Wilhelm Raabe
Der gute Tag
Wilhelm Raabe

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II.

»Was hat ihr denn Schönes geträumt?« hatte das Haus gefragt. In ihre Nachtjacke zu beißen, war ihr nicht im Traume eingefallen, wie der witzige Familienvater bemerkte. Träume kommen aus dem Magen; und nun wollen wir einmal sehen, was für Träume in der Nacht vom 31. März auf den 1. April aus dem Magen Fräulein Adelgundas gekommen sind.

Den witzigen Familienvater haben wir kennengelernt; jetzt machen wir die Bekanntschaft des melancholischen, den Fräulein gleicherweise unter ihrem Dache zu den Ihrigen zählte. Wie alle Melancholiker erfreute er sich einer feinen Nase, und da es nach seiner Aussage am Abend des letzten Märzen ausgezeichnet aus der Küche des Fräuleins her gerochen hatte, so dürfen wir annehmen, daß die heftigen Äußerungen ihrer Gemütsstimmung ihrem Appetit keinen Schaden und Abbruch getan hatten.

Der melancholische Familienvater besaß nur vier Kinder, und zwar lauter Mädchen; aber auf den Küchengeruch verstand er sich vielleicht grade deshalb besser als der witzige. Er war eine Autorität dafür und gehörte zu den angenehmen Leuten, die imstande sind, Elend, Groll und Verdruß zu verfressen. Melancholisch blieb er aber darum doch – wie seine Gattin dann und wann meinte und äußerte: um sich notdürftig aufrechtzuerhalten im irdischen Jammertale. –

Ein gebratenes Täubchen ist das rechte Futter für jedweden Hausbesitzer am Abend vor dem Quartalwechsel, aber um wie vieles mehr für eine jungfräuliche Hausbesitzerin in den besten Jahren!

Hat man einen Gast, so läßt man zwei oder drei, je nachdem, der reizenden Tierchen enthalsen und gewinnt zugleich diesem Gaste gegenüber einen Standpunkt, zartsinnige Gefühle in betreff des Kopfabreißens kundzugeben und zugleich seine Ansicht über die Frage der Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe richtigzustellen.

Fräulein hatte keinen Gast, aber sämtliche Mietskontrakte ihrer Inquilinen auf einem Nebentischchen zur Hand. So vertilgte sie ihren Vogel der Venus trotz der behaglichsten Einsamkeit in der besten Gesellschaft und in herzlichster Unterhaltung. Ihr gutes Gewissen saß ja überdem mit ihr zu Tische und leistete ihr gleichfalls Gesellschaft, und zwar bis in ihren Schlummer hinein.

Es ist ein köstlich Ding um ein gutes Gewissen; wer keins hat, wird es uns bestätigen. Weniger vielleicht der, welcher eines besitzt; denn gewöhnlich hat der dann so viel mit seinen Sorgen oder denen anderer Leute zu tun, daß er kaum imstande ist, seinen herrlichsten Rückhalt nach Gebühr zu würdigen und in Rechnung zu ziehen. Damit aber sind wir an dem Punkte angelangt, allwo wir den Leser und die Leserin schon längst gern gehabt hätten. Jetzt haben wir sie daselbst, wo wir Fräulein schon lange hatten: Fräulein nämlich besaß ein gutes Gewissen im eminentesten Grade (die deutschen guten Wörter hervorragend, ausgezeichnet usw. reichen lange nicht an dieses Fremdwort!), und sie wirkte damit in ihrem Kreise und in ihren Kreisen auf eine Art, die jede Konkurrenz ausschloß. Sehen wir jetzt zu, in welcher Gesellschaft von Phantasiebildern sie schlafen ging! Der liebe Gott hat es sehr gerecht so eingerichtet, daß man weder ein witziger noch ein melancholischer Familienvater noch das eheliche Weib eines von beiden zu sein braucht, um da mit großem Gefolge ins Bett zu steigen. –

Die Welt und das Leben bei Sonnen-, Monden- und Sternenlicht zu sehen und zu schildern, will nichts bedeuten, aber beim Scheine eines Nachtlichts – das will etwas sagen. Nicht wahr, ihr, die ihr euere schönsten und euere schrecklichsten Stunden bei dem winzigen Schimmer hinfliegen oder -kriechen sahet?

