Akten und Protokolle ausfallen, die heute an diesem schirokkohaften ersten April in diesen ernsten Räumen geschrieben und aufgenommen wurden.

Die außergewöhnliche Zerstreutheit, an welcher unser witziger Freund litt, erregte jedoch die Aufmerksamkeit weder des Chefs noch der Kollegen noch der Subalternen. Sie litten alle an bedenklicher Zerstreutheit bis auf einen bucklichten Registrator, der selber Hausbesitzer war. Es wurde die Geschichte eines jeden erzählt. Sie horchten alle mit mehr als halbem Ohre nach Hause, bis natürlich auf obenerwähnten Registrator, nach welchem selbstverständlich seine Inquilinen hinzuhorchen hatten.

Worte verlieh sonderbarerweise fürs erste keiner seinen innern Schmerzen; dagegen hatte aber auch nur selten einer von ihnen einen so regen innerlichen Verkehr mit seiner Frau daheim gehalten wie jetzt.

Ach ja, weit davon ist nicht immer gut vor dem Schuß, und jetzt in der Epoche der weittragenden Geschütze eigentlich gar nicht mehr. Der witzige Familienvater, der auch Landwehroffizier war und in seinem Klub als Autorität für Dreyse, Mauser, Chassepot, Martini, Henri, Schneider, Werder usw. usw. galt, wußte das nur zu genau.

»Gott, ich werde Anna nicht aus den Gedanken los«, murmelte er. »Jetzt wird sie wohl im Werke sein und unser Schicksal sich entscheiden! Gütiger Himmel, wenn sie sich nur einmal in ihrem Leben mäßigt und recht höflich ist! Vielleicht wär's doch besser gewesen, daß ich Urlaub für heute morgen genommen hätte. Ich würde wenigstens mit dem andern Geschlecht verhandelt haben, und so wär's mir in diesem Bewußtsein leichter geworden, meinen Gefühlen Zwang anzutun. O Gott, Gott, was so 'ne Mietserhöhung eine rasante Flugbahn hat!«

Da sprach er wahr; denn in dem nämlichen Augenblick schlug die Kugel ein auf seinem Bürotisch und wirbelte ihm sämtliche vorliegende Schriftstücke und Schreibereien um den Kopf.

»Papa, die Mama schickt hier den Brief an dich«, sagte eine Kinderstimme ihm zur Seite. »Sie war sehr böse und ganz rot im Gesichte und hat arg gescholten, als sie ihn geschrieben hat. Und sie hat gesagt: wir wären nur ein Vorwand.«

»Ihr wäret nur ein Vorwand!« wiederholte der witzige Vater mit jenem Lächeln, das dem Boshaften, dem heimtückisch Schadenfrohen auf dem Gesichte des Feindes lieber ist als das qualverzerrteste Zucken der Verzweiflung. »Da haben wir's!« setzte er hinzu. »Daß was schuld daran sein mußte, wußte ich wohl!«

»Was ist denn, Kollege? Um Gottes willen, was ist denn vorgefallen, Kollege?« fragten die Kollegen im Kreise.

»Gekündigt!« sprach der witzige Familienvater dumpf, und durch alle Räumlichkeiten des Amtsgebäudes verbreitete sich von Mund zu Mund und von Ohr zu Ohr die Nachricht: »Dem Assessor ist gekündigt!«

Aus seinem Kabinette, die Hände auf dem Rücken, die Feder hinter dem Ohr, trat sorgenvoll interessiert der Chef. Sämtliche Kanzleiverwandte legten die Federn nieder, und wer schnupfte, war am besten dran, denn er konnte eine Prise nehmen. Sie bildeten sämtlich eine Gruppe um den Assessor und schüttelten teilnehmend die Köpfe. Was allmählich daraus werden sollte, wußte keiner zu sagen; aber ihr innigstes Mitgefühl konnten sie sämtlich aussprechen, und dieses taten sie denn auch.

Ganz im Hintergrund, seiner Stellung in der bürokratischen Rangliste gemäß, stand der bucklichte Registrator. Auch dieser schüttelte offiziell den Kopf und murmelte sein Beileid mit; allein im geheimen rieb er sich die Hände, und er rieb sie sich noch, als alle übrigen längst wieder an ihre Geschäfte gegangen waren.

»Gekündigt!... der Kinder wegen!« ächzte der witzige Assessor und Königliche Familienva– nein, umgekehrt, der Königliche Assessor und witzige Familienvater, als der Kreis sich gelöst hatte und er sich mit dem Söhnchen und dem Billett der Gattin relativ allein fand.

