Wilhelm Raabe
Der gute Tag
Wilhelm Raabe

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III.

Wir machten diese Pause nur, um unsern Leser auf die poetische Steigerung aufmerksam machen zu können. Unsere Leserin aber fragen wir, ob sie jemals sonst schon etwas so reizend Poetisches gelesen habe. Wenn dieses, was wir bezweifeln, der Fall sein sollte, so haben wir es nicht geschrieben und also auch keinen Anspruch auf die dadurch hervorgerufene Wirkung. –

Was den Prozeßgegner anbetraf, so erwachte der am Morgen des ersten April gänzlich konfus im Kopf und vollständig zerschlagen und gebrochen an und in den übrigen Körperteilen. Selten fand sich jemand nach einer Engelerscheinung so ganz und gar dazu berechtigt, seiner Umgebung zu verkünden, daß er seit langer Zeit nicht so schlecht geschlafen und so schrecklich geträumt habe. Wenn der Mann behauptete, daß ihm der leibhaftige Satan erschienen sei, so übertrieb er wohl ein wenig; aber – die Hand aufs Herz! – wer von uns schläft schlecht und träumt noch schlechter und ist dann imstande, dem lächelnden Morgen entgegenzulächeln und die Seinigen am jungen Tag mit dem Lerchengezwitscher häuslicher Behaglichkeit zu begrüßen?

Fräulein Adelgundens guter Bekannter vom Stadtgericht zwitscherte jedenfalls nicht, sondern forderte mißmütig-matt seine Familienglieder auf, einmal herumzuriechen. Ihm selber roch's nach Schwefel, und als niemand unter den Seinigen dieses auch fand, blieb ihm nichts übrig, als weinerlich-verdrossen zu behaupten: die ganze Gesellschaft habe den Schnupfen, und zwar einen Stockschnupfen ersten Ranges.

Da uns dieser erbärmliche Wicht aber sonst weiter nichts kümmert, so lassen wir ihn unmutig an seine Tagesgeschäfte gehen und haben wenig Mitgefühl zu zeigen, wenn er dabei von Zeit zu Zeit unwillkürlich zusammenschreckt und schaudert. –

Wir zeigen gar nichts; denn ohnzweifelhaft befinden wir uns ja immer noch mitten in der Nacht und steigen mit Fräulein zu den Sternen empor. Rundum blitzt's und funkelt's, und da es eine schöne, heitere Nacht ist, sind die luftigen Wege ungemein belebt, und man kann manches auf ihnen erleben.

»Fräulein! Fräulein! Sind Sie es?« kreischte, zeterte eine zweite Engelin, die der unsrigen entgegenkam oder eigentlich entgegengeführt wurde. In nicht geringem Grade zerzaust und in höchst fataler Begleitung erschien sie. Zwei geflügelte Gendarmen nämlich hatten sie in ihrer Mitte und hielten sie, ein jeglicher da, wo auf seiner Seite ihr der Fittich aus der Omoplate hervorwuchs.

Auf Erden ist an einem solchen Schauspiel nichts Besonderes zu sehen; aber zwischen Erde und Himmel macht es sich ganz kurios und hinterläßt in jedem, der das Glück hatte, einer solchen polizeilichen Abführung beizuwohnen, einen unauslöschlichen Eindruck.

»Hülfe – Barmherzigkeit! Fräulein, ich beschwöre Sie, legen Sie ein gut Wort für mich ein!« jammerte der Verbrecherengel; aber Adelgunde, ihn jetzt ungemein genau erkennend, sprach: »Ah, siehst du wohl?... Ah, habe ich es dir nicht hundertmal vorausgesagt?... Ah, habe ich dir nicht meine Meinung ins Dienstbuch geschrieben? Jetzt hast du's, wie du's gewollt hast! Siehst du; – o, es gibt also doch noch eine ewige Gerechtigkeit!... Meine Herren, erlauben Sie mir – einen Augenblick! – darf ich fragen, wohin Sie die Person befördern?«

»An den Rand des Abyssos, des Abgrundes. Man läßt hier nicht ungestraft einen Weltball fallen. Erst wird sie die Planetoiden zusammenkehren, und das weitere wird sich nachher finden!« schnarrte einer der beiden himmlischen Begleiter. »Halten Sie uns nicht auf, Madam.«