Fräulein Adelgunde sah eine geraume Weile in ihr Nachtlicht. Dann bildete sich ein Hof um dasselbe her, dann zog sich ein Nebel vor dasselbe, dann schloß sie die Augen – öffnete sie noch einmal und sah noch einmal die kleine Flamme scharf und klar. Nun fielen ihr die Augenlider von selber zu – dumpf, verworren gingen noch durch ihren Sinn die Sorgen über die Verwaltung ihres nicht unbeträchtlichen Vermögens, ihre sämtlichen Mietsleute – die morgenden, eingehenden Gelder und der schändliche Charakter und hängenswerte elende Mensch und photographische Künstler Louis Eigelmeier, der ihr grade vor einem Jahre durchgegangen war und ihr nichts zurückgelassen hatte als ein Lichtbild von sich, mit einer Empfehlung seiner und seiner Kunst auf der Rückseite, in ihrem Album. Fräulein Louise Stieglitz bewohnte jetzt die Gemächer oder das Gemach des Photographen – die Vorstellung machte Fräulein Adelgunde noch einmal ganz lebendig, wach und munter.

»Da weiß ich aber, was ich tue!« sagte sie und entschlummerte, und ihre erste Liebe setzte sich an ihr Lager. Es gab so viele schlechte Charaktere in der Welt, und alle hatten sich grade in dieser Nacht vor dem ersten April verschworen, ihr in ihren Träumen ihre Aufwartung zu machen.

Eben befand sie sich noch in dem voreinstigen photographischen Atelier Eigelmeiers und hatte Fräulein Louischen vor sich und sagte ihr ihre Meinung vom Grunde des Herzens aus. Was bei Tage ziemlich schwierig war, das wurde ihr augenblicklich merkwürdig leicht: sie duckte das liebe Kind ganz und gar – Louischen ließ wie ein Lamm alles über sich ergehen, und still nahm sie alles, was ihr mitgeteilt wurde, hin. Da – diesmal sich selber steigernd, und zwar in ihren Redensarten und Insinuationen – kam der erste »Wandel über ihren Traum«. Es hustete jemand am Fußende ihres Bettes; ihre hübsche kleine Mieterin hatte sich in Dunst und Nebel aufgelöst und war zu den übrigen Schatten der Nacht gegangen: da saß er – er!

Ja, da saß er, der greuliche Mensch, von dem sie einst, vor langen, langen Jahren, aufgefordert wurde, sein Lebensglück durch das ihrige zu gründen, und der dann hingegangen war und – die deutsche Sprache besitzt gar keinen Ausdruck für sein Verhalten! – den Versuch, den Himmel auf Erden zu finden, mit einer andern, und zwar einer ihrer besten Freundinnen, gemacht hatte.

Und in ihrem, ihrem eigenen Traume freute sich dieser Elende, sie so wohl zu sehen! Hüstelnd saß er auf dem Polsterstuhl, deutlich mit seiner Schnupftabaksdose im Scheine des Nachtlichts zu erkennen, und er war es unbedingt, obgleich er im Verlaufe der langen, langen Jahre auch nicht der nämliche geblieben war.

Letzteres war ein Trost. Wenn nach den Lehren der Physiologie der Mensch von sieben zu sieben Jahren einen neuen Körper anzieht, so hatte die verräterische, treulose Seele dieses Unholds dreimal seit seinem Hochzeitstage das Kostüm gewechselt und schien jedesmal an einen Trödeljuden geraten und im Handel betrogen worden zu sein.

Körperlich abgerissen, wackelnd-schemenhaft saß er da, und Fräulein Adelgunde fing an, sich ihrerseits zu freuen, ihn so wohl zu sehen, und ihm ihre Freude kundzugeben.