»Scher dich nach Hause, du Schlingel!« schrie er; doch dann zeigte er, daß er wirklich seine Gefühle zu bändigen verstand. »Nein – halt, Fritzchen! Da hast du zehn Silbergroschen – den besten Konditor auf deinem Wege kennst du – nimm der Mama eine Düte Pfannkuchen mit nach Hause und sage, ich käme ihnen und dir so rasch als möglich nach. Gewehr über – marsch, marsch, Junge!«

»Hurra!« schrie der muntere Knabe, der nunmehr den Wunsch empfand, alle Tage solch einen Brief von der Mama dem Papa aufs Büro tragen zu dürfen; und sein Vater, ihm nachsehend, sprach: »Die neuen Römer sind wir, das ist keine Frage; aber wissen möchte ich doch, wie diese Verhältnisse bei den alten Römern gewesen sind. Vielleicht finde ich bei Mommsen etwas darüber. Mommsen müßte das eigentlich wissen.«

Ehe er aber bei Mommsen nachschlug, überflog er hinter einem Aktendeckel das Billett seiner Gattin zum zweiten Male, und wir sehen ihm über die Schulter.

»Papa«, schrieb Ännchen, »bei allem Verdruß ist es ein Glück, daß Du nicht zu Hause bliebst und die Miete hinbrachtest; denn jetzt wärest Du längst zwischen zwei Schutzleuten auf dem Wege nach der Hausvogtei. Ich kenne Dich und Deinen Charakter und danke Gott, daß er Dich durch mich vor diesem öffentlichen Ärgernis bewahrt hat. Du würdest sicherlich einen Mord an ihr begangen haben, während ich ihr doch nur die Wahrheit sagte!

O Theodor, was war das für eine Szene! Du weißt, daß ich mir vieles bieten lassen kann, ehe ich heftig werde; aber hier mußte ja einem Engel die Geduld reißen, und wenn sie mich verklagt und mir noch zu allen übrigen Impertinenzen einen öffentlichen Skandal über den Hals bringt, so kann ich nichts dafür, nicht das geringste, und Du mußt für mich auftreten vor Gericht und für mich zeugen. Ich schreibe in fliegender Eile und schicke Dir unser Fritzchen mit dem Brief; aber ich bitte Dich inständigst, laß es nur den armen Jungen nicht entgelten, daß er mit den andern fünf als Vorwand genommen und dann noch obendrein eine Heiduckenbande genannt worden ist! Für seine Kinder steht selbst ein Tiger wie eine Löwin auf – oh, und ich habe es ihr gesagt! wie habe ich es ihr zu wissen gegeben!... Also, Papa, das Lange und das Kurze vom Liede ist, daß wir gekündigt sind und am ersten Juli ziehen werden. Schriftlich ist es mir unmöglich, Dir die Einzelheiten mitzuteilen, denn alle Glieder zittern mir noch; – also, mündlich das Nähere.

Deine Anna.

P. Scr. Tu mir die einzige Liebe an und komm heute einmal gleich nach Hause. Verzichte nur ein allereinziges Mal auf Deinen Frühschoppen oder Stehseidel, oder wie Ihr die gräßliche Sitte und Angewohnheit sonst nennt. Wir haben auch eine sehr schöne gefüllte Kalbsbrust.

Geh gleich vom Gerichte nach Hause!

Deine A.

Nachschrift!!! Bitte, Theodor, komm bald!!!«

 

Der witzige Familienvater, der Mann dieser Frau, die ihm da eben geschrieben hatte, ließ den Aktendeckel fallen, legte den Brief seines Weibes zusammen, und dann sah er an allen vier Wänden entlang und sprach: »Es ist mir ganz einerlei, was wir heute zu Mittag essen.«

Er sagte das so tonlos, so gleichgültig-schlaff, daß selbst der bucklichte Registrator, der seinen Vorgesetzten nicht aus dem Auge und Ohr ließ, das Wort nur auf einen schon seit längerer Zeit verdorbenen Magen beziehen konnte.

Recht schade war es für ihn, den Registrator, daß er nicht auch vernehmen konnte, was sein Vorgesetzter leise mit sich verhandelte.

Wir saßen in seiner Seele und erhalten der Welt und unsern Lesern seinen Gedankengang natürlich.

»Nächstens werde ich zum Dichter«, sagte der Assessor. »Wer da nicht zuletzt zum Poeten wird, den will ich sehen. ›Sooft du kommst, er soll dir offen sein!‹ Die Vorstellung ist zu verlockend für alle Obdachlosen, und es wundert mich nur, daß es dem Magistrat nicht schon längst eingefallen ist, durch Organisierung unentgeltlicher Reimschulen dem Wohnungsmangel gründlich ein Ende zu machen. Hurra, was mich anbetrifft, so bin ich heraus! Sowie ich nach Hause komme, falze ich einen Bogen Konzeptpapier, besinge mein Lamm, mein Täubchen, mein braves Weib, mein Ännchen und reiche somit und sofort schriftlich mein Gesuch um freie Wohnung im Olymp beim Vater Jupiter ein!«


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