Das Wort Madam in ihrem Entzücken vollkommen überhörend, schrillte Fräulein:

»Wenn Sie ihn kitten lassen (sie meinte den ruinierten Planeten) – ja auf ihre Kosten!«

Und über die Schulter, im Vorbeigezerrtwerden, schrillte der Dienstmädchenengel zurück:

»O Sie – Sie, wer sind Sie denn, wenn ich das bin, was ich bin?«

Die Erscheinung verschwand: es ist eben ein Jammer, daß die schönsten Momente im Traum sowohl wie im Wachen es so unendlich eilig haben! Glücklicherweise aber schlug es eben erst zwei Uhr, und Fräulein schwebte weiter. Für uns, d. h. den Autor dieser Geschichte und die Leser derselben, hat es freilich schon allerlei geschlagen; das ist aber grade das Schöne dran – nämlich an der Geschichte.

Wenn wir sie – nämlich Fräulein Adelgunde – die Liebenswürdigste ihres Geschlechts nennen wollten, würden wir alle übrigen ihres Geschlechtes grenzenlos beleidigen und mit vollem Rechte ihrer Mißachtung anheimfallen. Wir mäßigen deshalb unsern Enthusiasmus für die holde Träumerin soviel als möglich und teilen nur mit, daß sie sich ganz energisch unter die Liebenswürdigsten rechnete, dieses denn aber auch mit vollem Rechte. Wenn wir dieses nicht mitteilten, erwachte sie mit einem Ruck, brach den Traum ab, und war die Geschichte kurzab zu Ende, was doch jammerschade gewesen sein würde. Es sind der Welt auf diese Art schon genug gute Historien verlorengegangen; wir brauchen zum Exempel nur an diejenige zu erinnern, welche in der Nacht vor dem Abenteuer mit den Walkmühlen der gute Schildknappe Sancho Pansa seinem Herrn Don Quijote von dem Ziegenhirten Lope Ruiz und der schönen Schäferin Torralva erzählen wollte und mit welcher er leider, leider am Ufer des Flusses Guadiana steckenblieb.

Ein Ziegenhirt, wenn auch nicht aus der spanischen Provinz Estremadura, dämmert auch uns jetzo auf. Er war mehr aus der preußischen Provinz Pommern, und was das Ziegenhüten anbetrifft, so bitten wir freundlichst, uns nicht bei jedem poetischen Bocksprung sofort an den Rockschößen zu fassen, zurückzuziehen und uns anzurufen: »Holla, Herr, sollte da wirklich der Weg zum Parnaß hinaufführen?«

Unser Ziegenhirt war seines Zeichens ein junger Mann von anständigerm Berufe und wahrscheinlich auch anständigerm Äußern als der brave Lope Ruiz des guten Sancho Pansa. Die erste Geige strich er zwar nicht, weder im Leben noch im Königlichen Opernhause; aber er war ein angenehmer Cellist in seinen Mußestunden, und im Leben der letzte Sproß einer uralten respektabeln Hausbesitzerfamilie, deren unvordenklichster Ahnherr Pfahlbauer an der Spree gewesen war zu einer Zeit, als Berlin noch nicht einmal Kölln hieß.

Jetzt hieß längst Kölln Berlin; wir aber nennen die Straße Berlins, in der er, Fräulein gegenüber, seinen angestammten Grundbesitz immer noch festhielt, nur deshalb nicht, um nicht alle übrigen Gassen rebellisch zu machen vor kulturhistorischem Neid und uns sämtliche Lokalgeschichtler auf den Hals zu ziehen: »Heda, Herr, geht da in der Tat der Weg in die Tiefen unserer deutschesten Vergangenheit?« –

Sein Name – der unseres Jünglings – war Blankow, und er strich sein Cello dem Hause Adelgundas gegenüber in einer Weise, die ein Gemüt gleich dem ihrigen im Wachen wie im Traume »weit nach den Ufern des Ganges« mit sich fortzunehmen imstande war. Und sie – Fräulein – kannte seine Familie und seine Umstände ganz genau. Sie wußte, daß er um Weihnachten vierzig Jahre alt geworden war! Ach, es war ja nur ein Unbedeutendes, nicht der Rede Wertes, was sie von ihrer eigenen Lebenszeit am Anfang oder am vorläufigen Endpunkt zu streichen hatte, um ihm da so nahe, so unbeschreiblich merkwürdig nahe zu kommen!