»Wenn du – wenn Sie es wirklich sind, Herr Rat, so sehen Sie recht heruntergekommen aus. Sie scheinen sich wirklich nur den Umständen nach zu befinden. Läßt man Sie denn so allein gehen? Hat Ihre liebe Frau – hat die Frau Rätin eine Ahnung davon, wo Sie sich befinden? Wir sind noch im März, und Sie waren schon in Ihrer Jugend zu allerlei Erkältungen geneigt. Zugluft konntest du nie vertragen – Adolf!... Ach Adolf, nimm es mir nicht übel, aber du siehst jämmerlich, jämmerlich aus. Bist du wirklich fest überzeugt, daß du es bist und nicht etwa ein Magenkrampf oder ein rheumatisches Zahnweh deiner Frau?«

Wackelnd wiegte sich der Schatten, den eine schönere Vergangenheit, den die Jugendzeit in diese Nacht warf, auf dem Stuhle; kläglich kichernd nickte der Schemen: »Ha ha, ich bin's, Gundchen; aber freilich wollte ich, daß ich's nicht wäre und ich mich in mir irrte. Ach ja, jünger wird man nicht; das Leben wächst einem nur zu rasch über den Kopf und der Schädel durch die Haare! – Nun, Julchen läßt dich recht schön grüßen und –«

»Wenn Sie sich nicht auf der Stelle aus der Tür scheren, so schicke ich nach der Polizei!« rief die entrüstete Träumerin, und der zu einem Rheumatismus gewordene Jugendtraum – ging. Wie er sich mit dem Blutbann abzufinden verstand, können wir nicht sagen, aber vor der Polizei schien er einen heillosen Respekt zu haben. –

Er ging, aber er zog die einstige Geliebte sich nach.

»Dem habe ich es gesagt!« sagte sie und ging hinter ihm her.

Hier war die Kammertür – hier die Stube. Adelgunde schritt die Treppe hinunter – zum Hause hinaus, dem Haus des Verbrechers zu, und – trat bei ihm ein in ihrem Traume!

Was sie sah, können wir leider nicht angeben; nur was sie sagte, können wir auch hier mitteilen.

»Der hat sich gebettet, wie ich es ihm gewünscht habe!« zischte sie mit höhnisch kichernder Schadenfreude. »So gut hätte er es bei mir auch gehabt!« seufzte sie; wir vermuten aber, daß sie meinte, er habe es vielleicht besser bei ihr haben können. Wie dem auch sei – süßer, befriedigender hatte Fräulein lange nicht geträumt. Doch wer hat je ein anmutig, behaglich, schmeichlerisch Traumbild anders festhalten können als im wachen Zustande?...

Da die holde Nachtwandlerin sich einmal unterwegs befand, so ging sie weiter. Sie war eine geborene Berlinerin und kannte also so ziemlich alle Gassen von Berlin. Die Straße aber, welche sie jetzt beschritt, geleitet und geschoben von den nächtlichen Horen, kannte sie ausnehmend wohl. Der Mensch, den auf dem Stadtgerichte zu sehen sie seit längern Jahren von Zeit zu Zeit das Vergnügen hatte, wohnte drin und gewann in seinem Traume soeben den Prozeß, den er gegen sie führte.

Diesmal nahm sie – Fräulein Adelgunde – die Gelegenheit wahr, sich mitternächtlicherweile jemandem an das Bett zu setzen, die Gardine zurückzuziehen und ihn durch ihre unvermutete Erscheinung in Erstaunen zu setzen und zum jähen Erstarren zu bringen.

Es ist eine längst bekannte Erfahrung, daß man das, was man aus dem Grunde versteht, gern tut, con amore, wie der Kunstausdruck dafür lautet, und Fräulein verstand es aus dem Grunde, einem ihre Meinung zu sagen, und machte sich also gern ein Vergnügen daraus.

Je bitterer sie sich ausließ, desto süßer wurde ihr Schlummer. Ihr Schutzengel sah sie auf ihrem Kissen wie ein Kind lächeln und lächelte gleichfalls: um an seine Engelhaftigkeit glauben zu können, müssen wir natürlich annehmen, daß er nicht wußte, warum.

Hu, wie sagte Fräulein es dem prozessierenden Sünder! Ein Nachtlicht brannte nicht in seiner Kammer; aber wie wurde ihm dafür die Fackel des Jüngsten Gerichtes angesteckt! Durch den Weltbrand loderte blutigrot der Aktenfaszikel auf dem Berliner Stadtgericht – niemals war ein frechangrinsendes Philistergesicht so gründlich unter das Deckbett hinuntergeredet worden wie in diesem Falle! Adelgunde durfte wohl lächeln. –

Zuerst verschwand das Kinn, dann der vergeblich nach Luft schnappende Mund des schnöden Gegners. Die Nase rutschte abwärts, es folgten die schreckensdummen und wutweit aufgerissenen Sehorgane, die weiße Zipfelmütze versank, und als der Zipfel der Zipfelmütze verschwunden war, fühlte Fräulein sich leicht wie ein Engel und bekam demgemäß auch Flügel in ihrem Traum. Sie veridealisierte sich so, wie sie sich schon längst in ihren wachen Zuständen ihre Persönlichkeit vorgestellt oder gedacht hatte.

Ihr Schutzengel hatte gut lächeln! –

Ein weißes Gewand von erklecklicher Länge, um die Hüften von einem himmelblauen Gürtel mit silberner Schnalle gehalten, umfloß sie. Auch ihre Locken umflossen sie sonderbarerweise mit einem Male. Doch die Hauptsache und das Wundervollste blieben die beiden Flügel, die ihr plötzlich aus den Schulterblättern hervorsproßten.

Wohin des Engels leichter Fittich dringet,
Da wird der Himmel wolkenlos und schön.
Er ist von einem goldnen Kreis umringet,
Wie wir des Nachts beim Blitze-Leuchten sehn.
Er überlegt, wo er sich niederschwinget,
Der Himmelsbote, um nicht irrzugehn,
Und –

Fräulein überlegte auch, aber mehr, wohin sie sich emporschwingen solle. Sie fächelte mit dem linken Flügel, sie fächelte mit dem rechten. Sie hob den rechten Fuß, sie hob den linken. Jetzt hob sie beide Fittiche und sich drei Fuß vom Boden.

Ludovico Ariosto singt ferner.

Wer fernhin reiset, der wird Dinge schauen,
Entfernt von dem, was er vorher gemeint.
Erzählt er dann, so will ihm niemand trauen,
Für einen Lügner hält ihn Freund und Feind.
Denn dem nur schenkt das dumme Volk Vertrauen,
Was recht handgreiflich, klar und flach erscheint.
Drum wird auch meinem Lied, ich kann mir's denken,
Der Unerfahrne wenig Glauben schenken –,

und gradeso wie er, denken wir; denn wird es uns etwa wer glauben, daß jemand, der plötzlich Flügel bekommt, dieselben sofort – nicht gebraucht und nicht fliegt?

Es war aber doch so! Fräulein Adelgunde sah nach der Stubendecke, über die rechte Schulter, über die linke und nochmals gradeaus nach der Stubendecke. Es war beinahe der ängstlichste Moment in ihrer Traumnacht. Sollte sie es wagen und sich auf die Härte ihres Schädels verlassen?... Sie entfaltete die Fittiche – so weit als möglich. Sie hob sich auf den Zehen. Nein, sie wagte es doch lieber nicht, sie schlug ihre Flügel wieder zusammen, legte auch die Hände kreuzweise auf dem Busen übereinander und verließ ihren Prozeßfeind durch seine Tür. Sie glitt die Treppe hinunter aus seinem Hause und erhob sich als eine kluge und vorsichtige Jungfrau erst in der Gasse steilrecht gegen den sternblitzenden Nachthimmel.


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