Sie hatte auch bereits gestrichen, und zwar ein ziemlich Stück ihrer lieblichen Kindheit. Sie hatte ihr Geburtsjahr vorgerückt und gern den Genuß ihrer heutigen Jugendlichkeit durch den Verlust unschuldiger, aber nun ein wenig abschmeckend gewordener Jugendtage erkauft. – Freundlich gehen wir über den uralten Kunstgriff hinweg und lassen sie bei dem Glauben, daß weder die Hausgenossenschaft noch die Nachbarschaft und vor allem nicht der Nachbar Blankow – vergleiche und nachrechne. –

Doch nun – wo sucht das wohlorganisierte Herz und wo findet es Trost nach dem letzten Zusammentreffen mit dem oder der treulosen Geliebten?

»Im Traum von einer schönern, treuern Welt natürlich!«

Ganz richtig! Und so ging Fräulein Adelgunde in ihrem Traume zum Nachbar, d. h. sie schwebte zu ihm, sie umschwebte ihn. Im Traume wie im Wachen gibt's kein höheres Hochgefühl, als irgend jemand als sein guter Genius zu umschweben!...

Dieses Hochgefühl genoß Fräulein jetzt im allergeläutertsten Grade.

Sie fürchtete nicht mehr, anzustoßen. Sie hatte Raum für ihren Flügelschlag. Da uns aber noch nie ein Vers und nur sehr selten ein Reim gelungen ist, müssen wir leider darauf verzichten zu sagen, wie uns zumute ist.

Uns zumute! Denn wir, wir versetzten uns noch niemals in unserer literarischen Existenz so ganz und gar – weder im Wachen noch im Traum – in die Situation wie jetzt! Wir gingen mit, wir flogen mit, wir schwebten mit – wir umschweben jetzt gleichfalls, wir fühlen uns gleichfalls im höchsten Grade als guter Genius, und um unsern Gefühlen Luft zu machen, haben wir nichts als Dinte, Feder und Prosa: das ist entsetzlich – die furchtbare Begier, außer uns zu geraten und durch die Decken zu gehen, hat uns nimmer in diesem Grade zum krampfigen Anklammern an unsern Schreibtisch gebracht!...

»Ein Meteor! Halt, um Gottes willen – halt, halt, ein Meteor!« rief auf seinem Dache gegen drei Uhr morgens ein Berliner Sternkundiger, der die ganze Nacht über am ganzen funkelnden Sternenhimmel nichts Besonderes gesehen hatte.

Man sage aber mal »Halt, halt!« zu einem Meteor!

Es kam in einem Bogen blitzschnell, erst glänzend weiß, dann in Purpur, Rot, Gold und Grün flimmernd, dann wieder weiß hernieder und verschwand oder versank hinter einem Schornstein. Der Meteorolog berechnete auf der Stelle die Bahn der wunderbaren Lichterscheinung und den Winkel, unter welchem sie die Erde traf. Er warf auch fiebernd noch einige Vermutungen kurz aufs Papier. Am folgenden Morgen berichtigte er seine Beobachtung sowohl stilistisch wie sachgemäß – letzteres durch Nachschlagen einer ziemlichen Reihe von Fachwerken. Zu einem kleinen Aufsatz erweitert sendete er sie der Spenerschen Zeitung; die Redaktion kürzte sie, von ihrem Rechte Gebrauch machend, wieder ein wenig, und schon am zweiten April erfuhren die Berliner, was einer ihrer Mitbürger in der Nacht auf den Ersten des Monats gesehen hatte, und hatten nicht die geringste Ahnung davon, wie sie dahin geschickt wurden, wohin man eben die Leichtgläubigen an diesem fröhlichen Tage zu senden pflegt.


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